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Der Tod des Abts.
Irland im Herbst 672: Der Abt Brocc ruft Fidelma und Eadulf zu Hilfe, aber als sie das Kloster Dair Inis erreichen, ist er bereits tot. Es heißt, ein Geist hätte ihm den Tod vorhergesagt, und dessen Worte hätten sich erfüllt. Doch der Abt wurde ermordet. Warum musste er sterben? Schon bald stoßen Fidelma und Eadulf auf alte Vorurteile, die auch auf Fidelmas Bruder, König Colgú von Muman, verhängnisvolle Auswirkungen haben könnten. Und ihre Mission erweist sich als gefährliches Abenteuer ...
»Peter Tremaynes Keltenkrimis haben inzwischen weltweit Kultstatus erreicht.« BuchMarkt.
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Seitenzahl: 547
Veröffentlichungsjahr: 2025
Irland im Herbst 672: Fidelma und Eadulf machen sich auf zum Kloster Dair Inis, weil Abt Brocc sie um Hife gebeten hat. Sie befinden sich im Gebiet der Uí Liatháin, mit denen König Colgú erst vor Kurzem Frieden geschlossen hat. Als sie im Kloster ankommen, ist Abt Brocc jedoch schon tot. Man sagt ihnen, ein Grauer Geist hätte ihm den Tod vorausgesagt und diese Prophezeiung sei wahr geworden. Die Uí Liatháin sind noch immer tief im Alten Glauben, der Religion der Druiden, verwurzelt, aber Fidelma ist nicht bereit, an solche Prophezeiungen zu glauben. Bald stellt sich heraus, dass der Abt ermordet wurde. Aber warum und von wem? Fidelma und Eadulf geraten in verwirrende Machtstrukturen und erfahren von altem Hass – auch gegen Fidelmas Bruder, den König von Muman. Ihre Mission erweist sich als gefährliches Abenteuer, denn der Glaube der Druiden wird zu einem Mittel zum Zweck, und die Grauen sind alles andere als Geister aus alter Zeit.
Peter Tremayne ist das Pseudonym eines anerkannten Historikers, der sich auf die versunkene Kultur der Kelten spezialisiert hat. Seine im 7. Jahrhundert spielenden Romane mit Lady Fidelma sind zurzeit die älteste und erfolgreichste historische Krimiserie auf dem deutschen Buchmarkt. Fidelma, eine mutige Frau von königlichem Geblüt, ehemalige Nonne und Anwältin bei Gericht, löst darin auf kluge und selbstbewusste Art die schwierigsten Fälle. Wegen des großen internationalen Erfolgs der Serie wurde Peter Tremayne 2002 zum Ehrenmitglied der Irish Literary Society auf Lebenszeit ernannt.Alle lieferbaren Titel des Autors sehen Sie unter aufbau-verlage.de; mehr Informationen bekommen Sie unter sisterfidelma.com.
Bela Wohl ist Psychologin, Psychotheratpeutin und staatlich geprüfte Übersetzerin. Seit dreißig Jahren übersetzt sie zahlreiche Bücher ins Deutsche.
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Peter Tremayne
Sein Blut komme über euch
Historischer Kriminalroman
Aus dem Englischen von Bela Wohl
Cover
Titel
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Titelinformationen
Informationen zum Buch
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Widmung
Zitat
Hauptpersonen
Anmerkung des Autors
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Fidelmas Abenteuer in chronologischer Reihenfolge
Erläuterungen
Impressum
Für Kate Clayton für ihre Arbeit als meine persönliche Assistentin und für William Clayton für eine ausgezeichnete Idee
Propheta autem qui arrogantia depravatus voluerit loqui in nomine meo, quae ego non paecepi illi ut diceret, aut ex nomine alienorum deorum, interficietur.
Doch wenn ein Prophet vermessen ist, zu reden in meinem Namen, was ich ihm nicht geboten habe zu reden, und wenn einer redet in dem Namen anderer Götter, derselbe Prophet soll sterben.
Deuteronomium 18.20 Lateinische Vulgata von Hieronymus, 4. Jh.
Schwester Fidelma von Cashel, eine dálaigh oder Anwältin bei Gericht im Irland des 7. Jahrhunderts
Bruder Eadulf von Seaxmund’s Ham aus dem Lande des Südvolks, ihr Ehemann
Dego, ein Krieger der Nasc Niadh (Krieger vom Goldenen Halsreif), der Elite-Leibwache von Fidelmas Bruder Colgú, dem König von Muman
Duach, ein Fährmann
Docht, sein Kollege
Abt Brocc
Bruder Guala, der rechtaire oder Verwalter
Bruder Cróebíne, der leabhair-coimedach oder Schreiber und Bibliothekar
Bruder Fisecda, der Arzt
Schwester Damnat, seine Gehilfin
Bruder Scatánach, ein Novize
Schwester Cáemóc, die chomairlid oder Vorsteherin der weiblichen Abteimitglieder
Bruder Echen, der Sohn von Eachdae, einem ehemaligen Krieger
Lalóg, Prinzessin oder bean-tiarna von Gleann-Doimhin, dem Dorf an der Mündung des Flusses Deep Glen (Tiefe Schlucht)
Cathbarr, Lalógs Verwalter
Tóchell, Lalógs Dienerin
Scannail der Streitbare, ein wandernder seanchaidh (Geschichtsforscher) und Dichter der Uí Liatháin
Tóla, Kapitän eines Handelsschiffs der Déisi
Echrí, Stallmeister und Schmied
Eachdae, Fuhrmann
Íccaid, ein Arzt
Suaibsech, seine Frau und Gehilfin
Sárán, ein seanchaidh oder Geschichtsforscher der Déisi
Caol, Krieger und ehemaliger Befehlshaber der Nasc Niadh (Krieger vom Goldenen Halsreif), der Elite-Leibwache des Königs von Muman
Cadan, sein Sohn
Finnat, eine Häuslerin
Conmhaol, ein Prinz auf seinem crannóg (künstliche Insel) am Cnoc an Fiagh (Berg der Zaubernebel)
Báine, eine Prinzessin und Bäuerin
Gobán, ein Schmied
Temnén, ein junger Bursche
Tomán, sein Vater
Fíthel, der Oberste Brehon von Muman
Colgú, König von Muman, Fidelmas Bruder
Finguine, Colgús tánaiste oder Thronfolger
Abt Iarna, Abt von Lios Mór
Tigerna Cosraigib (Herr des Gemetzels) aus Dún Guairne, der gefallene Prinz der Uí Liatháin
Die Geschichte spielt im Herbst, in der Jahreszeit, die man im Irischen fochmuine nennt – das Teilen der Ernte –, während der Tagundnachtgleiche. Wir schreiben das Jahr 672.
Schauplatz der Handlung ist überwiegend das Gebiet der Uí Liatháin (ungefähr im südöstlichen Cork), der Nachfahren der Grauen. Die Geschichte beginnt auf Dair Inis, auf der Eicheninsel, in der gleichnamigen Abtei, die man heute als Molana Abbey kennt. Sie befindet sich an einer Biegung des An Abhainn Mór (Großer Fluss), heute anglisiert als Blackwater. Dair Inis ist inzwischen keine Insel mehr und liegt zweieinhalb Meilen nördlich des Städtchens Eochaill (Ort der Eiben), anglisiert als Youghal.
Die Abtei Dair Inis wurde im Jahr 501 n. Chr. von einem Adligen der Uí Liatháin gegründet, von Máel Anfaid (heute anglisiert als Molana). Umgeben von einer Bevölkerung, die entschlossen am Alten Glauben festhielt, war sie lange Zeit ein isolierter Vorposten des Christentums. Dennoch hatte sich Dair Inis im Lauf der zwei Jahrhunderte seit ihrer Gründung zu einem bekannten Zentrum für christliche Lehren entwickelt und verfügte über eine viel gerühmte Bibliothek. Die Namen der Gelehrten der Abtei wurden sogar in den Annalen von Ulster[1] festgehalten; so galt etwa Reubin Mac Connadh (gest. 725) als einer der großen Theoretiker der keltischen Kirche Irlands.
Die Leser dieser Krimireihe werden in Das Pestschiff Hinweise auf das Komplott finden, mit dem man Fidelmas Bruder Colgú, den König von Muman, stürzen wollte. Muman (heute Munster) war das südwestlichste und größte der Fünf Königreiche von Éireann. Wer sich für die Geschichte der Entführung von Fidelmas kleinem Sohn Alchú interessiert, findet diese in Der Tod soll auf euch kommen und in Tod vor der Morgenmesse. Die Geschichte von Caols Abschied als Befehlshaber der Krieger der Nasc Niadh, der Elite-Leibwache der Könige von Cashel, wird in Das Sühneopfer erzählt.
Der Leser sollte wissen, dass das Prinzip der Vererbung nach dem Erstgeburtsrecht in den damaligen irischen Gesetzen nicht existierte. Stattdessen gab es den Familienrat oder derbhfine; er bestand normalerweise aus vier Generationen von Familienmitgliedern, die von einem gemeinsamen Urgroßvater abstammten. Die Vererbung von Eigentum sowie die Nachfolge als Oberhaupt der Familie und folglich auch die Nachfolge als König oder für ein anderes Amt innerhalb der Familie wurde von diesem Rat bestimmt; er sollte die Person auswählen, die sich am besten zum gerechten Anführer eignete. Folglich ging ein Amt nicht notwendigerweise auf einen Sohn über, sondern vielleicht auf einen Onkel, Bruder oder Neffen, und auch weibliche Familienmitglieder hatten die gleichen Rechte.
