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Gerade in dynamischen und turbulenten Zeiten wächst in Organisationen der Bedarf, agiler, partizipativer, selbstgesteuerter und hierarchiefreier zu agieren. Das Buch bietet einen kompakten Überblick über die unterschiedlichen Konzepte von Selbstorganisation und Agilität und deren Entstehungskontext. Es zeigt die damit verbunden Chancen, diskutiert aber auch kritisch deren Grenzen. Zentraler Bestandteil des Buches sind von Masterarbeiten ausgehende Beiträge, die mit ihren empirischen Untersuchungen einen Blick in die Praxis des Unternehmensalltags geben, indem sie die Erfahrungen bei der Umsetzung von Selbstorganisation und Agilität und ihre vielfältigen Ausprägungen beleuchten. Der vorliegende Band soll dazu ermutigen, nach Alternativen zu tradierten hierarchischen Organisationmodellen zu suchen, zugleich aber auch auf die Herausforderungen, die mit deren Umsetzung verbunden sind, aufzeigen. Zielgruppe des Buches sind Organisationsberater*innen, veränderungsinteressierte Führungskräfte und Praktiker*innen sowie Studierende sozialwissenschaftlicher und betriebswirtschaftlicher, aber auch angrenzender Fächer.
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Seitenzahl: 260
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Vorwort |
Gerhard Benetka
Einleitung. Selbstorganisation und Agilität beforschen |
Georg Zepke & Thomas Schweinschwaller
1 Verortung der Selbstorganisation und Einführung in die grundlegenden Konzepte und Ansätze
Die Welt in Bewegung: Auswirkungen auf das Verständnis von Arbeit |
Thomas Schweinschwaller
Auf der Suche nach Alternativen: Konzepte und Ansätze der Selbstorganisation im Überblick |
Georg Zepke & Thomas Schweinschwaller
Selbstorganisation in sozialen Systemen: Selbstverständlichkeit oder Widerspruch? |
Georg Zepke
2 Erfahrungen mit agilen Ansätzen in der Softwareentwicklung
Anforderungen an Führungskräfte agiler Softwareentwicklungsteams |
Gernot Weißensteiner
Scrum unter allen Umständen? Probleme bei der Einführung und dem Einsatz von Scrum |
Mario Dambauer
Retrospektiven in agilen Softwareprojekten: Reflexion in selbstgesteuerten Teams |
Andrea Alexa & Georg Zepke
3 Hierarchien dekonstruieren und mit Alternativen experimentieren
Neue Organisationsformen in hierarchiefreien und hierarchiereduzierten Unternehmen |
Christian Hauser
Kollektivierte Orte des Entscheidens in Organisationen mit nicht-hierarchischem Anspruch |
Claud A. Goutrié
Schulorganisation 2.0 – Zur Einführung von Soziokratie im Schulsystem | Elisabeth Scherrer
4 Querschnittsthemen: Lernen, Führungsverständnis und implizite Praktiken
Selbstgesteuertes Lernen von Mitarbeiter*innen durch Personalentwicklung fördern |
Sandra Nowak
Linienmanagement im selbstorganisierten Umfeld – zwischen Dezentralisierung von Macht und Revitalisierung eigenschaftstheoretischer Führungskonzepte |
Petra Morgenbesser
Implizite Praktiken der Selbstorganisation in Non-Profit-Organisationen |
Klaus Kreisel
5 Ausblick
Zusammenfassende Diskussion und weiterführende Perspektiven | Thomas Schweinschwaller & Georg Zepke
Literatur
Autor*innen
Das „Herzstück“ des vorliegenden Bandes bilden empirische Untersuchungen, die als Abschlussarbeiten im Rahmen des an der Fakultät für Psychologie der Sigmund Freud PrivatUniversität, Wien in Kooperation mit der ARGE Bildungsmanagement durchgeführten Universitätslehrgangs Beratungswissenschaften und Management sozialer Systeme eingereicht und approbiert wurden. Es handelt sich bei diesem Universitätslehrgang um ein „berufsbezogenes Studium“, d. h. um einen Lehrgang, in dem die vielfältigen beruflichen Erfahrungen, die die Studierenden einbringen, gewissermaßen den Stoff für den Unterricht abgeben. Der akademische Grad, mit dem diese Ausbildung abschließt, verweist darauf, dass diese beruflichen Erfahrungen eben nicht nur zum Gegenstand einer fachlichen Reflexion, sondern auch zum Gegenstand einer wissenschaftlichen Untersuchung gemacht werden sollen.
Freilich ist dieser wissenschaftliche Anspruch nicht leicht einzulösen. „Das Bekannte überhaupt“, sagt Hegel, „ist darum, weil es bekannt ist, nicht erkannt.“ Praktiker*innen scheint es grundsätzlich an der nötigen Distanz zu fehlen, um ihre eigene Berufspraxis einer wissenschaftlichen Kritik zu unterziehen. Zudem mangelt es ihnen oft an profunder sozialwissenschaftlicher Expertise. Andererseits leidet die von professionellen Sozialforscher*innen durchgeführte Praxisforschung oft an eben dieser Distanz zur Berufspraxis, was sich vor allem darin äußert, dass ihre Ergebnisse für die Praktiker*innen selbst bisweilen wenig relevant sind. Die wissenschaftliche Praxis folgt zum Teil Regeln, die für den berufspraktischen Alltag ohne Belang sind. Wissenschaftliche Forschung ist z. B. der Einhaltung der Gesetze der formalen Logik verpflichtet, für Handlungsvollzüge in der Berufspraxis sind formallogische Gesichtspunkte letztlich irrelevant. Wichtiger noch ist vielleicht der Aspekt der Zeit: Praktiker*innen handeln unter Zeitdruck, sie müssen hier und jetzt Entscheidungen treffen. Ist eine Entscheidung getroffen, so ist sie nicht mehr ungeschehen zu machen. Völlig anders die Verhältnisse in der Wissenschaft: Immer wieder kann der*die Wissenschaftler*in, wenn etwas nicht funktioniert, von Neuem, von vorne beginnen, in den Büchern zurück- und wieder vorblättern, kann nochmals die Quellen befragen, kann eine Untersuchungsstrategie verwerfen und eine andere, neue organisieren. Der Pfeil der Zeit ist, während er in der beruflichen Praxis wie im alltäglichen Handeln nach vorne gerichtet ist, in der Wissenschaft umkehrbar.
