Seine Toten kann man sich nicht aussuchen - Janine Binder - E-Book

Seine Toten kann man sich nicht aussuchen E-Book

Janine Binder

0,0
5,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Einsatzstichwort »hilflose Person«. Ein dunkles Treppenhaus, leises Wimmern und keine Ahnung, welches Schreckensszenario sich hinter der Wohnungstür verbirgt. Einsatzstichwort »gefährliche Körperverletzung«. 30 Männer schlagen sich betrunken die Köpfe ein. Ausgang ungewiss, nur eins ist klar: Unverletzt wird Janine Binder heute nicht nach Hause gehen. Seit sie 16 ist, ist die 30-Jährige als Polizistin im Einsatz – und kann heute schon nicht mehr zählen, wie viele Tote sie gesehen hat. Trotzdemwürde sie mit niemandem tauschen wollen. Ihr Job ist hart – aber unverzichtbar.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.piper.de

Für dich, weil du zwar über mich drübergucken kannst, aber nie über mich hinwegsiehst.

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage 2011

ISBN 978-3-492-95418-1

© Piper Verlag GmbH 2011 Umschlag: semper smile, München Umschlagabbildung: Jill Flug / fotoatelier sued

Polizisten sind Menschen, die Menschen vor Menschen schützen.

Vorwort

Liebe Leser!

Bevor Sie sich in meine Geschichten stürzen, möchte ich kurz ein paar ernste Worte verlieren. Nicht, dass meine Geschichten nicht schon ernst genug wären, zumindest einige davon. Aber wenn man so wie ich hauptsächlich über Dinge schreibt, die man selbst erlebt und durchlebt hat, dann ist das immer eine etwas schwierige Sache. Es kann passieren, dass andere Menschen in diesen Erlebnissen vorkommen und nicht damit einverstanden sind, nun in einem Buch aufzutauchen, oder dass ich aus Gründen der Pflichten meinem Dienstherrn gegenüber dazu gezwungen bin, aus manchem ein Geheimnis zu machen. Aus diesem Grund sind alle Erlebnisse, Namen, Orte und Personen so abgewandelt, dass niemand sich wiedererkennen kann und ich keine großen Geheimnisse ausplaudere. Trotzdem beruhen alle Geschichten auf meiner dienstlichen Erfahrung. Sie geben meine Erlebnisse aus vielen verschiedenen Einsätzen, mit täglich wechselnden Kollegen an meiner Seite und ihren ganz unterschiedlichen Charakteren, sowie meine persönlichen Eindrücke wieder. Vor allem aber verdanke ich diese Geschichten Ihnen, den Bürgern, die uns anrufen, um eine Katze zu retten, einen Unfall aufzunehmen, für Ruhe zu sorgen und viele Dinge mehr.

Warum ich überhaupt Geschichten schreibe, ist hingegen nicht so einfach zu beantworten. In erster Linie schreibe ich, weil es mir Spaß macht und weil meiner schriftstellerischen Kreativität beim Schreiben von amtsdeutschen Anzeigen und Berichten enge Grenzen gesetzt sind. Außerdem hat das Schreiben einen nicht ganz unerheblichen psychologischen Effekt: Es dient mir dazu, die manchmal wirklich unschönen, traurig stimmenden oder auch hilflos machenden Ereignisse, deren Zeugin ich täglich werde, zu verarbeiten. Ich erlebe im Dienst häufig etwas, das mich beschäftigt, das mich berührt, anekelt oder verletzt. Damit diese negativen Gefühle sich nicht in mir ansammeln und zum Problem werden können, schreibe ich sie mir im wahrsten Sinn des Wortes von der Seele. Meine Gedanken werden dann zu einer Geschichte, die mich nicht mehr bedrücken, mir keine Angst mehr machen und mich nur noch selten traurig stimmen kann.

Liebe Menschen fanden irgendwann Gefallen an meinen Erzählungen und brachten mich auf die Idee, die ersten Geschichten vorsichtig im Internet zu veröffentlichen. Und schließlich wurde daraus dann sogar ein Buch – dieses, das Sie gerade in Händen halten.

Natürlich hoffe ich auch, dass ich durch meine Geschichten einen kleinen Einblick gewähren und zeigen kann, wie die Welt der Polizei wirklich ist, fernab von Fernsehkrimis, zurechtgeschnittenen Dokumentationen und Kinofilmen. Ich möchte zeigen, dass in jeder Polizeiuniform ein Mensch steckt, dem der eine oder andere Einsatz nahegeht, der vielleicht auch mal mit schlechter Laune aufsteht und der nicht immer nur funktionieren kann, obwohl er das sicherlich gerne würde.

Auch ich bin ganz bestimmt nicht die furchtlose Vorzeigepolizistin, bei der niemals das Hemd aus der Hose rutscht, die immer ihre Mütze aufhat, deren Haare immer ordentlich liegen, die niemals Gefühle zeigt und die sich selbst perfekt und überall an alle Regeln hält. Auch ich bin einfach nur ein Mensch, einer, der gerne mal zu schnell Auto fährt, einer, der hin und wieder überfordert ist, und vor allem einer mit einer nur geringen Geduldspanne, der gerne auch mal laut wird.

Trotzdem versuche ich, meinem Beruf so gut wie möglich gerecht zu werden, gerecht zu sein und für Gerechtigkeit zu sorgen. In den meisten Fällen ist mir das bisher ganz gut gelungen, finde ich, auch wenn das so mancher von mir Festgenommene sicherlich anders beurteilen würde.

Aber genug der einleitenden Worte, machen Sie sich selbst ein Bild von meinem Traumberuf, und schieben Sie mit mir und meinen Kollegen Dienst. Erleben Sie ein paar Einsätze, schauen Sie sich an, wie es ist, Streife zu fahren. Vielleicht sehen Sie dann in Zukunft einen Streifenwagen, der an Ihnen vorbeifährt, mit anderen Augen.

Schlüpfen Sie in meine Uniform, nehmen Sie mein Funkgerät in die Hand, tragen Sie meine Waffe, und schalten Sie Martinshorn und Blaulicht an. Jetzt geht’s los, der nächste Einsatz wartet schon …

Kerpen, im Juni 2011

Janine Binder

Worauf uns niemand vorbereitet …

2011

Die Nacht war turbulent: Einbrüche, Fälle häuslicher Gewalt, kleinere Prügeleien, ein Unfall. Wir – das sind heute Nacht mein frisch aus dem Studium kommender Kollege Christian und ich – waren von einem Einsatz zum nächsten gefahren, und nur langsam wird es ruhiger am Funk. Erst kurz vor Dienstende haben wir ein bisschen Zeit, um zur Wache zu fahren, Schreibarbeiten zu erledigen, etwas zu essen und zu trinken.