Wie immer verwende ich die ursprünglichen altirischen Ortsnamen – mit zwei anglisierten Ausnahmen, die es nicht irischen Lesern erleichtern sollen, die Schauplätze im modernen Irland zu finden: Tara statt Teamhair (der auffällige Ort) und Cashel statt Caiseal (die steinerne Festung). Im Text benutze ich Begriffe des Alt- oder Mittelirischen (mit entsprechenden Erklärungen), da einige Leser immer wieder hinterfragen, ob das Altirische im siebten Jahrhundert bereits derartige Vorstellungen gekannt haben kann. Wer sich für die korrekte Aussprache dieser Begriffe interessiert, möge auf die Website der Schwester-Fidelma-Gesellschaft verwiesen sein: www.sisterFidelma.com
»Die Insel der Eichen liegt kurz hinter der nächsten Biegung des Flusses. Gleich sieht man am Ufer den Anlegesteg und die Gebäude der Abtei.«
Duach, der Fährmann, zeigte mit seiner Rechten zum Ufer. Sein lächelndes Gesicht stand im Gegensatz zu seinem Namen, der der Melancholische bedeutete. Dabei verging kein Augenblick, ohne dass er eine scherzhafte Bemerkung machte. Duach war an diesem breiten Fluss, den man An Abhainn Mór nannte, den Großen Fluss, geboren und aufgewachsen. Er kannte jede Bucht, jede Stelle, an der sich Lachse oder Forellen tummelten. Jeder Abschnitt des mückengeplagten Flussufers war ihm vertraut. Er wusste, von wo aus Otter und Wasserratten sein Boot beobachteten, das mit der Strömung vorüberglitt. Hier und da konnte man einen Dachs erspähen, der sich kurz auf die Hinterbeine stellte, als hielte er nach Gefahren Ausschau.
Über ihnen, auf den mächtigen dunklen Ästen der Eichen, die von beiden Ufern aus über den Fluss ragten, konkurrierten Wildkatzen und Baummarder um die besten Plätze; die Marder lagen dort unbehelligt und suchten den Himmel mit wachsamen Augen nach ihren schlimmsten Fressfeinden ab, den dunklen Steinadlern und den helleren, kleineren Seeadlern mit ihren weißen Schwänzen, die oft in luftiger Höhe ihre Kreise zogen. Meist konnten sich die Marder durch eine rasante Flucht vom Baum in Sicherheit bringen, doch wenn sie von hoch oben den Waldboden erreichten, um ihren geflügelten Fressfeinden zu entkommen, drohte ihnen Gefahr von einem anderen Räuber, dem einzelgängerischen Rotfuchs.
Die Bäume standen auf beiden Seiten des Flusses wie endlose Mauern aus uralten Stiel- und Wintereichen und wetteiferten im gemäßigten Uferklima um den günstigsten Standort. Hier und da gelang es einzelnen Gruppen von Schlehen, die Mauer zu durchbrechen und kleine Gehölze zu bilden, um dem Bollwerk aus Eichen zu trotzen. Nur gelegentlich machte man die Reisenden auf dem Fluss auf die Hügel jenseits der Ufer aufmerksam; Hügel, die zwar allenfalls sechzig Meter hoch waren, vom Wasser aus jedoch wie Berge erschienen.
Hin und wieder wurden die Reisenden an die einzige Gefahr erinnert, die den Menschen in dieser wunderschönen Natur drohen könnte; an einen Feind, der ebenso mächtig und schlau war wie sie selbst. Oft hörte man das einsame Heulen eines grauen Wolfs, eines faolchú, der sein cúana, sein Rudel, zusammenrief, um sich auf die Jagd zu begeben. Sein lautes Geheul fand ein furchterregendes Echo. Was war die Beute, die er mit seinen Jungen zu erjagen hoffte? Trotz aller Waffen und Wolfshunde fürchtete sich der Mensch vor den räuberischen, anpassungsfähigen Waldbewohnern, mit denen er sein Territorium teilen musste; vor den großen Tieren, die in Steppen, Waldgebieten und dichten Urwäldern zu Hause waren. Vielleicht bedeutete das Wolfsgeheul, dass sich eine kleine Hirschkuh etwas zu weit von dem wachsamen Hirschbock, der sie beschützen sollte, entfernt hatte. Das passierte immer wieder, wenn ein Hirsch, dessen Geweih sich voll entwickelt hatte, unentwegt andere männliche Tiere herausforderte, um die Dominanz über seinen Harem zu sichern; während solcher Machtkämpfe waren die Hirschkühe schutzlos und somit leichte Beute für die Wölfe.
Duach war mit der Landschaft und ihren Bewohnern vertraut und ließ sich davon nicht beeindrucken. Er konzentrierte sich in erster Linie auf die brutale, unerbittliche Realität des Flusses, auf dem er seinen Lebensunterhalt verdiente. Er kannte den Fluss ab der berühmten Abtei Lios Mór, ab Ceapach Chuinn, und weiter flussabwärts, wo er durch sein breites Bett strömte. Er kannte jede Biegung und jede Landzunge auf der fünfunddreißig Kilometer langen Strecke bis zu der kleinen Hafenstadt Eochaill, der Stadt der Eiben, die an der Flussmündung lag, am Tor zu dem gewaltigen grauen Ozean dahinter.
Duach war in seinem langen Holzboot, dem ethar, aufgestanden, um das einzige brat oder Segel einzuholen, während sein schweigsamer Gefährte das Boot mithilfe eines einzelnen rámh oder Ruders in der Flussmitte hielt. Sie passierten gerade eine fast rechtwinklige Biegung und umrundeten schwungvoll eine Landspitze am westlichen Ufer.
Duach hatte das Segel befestigt und lächelte zu seinen drei Passagieren hinunter.
»Wir werden bald bei der Abtei anlegen. Du wirst mir sicher zustimmen, Lady, dass die Fahrt recht angenehm war?«, fragte er die rothaarige Frau, die Sprecherin der drei. Sie musterte ihn von unten mit ihren scharfen Augen, deren Farbe er nicht eindeutig als Grün oder Blau einordnen konnte. Sie schien sich je nach dem Stand der Sonne zu verändern.
»Heißt es nicht, dass jede Reise, auf der nichts passiert, eine gute Reise ist?«, entgegnete die Frau ernst. »Trotzdem wird mir wohler sein, wenn wir unser Ziel erreicht haben.«
Der Bootsführer lachte gutmütig.
»Haben die Philosophen nicht behauptet, Glück sei eine Art zu reisen und nicht das Ziel?«
Nach kurzem Schweigen zuckte die Frau die Schultern.
»Es war eine gute Zeit für unsere Reise, Meister Bootsführer«, sagte sie und hob den Kopf kurz zum Himmel. »Du hast für eine angenehme Fahrt gesorgt. Schon bald beginnt die dunklere Jahreshälfte und bringt entlang des Flusses Veränderungen mit sich, die vielleicht weniger erbaulich sind.«
Duach, der das Segel eingerollt und festgezurrt hatte, seufzte.
»Gut, dass ihr euch für diesen Zeitpunkt entschieden habt, um die Fahrt zu unternehmen. In der dunklen Jahreshälfte lässt es sich schlechter reisen.«
Fidelma runzelte die Stirn.
»Leider sind es die Ereignisse, die über meine Zeit bestimmen«, erwiderte sie resigniert. »Es war nicht meine Entscheidung, gerade jetzt hierherzukommen.«
Duach fiel darauf keine Antwort ein. Er wusste, dass sie Fidelma war, die Rechtsberaterin ihres Bruders Colgú, des Königs von Muman, des größten und südwestlichsten der Fünf Königreiche von Éireann. Er wusste auch, dass der Mann neben ihr ihr Ehemann war, Eadulf, ein Ausländer, der aus dem Königreich der Ostangeln jenseits des großen Meeres kam. Den dritten Mann, der hinter ihnen saß, kannte er nicht, doch es genügte ihm, dass er jung war und die Statur eines Kriegers hatte. Er trug den goldenen Halsreif der Elite-Leibwache der Könige der Eóghanacht. Der Bootsführer wunderte sich nur, weil der rechte Arm des jungen Kriegers unmittelbar unter dem Ellbogen amputiert worden war. Dennoch trug er sein Schild und Schwert, als wären sie seine natürlichen Gliedmaßen.
Duach überlegte, ob er noch etwas zu ihrer Reise sagen sollte, die sie den An Abhainn Mór hinunterführte. Links und rechts des Großen Flusses erstrecken sich die Gebiete der Uí Liatháin beziehungsweise der Déisi, und erst sechs Monate zuvor hatten sich beide Stämme verbündet, um Cashel anzugreifen und den jungen König der Eóghanacht zu stürzen. Ihr Versuch war fehlgeschlagen, und jetzt herrschten Spannungen im Land und ein unsicherer Friede. Duach konnte nichts dagegen tun, dass ihm bei diesen Passagieren nicht ganz wohl war.
Außerdem hatte er gehört, Fidelma von Cashel sei launisch wie die meisten stolzen Adligen der Eóghanacht, die das Königreich seit Menschengedenken regierten. Duach hatte seinen eigenen Stolz: Er war stolz darauf, ein freier Mann zu sein, ein céile, und ein immarchorthid, ein Fährmann, der schon zahlreiche vornehme Adlige, Äbte und Kirchenmänner als Boots- und Fremdenführer begleitet hatte. Solche Würdenträger waren oft zwischen Lios Mór und dem Seehafen Eochaill unterwegs und nahmen seine Dienste gern in Anspruch. Es machte ihn stolz, dass er durch seinen Ehrenpreis und seinen Ruf das Vertrauen vieler Prinzen genoss, die mit ihm reisten.