Was kann man tun, um diese strukturelle Differenz zwischen Wissenschaft und Praxis zu überwinden? In der Wissenschaftstheorie zentral ist die Unterscheidung zwischen der Beobachtung aus der Perspektive der ersten und der Beobachtung aus der Perspektive der dritten Person. Dazwischen gibt es etwas, das man eine Beobachtung aus der Perspektive der zweiten Person nennen könnte: die Generierung von neuem Wissen aus dem Dialog heraus. Auf diesem Prinzip fußt die Psychotherapie, und nicht zufällig fallen in der Psychotherapie – man denke an die Rolle, die Fallgeschichten z. B. in der Geschichte der Psychoanalyse spielen! – Therapie und Forschung oft zusammen. Gilt für die Beratung nicht Ähnliches? Ist nicht auch sie Wissensgenerierung aus dem Dialog heraus? In Bezug auf die Gültigkeit des Beratungswissens könnte man in Analogie zur Psychotherapie formulieren: Valide sind Hervorbringungen aus einem Dialog dann, wenn beide Dialogpartner*innen diese gemeinsame Hervorbringung konsensuell als gültig anerkennen. Unversehens mutiert das Paradigma der Beratung zu einem Forschungsparadigma – zu einem in Zukunft vielleicht brauchbaren Paradigma der Praxisforschung.
Den beiden Herausgebern dieses Bandes sei dafür gedankt, dass sie mit ihrer Arbeit empirischen Studien aus dem Universitätslehrgang zur Veröffentlichung verholfen haben. Sie stärken damit eine Überzeugung, die der Entwicklung der Lehrpläne zugrunde lag: dass nämlich der Umstand, dass die Studierenden ihre eigenen beruflichen Zusammenhänge zum Untersuchungsgegenstand machen, den Wissenschaftler*innen, die sie unterrichten und anleiten, einen Zugang zu Ausschnitten und Perspektiven einer sozialen Realität verschafft, die für die sozialwissenschaftliche Forschung auf anderem Wege vielleicht gar nicht zu erfassen wären.
Univ.-Prof. Mag. Dr. Gerhard Benetka
Dekan der Fakultät für Psychologie, Sigmund Freud Privat Universität, Wien
Kaum ein Thema der Organisationsentwicklung wird aktuell so lebhaft diskutiert wie die Möglichkeiten und Grenzen, die mit der Anwendung „neuer“ agiler, partizipativer und hierarchiefreier Konzepte in unterschiedlichen Organisationstypen verbunden sind. Unter Bezugnahme auf unterschiedliche Konzepte und Begrifflichkeiten wie New Work, Agilität, Soziokratie und Holokratie, kollegial geführte Unternehmen, „Reinventing Organizations“ etc. werden in immer mehr Unternehmen Initiativen gestartet, neue Strukturen eingeführt, Vertreter*innen von erfolgreich entwickelten Praxismodellen und Selbststeuerungskonzepten eingeladen, Kongresse organisiert und Diskussionen geführt. Auch wenn sich zu den oft kraftvollen und plausiblen Plädoyers für gänzlich neue und ganzheitlichere Organisationsformen zunehmend kritische Stimmen dazugesellen (vgl. etwa Kühl, 2017, 2019; Bauer, Hohl & Zirkler, 2019) und von Praktiker*innen nach wohl zuweilen überzogenen Erwartungen Ernüchterung geäußert wird: Selten war die Zeit für das Erproben und Etablieren neuer kollektiver Führungskonzepte und innovativer Organisationsmodelle so günstig wie jetzt!
Dieser Band möchte einen Beitrag zur Zwischenbilanz von bisherigen Erfahrungen auf Basis von qualitativen Studien leisten und Ergebnisse aus Untersuchungen zur praktischen Umsetzung unterschiedlicher Facetten und Ansätzen von Selbstorganisation zur Verfügung stellen. Dabei ist es nicht das Ziel, einen weiteren Ansatz oder ein neues Instrument daraus abzuleiten; vielmehr geht es darum, auf empirischer Basis Erfolgsfaktoren, aber auch Herausforderungen und Schwierigkeiten in der konkreten Anwendung von Selbstorganisationskonzepten und -praktiken herauszuarbeiten.
Die Beiträge in diesem Band sollen dazu ermutigen, im eigenen Wirkungsbereich nach Alternativen zu tradierten hierarchischen Organisationsmodellen zu suchen; das Bedürfnis nach Lust und Freude an der Arbeit als Quelle der Entfaltung ernst zu nehmen und verstärkt auf die Funktionstüchtigkeit von selbstgesteuerten Teams zu vertrauen. Wir sind davon überzeugt, dass die Möglichkeiten von innovativen Organisationsmodellen noch lange nicht erkundet und ausgereizt sind.
Gleichzeitig ist das Buch aber auch von einer kritischen Haltung gegenüber überzogenen Erwartungen, was Selbstorganisationskonzepte in Organisationen leisten können und leisten sollen, durchzogen. Deshalb werden auch Grenzen, Schwierigkeiten und Herausforderungen, die mit der Umsetzung verbunden sind, fokussiert.