Gerade lehne ich mich in meinem Schreibtischstuhl zurück und schließe für einen Moment die Augen, als der Kopf des Funkers im Türrahmen erscheint. »Könnt ihr mal grade …?«

Natürlich können wir. Ich schüttle kurz den Kopf, damit die Müdigkeit verschwindet, ziehe die Lederjacke über und sitze wenige Minuten später mit Christian im Streifenwagen. Mit Blaulicht und Martinshorn rasen wir kurz vor Feierabend in Richtung des nächsten Einsatzes. Eigentlich müsste es zu dieser frühen Stunde ja »Feiermorgen« heißen, denke ich, aber im Schichtdienst nennen wir das Dienstende nun mal Feierabend, ob es nun spät in der Nacht, mitten am Tag oder morgens um sechs ist.

Schweigend fahren wir durch die noch menschenleeren Straßen Kölns. »Hilflose Person« ist unser Einsatzstichwort. Das erfordert keine großen Absprachen: Irgendjemand hat zu viel gesoffen und macht jetzt Theater im Hausflur. Routine, immer das Gleiche, kein Überlegen, was einen erwartet. Selbst Christian mit seinem erst wenige Monate alten Kommissarsstern auf den Schulterklappen hat bereits hinreichend Erfahrung mit dieser Art von Einsätzen. So verzichtet er auf Fragen und hängt, wie ich auch, seinen eigenen Gedanken nach, während das Blaulicht durch die Nacht flackert.

Wir halten vor einem Mehrfamilienhaus in Porz-Eil. Keine besonders hübsche Gegend, aber auch nicht total asozial. Ich streiche mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht, stecke mechanisch das Funkgerät in die Jackentasche, stoße die Streifenwagentür auf und atme tief die kalte Nachtluft ein. Sekunden später stehen wir vor der Haustür und klingeln. Da die Melderin nicht so freundlich war, ihren Namen anzugeben, drücke ich auf alle Klingelknöpfe gleichzeitig. Die Nachbarn werden sich freuen, aber irgendwie müssen wir ja rein.

Zunächst keine Reaktion, nur das Licht im Flur geht immer wieder flackernd an und aus. Mich fröstelt, der Winter rückt näher. Tagsüber ist es noch ganz angenehm, aber die Nächte werden immer kühler. Bald wird es Zeit, die Lederjacke gegen den Parka zu tauschen und die dicken Handschuhe für nachts herauszusuchen.

Niemand öffnet, über Funk gleiche ich noch mal die Adresse ab. Doch keine Frage, hier muss es sein. Schulterzuckend klingelt Christian noch mal. Im selben Moment ertönt der Türsummer. Mit einem kräftigen Ruck stoße ich die Haustür auf und betätige gleichzeitig mit dem Ellenbogen den Lichtschalter. Ohne Handschuhe will ich so wenig wie möglich anfassen, man weiß ja nie, wie ernst man es in solchen Mehrfamilienhäusern mit dem Hausputz nimmt.

Der Flur riecht muffig und wirkt genauso schmuddelig, wie ich es erwartet habe. Durchs Treppenauge spähe ich nach unten in den Kellerabgang. Niemand zu sehen. Irgendwo in einer der oberen Etagen höre ich eine Tür rhythmisch auf- und zuschlagen. Eine krächzende Frauenstimme scheint immer wieder leise ein Lied zu singen. Das dort oben wird wohl unsere Zielwohnung sein.

»Auf geht’s! Natürlich ist es ganz oben.« Ich seufze, Christian lächelt gequält.

Im Laufschritt geht es die Treppe rauf. Bereits in der zweiten Etage merke ich, wie mir unter Pullover, Schutzweste und Lederjacke der Schweiß ausbricht, und innerlich verfluche ich jedes Gramm Ausrüstung, das ich mit mir herumtrage. Das Funkgerät in meiner Jackentasche schlägt mir beim Rennen dumpf gegen die Brust. Der Kollege ist fitter als ich und erreicht den obersten Stock zuerst. Dennoch knallt die Wohnungstür direkt vor seiner Nase zu, bevor er einen Fuß in den Spalt zwischen Rahmen und Tür schieben kann. Er hämmert mit der Faust gegen das Türblatt. Laut hallen die Schläge durch das Haus.

Hinter der Tür hören wir erneut die kratzige weibliche Stimme. Ein lautes, unverständliches Gemurmel setzt ein, und als ich gerade meinen letzten Schritt die Treppe hoch mache, öffnet sich die Tür wieder. Einen Moment bin ich irritiert und weiche einen kleinen Schritt zurück, meine Hand fährt an die Waffe, denn ich sehe niemanden in dem Spalt. Erst als wieder die seltsam singende Stimme ertönt, richte ich meinen Blick auf den Fußboden und schaue in das von tiefschwarzen Hämatomen übersäte und blutverkrustete Gesicht einer Frau mittleren Alters. Ein Auge ist so zugeschwollen, dass man den Augapfel unter der schwarzen Schwellung nur noch erahnen kann.

Wir reagieren beide gleichzeitig. Christian wirft sich gegen die Tür, und ich schaffe es, meinen Fuß in den Spalt zu zwängen, bevor die Tür wieder zuschlagen kann.

Mein Blick sucht das schlecht lesbare Klingelschild, und ich entziffere mit einiger Mühe den Namen »Schulze«.

»Frau Schulze?« Ich spreche lauter als beabsichtigt, meine Stimme überschlägt sich ungewollt.

Der Körper der Frau liegt direkt quer hinter der Tür, sodass wir sie nicht weiter aufbekommen, ohne die Frau, von der ich annehme, dass es Frau Schulze ist, noch mehr zu verletzen. Hinter ihr erkenne ich jetzt das reinste Schlachtfeld: ein enger Flur, umgeworfene Möbel, Dreck, auf dem Boden Blutlachen und an den Wänden braunrote Handabdrücke und Wischspuren, die Kot, Schokoladenpudding oder Schlimmeres sein könnten.