»Sollten dich äußere Ereignisse zu dieser Reise veranlasst haben, kannst du die Entscheidung dem Schicksal zuschreiben, Lady«, sagte er schließlich. »So gesehen hattest du Glück, dass du genau heute reisen musstest und der Fluss dir so wohlgesonnen war. Auch ich bin oft in der misslichen Lage, mir nicht aussuchen zu können, wann ich meinem Gewerbe nachgehen und auf dem Fluss unterwegs sein muss. Das Schicksal entscheidet darüber, ob ich vor dem Wind flussabwärts segeln kann oder ob ich gegen den Wind, der mir trotzig entgegenbläst, ankämpfen muss und zudem noch gegen die Strömung. Ich habe keine Wahl. Jeder von uns muss akzeptieren, was das Schicksal ihm auferlegt.«
Fidelma starrte den Bootsführer einen Augenblick an; ihr Blick wurde finster angesichts seiner plumpen Vertraulichkeit. Dann begann sie unvermittelt zu lächeln.
»Du hast recht, Duach. Wir befinden uns alle in der Hand des Schicksals«, stimmte sie ihm mit einem hörbaren Seufzer zu. »Heute ist ein schöner Herbsttag. Der Fluss ist herrlich, und es gibt immer viel zu beobachten. Deshalb war es eine angenehme Reise, und ich möchte dir danken, dass du sie dazu gemacht hast.«
Das lange Boot glitt um die Landspitze an der sanften Flussbiegung herum und weiter nahe dem westlichen Ufer auf die Abtei zu, die auf einer Insel lag. Hier bog der breite Fluss nach Westen und gleich darauf scharf nach Süden. Die Strömung schien stärker zu werden, während die Ufer das Flussbett einengten. Die längliche, schmale Insel der Eichen, auf die Duach zeigte, war von dichten hohen Bäumen und grünem Blattwerk überwachsen, so dass sie die Gebäude der Abtei, die sich dazwischen versteckten, kaum erkennen konnten. Sie sahen jedoch einen breiten Anlegesteg, an dem mehrere Boote vertäut lagen und auf dem Wasser dümpelten; ihre leichten Rahmen waren mit Tierfellen bespannt. Ein paar Männer entluden die Boote.
Mitten im Fluss, nicht weit vom Anlegesteg entfernt, ankerte ein größeres Schiff. Seine Segel waren aufgerollt, und das Deck war menschenleer. Duach sah die fragenden Blicke seiner Passagiere.
»Das ist ein long chennaig der Déisi, ein Handelsschiff.«
»Aber ihr Handelsschiff fährt unter der Flagge von Nia Segaman.« Es war der einarmige Krieger, der das gesagt hatte. »Das ist die Sturmfahne eines Kriegsschiffs. Segomo war in alten Zeiten ihr Kriegsgott.«
Duach überlegte, was er antworten sollte.
»Das ist nicht ungewöhnlich, was auch immer das für ein Schiff ist, Dego«, wandte Fidelma ein. »Wir sind hier in unmittelbarer Nähe des Déisi-Gebiets.«
Dego! Duach hätte den Krieger erkennen müssen, denn wer hatte den Namen des einarmigen Helden noch nicht gehört, der erst vor Kurzem zum Befehlshaber der Elite-Leibwache des Königs von Cashel ernannt worden war? Man hatte ihn in einen Hinterhalt gelockt und so schwer verwundet, dass Bruder Eadulf, Fidelmas Ehemann, ihn operieren und den entzündeten Unterarm amputieren musste. Die nötigen medizinischen Kenntnisse dafür hatte er an der berühmten Hochschule von Tuaim Brecain im Norden Irlands erworben. Dego hatte sein Schicksal, das die meisten Krieger zur Verzweiflung getrieben hätte, nicht einfach hingenommen, sondern gekämpft: zunächst darum, sich von seiner Verletzung zu erholen. Nach seiner Genesung hatte er wieder begonnen, zu trainieren und die Kriegskunst ganz neu zu erlernen. Bald gelang es ihm, sein Schwert mit der linken Hand genauso geschickt zu führen wie früher mit seiner rechten. Dem Vernehmen nach konnte er einen versierten jüngeren Krieger mit zwei gesunden Armen immer noch ausstechen. Duach hatte die Geschichten über Dego gehört, denn die Flussbewohner erzählten sie sich oft abends am Feuer. Er betrachtete den Krieger ehrfürchtig.
Eadulf dagegen besah sich staunend das größere Schiff.
»Du sagst, das Gebiet der Déisi, eine Ortschaft namens Eochaill, befinde sich am westlichen Ufer nicht weit von hier? Aber die Abtei liegt doch auf dem Gebiet der Uí Liatháin, oder nicht?«
»Das mit den Grenzen ist hier nicht ganz so einfach«, antwortete Fidelma. »Es gab eine Zeit, als die Déisi dieses Gebiet für sich beanspruchten. Die Ortschaft Eochaill selbst gehörte damals zu ihrem Gebiet, während das Land jenseits des Westufers weiterhin bei den Uí Liatháin blieb.«
»Was hat ein Kriegsschiff der Déisi mit kriegerischer Beflaggung dann hier zu suchen?«, wunderte sich Eadulf.
Duach beugte sich lächelnd zu ihm hinüber. »In diesen Gewässern wirst du immer wieder Handelsschiffen der Déisi begegnen. Sie haben das Recht, den Fluss zu befahren. Eochaill ist ein bedeutender Seehafen.«
»Welche Waren hat die Abtei ihnen denn anzubieten?« Eadulf war noch nicht zufrieden. »Wird denn in der Abtei irgendetwas hergestellt?«
Duach zuckte die Schultern. »Nicht viel, soweit ich weiß. Natürlich könnten die Schiffe einfach dazu dienen, Leute zwischen wichtigen Zentren wie Árd Mór oder Dún Garbháin und der Abtei hin- und herzutransportieren, wer weiß? Das sollte uns jedoch jetzt, da wieder Frieden zwischen uns allen herrscht, nicht beunruhigen. Der Konflikt wurde vor sechs Monaten beigelegt.«
Duach hatte inzwischen, während er das Segel einholte, eine Fahne mit einem Hirschkopf gehisst. Die Fahne, kaum mehr als ein Wimpel, war das Symbol der Herrscherdynastie der Eóghanacht und verkündete, dass sich ein Mitglied des königlichen Haushalts an Bord befand.
Als der Abt von Lios Mór Duach gebeten hatte, ein paar vornehme Passagiere auf seine Reise flussabwärts mitzunehmen, darunter König Colgús Schwester Fidelma, hatte der Bootsführer nach einer Fahne der Eóghanacht gesucht, die er zu gegebener Zeit am Mast präsentieren konnte. Auf dem Anlegesteg der Abtei musste man den Wimpel entdeckt haben, denn eine Glocke begann eindringlich zu läuten. Dass man dem ankommenden Schiff keine kriegerischen Absichten unterstellte, zeigte sich daran, dass die Männer an der Mole einfach weiterarbeiteten und sich durch seine Ankunft nicht stören ließen.
»Es sieht ganz danach aus, als würde man dich offiziell begrüßen«, bemerkte Eadulf und lächelte den Leuten am Ufer zu. »Anscheinend ist sogar der Abt herbeigeeilt, um dich willkommen zu heißen.«
»Das ist nicht der Abt«, korrigierte ihn Fidelma. »Ich habe Abt Brocc und seinen Verwalter kennengelernt, als sie vor sechs Monaten an den Friedensverhandlungen in Cashel teilgenommen haben.«
»Warum war Abt Brocc bei den Gesprächen dabei?«, fragte Eadulf, während er angestrengt versuchte, sich an das Ereignis zu erinnern.
»Weißt du noch, wie diese Frau, Schwester Ernmas, meinen Bruder ermorden wollte?«, fragte ihn Fidelma. »Sie hat behauptet, ihre Ausbildung hier in dieser Abtei gemacht zu haben. Außerdem hatte man damals sieben feindlichen Kriegsschiffen gestattet, im Schutz der Insel zu ankern. Ihre Passagiere waren Krieger der Uí Liatháin, die nur darauf warteten, Cashel anzugreifen. Nachdem der Prinz der Uí Liatháin beim letzten Gefecht gefallen war, kam der Abt nach Cashel und versicherte uns, er sei schuldlos und habe mit dem Komplott nichts zu tun. Er bestritt außerdem, dass Ernmas je eine Verbindung zu seiner Abtei gehabt habe.«
»Kennst du den älteren Geistlichen am Ufer?« Dego wandte sich mit dieser Frage an den Bootsführer.
»Das könnte der scriptor sein, der Bibliothekar von Dair Inis«, antwortete Duach. »Ich weiß nicht, wie er heißt.«
Fidelma und Eadulf wandten ihre Aufmerksamkeit jetzt der Gruppe auf der Mole zu.
»Da sind sogar einige Frauen, die den Männern bei der Arbeit helfen«, bemerkte Dego.
»Alles andere würde mich auch wundern«, erwiderte Fidelma. »Die Abtei ist ein conhospitae, ein gemischtes Haus, auch wenn ich nicht weiß, wie das zahlenmäßige Verhältnis zwischen Frauen und Männern ist. Sie leben zusammen und dienen gemeinsam dem Neuen Glauben.«
Dego sah sich immer noch prüfend unter den Anwesenden auf der Mole um.
»Der scriptor trägt die Gewänder eines leitenden Mitglieds der Gemeinschaft. Doch ich sehe weder den Abt noch seinen rechtaire, seinen Verwalter, die gekommen wären, um dich zu begrüßen, Lady. Damit machen sie dir keine Ehre«, brummelte er missbilligend.