Im ersten Teil des Bandes werden Selbstorganisationsthemen in ihrem gesellschaftlichen Kontext diskutiert, grundlegende Konzepte und Ansätze vorgestellt und ihre organisationstheoretische Verortung dargelegt:
„Die Welt in Bewegung: Auswirkungen auf das Verständnis von Arbeit“ (Thomas Schweinschwaller)
Die Brisanz des aktuellen Diskurses rund um Selbstorganisation lässt sich nur in seinem gesellschaftlichen Zusammenhang verstehen. In diesem Beitrag erfolgt ein historischer Abriss der sich wandelnden Bedeutung von Arbeit, insbesondere der Auswirkungen, die mit der zunehmend umfassenden Digitalisierung verknüpft sind. Aus aktuellen gesellschaftlichen Megatrends werden Konsequenzen für den aktuell hohen Stellenwert von Selbstorganisation und Agilität gezogen.
„Auf der Suche nach Alternativen: Konzepte und Ansätze der Selbstorganisation im Überblick“ (Georg Zepke und Thomas Schweinschwaller)
In diesem Beitrag werden nach einer Definition von Selbstorganisation einige Vorläufermodelle sowie wesentliche, dem Konzept von Selbstorganisation zugrunde liegende Ansätze, auf die oft Bezug genommen wird, wie etwa Soziokratie und Holokratie, New Work, agile Methoden (wie Kanban und Scrum) sowie die einflussreichen Überlegungen zur „integralen evolutionären Organisation“ (Laloux, 2015), in kompakter Form dargestellt.
„Selbstorganisation in sozialen Systemen: Selbstverständlichkeit oder Widerspruch?“ (Georg Zepke)
Bei der Befassung mit Selbstorganisation steht man rasch vor der Herausforderung zu definieren, welche Aspekte tatsächlich neue und erfolgversprechende Beiträge zur Organisationsgestaltung darstellen, welche sich hingegen auf Neuakzentuierung beschränken oder gar Grenzen der Umsetzbarkeit ausblenden. Anhand von sechs Schlüsselthemen wird versucht, die damit verbundenen Spannungsfelder organisationstheoretisch auszuleuchten.
Der zweite Teil des Bandes, das Herzstück, setzt sich aus kompakten Beiträgen mit empirischen Ergebnissen zu Forschungsfragen rund um unterschiedliche Praktiken der Selbstorganisation und Agilität zusammen. Die Beiträge basieren auf Masterarbeiten, die im Rahmen des Universitätslehrgangs Beratungswissenschaften der Fakultät für Psychologie der Sigmund Freud PrivatUniversität Wien, der in Kooperation mit der ARGE Bildungsmanagement durchgeführt wird, entstanden sind. Die Arbeiten wurden durchgehend von erfahrenen Berater*innen, Führungskräften und Praktiker*innen verfasst, die sich im Anschluss an einen mehrjährigen Universitätslehrgang zu „Coaching, Organisations- & Personalentwicklung“ bzw. „Supervision, Coaching & Organisationsentwicklung“ im Zuge ihrer Masterarbeit vertieft mit den theoretischen Hintergründen von Agilität und Selbstorganisationskonzepten befasst und aus ihrer Praxis entstandene Forschungsfragen empirisch untersucht haben.
Methodisch wurde bei den für diesen Band ausgewählten Masterarbeiten eine qualitative Forschungsstrategie verfolgt, um der Differenziertheit, dem Facettenreichtum und auch der Widersprüchlichkeit des Forschungsgegenstandes gerecht zu werden. Das bedeutet, dass bei allen Arbeiten qualitative Erhebungsmethoden – wie teilstrukturierte Interviews etwa mit Führungskräften und Mitarbeiter*innen sowie Berater*innen und Expert*innen – eingesetzt wurden.
Mit qualitativen Forschungsstrategien werden nicht vorab definierte Hypothesen geprüft, das Ziel sind nicht Ergebnisse mit universellem Geltungsanspruch oder betriebswirtschaftlich finanziell ausdrückbare Wirkungsanalysen. Vielmehr wird versucht, auf Basis eines offenen und vertieften Ausleuchtens der Einschätzungen von Akteur*innen im Feld – und damit als Expert*innen von gelebter (Selbst-)Organisationspraxis – „dichte Beschreibungen“ des Themas zu entwickeln, Erfahrungswissen zu systematisieren und daraus verallgemeinerbare Hypothesen abzuleiten (Zepke, 2016). Die Qualität einer qualitativen Forschungsarbeit kann dabei nicht durch dieselben Gütekriterien (Validität, Reliabilität und Objektivität), die bei quantitativen – etwa fragebogenbasierten – Forschungsprozessen sinnvoll sind, bestimmt werden, sondern durch spezifische qualitative Gütekriterien wie Regelgeleitetheit, intersubjektive Nachvollziehbarkeit, kommunikative Validierung etc. (vgl. etwa Steinke, 2009; Zepke, 2016).
Durch die unterschiedlichen Praxiserfahrungen der Studienautor*innen konnten Zugänge in Praxisfelder hergestellt werden, die für ausschließlich wissenschaftlich tätige Forscher*innen – etwa an der Universität – kaum möglich wären. Zudem ist die Güte des Datenmaterials sehr hoch, u. a. aufgrund der hohen Qualität der Interviewführung durch die Ausbildung der Autor*innen in systemsicherer Gesprächsführung.
In Summe wurden über hundert Interviews mit Gründer*innen, Führungskräften, Mitarbeiter*innen, Branchenexpert*innen und Berater*innen geführt, die sich mit Selbstorganisation und Agilität im Unternehmenskontext beschäftigen. Dabei wurden die Erfahrungen aus etwa fünfzig unterschiedlichen Organisationen berücksichtigt, wovon etwa zwei Drittel dem Profit-Bereich zuzuordnen sind, wobei sowohl Klein-, Mittel- als auch Großbetriebe der IT-Branche, des Handels und der Dienstleistungsbranche befragt wurden. Ein Drittel der untersuchten Organisationen gehört dem Non-Profit-Sektor an bzw. ist mit Themen der Zivilgesellschaft befasst.