Kurz bin ich schockiert, und meine Gedanken überschlagen sich, während ich im Geiste durchgehe, was zu tun ist.

»Rettungswagen?« Die Stimme des Kollegen holt mich aus meinen Überlegungen. Ich nicke und stemme mich gegen die Tür, um einen besseren Blick in die Wohnung zu erlangen. Die Frau am Boden summt vor sich hin und reagiert nicht auf uns, so, als wäre das hier total normal.

Mein Kollege nimmt das Funkgerät, das ich ihm hinhalte, und verständigt einen Rettungswagen. Mit weit aufgerissenen Augen schaut er die Frau am Boden an und dann mich: »Auch den Notarzt?«

Unschlüssig warte ich einen Moment und schüttele dann den Kopf. Immer noch überlege ich fieberhaft, was uns hinter der Tür erwarten könnte.

Ich versuche mit der Frau zu reden, die weiter vor sich hinsummt und immer wieder mit kraftlosen Händen versucht, meinen Fuß aus dem Türspalt zu schieben. »Danke. Wir kaufen nichts. Sie können jetzt gehen«, redet sie in einem leichten Singsang vor sich hin. »Winke, winke. Alles gut. Die Kleine ist doch da.«

Mir wird allmählich unwohl vor der Tür. Weder sehe ich, was in der Wohnung passiert, noch weiß ich, wie viele Personen noch drinnen sind und ob uns da eventuell jemand ans Leder will.

Da fällt mein Blick erneut auf das Klingelschild. Zwei Namen, nicht einer. »Frag nach, wer noch hier gemeldet ist!«

Ich habe den Satz noch nicht fertig, als Christian schon ins Funkgerät spricht.

Mein Hirn rattert wie wild. Was ist hier nur passiert? Häusliche Gewalt, und der Täter ist vielleicht noch in der Wohnung? Ein versuchtes Tötungsdelikt? Ein Unfall? Unwillkürlich trete ich einen Schritt vom Türrahmen weg. Wenn da noch jemand drin ist und bewaffnet, stehe ich hier wie auf dem Präsentierteller, schießt es mir durch den Kopf. Dennoch lasse ich meinen Fuß in der Türöffnung und versuche, den Spalt durch leichten Druck stetig zu vergrößern, während die Frau am Boden von der anderen Seite gegen die Tür drückt und fahrig an meinem Fuß herumnestelt. Im Geiste sehe ich mich schon die Waffe ziehen und in die Wohnung stürmen, sobald ich die Gewissheit habe, dass hier mehrere Personen gemeldet sind. In der Wohnung ist es jedoch bis auf das monotone Gemurmel der Frau totenstill. »Die Kleine ist doch da. Ist ja alles gut. Lalilu. Die Kleine ist noch da. Alles ist gut. Könnt wieder gehen. Polizei. Könnt wieder gehen.«

Dann passieren zwei Dinge auf einmal. Im Funkgerät knistert es, und ich höre wie durch Watte den Kollegen auf der Wache sagen: »Da sind nur Frau Schulze und ihre Tochter gemeldet …« Stille … »Scheiße, die Kleine ist erst vier!«

Bereits als der Funker »Scheiße« sagt, fällt mein Blick auf die in Kniehöhe an der Wand angebrachten kleinen Fingerzeichnungen: braunrot auf weißem Grund und das Werk sehr kleiner Finger. Die Farbe ist überall die Wand hinuntergelaufen. Mir wird plötzlich heiß und kalt. »Blut, alles ist voller Blut!«, schießt es mir durch den Kopf.

Während der Funker weiterspricht, tausche ich mit Christian einen stummen Blick. Wortlos werfen wir uns jetzt gleichzeitig mit voller Kraft gegen die Tür, ohne Rücksicht auf die am Boden liegende Frau. Sie wird über den dreckigen Boden zur Seite geschoben, kreischt laut und tritt um sich. Die Wohnungstür öffnet sich, ich gerate ein wenig aus dem Gleichgewicht und taumele in die Wohnung. »Behalt sie im Auge!«, zische ich und mache mich mit der Hand an der Waffe daran, die Wohnung zu durchsuchen.

Überall Müllberge, es stinkt widerlich. Laut mache ich mich bemerkbar. »Polizei! ISTDAJEMAND?«

Mir schlagen nur Stille und metallischer Blutgeruch aus nahezu jedem Zimmer entgegen. Mein Blick fliegt von rechts nach links. Ich höre, wie der Kollege die Frau befragt, aber nur wenige klare Antworten bekommt, während ich versuche, mir in dem Chaos aus Müll und Unrat einen Überblick zu verschaffen.

Die ersten drei Zimmer sind leer. Eines ist eindeutig ein Kinderzimmer. Glasscherben und Hundekot, wo ich hinschaue. Auf dem Sofa im Wohnzimmer finde ich den dazugehörigen Hund. Röchelnd und augenscheinlich halb verdurstet, verdreht der kleine räudige Mischling bei meinem Anblick die Augen und jault. Mit zitternden Fingern ziehe ich Wäscheberge und Decken vom Sofa, die ganze Zeit darauf gefasst, ein totes Kind zu finden. »Das ist ein Tatort, ein Tatort. Fass so wenig an wie möglich. Tritt nirgendwo drauf. Pass auf, hier kann noch jemand sein. Pass auf!!«, hallt es in meinem Schädel wider, doch je länger meine vergebliche Suche dauert, umso schneller bewege ich mich, und umso hektischer werden meine Bewegungen.

Das vierte Zimmer scheint eine Art Schlafzimmer zu sein. Unter Gerümpel erkenne ich das Bett. Das Fenster ist offen, und im Raum ist es eiskalt. Mit dem nächsten Blick erfasse ich den kleinen blutigen Arm, der aus einem Stapel Decken auf dem Bett herausragt. Mir entfährt ein Schrei, ich stürme nach vorne, unterdrücke den ersten Impuls, die Decken vom Bett zu reißen, und fasse nur ganz vorsichtig den kleinen Arm an.

Er ist kalt. Mir wird schlecht, ich muss würgen, um die Übelkeit zu unterdrücken, aus Angst vor dem, was ich jetzt finden werde. Ich knie mich neben das Bett und schiebe vorsichtig die Decken beiseite. Der kleine Körper, zu dem der Arm gehört, ist ebenfalls kalt. Es ist ein kleines Mädchen mit langen blonden Haaren, die blutverkrustet an ihrem Kopf kleben. Sie ist höchstens vier Jahre alt und trägt nichts außer einer schmutzigen Windel.