»Der stolze Hirsch, das Symbol meiner Familie, gilt hier vielleicht nicht als verehrungswürdig«, entgegnete Fidelma trocken und zeigte auf den Wimpel. »Jemand wird das Symbol bestimmt erkannt haben und sich daran erinnern, dass wir vor sechs Monaten noch Krieg gegeneinander führten.«
Als Duach sich zu seinem schweigsamen Gefährten gesellte, der sich über die Ruder beugte, hatte die Strömung sie schon um die Biegung des Flusses getragen. Da die widrigen Winde das Boot nicht nah genug ans Ufer brachten, mussten die zwei Männer ihre Ruder geschickt einsetzen und ihre ganze Kunst aufwenden, um es zum Anlagesteg zu manövrieren. Sie umrundeten den Bug des großen Schiffes, bis das Boot seitwärts auf den Anlegesteg zudümpelte und schließlich sanft dagegen stieß. Duach stand auf und warf den Leuten auf der Mole ein Schiffstau zu. Gleich darauf hatte man das Boot festgemacht und Fidelma und ihren Begleitern geholfen, auf den hölzernen Anlegesteg zu klettern.
Der Geistliche, dünn wie ein Skelett – der, den Eadulf fälschlicherweise für den Abt gehalten hatte –, ließ ihnen Zeit, nach der langen Bootsfahrt ihr Gleichgewicht an Land wiederzufinden, und stürzte dann eifrig auf sie zu. Dabei hinkte er auffällig, als wäre ein Bein länger als das andere.
»Deus sit apud vos«, begrüßte er Fidelma förmlich, lächelte jedoch freundlich. »Ich bin Bruder Cróebíne und heiße euch auf der Insel der Eichen willkommen.«
»Et vobiscum Deus«, antwortete Fidelma feierlich. Den merkwürdigen Gang des Schreibers und sein ausgemergeltes Erscheinungsbild beachtete sie nicht weiter. »Man hat mir gesagt, dass du der Schreiber bist?«
»Ich bin hier seit mehreren Jahren scriptor. Als Duachs Boot sich der Mole näherte, ist einem meiner Mitbrüder aufgefallen, dass es den Wimpel der Eóghanacht von Cashel gehisst hat. Wen habe ich also die Ehre, bei uns begrüßen zu dürfen?«
»Ich bin Fidelma von Cashel und reise zusammen mit meinem Ehemann und meinem Leibwächter.«
Das schien den Bibliothekar zu verblüffen, denn er machte große Augen.
»Wie schön, dich hier willkommen zu heißen, Fidelma von Cashel. Dennoch kommt dein Besuch etwas überraschend für uns, Lady. Wie können wir dir behilflich sein?«
»Überraschend?« Jetzt war es an Fidelma, erstaunt zu reagieren. »Ich dachte, ich werde hier erwartet?«
»Wie kommst du darauf?«, entgegnete der Bibliothekar verwundert und warf einen kurzen Blick zu Eadulf und Dego hinüber, die das Boot ebenfalls verlassen hatten. Er ging zu ihnen, wiederholte die Begrüßungsformeln mit starrem Lächeln und wandte sich dann erneut Fidelma zu.
»Man hat uns nicht über deine Ankunft informiert. Wieso sollten wir dich hier erwarten?«
Fidelma war einen Augenblick lang sprachlos.
»Wenn du das nicht weißt, sollte man uns augenblicklich zu Abt Brocc bringen. Er war es, der nach uns geschickt hat.«
Jetzt verriet Bruder Cróebínes Miene eine seltsame Mischung aus Bestürzung und … Fidelma war sich nicht ganz sicher, konnte es Angst sein? Dem Bibliothekar schien es die Sprache verschlagen zu haben.
»Komm schon, Bruder Cróebíne«, sagte Fidelma ärgerlich. »Bring uns zu Abt Brocc. Man sollte dem Abt mitteilen, dass ich eingetroffen bin. Seine Nachricht wurde mir von Eachdae, dem Fuhrmann, überbracht, als wir uns in Lios Mór aufhielten, und sie klang dringend. Wir sind auf schnellstem Wege hergekommen.« Fidelma deutete auf den Fluss. »Je eher ich Brocc sehe, desto eher werde ich wissen, warum er nach mir geschickt hat.«
Bruder Cróebíne stand wie angewurzelt da und schien sich trotz Fidelmas wachsendem Missmut nicht entscheiden zu können. Sein Mund öffnete und schloss sich mehrmals, bis er schließlich eine Entschuldigung murmelte.
»Verzeih mir, Lady. Ich weiß nichts von alldem …«
Schließlich war es Duach, der der befremdlichen Unentschlossenheit des Schreibers ein Ende setzte. Er trat zu ihnen und berührte mit seiner knorrigen Faust seine Stirn.
»Ich hoffe, es ist alles in Ordnung, Lady? Ich muss weiter nach Eochaill. Wenn du unsere Dienste nicht länger benötigst, werden Docht und ich aufbrechen.«
»Wir danken dir dafür, dass du uns von Lios Mór hierhergebracht hast, Duach«, erwiderte Fidelma und machte Eadulf ein Zeichen, herüberzukommen und dem Bootsführer ein paar Münzen zu geben. Gleich darauf beobachteten sie, wie das Boot von der Mole ablegte und wie die Strömung es packte und zur Mitte des Flusses, Richtung Süden, fortzog, während Duach und Docht das Segel setzten. Fidelma lächelte, als sie sah, dass Duach den Wimpel der Eóghanacht, der am Mast flatterte, herunterließ.
»Und jetzt?«, fragte sie Bruder Cróebíne.
Der Bibliothekar zögerte ein Weilchen und ließ schließlich so etwas wie einen Seufzer hören.
»Ich bringe euch zu unserem rechtaire, Bruder Guala, dem Verwalter der Abtei«, sagte er fast widerwillig.
Eadulf nahm sofort ihr Gepäck und stand zum Aufbruch bereit neben Dego, der den Bibliothekar ansah, als warte er darauf, dass der sich in Bewegung setzte.
Fidelma wollte gerade erneut darauf hinweisen, dass sie verlangt hatte, den Abt zu sprechen und nicht den Verwalter, doch Bruder Cróebíne hatte sich umgedreht und lief ihnen voraus. Sie zuckte die Schultern und folgte ihm, als er sie von der Mole herunter und quer über das von Bäumen gesäumte Ufer der Insel führte. Hinter der beinahe undurchdringlichen Wand aus Eichen tauchten jetzt die Holzgebäude der Abtei auf, die über das Gelände verstreut waren. Die Abtei Dair Inis war ausschließlich mit Materialien aus der unmittelbaren Umgebung erbaut worden. Im Inneren der Insel der Eichen hatte man sämtliche Bäume gefällt und ihr Holz verwendet, um auf der entstandenen großen Lichtung eine Kapelle und mehrere Wohn- und Wirtschaftsgebäude zu errichten. Die Bäume ringsum bildeten ein massives Bollwerk, das die Abtei so uneinnehmbar machte wie eine Festung. Viele der frühen Abteien folgten demselben Muster. Manche von ihnen wurden heutzutage aus Stein neu errichtet, weil die dort herrschenden Prinzen und Äbte sich und ihrem bedeutenden Wirken ein bleibendes Denkmal setzen wollten. Außer der Anlegestelle am Fluss gab es, wie Eadulf bemerkte, am Westufer, wo ein Flüsschen die Insel vom Festland trennte, einen weiteren Zugang zur Abtei: eine Brücke, von der ein ausgetretener Pfad durch die ansteigenden Hügel und Wälder führte. Die Abtei und ihre Bewohner schienen recht gut geschützt zu sein – wie in einer kleinen Festung.
Insgesamt wirkte der Ort ruhig und fast menschenleer, abgesehen von den wenigen Grüppchen, die von der gemischten Gemeinschaft zu sehen waren. Eadulf dachte sofort an die Schriften, die man in solchen Gebäuden und unter solchen Bedingungen aufbewahrte. Ein schöner Ort im Sommer, doch während der Wintermonate würden die Schriften ohne Mauern aus Stein und ohne Feuer im Kamin nicht lange überleben.
Eadulfs Gedankengang wurde unterbrochen, als ein hochgewachsener Mann mit rotbraunem Haar und aufrechter Haltung aus der Tür eines der nahe gelegenen Gebäudes trat. Er strahlte die Frische der Jugend aus und hatte angenehme Gesichtszüge. Als er die Besucher erblickte, hielt er inne und musterte sie neugierig aus dunkelbraunen Augen. Sein Mönchsgewand war von noch besserer Qualität als das des Schreibers. Selbst aus der Entfernung erkannten sie die Silberkette um seinen Hals, an der ein Staurogramm aus Silber hing – das symbolische Tau-Rho, das erste Erkennungszeichen der frühen Christen. Der jugendlich wirkende Mann schien eine leitende Stellung zu bekleiden.
Bruder Cróebíne drehte sich zu ihm um und verbeugte sich fast vor ihm.
»Salvete, Bruder Guala.«
Bruder Guala war deutlich größer als der abgemagerte Bibliothekar. Zuerst sah er Dego an und bemerkte seinen bedeutungsträchtigen goldenen Halsreif, doch ihm entging auch nicht, dass er nur einen Arm hatte und trotzdem die Ausrüstung eines Kriegers trug. Dann streifte sein Blick Eadulf und dessen römische Tonsur und blieb schließlich an Fidelma hängen. Als er sie wiedererkannte, zögerte er erschrocken und versuchte krampfhaft, sich über sein weiteres Vorgehen klar zu werden. Plötzlich stieß er einen tiefen, lang gezogenen Seufzer aus, der sich anhörte, als würde das letzte Quäntchen Luft aus seiner Lunge entweichen.
Bevor der Verwalter etwas sagen konnte, ergriff Bruder Cróebíne das Wort: »Bruder Guala. Das ist Fidelma von Cashel, die soeben mit ihrem Ehemann Eadulf aus dem Königreich der Ostangeln hier eingetroffen ist. Du hast bestimmt schon von ihnen gehört. Ich glaube, du und Abt Brocc, ihr habt sie kennengelernt, als man euch nach Cashel beordert hat, gleich nach dem kurzen Konflikt, der …«
Bruder Guala brachte ihn mit einer Geste zum Schweigen.