Die dargestellten neun Arbeiten sind in drei thematische Bereiche („Agilität“, „Hierarchiefreiheit“ und „übergreifende Themenstellungen“) zusammengefasst. Die ersten drei befassen sich mit Erfahrungen mit agilen Ansätzen in der Softwareentwicklung. Gerade die agile Softwareentwicklung und die seit Anfang des Jahrtausends verstärkt umgesetzten agilen Ansätze als Reaktion auf die oftmals ernüchternden Erfahrungen mit dem gerade im dynamischen IT-Umfeld viel zu unflexiblen klassischen Projektmanagement sind ein wesentlicher Impulsgeber für die Selbststeuerung auch in anderen Branchen.
„Anforderungen an Führungskräfte agiler Softwareentwicklungsteams“ (Gernot Weißensteiner)
Führung wird in der agilen Softwareentwicklung keineswegs überflüssig. Die Aufgabe bei der Leitung selbstgesteuerter Teams führt jedoch zu wesentlichen Veränderungen in den Anforderungen an die Führungskräfte. In diesem Beitrag wird untersucht, welches Selbstverständnis von Führung und welche konkreten Praktiken sich in der Praxis herauskristallisieren, um das widerspruchsreiche Anforderungsprofil zu erfüllen. Daraus werden vier unterschiedliche Strategien und Typen abgeleitet, wie agile Führungskräfte auf Herausforderungen in ihren Unternehmen reagieren.
„Scrum unter allen Umständen? Probleme bei der Einführung und dem Einsatz von Scrum“ (Mario Dambauer)
Scrum ist ein besonders verbreitetes agiles Verfahren, bei dem Projekte mit kleinen, sich selbst organisierenden Teams mittels eines iterativen Prozessrahmens umgesetzt werden. Doch nicht immer erfüllt die Einführung von Scrum die gesetzten Erwartungen. In diesem Beitrag werden Problemfelder und Herausforderungen bei der Einführung von Scrum dargestellt, um daraus Konsequenzen für die Praxis ableiten zu können.
„Retrospektiven in agilen Softwareprojekten: Reflexion in selbstgesteuerten Teams“ (Andrea Alexa und Georg Zepke)
Nicht nur Flexibilisierung und Tempoerhöhung sind wesentliche Bestandteile agiler Praxis, die gegenläufigen Elemente – das achtsame Innehalten und Verlangsamen sowie die rückblickende Reflexion von Prozessen im Rahmen von so genannten „Retrospektiven“ – sind ebenso wichtig. Doch auf welche Schwierigkeiten stößt die Umsetzung der Retrospektive in der Praxis? In diesem Beitrag werden die Herausforderungen, die mit der Reflexion insbesondere von zwischenmenschlichen gruppendynamischen Themen verknüpft sind, fokussiert. Des Weiteren werden wesentliche Erfolgsfaktoren für den Einsatz von Retrospektiven als wirkungsvollen Reflexionsverfahren erarbeitet.
Während in der agilen Methodik die Selbstorganisation vor allem auf den Einsatz selbstgesteuerter Teams sowie auf weitaus flexiblere Methoden und Formate zur Arbeit etwa an Projekten setzt, wird von anderen Ansätzen versucht, in noch umfassenderer Weise und auf der Ebene der gesamten Organisation Hierarchien zu dekonstruieren und mit Alternativen zu experimentieren. Dabei handelt es sich nicht nur um Wirtschaftsunternehmen, sondern insbesondere auch um Non-Profit-Organisationen und zivilgesellschaftliche Initiativen und Einrichtungen, die sich verstärkt mit Selbststeuerung befassen.
„Neue Organisationsformen in hierarchiefreien und hierarchiereduzierten Unternehmen“ (Christian Hauser)
Organisationen mit kollektivierten Führungsstrukturen stehen oft vor der Frage, worin und durch welche neuen Praktiken und Vorgehensweisen sowie Organisationsformen sie sich nun konkret von konventionellen Unternehmen unterscheiden. In diesem Beitrag werden einige wesentliche Praktiken herausgearbeitet. Zudem wird die mit neuen Organisationsformen verknüpfte Anforderung an die individuelle Selbstorganisation als wesentlicher Faktor für eine erfolgreiche Umsetzung neuer Organisationsmodelle dargestellt.
„Kollektivierte Orte des Entscheidens in Organisationen mit nicht hierarchischem Anspruch“ (Claud A. Goutrié)
Entscheidungen sind systemtheoretisch betrachtet das Schlüsselelement von Organisationen, insbesondere in Zeiten der Veränderung. Dementsprechend verdichtet sich in Organisationen mit nicht hierarchischem Anspruch die Frage des Gelingens der Organisation, v. a. hinsichtlich deren Umgangs mit Entscheidungen. In diesem Beitrag wird skizziert, welche kollektivierten Orte des Entscheidens sich als Alternative zur traditionellen Führung herauskristallisieren und anhand welcher Dimensionen sich erfolgreich etablierte Entscheidungsorte darstellen lassen.
„Schulorganisation 2.0 – Zur Einführung von Soziokratie im Schulsystem“ (Elisabeth Scherrer)
Schulen sind als Organisationen in einem besonders sensiblen und relevanten Bereich der Gesellschaft angesiedelt und haben dabei zunehmend vielfältige und anspruchsvolle Aufgaben in einem dynamischen Umfeld zu erfüllen. Dennoch sind an Schulen Experimente mit völlig neuen Steuerungsmodellen noch selten und stoßen an die Grenzen der Rahmenbedingungen der Organisation. In diesem Beitrag wird der Frage nachgegangen, welche Erfahrungen Schulen mit der Einführung von soziokratischen Organisationsformen haben und auf welche spezifischen Herausforderungen der Organisationstyp Schule dabei stößt.