Mit zitternden Fingern taste ich nach ihrer Halsschlagader, während ich laut durch die Wohnung rufe: »Kind gefunden!«

Christians leise Frage kommt sofort: »Lebend?«

»Nein«, will ich trotz des dicken Knotens in meinem Hals antworten, als die Kleine plötzlich die Augen aufschlägt und mich aus runden, hellblauen Kinderaugen ansieht.

Mir fällt einer der größten Steine meines Lebens vom Herzen, und ich rechne gleichzeitig damit, dass das Gesichtchen sich im nächsten Moment zu dieser hässlichen kleinen Fratze verziehen wird, die Kinder schneiden, bevor sie in Tränen ausbrechen. Doch sie sieht mich nur still an und wirkt plötzlich uralt.

Dann lächelt sie, und ihre weißen Milchzähne blitzen auf. Sie streckt mir ihre kalten Ärmchen entgegen und flüstert: »Bist du ein Engel? Nimmst du mich mit?«

Ich bin nicht in der Lage zu antworten. Stattdessen nicke ich und nehme sie vorsichtig auf den Arm. Am Boden in einer getrockneten Blutlache sehe ich eine kleine Hose und einen schmutzigen Pullover. Während ich dem Kollegen erleichtert erkläre, dass die Kleine offensichtlich munter ist, streife ich ihr die Kleider über, streiche ihr vorsichtig das krustige Haar aus dem Gesicht und ziehe ihr auch noch zwei Schuhe an, die ich auf einem der Regale stehen sehe.

Sie ist zart wie eine kleine Elfe. Mit wenigen Blicken und vorsichtigen Berührungen am Kopf erkenne ich, dass sie offenbar unverletzt ist und das Blut nicht ihres. Sie wirkt aufgeweckt und munter, leise frage ich sie nach ihrem Namen.

»Lisa, die Mama sagt auch Lissy. Die Mama ist krank. Ich muss fein leise sein!«, erklärt sie ernsthaft.

Ich schlucke hart, bevor ich antworte: »Ja, die Mama ist krank. Die kommt jetzt zum Doktor, und du kommst mit uns. Ein bisschen spielen. Wäre das toll?«

Sie strahlt mich an. »Ja, das wäre toll. Gibt es bei euch auch was zu trinken, und kann man im Himmel auf einem Wölkchen sitzen?«

Ich nicke und gehe mit ihr in den Flur.

Mein Blick begegnet dem meines Kollegen. Plötzlich wird mir bewusst, dass ich ihn mit der seltsamen Frau ganz allein gelassen habe. Er wirkt geschockt, und ich sehe, dass er mit den Tränen kämpft. Auf alles hat man ihn im Studium vorbereitet – auf Bombenanschläge, auf schreckliche Unfälle, auf Gewalt. Aber auf so etwas? Auf so etwas wohl eher nicht.

Vorsichtig kauert er jetzt neben der Frau am Boden, streicht ihr ein wenig hilflos über das Haar, um sie zu beruhigen, und sieht mich und das Kind immer wieder fassungslos an.

Ich gebe ihm ein paar Minuten, damit er sich sammeln kann, und trage die Kleine ins Kinderzimmer. »Dann lass uns mal ein Stofftier aussuchen, das wir mitnehmen. Was meinst du, Lisa?«

Meine Stimme ist hell und klar, und ich lächle verkrampft. Fröhlich klettert Lisa von meinem Arm und hopst mit ihren kleinen Füßen über die Hundescheiße und die Glasscherben am Boden in ihr Zimmer. Im nächsten Moment hat sie einen kleinen Stoffesel unterm Arm. »Esel kommt mit, Esel kommt immer mit. Esel, wir gehen mit den Engelchen. Darf ich auch ein Buch mitnehmen? Damit du mir was vorlesen kannst?«

Als sie auch das ausgesucht hat, höre ich endlich die Sanitäter im Flur. Ich hebe das Kind wieder hoch und trete, mit Stofftier und Buch ausgerüstet, in den Flur.

Auf dem Boden neben der Frau hocken jetzt zwei Sanitäter und versuchen, ihre Verletzungen zu begutachten. Als sie mich mit dem Kind in dem total verdreckten und mit blutigen Wandzeichnungen versehenen Flur stehen sehen, entgleisen ihre Gesichtszüge. Der eine senkt sofort den Blick, als würde das Kind verschwinden, wenn er es nicht länger ansieht. Der andere formt mit den Lippen tonlos das Wort »FUCK!«.

Mein Kollege lehnt im Hausflur am Treppengeländer und gibt die Informationen per Funk an die Wache weiter. Ich bin froh, dass er trotz der mehr als absurden Situation so gut ohne meine Hilfe funktioniert, und quetsche mich an der Frau und den Sanis vorbei ebenfalls in den Flur.

Die Kleine strahlt Christian an, und ich sehe, dass es ihm guttut, ihr Lächeln zu sehen. »Kommst du auch mit spielen? Bist du der Freund von dem Engelchen?« Mit einer kleinen blutigen Hand zeigt sie auf mich.

Er lacht sie an, und ich sehe, wie auch dieses Lachen ihm hilft, mit der Situation klarzukommen. »Ja, ich komm auch mit spielen.«

Die Kleine klatscht in die Hände, offenbar total unbeeindruckt von den fremden Leuten und der Hektik, und klettert von meinem Arm auf den des Kollegen. »Liest du mir was vor?«

Total perplex nickt er und lässt sich mit ihr auf dem Treppenabsatz nieder. Ich höre meine Stimme ziemlich rau und trocken sagen: »Kommst du damit klar?« Er nickt und beginnt sofort, mit ruhiger Stimme vorzulesen: »Benjamin Blümchen«.

Seine Stimme beruhigt nicht nur die Kleine, sondern auch ich bekomme wieder Boden unter den Füßen und finde zu den Dingen zurück, die getan werden müssen. Während ich in die Wohnung zurückgehe und Fotos von Dreck und Chaos mache, schallt immer wieder glückliches Kinderlachen vom Hausflur herüber.