»Fidelma, die Schwester von König Colgú«, sagte er leise mit seiner wohlklingenden, angenehmen Baritonstimme. »Excipium te com tuis partibus, domina.«
»Ich danke dir für deinen Willkommensgruß«, antwortete Fidelma und verzichtete auf die förmliche Erwiderung in Latein. »Ich erinnere mich an dich, Bruder Guala. Es waren schlimme Tage damals; Tage, die nicht hätten sein müssen.«
Kurz zuckte Unmut über das Gesicht des Verwalters, verschwand jedoch gleich wieder, fast noch bevor sie ihn bemerkte.
»Hoffentlich sind diese schlimmen Zeiten nun vorbei«, stimmte er ihr zu.
»Vielleicht wärst du dann jetzt so freundlich, uns unverzüglich zu Abt Brocc zu bringen? Bisher war euer Schreiber, Bruder Cróebíne, nicht gewillt, mir diese Bitte zu erfüllen.«
Einen Moment schien es, als hätte ein eisiger Wind den Verwalter erstarren lassen. Dann warf er dem ängstlichen Bibliothekar mit dem eingefallenen Gesicht einen kurzen Blick zu. Fidelma sah den Blick und überlegte, welches Zeichen sie sich wohl damit gaben.
»Ist etwas nicht in Ordnung?«, erkundigte sie sich spitz.
Der Verwalter trat von einem Fuß auf den anderen und versuchte, ein Lächeln zustande zu bringen.
»Vielleicht sollten wir zunächst eine Unterkunft für euch vorbereiten? Ich würde euch raten, euch kurz auszuruhen und zu erfrischen, da ihr bestimmt eine lange Reise hinter euch habt? Seid ihr per Boot den Großen Fluss hinuntergefahren?«
»Vielleicht sollten wir zunächst dem Abt unsere Ankunft melden?«, entgegnete Fidelma. »Schließlich war er es, der uns dringend gebeten hat, ihn so schnell wie möglich aufzusuchen. Es klang, als wäre Eile geboten.«
Die Miene des Verwalters verriet, dass er von Abt Broccs Bitte nichts wusste.
»Du sagst, Abt Brocc hätte euch mit einer Nachricht aufgefordert, so schnell wie möglich herzukommen?«, fragte er überrascht und versuchte offensichtlich zu begreifen, was das zu bedeuten hatte.
»Wenn wir Abt Brocc jetzt sehen dürften?«, hakte Fidelma mit betont geduldiger Stimme nach. »Ich bin sicher, dass er uns und auch euch bei dieser Gelegenheit erklären wird, warum wir herkommen sollten.«
Es fiel ihr schwer, ihren Zorn angesichts der andauernden Ausflüchte unter Kontrolle zu halten.
»Hat Abt Brocc in seiner Nachricht etwas Genaueres angedeutet?« Der Verwalter blieb hartnäckig.
Fidelma biss die Zähne zusammen, begriff jedoch, dass sie sich ihren Ärger nicht anmerken lassen durfte.
»Da der Abt euch nicht ins Vertrauen gezogen hat, verlange ich, unverzüglich zu ihm gebracht zu werden, damit er alles erklären kann.« Ihre Stimme wurde jetzt lauter.
»Hat er dir weiter nichts mitgeteilt?«, wiederholte Bruder Guala.
Fidelma erkannte, dass sie die undurchdringliche Abwehr des Verwalters nicht überwinden würde. Sie atmete tief durch und zählte in Gedanken vor sich hin. Dann lenkte sie ein und bemühte sich, einen Kompromiss zu finden. »Er hat nur mitgeteilt, dass er dringend meiner Dienste als dálaigh bedarf sowie als Anwältin von …«
»Mehr hat er nicht gesagt?« Der Verwalter unterbrach sie schroff. »Nichts von einem deogaire?«
Fidelma starrte Bruder Guala fassungslos an. Es dauerte eine Weile, bis sie über das Wort, das Wahrsager bedeutete, zu lächeln begann.
»Warum sollte er einen Wahrsager erwähnen, als er mich zu kommen bat?«
Eadulf wurde rot vor Empörung, weil er den Verwalter falsch verstanden hatte.
»Meine Frau, Lady Fidelma, ist keine Wahrsagerin. Sie ist eine respektierte, anerkannte Anwältin; sie ist eine dálaigh und nicht irgendeine Hellseherin. Auf den Jahrmärkten gibt es jede Menge fahrendes Volk, das dir für den Preis einer Mahlzeit dein Schicksal vorhersagt.«
Bruder Guala war die Situation sichtlich unangenehm.
»Ich wollte damit nicht sagen, dass man nach Lady Fidelma geschickt hat, weil man sie für eine Scharlatanin hält. Vielleicht habe ich das falsche Wort gebraucht – fáistinech –, eine Prophetin oder Weissagerin.«
»Du solltest erklären, was du meinst.« Fidelma begriff, dass sich hinter seiner Bemerkung etwas Ernstes verbarg.
Bruder Guala hatte Mühe, die richtigen Worte zu finden.
»Abt Brocc hat mir erzählt, er sei einer Frau begegnet, die ihm etwas prophezeite. Das hat ihn zutiefst beunruhigt. Vielleicht war diese Beunruhigung der Grund, warum er dich hat kommen lassen?«
Fidelma fand das keineswegs witzig. »Ich habe schon mit genügend Hellsehern und Wahrsagern zu tun gehabt, um zu behaupten: Wenn das der Grund war, muss sich Abt Brocc wohl einen Scherz mit mir erlaubt haben. Solche Leute nimmt doch niemand ernst. Deshalb lasst uns den Abt endlich aufsuchen und herausfinden, was ihn wirklich bedrückt.«
Der Verwalter warf dem Bibliothekar erneut einen Blick zu, als erhoffe er sich von ihm Hilfe bei einer Entscheidung. Fidelma sah ihm seine Besorgnis an. Dann schien er zu einem Entschluss zu kommen.
»Abt Brocc hat diese Wahrsagerin vor über einer Woche getroffen. Ihre Prophezeiung machte ihm sehr zu schaffen.«
Eadulf erkannte, dass Fidelma allmählich wütend wurde, weil der Verwalter ihre Zeit vergeudete. Er spürte jedoch auch, dass Bruder Guala einen Grund für all diese Ausflüchte haben musste.
»Ich verstehe leider nicht, wovon du sprichst«, blaffte Fidelma ihn schließlich an. »Euer Abt hat mich hergebeten, um sich mit mir zu beraten. Er hat keine Hellseherin oder Wahrsagerin erwähnt, die ihm zu schaffen machte.«
»Die Frau hat Abt Brocc seinen Tod prophezeit.« Der Verwalter sagte das kalt und ohne jedes Gefühl.
Fidelma riss erstaunt die Augen auf.
»Eine Frau? Und sie hat Abt Broccs Leben bedroht? Hat er vielleicht deshalb nach uns geschickt, um sich mit uns zu besprechen?«
»Die Prophetin machte sehr konkrete Angaben. Sie sagte voraus, dass Brocc sterben werde, bevor das Fest der heiligen Monessa zu Ende sei.«
»Monessa?«, fragte Eadulf verblüfft. »Welche Monessa?«
Der Verwalter sah Eadulf mitleidig an, doch es war Dego, der seine Frage beantwortete. Er hatte die ganze Zeit schweigend dabeigestanden, so dass die anderen seine Anwesenheit fast vergessen hatten.
»Ich habe die Geschichte von Monessa gehört, als ich unseren Obersten Brehon zu einem Städtchen in der Nähe des Loch Aininn begleitet habe, das in einem der Gebiete der Uí Néill liegt.«
»Und?« Eadulf war völlig durcheinander. »Was hat das mit dem Gebiet der Uí Liatháin zu tun?«
»Monessa war die schöne Tochter eines Adligen der Uí Néill; sie lebten im Norden. Patricius, der Britannier, hatte ihren Vater bekehrt. Der wiederum überzeugte das Mädchen, sich ebenfalls im christlichen Glauben taufen zu lassen. Die Geschichte erzählt, dass Monessa so rein war, dass sie, als sie sich aus dem Taufbecken erhob, tot umfiel.«
»Keine erfreuliche Begebenheit«, bemerkte Fidelma, ohne viel nachzudenken.
»Warum nicht?«, entgegnete Bruder Cróebíne. »Wegen seiner vollkommenen Reinheit hat Gott ihren Geist zu sich gerufen. Deshalb feiern die Nonnen in unserer Abtei diesen Festtag jedes Jahr, genau in diesem Monat.«
»Ich verstehe«, erwiderte Fidelma ungeduldig. »Du meinst also, dass die sogenannte Prophetin das Leben von Abt Brocc bedroht und ihm erklärt hat, er werde sterben, noch bevor das Fest der heiligen Monessa zu Ende sei? Und dass er nach uns geschickt hat, weil er sich ganz konkret körperlich bedroht fühlt?«
»Das ist jedenfalls ein ungewöhnliches Ansinnen«, bemerkte Eadulf. »Falls der Abt Angst um Leib und Leben hat, gibt es in eurer Abtei doch bestimmt genügend starke junge Mönche, die ihn vor einer solchen Bedrohung schützen könnten? Wären sie für diese Aufgabe nicht geeigneter als eine Anwältin und deren Ratschläge? Falls es sich bei der Bedrohung jedoch lediglich um einen Fluch handelte, würde ich denken, dass die religiösen Überzeugungen des Abts wohl stark genug sein dürften, um ihn gegen derartige heidnische Verwünschungen zu schützen.«
Fidelma schnaubte missbilligend.