Im dritten und abschließenden Abschnitt der empirischen Beiträge werden Querschnittsthemen, die in allen Organisationen, die sich mit Selbstorganisation befassen, relevant sind, dargestellt; und zwar jenseits der angewandten Konzepte, unabhängig davon, wie weitreichend dabei Hierarchien abgebaut werden und ob sie sich vom Zugang her an einem agilen Selbstverständnis orientieren. So gilt es verstärkt, selbstgesteuerte Lernprozesse zu initiieren und zu unterstützen sowie das Profil- und Selbstverständnis von Linienführungskräften nachzuschärfen. Aber auch Organisationen, die sich vom Selbstverständnis und Anspruch her gar nicht als „neue“ selbstorganisierte Organisation definieren, entwickeln oftmals höchst erfolgreiche implizite Praktiken der Selbstorganisation.
„Selbstgesteuertes Lernen von Mitarbeiter*innen durch Personalentwicklung fördern“ (Sandra Nowak)
Individuelle Selbstorganisation ist zunehmend in allen – aber natürlich insbesondere in agilen und selbstgesteuerten – Organisationen zu einer von den Mitarbeiter*innen geforderten Schlüsselkompetenz geworden. Auf Basis von Interviews mit Expert*innen aus Unternehmen mit neuer Organisationsform, aber auch aus konventionell hierarchischen Organisationen wird in diesem Betrag dargestellt, welche Anforderungen selbstgesteuertes Lernen stellt, welche organisationalen Rahmenbedingungen das selbstgesteuerte Lernen von Mitarbeiter*innen fördern und welche Konsequenzen sich daraus für die Personalentwicklung ableiten lassen.
„Spannungsfelder und Zumutungen im Linienmanagement im selbstorganisierten Umfeld“ (Petra Morgenbesser)
Das mittlere Management und Linienführungskräfte von Organisationseinheiten haben per se eine anspruchsvolle und spannungsreiche Position, da sie die oftmals widersprüchlichen Anforderungen und die Logik der Gesamtorganisation sowie die oft anders gelagerten Interessen der Mitarbeiter*innen ausbalancieren müssen.
Bei der Führung von selbstgesteuerten Teams und Organisationseinheiten – unabhängig vom konkreten Konzept – verschwinden diese Widersprüche allerdings nicht; sie radikalisieren sich zum Teil oftmals sogar. Die damit verbundenen spezifischen Herausforderungen und Zumutungen werden in diesem Beitrag nachgezeichnet.
„Implizite Praktiken der Selbstorganisation in Non-Profit-Organisationen“ (Klaus Kreisel)
Nicht zentral vorgegebene selbstorganisierte Prozesse sind grundsätzlich immer Bestandteil von Organisationen als sozialen Systemen und sichern deren Überleben. In diesem Beitrag wird der Frage nachgegangen, wie viel Selbstorganisation in wertebasierten Non-Profit-Organisationen – die sich nicht ausdrücklich als „selbstorganisiert“ begreifen – steckt und welche impliziten Praktiken sich dabei auch ohne Bezug auf ein konkretes Konzept herauskristallisieren.
Bei aller Unterschiedlichkeit der Schwerpunkte, Themen und Beiträge zeigt sich dennoch, dass es immer wieder ähnliche Erfolgsfaktoren sind, die über das Gelingen und die Akzeptanz von Selbstorganisationsprozessen entscheiden.
„Zusammenfassende Diskussion und weiterführende Perspektiven“ (Thomas Schweinschwaller und Georg Zepke)
Auf Basis der Inspirationen durch die vorliegenden Beiträge werden gebündelt Konsequenzen gezogen und Praxishinweise für eine vitale und realistische Gestaltung der Selbstorganisation abgeleitet.
Dieses Buch richtet sich an alle, die sich mit dem Thema Selbstorganisation und Agilität beschäftigen und einen Blick hinter die Kulissen – in die Praxis von Selbstorganisation und Agilität in Organisationen – werfen wollen.
Wir möchten den Autor*innen dieses Bandes für das Teilen ihrer Forschungsergebnisse, den Einblick in die Praxis und in die Anwendungsfelder von Selbstorganisation danken. Wir wünschen unseren Leser*innen Inspiration durch die empirische Aufbereitung dieses Themas.
Selbstorganisation und Agilität im Kontext von Organisationen scheinen aktuell sehr in Mode zu sein und sind aus der Managementliteratur nicht mehr wegzudenken. Selbstorganisation und Agilität sind sicherlich als wichtige Bausteine und Grundlagenelemente für die Organisationsgestaltung zu betrachten, weil damit ein flexibleres Reagieren auf sich ändernde Ansprüche von Kund*innen und Technologien möglich wird. Dieser Trend kommt nicht ganz unvermittelt und ist nicht nur aus dem Kontext von Organisationen allein verstehbar, sondern ist auch durch gesellschaftliche Entwicklungen bedingt. In diesem Beitrag wird ein kurzer Blick auf diese Dynamiken und deren Auswirkungen auf unsere Arbeitswelt geworfen.
Zu Beginn wird ein kurzer Überblick über die Entwicklung von Arbeit im gesellschaftlichen Kontext gegeben und es wird ausgeleuchtet, welche gesellschaftlichen Dynamiken uns gegenwärtig beschäftigen. Im Zentrum der Argumentation steht die Annahme, dass Stabilität und Agilität Organisationsprinzipien von sozialen Systemen sind. Darauf aufbauend werden die Einflussfaktoren beschrieben, welche aktuell auf unser gegenwärtiges Gestaltungsverständnis von Arbeit einwirken. Unter Agilität kann eine Kompetenz, mit „bewegten Zukünften“ umzugehen, verstanden werden. Zum Abschluss wird die Debatte über Selbstorganisation und Agilität unter drei verschiedenen Gesichtspunkten dargestellt.
