Selfies - Selbstthematisierung in der digitalen Bildkultur - Ramón Reichert - E-Book

Selfies - Selbstthematisierung in der digitalen Bildkultur E-Book

Ramón Reichert

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Beschreibung

Selfies zählen längst zum alltäglichen Medienhandeln. Sie sind nicht nur Verstärker von Aufmerksamkeiten digitaler Ego-Netzwerke, sondern beherrschen die Bildkulturen unserer Gegenwart. Von Kriegs-Selfies, über die Rich Kids of Instagram und Foodporn hin zur neoliberalen Selbstoptimierung mittels Fitness-Tracker: Ramón Reichert liefert eine messerscharfe Analyse der Selbstthematisierung im digitalen Zeitalter und verbindet so Plattformkritik mit einer Kritik an digitaler Subjektivität. Er rückt Selfies jedoch auch als Ermöglichung einer kritischen Reflexion des Selbst und seiner Praktiken des Erzählens, Zeigens und Mitteilens in den Fokus. Distanziert vom Selfie-Kult legt er widerständige Bildpraktiken beispielsweise in der feministischen Protestbewegung im Iran offen und zeigt, wie neue digitale Kontexte einer selbstreflexiven Thematisierung entstehen können.

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Seitenzahl: 280

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Ramón Reichert (Dr. phil. habil.) lehrt und forscht als Senior Researcher am Department für Kulturwissenschaften an der Universität für Angewandte Kunst in Wien. Zuvor ging er Lehr- und Forschungstätigkeiten in Basel, Berlin, Canberra, Fribourg, Helsinki, Sankt Gallen, Stockholm und Zürich nach und war langjähriger EU-Projektkoordinator. Sein aktuelles Forschungsprojekt »Visual Politics and Protest. Artistic Research Project on the visual framing of the Russia-Ukraine War on internet portals and social media« (2022-2024) beschäftigt sich mit der visuellen Politik von Gewalt, Konflikt und Widerstand.

Ramón Reichert

Selfies – Selbstthematisierung in der digitalen Bildkultur

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2023 transcript Verlag, Bielefeld

Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen.

Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld

Umschlagabbildung: Wordley Calvo Stock/AdobeStock

Korrektorat: Maren Fritsch, Bielefeld

Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar

https://doi.org/10.14361/9783839436653

Print-ISBN: 978-3-8376-3665-9

PDF-ISBN: 978-3-8394-3665-3

EPUB-ISBN: 978-3-7328-3665-9

Buchreihen-ISSN: 2702-8852

Buchreihen-eISSN: 2702-8860

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff.

Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de

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Inhalt

 

I.Einführung

I.1.Bildkommunikation, Bildrepertoires und Bildgedächtnis

I.2.Digitale Ästhetik

I.3.Strategien der Dissemination

I.4.Methoden der digitalen Bildforschung

II.Kommodifizierung des Selbst

II.1.Bildmedien und Hashtagging als kommunikative Handlungen

II.2.Bildkontrolle und Blickregime auf Instagram

II.3.Theorien des kommodifizierten Selbst

II.4.Distinktion und soziales Kapital

II.5.Rich Kids of Instagram

II.5.1.#Instafame: Ikonische Inszenierungen von Reichtum, Luxus und Prestige

II.6.Selfie Wars: GoPro, Ego Shooter & Gamification

II.6.1.Ausnahmezustand und Authentizitätsregime

II.6.2.Der Kampf als mediale Erlebniswelt

II.6.3.Gamifizierung des Krieges

II.7.Bildpraktiken der Selbstvermessung

II.7.1.Verdatung des Körpers

II.7.2.Feedbackschleifen und soziale Kontrolle

II.7.3.Vom Datenkörper zu Big Data

II.8.Doing Memory: Das Selfie als kuratorische Praxis

II.8.1.Subjekt und Erinnerung

II.8.2.Erinnerungsort Auschwitz-Birkenau

II.8.3.Staging History – Inszenierte Geschichte auf Instagram

II.8.4.Szenografien einer Selbst-Kuratierung

III.Faciales Regime – Defacement

III.1.Prosopopeia

III.2.Faciales Regime

III.3.Thanatographien des Weiblichen

III.4.Defacement: Kritik der Gesichtserkennung

III.4.1.Dekonstruktionen des Facialen

III.5.Bildpolitische Kollektive und die Abkehr vom Subjektzentrismus

III.5.1.Umbrüche des subjektzentrierten Bildhandelns am Beispiel der Iranproteste 2022

III.5.2.Instagram als Medium der politischen Kommunikation

III.5.3.Bilder des Protests – Protest der Bilder

III.5.4.Selfie-Solidarisierung

III.5.5.Selfies den Rücken kehren

IV.Literatur

V.Abbildungsnachweis

VI.Drucknachweis

I.Einführung

Das Schlagwort »Selfie« charakterisiert ein zentrales Kulturmuster spätmoderner Gesellschaften im postdigitalen Zeitalter. Die sogenannte »Selfie-Generation« (Eler 2017) ist längst nicht nur Verstärker von Aufmerksamkeit innerhalb digitaler Ego-Netzwerke, sie übt einen maßgeblichen Einfluss auf die Gestaltung sozialer Rollenmodelle, Identitätsskripte und politischer Denkweisen aus. In Verknüpfung mit Hashtags, Hyperlinks und Retweets überformen Selfies die digitale Bildkultur und verändern die Bedeutung konventioneller Inhalte, sie kommodifizieren als warenförmige Bildinhalte die Online-Kommunikation der Selbstthematisierung und sie formen ein kollektives Bildgedächtnis für künftige Generationen. (Salomon/Brown 2019: 539-560; Bollmer 2021: 20-39)

