Selbstwirksam schreiben - Carmen C. Unterholzer - E-Book

Selbstwirksam schreiben E-Book

Carmen C. Unterholzer

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Beschreibung

"Hier schreibt eine erfahrene Psychotherapeutin über die vielfältigen heilsamen Wirkungen des Schreibens. Und schlägt gleich so viele Übungen so konkret vor, dass frau und man sofort mit dem Schreiben anfangen möchte. Ein echter Anstoß zur Selbsthilfe!" Dr. Ulrike Borst "Das ist ein wunderbares Buch – schreibend eröffne ich Zugangswege für innere und auch äußere Bewegung, gerade dann, wenn so vieles so lange festgefahren erscheint. Das macht Mut. Ganz besonders ist mir das Akrostichon und das Elfchen ans Herz gewachsen. Ein wunderbarer Perspektivwechsel ohne die Perspektive zu wechseln." Regina Reeb-Faller Die eigene Entwicklung schreibend in die Hand nehmen Wer schreibt, der bleibt? Nein: Wer schreibt, verändert sich! Indem wir schreibend Gedanken ordnen und Zusammenhänge klären, gelangen wir zu neuen Einsichten. Wir gewinnen Abstand, wir durchbrechen schädliche Muster. Schreiben unterstützt uns bei Veränderungs- und Bewältigungsprozessen. Dieses Buch zeigt, wie Sie die eigene Entwicklung schreibend in die Hand nehmen können. 34 konkrete Schreibanregungen helfen, eigene Stärken wahrzunehmen, Zugang zu vorhandenen Kompetenzen zu finden und sie gezielt einzusetzen. Carmen C. Unterholzer greift auf ein großes Repertoire aus ihrer Praxis als Psychotherapeutin und Schreibcoach zurück. Übungen, anschauliche Text- und Fallbeispiele, Grafiken und regelmäßige Zusammenfassungen helfen, das Ziel im Auge zu behalten: die eigene Selbstwirksamkeit zu entfalten. Die Autorin: Carmen C. Unterholzer, Dr.in phil, Psychotherapeutin, systemische Einzel-, Paar- und Familientherapie am Institut für Systemische Therapie, Wien; Lehrtherapeutin für systemische Familientherapie in der Österreichischen Arbeitsgemeinschaft für systemische Studien und Forschung, Wien (ÖAS); Weiterbildung in Poesie- und Bibliotherapie (Fritz-Perls-Institut, Düsseldorf) und Hypnotherapie (nach Milton H. Erickson); Lehrtätigkeit an den Universitäten Innsbruck und Klagenfurt; Leiterin von Seminaren, Coaching- und Supervisionstätigkeit im Bildungs- und Sozialbereich. Arbeitsschwerpunkte: therapeutisches Schreiben und andere kreative Methoden in der systemischen Psychotherapie, systemische Gruppenpsychotherapie, Essstörungen, Depression, Burnout, Borderline-Persönlichkeitsstörung, Achtsamkeit, Schreibcoaching. Autorin zahlreicher Fachartikel, weitere Publikationen u. a.: "Es lohnt sich, einen Stift zu haben. Schreiben in der systemischen Therapie und Beratung" (2017), "Ana Ex. Wie die Magersucht siegt und wie sie scheitert" (DVD, 2008, gem. mit Johannes Ebmer).

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für Helmut, für mein Du

Carmen C. Unterholzer

SELBSTWIRKSAM SCHREIBEN

WEGE AUS DER RAT- UND RASTLOSIGKEIT

Zweite Auflage, 2023

Reihe „Fachbücher für jede:n“

Reihengestaltung und Satz: Nicola Graf, Freinsheim, www.nicola-graf.com

Umschlaggestaltung und Umschlaggrafik: Heinrich Eiermann

Redaktion: Dr. med. Nicola Offermanns

Printed in Poland

Druck und Bindung: Dimograf Sp.z.o.o.