Gesellschaftliche Entwicklungen und Innovationen hatten schon immer einen Einfluss darauf, wie sich unsere Arbeit gestaltet. Es ist ein wichtiges Strukturmerkmal von Gesellschaften, wie Arbeit organisiert wird und welche Haltungen und Annahmen unter dem Begriff Arbeit zusammengefasst werden. Arbeit ist wesentliches Bindeglied und Konfliktherd zugleich – in der Gesellschaft und in unseren Köpfen: „Denn eine Gesellschaft ohne Arbeit, so scheint es, ist eine Gesellschaft ohne Mitte, eine Gesellschaft, der im Großen wie im Kleinen, im Lebensalltag der Menschen wie in der Politik, in der Wirtschaft, im Recht etc. das orientierende Zentrum und die Koordination abhanden gekommen ist“ (Beck, 2007, S. 37). In unserem Verständnis von Arbeit steht dabei die Erwerbsarbeit im Fokus, was dazu führt, dass häusliche Arbeit – etwa Pflege, Betreuung und Erziehung von Familienmitgliedern – oder die ehrenamtliche Arbeit in Bezug auf gesellschaftliche Anerkennung, soziale Absicherung und Bezahlung anders bewertet werden. Arbeit in einem weiten Sinn verstanden regelt unser soziales Mit- und Füreinander und ist weit mehr als ein bezahlter Job von Einzelnen.
Arbeit ist neben dem Gelderwerb auch identitätsstiftend. Arbeit ermöglicht uns, dass wir uns entwickeln; dass wir mit anderen Menschen verbunden sind – etwas schaffen, tun, gestalten – und Gratifikationen (wie z. B. Lohn und Anerkennung) für unsere Leistungen bekommen (können) (Badura, 2017). In unserer westlichen Kultur kann Arbeit auch als eine Quelle und Ausgestaltungsform – bezugnehmend auf Marx – der Entfremdung verstanden werden, durch die es zu einem Entzug von Lebensenergie kommt (Kühl, 2004). Diese Entfremdung kann sich zur Überbelastung oder Erschöpfung steigern und führt im Extremfall zum Verstummen von uns und der Welt um uns herum (Rosa, 2020). Arbeit kann auch als eine Wirkkraft, als eine Art Verstärker von Lebensenergie gesehen werden, z. B. durch ein Resonanzerleben, das dann auftritt, wenn wir das Gefühl von Lebendigkeit und Sinnhaftigkeit wahrnehmen (Rosa, 2020), wobei wiederum auch Selbstwirksamkeit erlebt werden kann (Badura, 2017).
Das Verständnis von Arbeit ist einem ständigen Wandel und stetiger Weiterentwicklung unterworfen – genauso wie das Verständnis dessen, was Gesellschaft ausmacht. Arbeit kann als markantes Spiegelbild der gesellschaftlichen Vorstellung über den Umgang mit Zeit verstanden werden, wie im Folgenden gezeigt wird.
In der Antike bis zum frühen Mittelalter wurde Arbeit als Abwesenheit von Freizeit verstanden. Die, die jene zum Leben notwendigen Arbeiten verrichtet haben, waren meist Unfreie und Sklav*innen und wurden in Bezug auf gesellschaftliche Rechte ignoriert. Das Verständnis von Arbeit ändert sich in unserer westlichen Welt durch den Einfluss der monotheistischen Religionen, die Arbeit mehr in Richtung von „Labor“ rücken (Füllsack, 2009). „Labor“ heißt etymologisch „Mühe“ (Duden Etymologisches Wörterbuch, 2002). Das Erdulden und Ertragen dieser Mühsal stand über Jahrhunderte für ein gottgefälliges Leben. Arbeit war hier als ein Teil der Schuld, die zu Lebzeiten zu schultern ist, um nach dem Tod in eine arbeitsfreie Ewigkeit eingehen zu können, angesehen.
Arbeit entwickelt sich nach der Aufklärung und den darauf aufbauenden technischen Disruptionen zu einer Grundlage für die Existenzberechtigung von Menschen im Diesseits. Michel Foucault zeichnet nach, dass sich durch diese Erfindungen die Erwartungshaltung an Produktivität geändert hat. Arbeitstechniken werden in der Moderne laufend perfektioniert. Diese Entwicklungsleistungen führen zu einem Siegeszug der Produktivität und des Perfektionismus. Diese Anpassung macht vor dem Individuum nicht halt, nimmt schleichend die Persönlichkeit in Besitz und führt als psychisches Gefängnis zu Selbstoptimierung (Foucault, 1977). Die Industrialisierung führt dazu, dass Arbeit zur Bürger*innenpflicht erhoben wird. Arbeitslosigkeit wird eher mit Faulheit und einem zweifelhaften Charakter gleichgesetzt. Personen ohne Arbeit müssen befürchten, in Anstalten festgehalten zu werden, um umerzogen zu werden. Nach der Befreiung vom Absolutismus durch die Französische Revolution wächst der Einfluss des Bürgertums, der Entrepreneur*innen und Händler*innen, die durch industrielle Fortschritte und einer Masse an Arbeitenden auch Wohlstand und Wachstum erzeugen: fast ausschließlich zum Nutzen der Besitzenden (Pierenkemper, 2015). Die Ungleichheiten zwischen denen, die besitzen, und denen, die für das Vermehren des Besitzes arbeiten, werden Schritt für Schritt größer. Die sozialen Ungerechtigkeiten nehmen Ende des 19. Jahrhunderts immer mehr zu und werden auch politisch immer weniger erträglich. Sie führen zum Entstehen von Arbeiter*innenbewegungen. Am Ende des 19. Jahrhunderts werden Wohlfahrtsverbände eingerichtet, um genau jene, die krank sind bzw. nicht mehr arbeiten können, zu unterstützen. Arbeitsschutzgesetze werden eingerichtet, die zum Ziel haben, dass Arbeit Menschen nicht (mehr) schädigen oder krank machen darf, sondern ihre Arbeitsfähigkeit v. a. erhalten werden soll. Viele Sozialleistungen, die Arbeitnehmer*innen heute zur Verfügung stehen, wurden Anfang des 20. Jahrhunderts bitter erkämpft und nach der Wirtschaftskrise der Zwanzigerjahre und den beiden Weltkriegen weiter ausgebaut. Wer Arbeit hatte, konnte sich Essen, Wohnen, gesundheitliche Versorgung sowie in den meisten Staaten auch Bildung leisten und hatte ausgesorgt: natürlich je nach gesellschaftspolitischer Ausrichtung (Ritter, 2012). Die Möglichkeiten, in einem Sozial- oder einem neoliberalen Staat durch Arbeit und ohne Erwerbsarbeit überleben zu können, sind höchst unterschiedlich. Durch diese teilweise mit erheblichen Konflikten erkämpften verbundenen Versorgungsleistungen durch den Staat wird in Sozialstaaten das Risiko der Verelendung der*des Einzelnen durch staatliche Unterstützung minimiert.