Die Mutter hat mittlerweile aufgehört zu wimmern und wird von den Sanitätern gerade in einen Transportstuhl gehievt. Sie sperrt sich, tritt und schlägt um sich und kreischt plötzlich los. »IHRNEHMTMIRMEINKINDNICHTWEG!«

Ich sehe, wie einer der Sanitäter das tut, was auch mein erster wütender Impuls war: Er hebt die Hand zum Schlag. Doch bevor seine Finger auf das total verquollene Gesicht klatschen, treffen sich unsere Blicke, und seine Hand verharrt bewegungslos in der Luft.

Die Frau kreischt weiter. Wir sehen uns stumm an, langsam schüttele ich den Kopf, der Sani lässt zögernd Blick und Hand sinken.

Auch ich bin wütend auf die, wie ich jetzt am Geruch feststelle, total betrunkene Frau, auf die Zustände, auf jeden, der das hier möglich gemacht hat. Auch auf die Nachbarn, denen erst dann einfällt, die Polizei zu rufen, wenn ihre Nachtruhe gestört ist, und von denen sich trotz des Lärms bisher nicht einer hat blicken lassen.

Auch ich würde die Frau am liebsten schütteln und ihr eine runterhauen, aber das ist es, was uns zu den »Guten« macht: Wir können uns beherrschen in solchen Situationen.

Knipsend gehe ich mit der Kamera von Raum zu Raum. Banne das Chaos auf meine Speicherkarte. Der Hund liegt immer noch röchelnd auf dem Sofa, auch sein Fell ist voller Blut. Vorsichtig betaste ich ihn, finde aber nur kleine Schnittwunden an den Pfoten, die er sich vermutlich beim Laufen über die Glassplitter zugezogen hat.

Im Wohnzimmer finde ich dann endlich die Dinge, die mir helfen zu verstehen, was passiert ist. In einer Ecke ist eine große Blutlache, zerbrochene Bierflaschen kleben in der geronnenen, schleimigen Masse. An einer Ecke des schweren Marmortischs klebt ein Fetzen Kopfhaut mit Haaren. Vor meinem inneren Auge sehe ich die Frau betrunken durch die Wohnung taumeln, sehe sie ausrutschen und fallen. Ich höre das Knirschen, als ihr Kopf mit voller Wucht auf die steinerne Tischkante schlägt, sehe, wie sie bewusstlos in die Bierflaschen fällt. Überall ist Blut. Ich sehe die Kleine, wie sie sich blutige Finger holt, als sie der Mutter helfen will, deren Arme und Rücken von den Glasscherben zerschnitten wurden.

Keine Straftat, kein versuchter Mord, kein prügelnder Ehemann. Keine Gefahr für uns, kein Grund, die Waffe zu ziehen. Lediglich ein Sturz im Alkoholdusel.

Ich wische mir mit der Hand über die Augen und höre im gleichen Moment die glockenklare Kinderstimme. »Die Mama ist hingefallen und hat sich weh getan. Ich habe im Bilderbuch geguckt, wie der Doktor die Leute untersucht, und das bei der Mama nachgemacht. Wird sie bald wieder gesund? Lies mir noch eine Geschichte vor!« Die ruhige Stimme meines Kollegen erklingt wieder, als er weiterliest.

Nirgendwo finden sich Ausweispapiere, weder die des Kindes noch die der Frau. Wir haben zwar die Überprüfung unseres Funkers, aber ich würde dennoch gerne sichergehen, hier auch wirklich Frau Schulze und ihre Tochter Lisa vor mir zu haben.

Irgendwann breche ich die Suche ab und schalte alle Lampen und elektrischen Geräte ab. Die Sanitäter tragen die mittlerweile still auf dem Transportsitz hockende Frau die Treppe runter. Ihr Kopf schlenkert von links nach rechts. Mit ihrem noch intakten Auge versucht sie mich zu fixieren. »Wenn du mir mein Kind wegnimmst! …« Der Rest ihrer Drohung verhallt im Treppenhaus. Zwei Feuerwehrmänner erscheinen und packen den kleinen Hund, der sich mittlerweile ein wenig erholt hat und kläffend um uns herumläuft, in eine Transportkiste.

Müde ziehe ich als Letzte die Wohnungstür hinter mir zu. Stumm gehen wir durch den Hausflur, nur die Kleine plappert unentwegt weiter. Nicht eine Tür öffnet sich. Keiner der anderen Bewohner sieht nach, warum es so früh am Morgen so laut ist im Haus. Niemand interessiert sich für das kleine Mädchen mit dem strahlenden Lächeln.

Der Kollege setzt sich mit ihr auf den Rücksitz, ich suche seinen Blick im Rückspiegel. Die Tränen sind aus seinen Augen verschwunden, aber die Fassungslosigkeit ist noch da. Dahinter erkenne ich den Blick des Polizisten, die Härte, die man braucht, um an solchen Dingen nicht kaputtzugehen. Ich sehe, dass es ihn zwar schockiert, dass er auf so etwas nie vorbereitet war, aber dass er schon klarkommen wird. Ich sehe, dass er die tröstend gemeinten, aber oft eher hilflosen und manchmal sogar taktlosen Sprüche der Kollegen wegstecken wird und dass er die Kleine mit ihrem blutigen blonden Haar, der er »Benjamin Blümchen« vorlesen musste, vermutlich nie vergessen wird. Doch auch das wird für ihn nicht zum Problem werden.

Vorsichtig stellt er dem Kind die wichtigen Fragen. »Kocht deine Mama für dich? Hast du Hunger? Gehst du in den Kindergarten? Hast du Freunde? Wie oft hast du geschlafen, seit die Mama hingefallen ist? Wo ist dein Papa?«

»Die Mama kocht nicht so oft. Durst hab ich. Im Kindergarten war ich nicht mehr, seit die Mama gefallen ist. Weiß nicht, wo der Papa ist. Böse ist der, sagt die Mama, genau wie die Oma, die ist auch böse.« Die Kleine plappert munter drauflos und kuschelt sich zutraulich an ihn. Beruhigt starte ich den Wagen und fahre zum Kinderheim.

Zwei Stunden später stehe ich auf der Wache in der Damentoilette. Unsere Berichte sind geschrieben, alle zuständigen Stellen benachrichtigt, die Kleine ist gut untergebracht. Unsere Arbeit ist getan.