Zweite Auflage, 2023

ISBN 978-3-8497-0398-1 (Printversion)

ISBN 978-3-8497-8219-1 (ePUB)

© 2021, 2023 Carl-Auer-Systeme Verlag und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg

Alle Rechte vorbehalten

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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INHALT

EINLEITUNG

Hilfe zur Selbsthilfe

Variable Schreibideen

Ihr gesammeltes Wissen

1 WIE WIR SELBSTWIRKSAMER WERDEN

Günstige Faktoren

Blick auf Ressourcen

Konzentriertes Nachdenken über sich

Innehalten und verlangsamen

Aufmerksam und gegenwärtig

Wahrnehmen, was ist

Die eigene Kreativität erleben

2 WIE SCHREIBEN WIRKT

Schreibend regulieren wir unsere Emotionen

Schreiben hilft beim Denken

Schreibend ändern wir Bedeutungen

Schreiben schafft Sinn

3 WIE WIR UNS VERÄNDERN

Ich habe kein Problem – Präkontemplation

Lohnt es sich wirklich? – Kontemplation

Demnächst setze ich erste Schritte – Entscheidung

Jetzt bin ich so weit – Handeln

Ich bleibe dran – Aufrechterhalten

Ich habe mein Ziel erreicht – Beenden

4 KLÄREN, ORDNEN, VERSTEHEN

Keine Eile

Schreiben und entwirren

Worte bahnen sich ihren Weg

Wenn Gefühle dominant werden

Erste Zwischenbilanz

5 MIT AMBIVALENZEN UMGEHEN

Unterschiedliche Blickwinkel einnehmen

Zarte, zaghafte Stimmen aufwerten

Glaubenssätze hinterfragen

6 WIE SCHREIBEN ENTLASTEN KANN

Sich vom Problem distanzieren

Metaphern wählen

Perspektive ändern

Scham reduzieren

Sich versöhnen

7 MÖGLICHKEITSRÄUME ENTWERFEN

Hoffnung wecken

Fantasie nutzen

Zweite Zwischenbilanz

8 BEDEUTUNG VERLEIHEN

Sinnvolle Ergänzung

Varianten unserer Lebensgeschichte

Ausnahmen würdigen

Texte, die stärken

Selbstlob stärkt

Gutes darf dauern

9 MUSTER DURCHBRECHEN

Eingefahrene Programme beenden

Erkenntnisse erschreiben

In Einzelteile zerlegen

10 EINSICHTEN VERANKERN

Sorgfältig gestalten

Liebe zum Detail

Paradox dem Rückfall vorbeugen

11 ENDE GUT

Feilen an besonderen Texten

Präzise benennen

Dranbleiben

Schlussbilanz

DANKSAGUNG

LITERATUR

ÜBER DIE AUTORIN

Einleitung

Schreiben unterstützt uns bei Veränderungs- und Bewältigungsprozessen. Indem wir schreibend unsere Gedanken ordnen und Zusammenhänge klären, gelangen wir zu neuen Einsichten. Wir gewinnen Abstand, wir durchbrechen destruktive Muster. Diese Prozesse soll das Buch unterstützen. Es soll zeigen, wie Sie selbstwirksamer werden und die eigene Entwicklung schreibend in die Hand nehmen.

Vielleicht empfinden Sie die Arbeit mit diesem Buch als anstrengend. Ich versichere Ihnen: Die Mühe lohnt sich. Es könnte sein, dass Sie sich gewisse Fragen – Ihre Veränderung betreffend – nicht stellen wollen. Sie werden zweifeln: »Ach, das bringt ja doch nichts.« Oder: »Wozu soll ich mich abmühen?« Oder viel einfacher: »Morgen, morgen setze ich mich hin, morgen.« Und aus morgen wird übermorgen, aus übermorgen nächste Woche und so weiter. Es kann aber auch ganz anders sein: Sie nehmen die Hürde der Anstrengung und wenden sich interessiert den hier gestellten Fragen zu. Denn Sie können darauf vertrauen, dass dieses Buch Sie unterstützt, Ihre Selbstwirksamkeit zu entfalten, sie bewusst wahrzunehmen und sie gezielt einzusetzen. Oft ist der Blick auf die eigenen Stärken getrübt, der Zugang zu unseren Kompetenzen versperrt. Das Buch soll helfen, klarer, besser und vielleicht auch anders zu sehen.