»Es ziemt sich nicht, über Angelegenheiten, die den Abt betreffen, in seiner Abwesenheit zu sprechen. Wir sollten jetzt zu ihm gehen und mit ihm über die Sache reden, anstatt hier herumzustehen und zu schwatzen.«
Jetzt war es Bruder Guala, der hörbar ausatmete.
»Ich habe deine Gelehrsamkeit überschätzt, Lady. Das Fest der heiligen Monessa war vor zwei Tagen«, sagte er kalt.
Fidelma sah ihn erneut fassungslos an. »Dann ist das Fest der heiligen Monessa also schon vorbei? Und damit auch die Bedrohung? Gehen wir endlich zum Abt und reden mit ihm.«
»Die Bedrohung ist vorbei, doch das Böse bleibt«, entgegnete Bruder Guala dumpf.
»Wie meinst du das?«
»Man hat Abt Brocc am Morgen des Festtags tot aufgefunden. Wir haben ihn gestern um Mitternacht beerdigt, wie es die Tradition vorschreibt. Die Prophezeiung hat sich in jeder Hinsicht erfüllt.«
Bald darauf begleitete man Fidelma, Eadulf und Dego ins Zimmer des verstorbenen Abts. Zunächst hatte man Fidelma und ihren Gefährten ihre Unterkünfte gezeigt, damit sie sich nach ihrer Reise waschen konnten, wie es die Tradition gebot. Erst nachdem das vorschriftsgemäß erledigt war, würde man sich wie zuvor verabredet dort treffen und über Abt Broccs Tod sprechen.
Von dem Zimmer aus, das man ihnen zeigte, hatte der Abt seine gemischte Gemeinschaft geleitet. Bruder Guala hatte sich erlaubt, den Platz des Abts einzunehmen. Bruder Cróebíne setzte sich auf den Stuhl rechts von ihm, und ein älteres weibliches Mitglied der Gemeinschaft setzte sich zu seiner Linken. Man stellte ihnen die Frau als Schwester Cáemóc vor, als die chomairlid oder Vorsteherin der Nonnen in der Abtei. Fidelma und Eadulf nahmen ihnen gegenüber auf den zwei übrigen Stühlen Platz. Dego wartete respektvoll an der Tür.
Als alle saßen, brach Bruder Guala das unbehagliche Schweigen, das in der kleinen, betrübten Versammlung entstanden war.
»Ich bin nicht sicher, welche Vorgehensweise jetzt angemessen ist, denn in rechtlichen Dingen bin ich nicht sehr bewandert. Wie sollen wir anfangen? Ich werde dir die Führung überlassen, Fidelma. Was möchtest du wissen?«
»Ich habe Abt Brocc kennengelernt, als er mit dir, Bruder Guala, nach Cashel gekommen ist; aufgrund dieser Begegnung hat er mich wahrscheinlich zu sich gebeten. Nach dem gescheiterten Umsturzversuch der Uí Liatháin habt ihr zwei uns aufgesucht, um uns darzulegen, dass eure Abtei nicht darin verstrickt war. Ich erinnere mich, dass sich der Verschwörer Selbach, der Prinz der Eóghanacht Raithlind, zum Zeitpunkt des Aufstands zusammen mit den Frauen in seinem Gefolge hier in der Abtei aufgehalten hat. Ich erinnere mich auch an den Kopf der Verschwörung: an die rachsüchtige Aincride, die Mutter von Prinz Elódach, die sogar behauptet hat, sie hätte hier in der Abtei studiert …«
»Das entsprach nicht der Wahrheit.« Es war Schwester Cáemóc, die das scharf zurückwies. »Aincride hat nie hier studiert.«
»Wie auch immer«, fuhr Fidelma freundlich fort, »das hat sie nun mal behauptet. Sieben Kriegsschiffe der aufständischen Uí Liatháin lagen nahe der Abtei im Fluss vor Anker und warteten anscheinend auf das Signal zum Angriff.«
»Man hat das ganze Volk der Uí Liatháin angeklagt, an dem Komplott, durch das man deinen Bruder stürzen wollte, beteiligt gewesen zu sein«, gab Bruder Guala zu. »Auch das entsprach nicht der Wahrheit. Es war ein unglücklicher Zufall, dass unser Prinz Tigerna Cosraigib aus Dún Guairne einer der Anführer des Aufstands war und während der Kämpfe gefallen ist. Viele unserer Adligen fühlten sich verpflichtet, sich ihm anzuschließen. Abt Brocc und ich reisten, wie du weißt, nach Cashel, um an den Friedensgesprächen teilzunehmen und euch zu versichern, dass wir mit der Sache nichts zu tun hatten. Zwar hat der Oberste Brehon von Muman festgestellt, dass wir schuldlos und nicht in das Komplott verstrickt waren, doch viele Adlige der Uí Liatháin hat man dazu verurteilt, Entschädigungen an Cashel zu zahlen.«
»In der Tat.« Ein sarkastisches Lächeln huschte über Fidelmas Gesicht. »Du musst mich nicht daran erinnern, Bruder Guala. Ich erwähnte das und das Treffen mit dir und dem Abt damals nur, weil das möglicherweise ein Grund war, weshalb er gerade mich gebeten hat, hierherzukommen und ihn zu beraten.«
Alle schwiegen betreten.
»Wie dem auch sei, wir sind schon früher auf dem Gebiet der Uí Liatháin gewesen«, sagte Eadulf. »Schon damals haben wir mitbekommen, dass sich die Adligen auch untereinander nicht einig sind.«
»Ich dachte, ihr wollt etwas über den Tod des Abts wissen und nicht über diese alten Geschichten«, entgegnete der Verwalter gereizt.
»Dann beginnen wir doch mit den einfachen Tatsachen«, erwiderte Fidelma. »Du hast bereits angedeutet, dass Abt Brocc eines unnatürlichen Todes gestorben ist? Du hast erzählt, jemand habe ihm seinen Tod vorhergesagt und er sei dann genau so gestorben, wie es ihm prophezeit wurde. Mit der Prophezeiung beschäftigen wir uns später. Zuerst die Tatsachen. Auf welche Weise ist der Abt gestorben?«
Bruder Guala rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl umher und schaute den Bibliothekar an. Anscheinend war es ihm zur Gewohnheit geworden, Bruder Cróebínes Zustimmung zu suchen, bevor er Fragen beantwortete.
»Er ist an einer Versengung gestorben.«
Es herrschte Schweigen, während Fidelma und Eadulf über diese überraschende Antwort nachdachten. Dann fragte Eadulf: »Heißt das, er ist bei einem Brand umgekommen?«
»Ich wollte sagen, er hat sich versengt, er ist nicht in den Flammen verbrannt«, antwortete Bruder Guala und sprach langsam und mit Bedacht.
»Du benutzt das Wort versengt, loscud, aber das könnte genauso gut bedeuten, dass jemand durch einen Brand gestorben ist«, erklärte Fidelma. »Heißt das, er ist nicht in einer Feuersbrunst umgekommen?«
»Meine Worte sollten doch klar verständlich sein«, erwiderte Bruder Guala abwehrend. »Versengt. Ich meinte nicht verbrannt.«
Fidelma dachte eine Weile darüber nach.
»Und wo hat man den Toten gefunden?«
»Im tigh ’n alluis, im Schwitzhaus.«
Das überraschte Fidelma ebenso wie Eadulf.
»Ihr habt hier ein Schwitzhaus?«, fragte sie.
»Der Abt war ein großer Freund von Schwitzbädern«, antwortete der Verwalter. »Mir liegt das nicht, doch Bruder Cróebíne und einige andere Mitglieder der Gemeinschaft schätzen diese Form der Reinigung sehr. Man hat den Leichnam des Abts im Schwitzhaus gefunden, und in gewisser Weise hatte er sich selbst tödlich versengt.«
Fidelma sah Eadulfs spöttischen Blick, denn ihnen war sofort klar, dass ein solcher Vorfall, wenn man an die Schwitzhäuser in anderen Teilen des Königreichs dachte, wohl höchst unwahrscheinlich war.
»Wer hat denn den Toten gefunden?«, fragte Fidelma.
»Ich.« Es war Bruder Cróebíne, der darauf antwortete. »Ich und Bruder Scathánach.«
»Bruder Scatánach? Lebt er in dieser Abtei? Steht er als Zeuge zur Verfügung, wird er deine Geschichte bestätigen?«
»Ja und ja, das wird er«, antwortete der Bibliothekar.
»Dann lass ihn rufen.«
Bruder Guala leckte sich seine trockenen Lippen, bevor er mit einem Kopfnicken zustimmte. Fidelma wandte sich nun wieder an den Bibliothekar.
»Erzähl mir kurz, wie es dazu kam, dass du den Toten entdeckt hast. Über die Einzelheiten sprechen wir, wenn wir morgen bei Tageslicht alle zu diesem Schwitzhaus gehen. Jetzt möchte ich bloß eine Zusammenfassung.«
Bruder Cróebíne zögerte einen Augenblick, als müsste er seine Erinnerungen durchforsten.