Ich stütze mich auf das Waschbecken und starre in den Spiegel. Auf der Wange habe ich eine kleine Blutspur, die ich vorsichtig wegputze. Ich spritze mir eiskaltes Wasser ins Gesicht und schaue wieder in den Spiegel. Meine Lider flattern, die Pupillen sind riesig, als wäre ich auf Drogen, und die Übelkeit ist wieder da. Das Gefühl der Panik, das mich erfasste, als ich das Kind erst nicht fand, klettert langsam wieder in mir hoch. Ein metallischer Geschmack macht sich in meinem Mund breit. Wütend spucke ich in das Becken und frage einen Gott, an den ich nicht glaube, warum er so etwas zulässt.

Als ich wieder in den Spiegel schaue, finde ich nach kurzer Suche auch in meinen Augen die Professionalität wieder, die heute kurz in einem Abgrund der Fassungslosigkeit verschwunden war. Auch ich werde damit klarkommen. Jedes Mal, wenn das Einsatzstichwort in den nächsten Wochen »hilflose Person« lautet, werde ich wahrscheinlich ein leichtes Ziehen im Bauch verspüren und die blutigen Fingerchen von Lisa vor Augen haben. Heute Nacht werde ich von dem schaurig schwarz geschwollenen Gesicht ihrer Mutter träumen, aber in wenigen Tagen wird die Erinnerung verblassen. Der Schock wird kleiner werden, so wie es immer gewesen ist in den letzten dreizehn Jahren Polizeidienst. Die Erleichterung darüber, dass wir gerade noch rechtzeitig gekommen sind, wird überwiegen.

In Gedanken sehe ich die Kleine lachend mit anderen Kindern über die Wiese des Kinderheims laufen. Sie wird darüber hinwegkommen, man wird sich um sie kümmern.

Es klopft, und die Tür zum Vorraum geht einen Spalt weit auf. Mein Kollege steckt den Kopf herein, stumm hält er mir eine Zigarette hin. »Rauchen? Reden?«

Ich denke an meine Notfallschokoriegel, mit deren Hilfe ich mir das Rauchen vor so langer Zeit auch in solchen Fällen abgewöhnt habe. Dann sehe ich seinen bittenden Blick. Nehme die Zigarette und gehe mit ihm vor die Tür. Auf einem Blumenkübel sitzend, rauchen wir, inhalieren tief und blicken in die Sterne.

»Wir waren noch rechtzeitig da, oder?«

Ich nicke stumm.

»Ich dachte, das Kind ist tot.«

Wieder nicke ich.

»Schreibst du darüber eine Geschichte?« Er sieht mich fragend an.

»Ja.« Ich nicke ernst. »Das ist definitiv eine Geschichte wert!«

Er lacht. »Mach mich in der Geschichte ein bisschen sportlicher, ein bisschen schöner und ein bisschen mutiger, ja?«

»Muss ich gar nicht. Du warst gut, so wie du warst.« Ich überlege kurz, dann frage ich ihn: »Wie verarbeitest du das?«

»Ich?«

»Ja, du. Ich schreibe eine Geschichte. Keine schöne, aber eine, die die Seele befreit. Was machst du?«

Er überlegt, aber nur kurz, dann sagt er: »Ich rede jetzt grade mit dir. Das reicht schon. Glaub ich.«

Kurz drücke ich seine Hand. Dann stehen wir auf, werfen die Kippen ins Gras und gehen in die Wache. Bereit für den Feierabend und morgen für die nächsten Einsätze, von denen wir nicht wissen, wie sie aussehen werden.

Wie alles begann

1998

Doch bevor ich Einsätze fahren konnte, die mich überraschen, aus der Bahn werfen, zum Lachen bringen, berühren, bewegen und manchmal tatsächlich auch langweilen würden, musste ich erst einmal die Entscheidung treffen, Polizistin zu werden. Eigentlich wollte ich ja immer etwas ganz anderes werden. Seit dem Kindergarten antwortete ich auf die Frage nach meinem Berufswunsch: Lehrerin, und zwar für Mathe, Deutsch und Biologie. Dass es letztlich so kam, wie es kam, habe ich zum einen der Situation zu verdanken, dass sich all meine Klassenkameraden auf eine Lehre vorbereiteten und auch ich vor diesem Hintergrund die Idee von Abitur und Studium immer weniger reizvoll fand, zum anderen meiner Mutter, die mich mit Informationsmaterial zu allen möglichen und unmöglichen Berufen eindeckte, und letztlich einem Einstellungsberater, der in mir einen nie zuvor gekannten Ehrgeiz weckte. Aber lesen Sie selbst.

»So, dann gehen wir mal zum Lauf auf den Sportplatz!«, fordert uns der Herr im ballonseidenen blauen Sportanzug und mit dem eindrucksvollen Schnurrbart auf.

Ich bin von den Turnübungen, die ich gerade erst absolviert habe, noch ziemlich aus der Puste und schnaufe ordentlich. Die Aussicht, mich jetzt auf den Sportplatz des Ausbildungsinstituts in Münster zu begeben, wo gerade Hunderte von Polizisten in kompletter Uniform Mittagspause machen – mehr, als ich in meinem ganzen bisherigen Leben zusammengerechnet gesehen habe –, ist mir alles andere als angenehm. Ich soll vor unzähligen Männeraugen meine Laufübungen absolvieren, dabei bin ich gerade sechzehn geworden, unsicher und schüchtern. Ich werde schon knallrot, wenn mich ein männliches Wesen auch nur in Jeans und T-Shirt sieht. Jetzt trage ich Sportzeug, knappe rosa Shorts und ein T-Shirt in Lila. Ganz sicher werde ich sterben, wenn ich da draußen laufen soll.

»Ähm, können wir nicht hier drinnen …?« Verlegen knete ich an meiner Turnhose herum und weiche dem Blick des Prüfers aus.

»Nix da, draußen wird gelaufen oder gar nicht!«

Ich schlucke und tausche einen raschen Blick mit meiner Leidensgenossin, die gemeinsam mit mir als Einzige aus einer Gruppe von hundert Bewerbern den schriftlichen und ärztlichen Einstellungstest erfolgreich absolviert hat. Schicksalsergeben schleichen wir hinter dem Prüfer nach draußen.

«Du kannst immer noch verschwinden«, sage ich mir. »Ja, war nett hier, ich wollt nur mal Tag sagen. Tschö, ich bin dann mal weg!« Das würde schon genügen.

Meiner Mitbewerberin geht es augenscheinlich nicht viel besser, ich sehe deutlich, wie sie zittert. Dabei ist sie in meinen Augen bereits erwachsen: groß und schön und vor allem mindestens fünf Jahre älter als ich!