Es ist ein Buch für Menschen, die sich intensiv mit sich selbst beschäftigen wollen. Lassen Sie sich beim Lesen und bei den Übungen Zeit, arbeiten Sie es in Ihrem Tempo durch. Es kann sinnvoll sein, es zwischendurch immer wieder den einen oder anderen Tag wegzulegen. Lesen Sie es nicht in einem Mal durch. Pausen zwischendrin erhöhen die Motivation dranzubleiben. Halten Sie immer wieder mal inne, lesen Sie den einen oder anderen Text noch mal und überprüfen Sie die Wirkung Ihres Schreibens.

Sie müssen auch nicht jede Schreibübung ausführen. Die Schreibanregungen sind das, als was sie bezeichnet werden: Anregungen. Wählen Sie aus dem Angebot der Übungen die für Sie passenden aus.

Hilfe zur Selbsthilfe

Sie als Leser:in und Nutzer:in dieses Buches stehen im Zentrum, Sie mit Ihrem Bedürfnis, mit Ihrem Wunsch, etwas, das in Ihrem Leben nicht passt, nicht mehr stimmig ist, zu verändern. Das Buch bietet Hilfe zur Selbsthilfe, es gibt Anregungen und Vorschläge, es begleitet Sie auf Ihrem Weg zur Veränderung. Die konkreten Schreibeinladungen lehnen sich zum einen an Methoden der systemischen Psychotherapie an, zum anderen an Methoden des kreativen Schreibens. Sie haben bereits vielen Menschen in meiner psychotherapeutischen Praxis geholfen.

Parallel zu einer Psychotherapie, einer Beratung oder einem Coaching kann Sie das Buch unterstützend begleiten. Auch ehemalige Therapieklient:innen profitieren davon, indem sie Veränderungen, die in der Therapie begonnen haben, schreibend fortsetzen und verfestigen. Das Buch richtet sich aber auch an Menschen, die keine Therapie machen, die gerne schreiben und die Erfahrung gemacht haben, dass es ihnen hilft. Ebenso können es Schreibunerfahrene nutzen, die mit Schreiben bisher noch wenig am Hut hatten, es aber probieren wollen.

Was Sie hier und auf den folgenden Seiten finden, ist eine Landkarte durch das Gebiet des Schreibens und des Sich-Veränderns. Sie bietet Ihnen Orientierung durch Markierungen, sie zeigt Wege auf, sie führt Sie langsam und behutsam ans Ziel. Es ist nicht der einzige Weg, sondern ein möglicher unter mehreren.

Sie können das Buch gezielt nutzen, indem Sie vorweg – bevor Sie mit der Arbeit am Buch beginnen – ein Vorhaben formulieren. Wo besteht Veränderungsbedarf, und was können Sie dafür tun? Wo legen Sie selbstschädigendes Verhalten an den Tag, das abzulegen an der Zeit wäre? Welches destruktive Muster würden Sie gerne unterbrechen? Damit Sie Ihr Ziel auch erreichen können, muss die Veränderung in Ihrem Einflussbereich liegen. Unsere Vorgesetzten, unsere Partner:innen werden wir nicht ändern, aber wir können unser Verhältnis zu ihnen verändern, unsere Einstellungen, Hoffnungen und Wünsche. Am Ende des Buches angelangt, werden Sie feststellen: Es hat sich tatsächlich was verändert.

Variable Schreibideen

Die Schreibanregungen sind sehr unterschiedlich. Manche sind zugespitzt auf Ihr »Veränderungsprojekt«, andere sind davon unabhängig. Es könnte sein, dass Sie kein konkretes Vorhaben verfolgen, sondern einfach gerne die Schreibübungen ausprobieren möchten. Formulieren Sie dafür die Anregungen einfach um. Wenn ich beispielsweise empfehle: »Fokussieren Sie auf ein dominantes Gefühl, das Ihnen bei Ihrem Veränderungsprojekt immer wieder in die Quere kommt«, dann könnten Sie daraus machen: »Fokussieren Sie auf ein Gefühl, das Ihnen im Alltag immer wieder in die Quere kommt und Sie in Ihrem Leben behindert.« Einige Anregungen sind mehrteilig und erfordern mehr Zeit, andere wiederum begnügen sich mit ein paar Sätzen. Fast immer folgen den Übungsvorschlägen Fragen. Sie sollen Ihren Nachdenk- und Schreibprozess anstoßen, sie können, müssen aber nicht schriftlich beantwortet werden.