»Es war am Vormittag, und ich war an der Reihe, das Schwitzhaus zu benutzen. Wie der Abt bevorzuge ich diese Methode für eine gesunde Reinigung des Körpers. Ich hatte vereinbart, gegen Mittag dorthin zu gehen. Unmittelbar nachdem der Abt fertig wäre. Bruder Scatánach begleitete mich, denn ich bin nicht so geschickt wie er darin, das Feuer anzuzünden und die verbrannten Kohlen auszuräumen.«
»Ich wundere mich, dass es bei euch ein Schwitzhaus gibt«, warf Eadulf stirnrunzelnd ein. »Ausgerechnet in einem so dicht bewaldeten Gebiet wie hier. Ist es nicht gefährlich, ein Schwitzhaus mitten im Wald zu betreiben, obendrein noch in einer Abtei, in der alle Gebäude aus Holz sind?«
»Man hat es nicht direkt hier gebaut«, erklärte Bruder Cróebíne sofort. »Du hast recht damit, dass es auf unserer kleinen Insel zu viele Eichen und anderes brennbares Holz gibt. Wie du siehst, wurde unsere Abtei vollständig aus heimischem Holz erbaut. Das Schwitzhaus errichtete man am anderen Ufer des Flüsschens im Westen, das die Insel vom Festland trennt. Es steht auf einem Berg in einem felsigen Gebiet oberhalb der Baumgrenze, direkt neben einer Quelle und einem Teich. Man hat die Stelle ausgesucht, weil sie von Kalksteinfelsen umgeben ist.«
Fidelma hatte schon überall im Land Schwitzhäuser gesehen und konnte sich unter der Beschreibung etwas vorstellen. Meistens handelte es sich um ein kleines Gebäude aus Stein, oft drei Meter lang, zwei Meter breit und knapp zwei Meter hoch. Man betrat das Schwitzhaus durch eine niedrige, schmale Öffnung, in der man sich ducken oder sogar kriechen musste. Zunächst schichtete man im Inneren Holz oder Torf auf und ließ alles verbrennen. Man heizte das Feuer immer weiter an, bis die Steinwände innen fast so heiß waren wie ein Ofen; dann harkte man die Glut ins Freie. Wer ein Schwitzbad nehmen wollte, kroch nackt hinein und blieb dort sitzen, bis der Schweiß in Strömen floss. Dann kroch er heraus und tauchte in eiskaltes Wasser ein, meist in einen Fluss oder See.
Auch Eadulf hatte auf seinen Reisen durch die Fünf Königreiche unterschiedliche Bauweisen von Schwitzhäusern kennengelernt, meist in Gegenden, in denen roter Kalkstein vorherrschte. Schwitzhäuser waren vor allem unter Heilkundigen beliebt; sie verbrannten zusätzlich verschiedene Heilkräuter im Feuer, um ihren Duft einzuatmen. Das linderte Erkältungen und Fieber. Von den reicheren Abteien abgesehen, ließen sich normalerweise nur Adlige solche Schwitzhäuser bauen.
Bruder Guala unterbrach das Gespräch mit abschätzigem Schnauben, als wäre das Thema nicht wichtig. »Einer der ersten Äbte hier, ein Prinz der Uí Liatháin, ließ das Schwitzhaus errichten. Er hatte so etwas in verschiedenen felsigen Gebieten des Königreichs gesehen. Einige leitende Mitglieder der Abtei haben Schwitzbäder genommen, wenn ihnen danach war. Ich persönlich halte nichts davon und bezweifle, dass sie die Gesundheit fördern. Unsere kleine Insel bietet uns viele andere natürliche Möglichkeiten zum Schwimmen.«
»Hat Abt Brocc das Schwitzhaus regelmäßig benutzt?«, fragte Eadulf.
Bevor Bruder Guala antworten konnte, klopfte es an der Tür, und ein junger Mönch trat ein.
»Ach, da ist ja Bruder Scatánach«, rief Bruder Guala erleichtert aus. »Dann können wir jetzt mit den Fragen zur Sache weiterkommen.«
Fidelma musterte den Neuankömmling aufmerksam.
Bruder Scatánach war ein kräftiger junger Mann mit dichtem kastanienbraunem Haar; er konnte das Alter der Wahl, seinen siebzehnten Geburtstag, erst kürzlich erreicht haben.
»Soweit ich verstanden habe, warst du dabei, als Bruder Cróebíne Abt Brocc tot aufgefunden hat?«
Der junge Mönch schaute Hilfe suchend vom Verwalter zum Bibliothekar, bevor er begriff, dass er sprechen durfte.
»Ja, das war ich.«
»Und kannst du die Aussage des Bibliothekars bestätigen, dass er den Leichnam gefunden hat?« Als der Mönch nickte, sagte Fidelma: »Ich möchte, dass ihr, Bruder Cróebíne und du, uns zu diesem Schwitzhaus begleitet. Dort könnt ihr uns in allen Einzelheiten schildern, wie ihr den Toten entdeckt habt. Im Augenblick, Bruder Scatánach, erzähl mir doch mal, seit wann du hier in der Gemeinschaft lebst?«
»Seit einem Jahr, Lady«, antwortete der junge Mönch. »Als ich das Alter der Wahl erreichte, bin ich als Novize in den Dienst der Abtei getreten.«
»Gehörst du zu den Uí Liatháin?«
»Ich stamme aus einem Dorf, das nur unweit südlich von hier am Ufer des Flusses liegt. Mein Vater war dort Fischer.«
»Vermutlich hätte ich schon wegen deines Namens erraten können, dass du aus einer Fischerfamilie bist«, sagte Fidelma lächelnd. Es gehörte zu ihrer Befragungsmethode, jungen Menschen zunächst ihre Befangenheit zu nehmen. »Aber der Name hat nichts mit Flussfischen zu tun?«
»In meiner Familie haben alle im Meer gefischt.«
»Sie sind aufs Meer hinausgefahren, um Heringe zu fangen?«
Der junge Mann lächelte. »Genau das ist die Bedeutung meines Namens, Lady.«
»Bist du mit deinem Vater zum Fischen rausgefahren und hast deshalb so eine muskulöse Statur?«
Der junge Mönch wirkte verlegen. »In der Abtei sind oft schwere körperliche Arbeiten zu verrichten«, antwortete er.
»Wie zum Beispiel das Feuer im Schwitzhaus vorzubereiten, das Brennmaterial aufzuschichten und die Asche auszuräumen? Hast du bei diesen Arbeiten geholfen?«
»Das gehört zu meinen Aufgaben«, bestätigte er.
»Auch an dem Tag, an dem man den Leichnam des Abts entdeckte?«
Wieder sah Bruder Scatánach Bruder Cróebíne fragend an und suchte seine Erlaubnis, bevor er antwortete.
»Ich habe es nicht für den Abt gemacht, aber für Bruder Cróebíne. So haben wir den Toten entdeckt.«
»Du hast das Schwitzhaus nicht für den Abt vorbereitet und ausgeräumt?«, fragte Fidelma überrascht.
»Nein, nie«, erklärte der junge Mönch.
»Wer hat das dann für ihn übernommen?«, wollte Fidelma wissen.
»Er hat es stets eigenhändig gemacht«, antwortete Bruder Scatánach.
»Der Abt war geradezu davon besessen, sein Schwitzbad allein vorzubereiten und das Schwitzhaus danach zu säubern«, erklärte Bruder Cróebíne.
»Wie ich gesagt habe«, unterbrach ihn Bruder Guala mit Nachdruck. »Abt Brocc war überzeugt von der heilsamen Wirkung des Schwitzhauses. Er hat es häufig benutzt.«
»Besonders kurz vor Vollmond«, ergänzte Bruder Cróebíne. »Vermutlich schwächt es den Körper, mehr als einmal pro Woche dort hinzugehen, doch Abt Brocc hatte seine eigenen merkwürdigen Ideen dazu.«
»Dann nahm der Abt also regelmäßig ein Schwitzbad?«, fragte Eadulf erneut. Sein Tonfall verriet Fidelma, dass er etwas im Sinn hatte.
»Richtig.«
»Wusste man schon im Voraus, an welchen Tagen er das tun würde?«, erkundigte sich Eadulf.
»Ganz richtig, er hatte ein Ritual«, räumte Bruder Guala ein. »Er ging immer am Morgen des dardoin ins Schwitzhaus.«
Eadulf wusste, dass man den Tag in seiner Muttersprache thor’s daeg nannte – Donnerstag.
»Dann wusste also jeder, dass Abt Brocc genau am dardoin sein Schwitzbad nehmen würde?«
»Jeder«, bestätigte der Verwalter.
»Das ist mir unbegreiflich. Wie konnte der Abt sich versengen und daran sterben? Ich kenne den Ablauf bei einem Schwitzbad. Man geht nicht ins Schwitzhaus hinein, ehe die Glut ausgeräumt ist, und die Steine sind nicht so heiß, dass man Schaden nehmen könnte. Hat ihm nie jemand dabei geholfen, das Feuer vorzubereiten oder die Glut auszuräumen, wenn es so weit war?«
»Das haben wir bereits gesagt«, entgegnete Bruder Cróebíne mit Nachdruck. »Der Abt bestand darauf, sein Schwitzbad stets allein vorzubereiten. Er war ein starker Mann. Es war ein heiliges Ritual für ihn.«
»Eine andere Frage«, fuhr Eadulf verwundert fort. »Welcher Arzt hat den Toten untersucht? Wer hat festgehalten, wie der Abt gestorben ist?«
Jetzt warf der Bibliothekar Bruder Guala einen flehenden Blick zu.
Der Verwalter wurde sichtlich nervös. »Man hat unseren Arzt, Bruder Fisecda, vor drei Tagen zum Gehöft von Conmhaol gerufen, einem Prinzen aus dieser Gegend. Ein Bote kam und bat unseren Arzt um Unterstützung, weil der Prinz hohes Fieber hatte. Er lässt sich immer am liebsten von Bruder Fisecda behandeln. Der Arzt war noch nicht zurück, als man den Toten fand, und konnte ihn also nicht untersuchen.«
»Bruder Fisecda, sagst du?«, fragte Eadulf. »Ist das sein richtiger Name und nicht sein Status?«
Eadulf wusste noch aus der Zeit, als er selbst die Heilkunst studiert hatte, dass der Begriff fisecda darauf hinwies, dass ein Arzt hoch qualifiziert war.