Unter dem Gejohle der überwiegend männlichen Polizeibeamten, die auf der Wiese in der Mitte des Sportplatzes die Sonne genießen, stellen wir uns an die Startlinie.

Zwei Kilometer sind zu laufen, und ich weiß, dass ich mich anstrengen muss, um diese Strecke im geforderten Zeitlimit zu schaffen. Zu Hause ist mir das immer nur ganz knapp gelungen, und jetzt bin ich schon wegen der Aufregung total durcheinander.

Nervös balle ich die Hände zu Fäusten, murmele leise vor mich hin, dass ich diesen verschissenen Scheißtest auch noch schaffen werde, gehe in Startposition und frage mich, welcher Teufel mich eigentlich reitet, dass ich diesen Schwachsinn hier mitmache.

Wochen scheint es mir her zu sein, dass meine Mutter mit einem Flyer der Polizei nach Hause kam. In meiner Ratlosigkeit, was ich denn nach zehn Jahren Schule weiter lernen sollte, hatte ich ihn einfach ausgefüllt und abgeschickt. Noch länger her schien mir der Besuch dieses unsympathischen Einstellungsberaters der Polizei Nordrhein-Westfalen. Nachdem er sich minutenlang über mich lustig gemacht hatte – meine mangelnde Größe, meinen zierlichen Körperbau und überhaupt Frauen bei der Polizei –, verabschiedete er sich von meiner besorgten Mutter, der der Gedanke, eine Polizistin zur Tochter zu haben, plötzlich so gar nicht mehr gefiel, mit den Worten: »Machen Sie sich mal keine Sorgen, das schafft das Mädchen sowieso nicht!«

War die Polizei vorher für mich nur eine Berufsoption von vielen gewesen, reizte mich dieser Satz bis aufs Blut. Dieser Heini! Zu klein? Zu schwach? Zu zierlich? Pah!

Ohne mich weiter mit den Folgen meiner Entscheidung oder gar den Anforderungen des Berufs auseinandergesetzt zu haben, entschied ich trotzig: »Dem zeig ich, wo der Hammer hängt. Ich werde Polizistin! Jetzt erst recht!«

Und so stehe ich nun hier in der prallen Sonne, die Füße im Startblock. Die erwartungsvollen Gesichter all dieser Polizisten sind auf mich und meine Mitläuferin gerichtet. Manche mustern uns skeptisch, der eine oder andere nickt uns aufmunternd zu. Ich werde trotzdem immer kleiner.

Der Prüfer zieht grinsend eine Startschusspistole und feuert in die Luft. »Das schafft das Mädchen sowieso nicht!« Noch einmal schießt mir der Satz durch den Kopf, dann renne ich los.

Aus dem Augenwinkel bekomme ich mit, wie meine Konkurrentin stürzt. Ich will anhalten, um ihr zu helfen, und werde angeschrien weiterzulaufen. Ich laufe. Die Hitze ist unerträglich, bereits nach wenigen Minuten bin ich nass geschwitzt, und ich merke, wie meine in den letzten Wochen mühsam antrainierte Kondition nachlässt. Verbissen kämpfe ich mich weiter. Ich muss das hier schaffen! Der dämliche Einstellungshansel darf nicht recht behalten.

Meine Mitstreiterin sitzt unterdessen im Gras und sieht mir traurig zu, während der Arzt ihre, wie ich später erfahre, gerissenen Bänder begutachtet.

Ich schnaufe inzwischen wie eine Dampflok. Als ich gerade denke, ich müsse jeden Moment tot umfallen, meinen bescheuerten Ehrgeiz verfluche und mich gedanklich mit einer Stelle als Bankkauffrau anzufreunden beginne, nehme ich neben mir einen Schatten wahr. Einer der Beamten hat sich von seinem Beobachtungsposten auf der Wiese fortbewegt und joggt jetzt locker neben mir her.

»Ruhig atmen, du schaffst das. Schön ruhig atmen, einfach weiterlaufen, bisschen schneller noch. Super!«, murmelt er mir leise zu und hält mit mir Schritt. Viele seiner Kollegen sind mittlerweile ebenfalls aufgestanden und feuern uns, oder vielmehr mich, lautstark an. Als ich das nächste Mal den Prüfer passiere, stimmt der in das mittlerweile ziemlich laute Gebrüll ein: »LAUF! LAUF!«

Und ich laufe, nein, ich renne. Ich muss einfach schnell genug sein. Ich muss diesen doofen Test bestehen, alles andere würde zum sofortigen Tod durch Peinlichkeit führen. Der Polizist joggt auch in der letzten Runde noch neben mir her und murmelt freundlich lächelnd sein Mantra vor sich hin. »Ruhig atmen, ruhig atmen. Du schaffst das!«

Ich hebe den Blick, sehe, wie viele Menschen mir da zusehen, und gebe auf den letzten Metern, angespornt von der Masse der Zuschauer und den lauten Rufen, noch mal Gas.

»Ich schaff das! HASTDUDASGESEHEN? Einstellungsberatungshansel!!«, nuschele ich, als ich hinter der Ziellinie mit dem Gesicht voran ins Gras falle und einfach liegen bleibe. Ein vorsichtiger Blick auf die große Uhr am Rand des Sportplatzes bestätigt es: Ich habe es geschafft!

Mein Mitläufer nickt mir freundlich zu. »Sag ich doch, du schaffst das, Kollegin!« Er reicht mir die Hand, hilft mir beim Aufstehen, klopft mir kurz auf die Schulter und geht wieder zu seinen Kollegen, die mir kurz Beifall spenden und sich dann wieder anderen Dingen zuwenden. Den Kollegen habe ich nie wiedergesehen, aber seine Worte klingen mir heute noch in den Ohren, wenn ich in Situationen bin, in denen ich an mir zweifle.

Der Prüfer reicht mir die Hand: »Herzlichen Glückwunsch, Frau Binder! Somit steht fest, dass Sie am 1. Oktober 1998 Ihre Ausbildung zur Polizistin beginnen werden.«

Mein Vater wartet auf dem Parkplatz auf mich und kann bereits an den lustigen kleinen Hopsern, mit denen ich auf ihn zulaufe, erkennen, dass ich auch den Sporttest erfolgreich absolviert habe. Und das, obwohl mein Sportlehrer in der Schule mich irgendwann den faulsten kleinen Wurm genannt hat, den er je unterrichtet hat!