Zwischendurch schlage ich zweimal vor, eine vorläufige Bilanz zu ziehen. Die Bilanzen laden zum Innehalten und Nachspüren ein, aber auch zum Evaluieren. Geht es in eine für mich gute Richtung? Was ist mir bereits gelungen? Wo und an was kann ich Veränderung festmachen? Bin ich schon so weit, dass ich mich von schädigenden Einstellungen verabschiedet habe, sodass ich erste konkrete Schritte setzen kann, oder sollte ich noch an meinen Glaubenssätzen arbeiten? Was bräuchte ich noch, um nicht nur meine Gedanken, sondern auch mein Handeln zu verändern? Fragen wie diese zu beantworten, gibt Ihnen Sicherheit und Mut zum Weiterschreiben.

Ist es besser, mit der Hand zu schreiben, oder ist es auch möglich mit dem Smartphone, Laptop oder Tablet? Ich schreibe lieber mit der Hand, da ich dabei gründlicher nachdenke. Die motorische Bewegung des händischen Schreibens wirkt nachhaltiger – so meine Erfahrung. Der Psychiater und Neurobiologe Manfred Spitzer würde mir zustimmen. Beim Tippen werden weniger Hirnregionen aktiviert, die Bewegungen sind einfacher. Deswegen bleibt auch weniger hängen, wenn Menschen tippen und nicht händisch schreiben. Spitzer verweist auf einen Begriff aus der Lern- und Gedächtnispsychologie, auf die »Verarbeitungstiefe« eines Sachverhalts: »Je tiefer er verarbeitet wird, desto besser wird er im Gedächtnis gespeichert« (Spitzer 2014, S. 63). Glaubt man Forscher:innen, erlebt die Handschrift gerade ein Revival (Böhm 2020).

Allerdings muss der Vorschlag, händisch zu schreiben, für Sie anschlussfähig sein. Überlegen Sie, bevor Sie die Schreibanregungen umsetzen, welche Art zu schreiben für Sie passt. Jugendliche und junge Erwachsene, die hauptsächlich mit digitalen Medien arbeiten, die als »digital natives« kaum mehr mit der Hand schreiben, werden eher zu motivieren sein, wenn sie zum Schreiben Laptop, Smartphone oder Tablet nutzen können. Lutz von Werder (2017) schlägt einen Kompromiss vor: Wenn wir unsere Kreativität nutzen, erste Ideen entwickeln und erste Entwürfe verfassen, ist der Griff zum Stift, zur Schreibfeder angezeigt. Überarbeiten wir unsere Texte hingegen, feilen und schleifen wir an ihnen und wollen wir sie anderen überreichen, ist der Rechner das Mittel der Wahl. Nun, wie auch immer Sie sich entscheiden, das Schreiben wird Wirkung zeigen.

Ihr gesammeltes Wissen

Legen Sie sich – sollten Sie händisch schreiben – ein Heft oder ein Buch zu, erstellen Sie – wenn Sie die digitale Variante des Schreibens bevorzugen – einen neuen und eigens für Ihre Texte vorgesehenen digitalen Ordner. Sie sollten Ihr Medium griffbereit haben, um es immer dann, wenn Sie gerade Zeit oder Lust haben, mit Ihren Texten zu füllen. Sammeln Sie Ihre Texte, sie sollen über die Zeit des Lesens und Arbeitens mit diesem Buch hinaus verfügbar sein. Dann können Sie in Zeiten der Krise, eines drohenden »Rückfalls«, oder wenn neue Probleme auftauchen, darauf zurückgreifen. So werden Ihre Texte zu Ihrem Erste-Hilfe-Buch, zu einer Schatzkiste mit vielen hilfreichen, selbst erschriebenen Anregungen, die Sie sich bewahren sollten.