Arbeit leistet im 20. Jahrhundert einen wesentlichen Beitrag zur Stabilität und Absicherung der*des Einzelnen, obgleich die Gruppe derer deutlich zunimmt, die durch Arbeit so wenig verdienen, dass sie sich Teilhabe an der Gesellschaft nicht leisten können. Durch den Siegeszug des Neoliberalismus an der Wende zum 21. Jahrhundert werden diese Sicherheiten immer mehr aufgeweicht, dereguliert, reformiert und teilweise abgeschafft (Fischer, 2016). An die Stelle eines größtenteils abgesicherten Arbeitsplatzes treten vermehrt neue Selbstständige als Ich-AGs mit deutlich weniger Absicherung: Überall wird „Flexibilität eingeklagt – oder mit anderen Worten: ein Arbeitgeber soll seine Arbeitnehmer leichter feuern können. Flexibilität heißt auch: Umverteilung von Risiken vom Staat und von der Wirtschaft auf die Individuen“ (Beck, 2007, S. 30). Hier begegnet uns das Wort Flexibilität im Arbeitskontext in Verbindung mit Risiko.
Wesentliche Einflussfaktoren für die gesellschaftlichen Entwicklungen sind die technologischen Entwicklungen. Wenn wir die Entwicklung der industriellen Arbeit in der Moderne betrachten (Rosa, Strecker & Kottmann, 2013), dann können wir unseren Weg eigentlich als Entwicklungspfad in Hinblick auf Steigerung der Produktivität durch immer effizientere Energienutzung verstehen: Alles wird mehr, schneller, billiger und vernetzter. Diese Entwicklung hatte natürlich auch positive Auswirkungen und viele Menschen profitieren davon: Noch nie war die Sterblichkeit so gering, die Lebenserwartung noch nie so hoch. Gleichzeitig wissen wir natürlich auch um das damit verbundene Dilemma: die ungleiche Ressourcenverteilung und natürlich auch die Zerstörung der Umwelt als Folgen unseres Fortschritts. Dennis C. Mueller fasst unser gegenwärtiges Wirtschaftssystem als „The Good, the Bad and the Ugly“ zusammen (Mueller, 2012).
Wenn wir die industrielle Arbeit in der Moderne betrachten, dann sind unsere Arbeitsweisen durch die Art und Weise, wie die unterschiedlichen Formen von Technologie nutzbar sind, stark beeinflusst (Hartmann, 2015). Beispielsweise gilt die Erfindung des mechanischen Webstuhls als erste Phase der industriellen Revolution. Die Veränderungen der Produktion führten dazu, dass kleine Handwerksbetriebe, die lokal beschränkt agierten, immer mehr zugunsten von Fabriken zurückgedrängt wurden. In der zweiten industriellen Revolution nutzten wir Wasser- und Dampfkraft und später elektrische Energie zum Betreiben von Geräten und Maschinen. Das vervielfachte die Produktion und vernetzte uns immer mehr, z. B. durch die Beschleunigung des Warentransports. Als Beispiele dienen im 20. Jahrhundert ganz spezielle Arbeitssysteme wie der Taylorismus oder Fordismus. Dabei geht es um das rationale Durchdringen von Arbeit durch Zerlegung und Aufteilung von Arbeit. Arbeit wird zu einem gänzlich steuerbaren und operationalen Akt: Rationalisierung steht im Vordergrund. Viele Ausläufer des modernen Managements, z. B. Prozessmanagement, Qualitätsmanagement und Konzepte des rationalen Managements (z. B. Transaktionale Führung), bauen auf dieser Rationalitätslogik auf (Baecker, 2015).
In den Fünfzigerjahren des letzten Jahrhunderts folgte die dritte industrielle Revolution, die mit dem Einsatz von Informationstechnologie (IT) in Verbindung steht. Wir befinden uns gerade in einer Transformation, wo Daten sozusagen zu den Ölfeldern der Gegenwart werden und die Beschleunigung immer mehr an Fahrt aufnimmt. Das führt zu einer Gesellschaft, die einerseits dem Start-up-Kult huldigt und IT-Lösungen anbetet; deren Akteur*innen sich andererseits jedoch wie in einem Hamsterrad eingesperrt fühlen. Stress und Burnout werden von der Ausnahme zur neuen Normalität. Wir leben heute in einem Übergang, bei dem wir nicht abschätzen können, wie sich die potenzielle vierte industrielle Revolution durch cyber-physische Systeme auf unsere Praktiken und unser Verständnis von Arbeit – und in der Folge auch auf unsere Gesellschaft – auswirken wird. Unter cyber-physische Systeme werden das Internet der Dinge, intelligente Automatisierung, Robotik, der 3-D-Drucker und die künstliche Intelligenz gezählt (Hartmann, 2015).