Während mein Vater vor Stolz fast platzt, folgen viele tränenreiche Diskussionen mit meiner Mutter und immer wieder die Bitte, doch noch mal darüber nachzudenken. Rechtsanwaltsfachangestellte oder Bankkauffrau seien doch auch ehrbare Berufe. Meine beiden fürsorglichen älteren Brüder beginnen mich genüsslich für »den Job« abzuhärten – natürlich mit den besten Absichten.

So werde ich plötzlich beim Kaffeetrinken gewürgt, finde mich ans Treppengeländer gefesselt wieder und muss unerwartete Angriffe beim Frühstück oder am Mittagstisch mit den Fäusten abwehren, während man mir gleichzeitig mit den Worten: »Als Bulette musst du dem was entgegenzusetzen haben!« die Arme auf dem Rücken fesselt.

Auch meine Klassenkameraden machen sich über mich lustig: Ob man mich als Polizeihund eingestellt habe, von der Größe her komme das ja ungefähr hin? Oder ob ich die neue Sekretärin des Polizeipräsidenten würde, denn im Streifenwagen übers Lenkrad gucken, das könne ich doch sicherlich nicht.

Ich nehme alles mit stoischer Gelassenheit hin, denn ich weiß, ich hab etwas geschafft, was mir niemand zugetraut hat. Ich, 158 Zentimeter klein und fünfundvierzig Kilo leicht, blond, schüchtern und gerade mal sechzehn Jahre alt, werde Polizistin.

In ECHT!

Schnell erwachsen werden

1998

Ich beuge mich über die Tastatur, presse mir ein Taschentuch unter die Nase und tippe mit einer Hand eine Strafanzeige in den Computer. Mir gegenüber sitzt mein Kollege, mit dem ich heute meinen letzten Praktikumsdienst in Aachen absolviert habe. Ab morgen werde ich wieder im Ausbildungsinstitut in Linnich Gesetze pauken, den Umgang mit der Waffe verfeinern, abends kleine Partys auf den Stuben feiern, an der Ruhr entlangjoggen und eine Menge Spaß haben.

Doch jetzt habe ich dafür keinen Gedanken übrig. Meine Nase fühlt sich an, als wäre sie groß wie eine Aubergine, und pocht schrecklich. Sobald ich das Taschentuch wegnehme, tropft Blut auf die Tischplatte, und im Spiegel habe ich gesehen, dass ich bereits jetzt unter beiden Augen zwei herrliche Veilchen habe.

Die Leichtigkeit und Unbedarftheit, mit denen ich bisher an unsere Einsätze herangegangen war, sind verflogen. Klar war mir eingetrichtert worden, vorsichtig zu sein, die Eigensicherung stand über allem. Aber irgendwie war bisher immer noch alles gut gegangen. In den Trainings in Linnich hatte man halt das vorher vereinbarte Zauberwort gebrüllt, wenn man die Situation nicht mehr unter Kontrolle hatte, und sofort ließ der Schauspieler, der den wütenden Aggressor mimte, von einem ab.

Heute Nacht war das nicht so. Mit mehreren Streifenwagen waren wir zu einer Schlägerei gefahren. Es ist Karneval, und während meine Freunde selbst feiern sind, bin ich im Nachtdienst und versuche mit meinen Kollegen, wenigstens ein wenig Ordnung im karnevalistischen Chaos zu wahren.

Noch bevor wir aus den Autos ausstiegen, zogen wir die Handschuhe an und funkten nach Verstärkung, denn die ungefähr vierzig Typen, die sich hier prügelten, waren ganz eindeutig zu viel für uns. Trotzdem hieß es handeln. Schließlich kann man als Polizist nicht im Auto sitzen bleiben und die Knöpfe runterdrücken, während man abwartet, bis die Herrschaften mit ihrer Keilerei fertig sind.

Also hatten wir, zu sechst ganz klar in der Unterzahl, uns ins Getümmel gestürzt. Hatten Kontrahenten getrennt, Streithähne voneinander weggerissen, selbst Schläge ausgeteilt, waren peinlich darauf bedacht gewesen, dass im Gewühl niemand nach unseren Waffen greifen konnte, und hatten Menschen gefesselt.

Als es schien, dass wir die Situation in den Griff bekämen – ich hing gerade am Arm eines der Türsteher der Party und versuchte mit meinem Kollegen, den Kerl zu Boden zu drücken –, zerrte jemand von hinten an meiner Schulter. Ich wurde herumgerissen und hatte das Gefühl, gegen eine Betonwand zu knallen.

Ich versuchte verzweifelt, nicht vor Schmerz ohnmächtig zu werden und zu Boden zu gehen, als ich sah, wie die Faust, die mich gerade mitten ins Gesicht getroffen hatte, erneut ausholte. Einer meiner Kollegen konnte den Schlag gerade noch mit einem gezielten Haken von mir ablenken. Ich schüttelte den Kopf, um wieder klar denken zu können, fing einen besorgten Blick meines Partners auf, nickte ihm unter Schmerzen zu, und im nächsten Moment lag der Schläger unter uns am Boden und trug meine silbern glänzenden Handfesseln. Mein Blut tropfte auf seinen Rücken, während er brüllte: »Du dumme Fotze, mach die Dinger los, dann besorg ich’s dir direkt noch mal!«

Mit unseren Einsatzübungen hatte das hier wenig zu tun, doch am Ende hatten wir gewonnen: Zwanzig Männer saßen gefesselt an einem Zaun aufgereiht und warteten auf den Gefangenentransporter. Die andere Hälfte der Herren hatte sich klammheimlich vom Acker gemacht. Zwei Kollegen hatten Kratzer und Schrammen im Gesicht, einer hatte sich das Handgelenk gebrochen, und ich ahnte bereits, dass mit meiner Nase irgendwas nicht in Ordnung war. Trotzdem halfen wir Lädierten den Kollegen, die Gefesselten zu verladen, und begaben uns auf die Wache.

Da sitze ich nun, tippe die Anzeige und versuche nicht daran zu denken, wie sehr mir das Gesicht schmerzt. Einer der Kollegen klopft mir im Vorbeigehen auf die Schulter: »Ordentlich zugelangt, Binderchen, das traut man dir ja gar nicht zu!«

Ende der Leseprobe