Suchen Sie sich einen guten Schreibplatz. Schreiben Sie nicht dort, wo Sie üblicherweise arbeiten. Es kann eine neue, gemütliche Ecke im Zimmer oder der Küchentisch sein, ein angenehmes Kaffeehaus, in dem Sie ungestört schreiben können, in der warmen Jahreszeit bieten sich Garten oder Parks an. Kümmern Sie sich nicht um Rechtschreibung, Zeichensetzung und Grammatik. Sie schreiben die Texte in erster Linie für sich. Anders als bei Literat:innen geht es hier nicht primär um den Text, um das Produkt. Es geht um den Prozess, der Erkenntnisse bringt, Klarheit schafft, Transformation fördert oder Abstand von Schwierigem bewirkt. Ist die therapeutische Wirkung bei Schriftsteller:innen lediglich eine günstige Nebenwirkung, ist sie bei therapeutisch Schreibenden vorrangig – sie stellt das angestrebte Ziel dar.

1

WIE WIR SELBSTWIRKSAMER WERDEN

Was verstehen wir unter Selbstwirksamkeit? Welche Faktoren beeinflussen sie positiv? Wie können wir diese positiven Aspekte nutzen und verstärken? Lassen Sie uns mit einer Geschichte einsteigen. Das Beispiel von Vera, eine meiner früheren Klient:innen, zeigt Antworten auf.

VERA ist die Letztgeborene einer kinderreichen Familie. Für die Eltern – hart arbeitende Landwirte, die sich abmühen, ihren kleinen Betrieb über Wasser zu halten – hatte Bildung wenig Bedeutung. So wurde aus Vera eine Einzelhandelskauffrau. Bereits mit 18 Jahren klagte sie über Rückenbeschwerden vom Stehen hinter der Verkaufstheke. »Arbeit ist kein Honiglecken«, so reagierten die Eltern auf ihr Leiden. Zehn Jahre lang fügte sie sich ihrem beschwerlichen Schicksal – ihren schmerzenden Rücken erduldete sie mal leiser, mal lauter klagend. Eine ihrer Schwestern tanzte aus der Reihe. Die Vorletztgeborene studierte an einer Kunstuniversität Film, ihr erster Spielfilm lief gerade in den Kinos an. Sie war es, die ihrer »kleinen« Schwester den Floh ins Ohr setzte: Sie solle doch über den zweiten Bildungsweg die Reifeprüfung nachholen, um ihrem Verkäuferinnendasein zu entkommen. »Wie soll ich das bei einer Arbeitszeit von vierzig Stunden schaffen?«, reagierte Vera auf den Vorschlag. Bereits in der Pflichtschule habe sie erlebt, dass sie zu dumm für eine weiterführende Schule sei. »Blödsinn«, entgegnete ihre Schwester. Auch sie war keine gute Schülerin, bis sie an der Kunstuniversität erfahren habe, wie viel Spaß es mache, etwas zu lernen, das einen wirklich interessiere. Die Idee der Schwester ließ Vera nicht mehr los. Ein halbes Jahr später saß sie abends in der Schule, drei Jahre darauf hatte sie das Reifezeugnis in der Tasche – Abschluss mit Auszeichnung. Beflügelt vom Erfolg begann sie ein Architekturstudium. Nach fünf Jahren hatte sie ihren Titel, kurz darauf eine Fixanstellung bei einer renommierten Architektin, in deren Büro sie bereits während des Studiums gejobbt hatte. Heute ist sie Partnerin in diesem Architekturbüro. Die Auftragslage ist gut, die Wettbewerbe sind interessant, die Arbeit als Architektin macht Spaß. Ab und zu spürt Vera noch ihren Rücken. Dann weiß sie: »Aha, ich muss wieder mehr auf meinen Körper hören und für einen besseren Ausgleich zwischen An- und Entspannung sorgen.« Was so leicht und locker klingt, war klarerweise nicht so einfach. Die Monate und Jahre, die zur Reifeprüfung führten, waren schwierig gewesen, für ihren Rücken eine Zumutung, für ihr Durchhaltevermögen eine gewaltige Herausforderung. In diesen schwierigen Zeiten hatte ihr dreierlei geholfen: Zum Ersten der Blick zurück auf das, was sie bereits geschafft hat. Zum Zweiten unterstützten sie die Gespräche mit ihrer Schwester, die sie stärkten und motivierten dranzubleiben, und zum Dritten waren ihr Ehrgeiz und ihre Selbstdisziplin wichtige Verbündete in dieser arbeitsintensiven Zeit.