Wenn wir versuchen, uns empirisch den Veränderungen in Bezug auf Arbeit zu nähern, dann hilft ein Blick auf die Studie von Julian Aichholzer, Christian Friesl, Sanja Hajdinjak und Sylvia Kritzinger (2018), die in einer repräsentativen Stichprobe in Österreich sichtbar gemacht hat, wie sich Arbeit in den 1990ern bis 2018 in Österreich entwickelt hat. Trotz erheblicher struktureller Änderungen möchte die Mehrheit der Österreicher*innen einen gut bezahlten Job – verbunden mit dem Gefühl, etwas erreichen zu können. Es wird auch deutlich, dass seit den Neunzigerjahren Lebensbereiche wie Familie oder Freizeit eine viel größere Bedeutung in der Lebensausrichtung gewonnen und Ansprüche wie Autonomie und Selbstverwirklichung als Anforderung an Arbeitsplätze zugenommen haben. Im Allgemeinen wird davon ausgegangen, dass ein lebenslanger Job immer seltener vorkommt und mehr Flexibilität gefragt sein wird.
Strukturell können wir folgenden Wandel nachvollziehen: Der Sektor der Landwirtschaft wird immer kleiner und auch der industrielle Sektor zieht sich zurück, um als Folge der Globalisierung die Produktion in Länder mit geringeren Sozial- und Umweltstandards zu verlagern. Dies führt bei uns zu einem Zuwachs und einem Ausbau von Jobs der Dienstleistungsbranche, des Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereichs. Charakteristisch sind immer mehr atypische Beschäftigungsverhältnisse: Befristete Arbeitsverhältnisse, Teilzeitbeschäftigungen und Automatisierung sind nicht etwas, was in Zukunft kommen wird, sondern schon lange Realität ist.
Ein identitätsstiftendes Narrativ des 20. Jahrhunderts nach dem Zweiten Weltkrieg war das Wachstums- und Sicherheitsversprechen durch sichere Arbeitsbedingungen (Reckwitz, 2019). Wir versicherten uns in unseren Erzählungen und Reflexionen über ein „erstrebenswertes Leben“, dass Aufstieg durch Leistung möglich sei. Wer Arbeit hat, sei abgesichert, wer sich bemühe, der komme zu Wohlstand, und vor allem: Den nachfolgenden Generationen werde es einmal besser gehen. Stabilität, Langfristigkeit und Sicherheit waren hier wesentliche Substantive und bildeten Grundlagen für Strukturen in der Gesellschaft (z. B. Generationenvertrag). Wenn wir diese Annahmen auf unsere Mikrowelt herabzoomen und an diese anpassen, dann sehen wir am Beispiel unserer Großeltern bzw. Eltern, dass es üblich war, einen Lebenszeit-Arbeitsplatz mit steigendem Einkommen zu erhoffen und auch zu erhalten. Heutzutage sind mehrfache Jobwechsel, auch mehrere Berufsausbildungen und -ausübungen mehr die Regel als die Ausnahme, d. h. wir stellen uns häufiger die Frage, ob wir unseren Status quo halten können oder dieser sich womöglich verschlechtern wird. Dabei treten Sorge und Angst für viele mehr in den Vordergrund als Zutrauen und Zuversicht.
Unser Leben und unsere Gesellschaften werden fluider und heterogener gegen Ende des 20. Jahrhunderts. Das Leben ist mehr im Fluss und spät, aber doch werden auch relevante Veränderungen im Zusammenleben durch die Gesetzgebung berücksichtigt (z. B. durch die Möglichkeit gleichgeschlechtlicher Eheschließung oder dem gemeinsamen Sorgerecht). Vieles ist parallel und unterschiedlich möglich (Rosa et al., 2013). In der Postmoderne breitet sich ein neues Metanarrativ aus, welches salopp formuliert folgendermaßen beschrieben werden kann: „Nix ist fix.“ Hier kann (panoptisch) anhand der „Generation Praktikum“ deutlich gemacht werden, dass der Eintritt ins Arbeitsleben von einem Praktikum zum nächsten, von einem prekären Arbeitsverhältnis weiter ins nächste unsichere Projekt führt und die Hoffnungen auf einen lebenslangen Arbeitsplatz eher mit einem Lotteriegewinn vergleichbar sind. Das führt dazu, dass dieser Wachstums- und Verbesserungsglaube, also der Glaube daran, dass etwas besser werden wird, desillusioniert wird. Andreas Reckwitz nennt das Lebensgefühl vieler in seinem Buch „Das Ende der Illusionen“ (Reckwitz, 2019).
Aber ist diese Dynamik neu? War es früher sicherer und ruhiger? Aus Sicht des Autors ist die Welt immer schon eher unsicher und unklar gewesen. Es sind die Narrative, die versuchen, uns zu beruhigen und Sicherheit zu vermitteln. Gegenwärtig verliert dieses Narrativ aber die Stabilisierungswirkung; vor allem, weil diese Unsicherheit auch in der Mittelschicht spürbar wird. Aktuell sind die Menschen in „sicheren“ Schichten herausgefordert, ein Leben in der Hoffnung auf ein Verbessern oder Halten des Status quo – gepaart mit der Möglichkeit des Abstiegs – zu gestalten (Reckwitz, 2019). Die Zukunft scheint noch unverfügbarer und uneindeutiger geworden zu sein: „Wir müssen lernen, die Spätmoderne als eine widersprüchliche, konflikthafte Gesellschaftstransformation zu begreifen, die durch eine Gleichzeitigkeit von sozialem Aufstieg und Abstieg charakterisiert ist“ (Reckwitz, 2019, S. 18). Ambivalenz, so scheint es, zeichnet unsere aktuelle gesellschaftliche Situation genau aus. Ambivalenz entsteht, wenn wir Uneindeutigkeiten und Unklarheiten, die in einer fluiden und heterogenen Gesellschaft deutlicher werden, zulassen (können).