»Es ist sein richtiger Name«, antwortete Bruder Guala. »Bruder Fisecda hat die Heilkunst woanders studiert und ist erst danach zu uns gekommen. Wegen seines Wissens ist er in unserer Gegend überall bekannt.«
Bis Eadulf fertig war, hielt Fidelma ihre eigenen Fragen zurück.
»Der Tote wurde noch nicht mal vom Arzt der Abtei untersucht? Trotz der Tatsache, dass bei seinem Tod vermutlich Dritte ihre Hand im Spiel hatten? Ist denn dieser Prinz so wichtig, dass euer Arzt ihn vorrangig behandelt, obwohl sein eigener Abt ihn braucht?«
»Prinz Conmhaol wäre heute Herrscher der Uí Liatháin, wenn er die Entscheidung seines derbhfine, des Familienrats, angenommen hätte, nachdem Tigerna Cosraigib gefallen war. Er hat das Amt jedoch abgelehnt. Bruder Fisecda hat gewisse Verpflichtungen gegenüber den Prinzen, an die die Abtei auch Tribute zahlt. Prinz Conmhaol wohnt im Gebirge der Zaubernebel, wo …«
Fidelma brachte ihn mit einer Geste zum Schweigen.
»Bedeutet das, Prinz Conmhaol besitzt noch immer so viel Autorität, dass der Arzt dieser Abtei es vorzieht, ihn nicht zu verärgern? Ich nehme doch an, ihr habt jemanden zu ihm geschickt, um ihn davon in Kenntnis zu setzen, dass Abt Brocc gestorben ist, und zwar unter mysteriösen Umständen? Das Gesetz verlangt, dass in solchen Fällen ein ausgebildeter Arzt den Leichnam untersucht und die Todesursache feststellt.«
»Wozu soll das gut sein?«, fragte der Verwalter gleichgültig. »Alle konnten schließlich sehen, dass Abt Brocc tot war. Dazu brauchten wir keinen ausgebildeten Arzt.«
»Es ist notwendig, weil das Gesetz es verlangt, ganz besonders, wenn dabei, wie du andeutest, ein Dritter seine Hand im Spiel hatte. Ich habe dich zumindest anfangs so verstanden, dass du vermutest, es handele sich um Mord unter ungewöhnlichen Umständen? Oder irre ich mich?«
»Ich habe dir von der geheimnisvollen Prophezeiung seines Todes erzählt und davon, dass sie sich genau am vorhergesagten Tag erfüllt hat«, erwiderte Bruder Guala hitzig.
»Womit wir uns in Kürze befassen werden. Das ist ein Grund mehr, sich exakt an das Gesetz zu halten. Hat jemand den Leichnam untersucht und für das Begräbnis vorbereitet?«
Bruder Guala verzog abschätzig das Gesicht.
»Wie ich bereits gesagt habe, konnten wir sehen, dass der Abt tot war. Eine Untersuchung war überflüssig. Wir mussten den Abt nach religiösem Brauch um Mitternacht desselben Tages oder spätestens am nächsten Tag beerdigen.«
Eadulf wunderte sich über diese Argumentation, denn er hatte von Fidelma die wichtigsten medizinischen Vorschriften gelernt, die im Zusammenhang mit Verbrechen galten.
»Und deshalb habt ihr den Abt beerdigt, ohne dass ein Arzt den Leichnam untersucht hat, und das, obwohl ihr behauptet, er sei eines unnatürlichen Todes gestorben?«, fragte er so spöttisch, dass es nicht zu überhören war.
»Es gab keinen Grund, den Brauch nicht einzuhalten und erst noch einen Arzt zu suchen«, entgegnete Bruder Guala stur. »Die leitenden Mitglieder der Gemeinschaft stimmten darin überein, dass die Beisetzungsfeierlichkeiten gemäß der Tradition stattfinden mussten.«
»Dann hat man den Leichnam vermutlich auch gemäß der Tradition gewaschen und in ein Leichentuch gehüllt, bevor man ihn begraben hat?«, fragte Fidelma. »Falls ja, muss jemand diese Aufgaben übernommen haben?«
Bruder Guala schwieg und sah sie streitlustig an.
Es war Schwester Cáemóc, die antwortete. »Schwester Damnat hat sich darum gekümmert. Sie hilft unserem Arzt und behandelt leichtere Erkrankungen unserer Mitglieder.«
»Dann möchte ich sie sofort sprechen«, verlangte Fidelma, und ihre Stimme verriet, dass sie außer sich war.
Der Befehl war eindeutig. Schwester Cáemóc stand auf, ging zur Tür des Zimmers und gab dort im Flüsterton eine Anweisung. Dann kehrte sie auf ihren Platz zurück.
»Schwester Damnat wird unverzüglich kommen. Ich habe nach ihr schicken lassen«, erklärte sie unnötigerweise und mit herausfordernder Miene.
»Während wir warten, könnten wir doch mal über die Prophezeiung sprechen, die Bruder Guala so hervorhebt«, schlug Eadulf vor. »Seit wir über Abt Broccs Gewohnheiten im Schwitzhaus geredet haben, geht mir noch ein Punkt durch den Kopf, den ich nicht übergehen möchte.«
»Was ist das für ein Punkt?«, erkundigte sich Fidelma.
»Der Verwalter hat gesagt, eine Wahrsagerin habe dem Abt prophezeit, er werde das Ende des Festtags nicht mehr erleben; des Festtags der Monessa«, antwortete Eadulf. »Eine Prophezeiung ist das eine, doch eine Drohung ist etwas anderes. Ich nehme an, der Abt hat normalerweise nicht an solche Weissagungen geglaubt? Er muss ihre Worte als Drohung verstanden haben, denn warum sonst hätte er so dringend nach uns geschickt und uns um Rat gebeten? Und deshalb frage ich mich: Warum hat der Abt die Drohung nicht ernst genommen?«
»Du meinst also, der Abt habe die Drohung nicht beachtet?«, wollte Fidelma wissen, weil ihr nicht klar war, worauf Eadulf hinauswollte.
»Ich vermute, er hat sie nicht ernst genommen, denn an dem Tag, an dem er laut der Prophezeiung sterben würde, ist er allein ins Schwitzhaus gegangen. Dazu kommt, dass das Schwitzhaus, wie wir gehört haben, abgelegen und weit weg von den anderen Gebäuden der Abtei ist. Weit weg von Zeugen. Ist es nicht so, Bruder Cróebíne?«
»Das werdet ihr morgen selbst sehen. Wie gesagt, befindet sich das Schwitzhaus drüben am Westufer, auf dem Gebiet der Uí Liatháin«, antwortete der Bibliothekar. »Eine Holzbrücke führt über das Flüsschen, und von dort folgt man einem Pfad durch den Eichenwald. Man erklimmt einen Buckel bis oberhalb der Baumgrenze; dort steht das Schwitzhaus aus Kalksteinen, die es dort reichlich gibt.«
»Genau das ist der Punkt«, erklärte Eadulf seufzend. »Nachdem man dem Abt gedroht hat, er werde an diesem Tag sterben, verlässt er die Abtei und geht allein zum Schwitzhaus. Warum hat er an diesem besonderen Tag keinen Begleiter mitgenommen? Er geht allein dorthin, macht Feuer, räumt die Glut aus und so weiter. Selbst wenn er die seltsame Angewohnheit hatte, seine Waschungen allein vorzunehmen, hätte dieser Tag doch eine spezielle Bedeutung für ihn gehabt – falls er die Prophezeiung als Drohung aufgefasst hat.«
»Aber genau das hat er getan«, erklärte Bruder Cróebíne.
»Wenn ich eines im Leben gelernt habe, dann das: Wenn es nicht wahr klingt, ist es auch nicht wahr«, bemerkte Eadulf.
»Es ist das, was er getan hat«, wiederholte der Bibliothekar gleichgültig.
»Hat ihn denn niemand daran erinnert und ihn davor gewarnt, dass es gefährlich ist, allein zu gehen?«, fragte Fidelma jetzt Bruder Guala. »Wenn man die Prophezeiung für eine Drohung hielt, wäre das doch logisch gewesen.«
»Ich wusste gar nichts davon, bis wir den Leichnam gefunden haben«, sagte der Bibliothekar. »Der einzige Mensch, dem sich der Abt anvertraut hat, war Bruder Guala. Erst nach der Entdeckung des Toten erzählte der Verwalter den anderen Abteibewohnern davon.«
Fidelma wirbelte zu dem Verwalter herum.
»Ich habe den Eindruck, dass du die Prophezeiung ernster genommen hast als die meisten. Warum hast du deinen Abt nicht gewarnt?«
Bruder Guala reckte kampflustig sein Kinn.
»Willst du damit andeuten, dass ich für den Tod des Abts verantwortlich bin?«, entgegnete er aufgebracht.
»Wie kommst du denn darauf? Du hast uns erzählt, der Abt habe dir anvertraut, dass er einer Seherin begegnet war«, sagte Fidelma ernst. »Heutzutage sind jede Menge Wahrsager unterwegs. Normalerweise tummeln sie sich auf den großen Jahrmärkten. Dort bezahlt man sie dafür, dass sie künftige Ereignisse vorhersagen, doch es kommt normalerweise kaum vor, dass sie eine konkrete Todeszeit angeben.«
»Abt Brocc hat mir das im Vertrauen erzählt«, antwortete Bruder Guala. »Er sagte, die Prophetin habe nicht an die Tore der Abtei geklopft, um ihm seinen Todestag vorherzusagen.«
»Dann müssen wir mehr darüber wissen. Du betonst die Tatsache, dass die Prophezeiung wahr geworden ist. Allein deshalb erschien dir dieser Tod verdächtig, was jedem anderen auch so gehen würde. Du hast zudem angedeutet, dass das ein Grund gewesen sein muss, weshalb der Abt nach uns geschickt hat, auch wenn du einräumst, dass er dir nichts davon erzählt hat.«