Es müssen nicht immer so weitreichende Erfahrungen von Selbstwirksamkeit sein wie die von Vera. Oft sind sie weniger tiefgreifend, aber deshalb nicht weniger wichtig. Wir alle haben Selbstwirksamkeit erfahren, wir haben erfolgreich Projekte abgeschlossen, Präsentationen einwandfrei durchgeführt, Kinder gut durch Krisen begleitet, sind Freund:innen in schwierigen Zeiten stärkend zur Seite gestanden – es gibt wenig, was uns mehr ermutigt als Erfolge.

Selbstwirksamkeit ist das Vertrauen in unsere Fähigkeiten und die Erfahrung, dass wir etwas bewirken, etwas verändern, dass wir gestalten können. Wer sich selbstwirksam erlebt, glaubt an seine Möglichkeiten, etwas zu beeinflussen, ist gesünder und zuversichtlicher. Sie/er ist gerüstet, um mit rasanten Veränderungen beruflicher und gesellschaftlicher Natur – und damit einhergehenden Verunsicherungen – besser umzugehen. Je öfter wir die Erfahrung machen, etwas gut zu meistern, je öfter wir gute Entwicklungen uns selbst zuschreiben, umso stabiler stehen wir in der Welt. Wir wissen, dass wir das, was wir uns vornehmen oder was andere von uns fordern, schaffen. Unsere Versagens- und unsere Zukunftsängste sind geringer. Erleben wir uns selbstwirksam, sind wir offen für Neues. Manche Sozialwissenschaftler:innen gehen noch einen Schritt weiter: Sie gehen davon aus, dass Menschen, die sich als selbstwirksam erleben, weniger anfällig für politischen Extremismus und totalitäre Tendenzen sind (El-Mafaalani 2020).

Wenn wir erleben, wie wir mit unserem Wissen, mit unseren Kenntnissen und mit unserer Einsatzbereitschaft Ziele erreichen, stärkt uns dies auch für künftige Herausforderungen. Zu wissen, zu erleben, dass wir Schwieriges aus eigener Kraft bewältigen, dass wir es sind, die es geschafft haben – nicht günstige Zufälle oder glückliche Fügungen –, führt zu dem, was Albert Bandura – ein Psychologieprofessor an der Universität Stanford – 1977 eine erhöhte Selbstwirksamkeitserwartung genannt hat, also die Gewissheit, neue oder schwierige Anforderungen aufgrund eigener Kompetenz bewältigen zu können (Bandura 1977).

Günstige Faktoren

Studien belegen: Wer aufgrund von positiven Erfahrungen in der Erwartung von Selbstwirksamkeit lebt, ist erfolgreicher und weniger belastet. Sie/er bewältigt nicht nur kritische Ereignisse besser, sondern leidet seltener unter Angststörungen und Depressionen. Sie/er kann mit Schmerzen besser umgehen und hat ein weniger anfälliges Immunsystem. Die sozialen Beziehungen sind besser, das allgemeine Wohlbefinden ist höher als das von Menschen mit geringerer Selbstwirksamkeitserwartung. Aber wie gelangen wir zu dieser Gewissheit? Was sind günstige Bedingungen, um sich als selbstwirksam zu erleben?

Albert Bandura (ebd.) spricht von vier Faktoren, die unsere Selbstwirksamkeitserwartung erhöhen: bereits erfahrene Erfolge, Erfolge von anderen, uns ähnlichen Menschen, Ermutigung und Unterstützung und als vierter und letzter Faktor die stärkende Interpretation körperlicher Reaktionen (siehe Abb. 1, S. 14).

Unser Zutrauen in unsere Möglichkeiten und Kompetenzen, Anforderungen und Erwartungen zu erfüllen, wird durch Erfolgserlebnisse gestärkt. Wenn wir schwierige Situationen bewältigen, wächst der Glaube an unsere eigenen Fähigkeiten. Wir trauen uns auch in Zukunft mehr zu – vorausgesetzt, wir schreiben uns das Gelingen selbst zu. Wenn wir eine hohe Selbstwirksamkeitserwartung haben, bemühen wir uns mehr, wir üben mehr. Dies wiederum hat zur Folge, dass wir bessere Ergebnisse erzielen und dadurch ausdauernder und beharrlicher sind. Durch Misserfolgserfahrungen sinkt unsere Selbstwirksamkeitserwartung, wir zweifeln an unserem Können. Wir werden zögerlich oder vermeiden in Zukunft ähnliche Herausforderungen.

Wir lernen auch, indem wir Menschen beobachten, die uns ähnlich sind, die uns nahestehen. Veras Beispiel mit ihrer Schwester zeigt dies deutlich.

Weiterhin ausschlaggebend für eine hohe Selbstwirksamkeitserwartung sind Unterstützer:innen, Menschen, die uns gut zureden, die uns etwas zutrauen. Als ich mit Mitte zwanzig gegenüber meinem älteren, bereits berufstätigen Bruder zweifelte, ob ich wohl genügend Durchhaltevermögen für mein Studium hätte, sagte er ganz lapidar – er ist kein Mann großer Worte: »Ach, wenn du dir was in den Kopf setzt, dann ziehst du es auch durch.« Mehr brauchte er nicht zu sagen. Immer dann, wenn ich daran zweifle, ob ein Projekt gelingt, fällt mir sein Satz ein – so, als hätte er sich in mein Hirn gebrannt.

Als letzten Faktor – neben Erfolgserlebnissen, Lernen an anderen und sozialer Unterstützung – zählt Bandura die stärkende Interpretation körperlicher Sensationen. Wenn wir hohen Anforderungen ausgesetzt sind, reagiert unser Körper, das Herz klopft, wir zittern, unser Atem wird flach. Wenn wir diese Reaktionen unseres Körpers nicht als Vorboten des Versagens, sondern als freudige Erregung interpretieren, stärkt das unser Vertrauen in uns selbst und somit die Selbstwirksamkeit.

Abb. 1: Günstige Faktoren für die Selbstwirksamkeit (nach Bandura 1977)

Abbildung 1 fasst die vier Komponenten der Selbstwirksamkeit noch mal zusammen.

VERA war es möglich, sich auf ihre Erfolge in der Schule zu besinnen. Jede bestandene Prüfung, jede geschaffte Schularbeit definierte sie als wichtige Zwischenetappe in Richtung Reifeprüfung. Jedes positive Zeugnis feierte sie als persönlichen Sieg. Statt ihren Blick auf Anstrengung und Mühsal zu richten, lenkte sie ihn – wenn nicht immer, so zumindest meist – auf das, was ihr gelang. Ihre Schwester diente ihr als Beispiel. Sie hatte ihr gezeigt, dass man, auch wenn man aus einer bildungsfernen Familie stammte und keine großartige Schülerin war, ein Studium schaffen konnte. Die Erfolge der Schwester waren für Vera Ansporn und Motivation zum Weitermachen. Aber es waren nicht nur die Taten der Schwester, auch ihre Worte trösteten Vera bei verhauenen Prüfungen, halfen über Selbstzweifel hinweg und stellten ihre selbstkritischen Stimmen etwas leiser. Mit ihren Rückenschmerzen konnte sie anders umgehen. Sie sah sie als hohen Preis, den sie auf dem Weg zum Ziel zu zahlen hatte, und später – als Architektin – als sinnvolles Warnsignal, wenn sie wieder mal über ihre Grenzen ging.

Blick auf Ressourcen

Jahrzehntelang orientierte sich die Psychologie an Defiziten, Diagnosen und Störungen. Im Fokus war das Kranke, die Schwäche, die Störung. Als um die Wende zum 20. Jahrhundert Sigmund Freud die Psychoanalyse entwickelte, verfestigte sich ein bestimmter Blick auf Menschen. Im Fokus waren ihre Neurosen, Komplexe und Mängel. Auch andere psychodynamische Ansätze arbeiteten defizitorientiert – in der Annahme, das Erkennen, das Bewusstwerden der Defizite sei wesentlich für ihre Auflösung.

Einer der ersten, die sich um einen anderen Zugang zu Menschen und deren Problemen bemühte, war der israelische Medizinsoziologe Aaron Antonovsky. Er entwickelte eine Art »Gegenprogramm« zur Pathogenese, oder besser, eine Ergänzung dazu: die Salutogenese. Sie nimmt in Augenschein, was Menschen gesund werden lässt und was sie gesund hält. Wesentlich dabei sei das Kohärenzgefühl, ein »dynamisches wie beständiges Gefühl des Vertrauens« (Antonovsky 1997, S. 16). Je ausgeprägter es ist, desto gesünder bleibt ein Mensch oder desto schneller wird er wieder gesund. Dieser »sense of coherence« besteht aus drei Komponenten: aus der Verstehbarkeit, dem Gefühl der Handhabbarkeit und dem Gefühl der Bedeutsamkeit oder Sinnhaftigkeit (siehe Abb. 2).

Abb. 2: Kohärenzerleben nach Antonovsky (1997)

Mit »Verstehbarkeit« meint Antonovsky die Fähigkeit, Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Lebensereignissen herzustellen, sie zu erklären und sie einzuordnen.

Das Gefühl von Handhabbarkeit benennt unsere Fähigkeit zu realisieren, dass wir über geeignete Ressourcen verfügen, um die Anforderungen, die das Leben uns stellt, zu bewältigen. Belastende Ereignisse gehören zum Leben, aber wir tragen das Vertrauen in uns, dass wir mit ihnen umgehen können, da wir über ausreichend Handlungs- und Bewältigungsmöglichkeiten verfügen.

Die Sinnhaftigkeit betrifft unsere Einschätzung, dass schwierige Zeiten und Krisen es wert sind, Energie zu investieren. Wer dies als sinnvoll betrachtet, ist bereit, Herausforderungen anzunehmen und sie mit Bedeutung zu versehen.

Die Abbildung 2 verdeutlicht die drei Komponenten des Kohärenzerlebens.

Ressourcen- und resilienzorientierte Therapierichtungen rücken in den letzten Jahrzehnten zunehmend stärker in den Vordergrund. Der Begründer der modernen Hypnotherapie, Milton H. Erickson, ist selbst das beste Beispiel für ein ressourcenorientiertes Leben.

Als 18-Jähriger erkrankte er an Poliomyelitis. Die Kinderlähmung bedrohte zunächst sein Leben, dann fesselte sie ihn an den Rollstuhl. Durch intensive Autohypnose schaffte er es, seine Nerven wieder zu aktivieren und die erschlafften Muskeln zu stärken. Nach einem Jahr konnte er wieder auf Krücken gehen. Um sich weiter zu kräftigen, paddelte er, noch deutlich geschwächt, 600 Meilen den Mississippi hinunter und wieder hinauf. Danach brauchte er seine Gehhilfen nicht mehr. Erst im Alter holte ihn die Poliomyelitis wieder ein, und er verbrachte die letzten Jahre – in seinem Haus in Phoenix – lehrend im Rollstuhl. Er war der Überzeugung, dass Menschen über alle Fähigkeiten verfügen, die sie brauchen, um im Leben erfolgreich zu sein. Sie hätten im unbewussten Erfahrungsschatz alle wichtigen Kompetenzen gespeichert, die sie für eine gesunde Lösung aller Probleme brauchen. Oft seien sie nicht zugänglich, noch öfter würden sie nicht ausreichend aktiviert und genutzt. Die Selbstheilungskräfte und kreativen Ressourcen von Menschen lägen im Unbewussten brach. Sie gelte es ins Bewusstsein zu holen und für den Heilungsprozess zu nutzen. Rigide, einengende Denkmuster versperrten den Zugang zu diesem Schatz (Schmidt 1980).