Aufgrund ihrer niedrigschwelligen Verwobenheit mit der Alltagskultur globalen Ausmaßes sind Selfies seit mehr als einer Dekade Gegenstand einer interdisziplinären Forschung geworden. Selfies wurden in Bezug auf neue Ausprägungen sozialer Gegenwartsphänomene analysiert (exemplarisch: Matich et al. zu queer-feministischer Selbstrepräsentation, 2022: 388-400), ihre Entwicklungen wurden kritisch beurteilt (Stichwort: »Smiling in Auschwitz«, Adriaansen 2022: 105-120) und politisch verortet (exemplarisch: Green-Riley et al. über »Selfie-Protests«, 2022: 203-215), aber häufig wurden den untersuchten Bildpraktiken und ihrer Akteure nicht zugestanden, dass sie das Medien- und Bildformat »Selfie« selbst kritisch-reflektierend dekonstruieren. Diese Beobachtung nimmt dieses Buch zum Anlass, nicht nur über Selfies als eine alternative Bildpraxis der Selbstdarstellung nachzudenken, sondern das Medium »Selfie« als Ermöglichung von einer kritischen Reflexion des Selbst und seiner Praktiken des Erzählens, Zeigens und Mitteilens in den Fokus zu rücken. Dabei wird es nicht nur um eine Verschiebung des Analyserahmens gehen, sondern in einigen Kapiteln dieses Buches wird versucht, die innovative Dynamik einer kritisch-reflexiven Distanzierung vom Selfie-Kult auf der Grundlage der Praktiken der Mediennutzung selbst sicht- und sagbar zu machen.

Selfies können als ein Indikator für den medialen, gesellschaftlichen und technischen Umbruch der Bildkommunikation verstanden werden. (Murray 2021) Diese tektonische Verschiebung innerhalb der zeitgenössischen Kommunikationskultur hat in den Kultur-, Medien- und Sozialwissenschaften zur weitverbreiteten Einsicht geführt, dass Bildern in spätmodernen Gesellschaften ein wesentlicher Beitrag zur Formierung von Gesellschaft und Subjektivität eingeräumt werden muss. (Sezgin 2018; Reckwitz 2019; Jurgenson 2019; Leaver et al. 2020)

Während die Selbstdarstellung im Goffman’schen Sinn der face-to-face-Interaktion (Goffman 1959) zu den menschlichen Universalien gehört, kann die reflexive Wendung der Selbstdarstellung, nämlich die Selbstthematisierung, als ein kulturelles Spezifikum der digitalen Kommunikationsgesellschaft gedeutet werden. In diesem Zusammenhang wirft das vorliegende Buch die Frage auf, ob und auf welche Weise sich die Praktiken der Identitätskonstruktion im Rahmen der Ausweitung der neuen digitalen und interaktiven Medien verändern.

Mit der fortschreitenden Technisierung und Mediatisierung der visuellen Kultur (Darley 2000; van Dijck 2008: 57-76) mittels Telekommunikation- und Vernetzungsmedien sind fließende Formen der Bildproduktion von persönlicher Information entstanden, die sich durch einen fließenden Übergang zwischen Medien, technischen Verfahren, sozialen Beziehungen, Diskursen und visuellen Stilen auszeichnen. (Doy 2004; Snickars/Vonderau 2012) Mit der technischen Mobilisierung der Bilder und der fortschreitenden Verallgemeinerung der Bildkompetenz haben sich neue Formen sozialer Netze und interaktive Medienöffentlichkeiten gebildet, die zur Entstehung einer breiten Autodidaktisierung der digitalen Bildkultur geführt haben. (Hjorth 2007: 227-238; Hjorth/Burgess/Richardson 2012)

Vor diesem Hintergrund kann die bildliche Selbstthematisierung entlang der wechselseitigen Beziehungen zwischen den infrastrukturellen Möglichkeiten der digitalen Medien, den digitalen Methoden der Bildforschung und den ästhetischen Praktiken der Selbstthematisierung untersucht werden. (Lasén/Gómez-Cruz 2009: 205-215)

I.1.Bildkommunikation, Bildrepertoires und Bildgedächtnis

Es kann daher von der grundlegenden These ausgegangen werden, Bildpraktiken als kommunikative und medientechnologisch vernetzte Praktiken zu verstehen. Im Zentrum dieses Ansatzes steht eine visuelle Kommunikationsanalyse, die folgende Schwerpunkte aufweist:

(1) Analyse der Bildkommunikation in technisch-medialen Enviroments. Die heutige Forschung zur historischen und kulturellen Bedeutung von Bildern geht von einem erweiterten Bildverständnis aus und integriert die Praktiken der Sichtbarmachung und des Sehens in ihre Analyse. (Lobinger 2015: 37-58) Das Forschungsprojekt ist in dieser Hinsicht praxeologisch ausgerichtet und untersucht die komplexe Überlagerung ikonischer, textbasierter und informatischer Bedeutungsgeflechte, die bei der Aufnahme, der Bearbeitung, der Veröffentlichung und der Verbreitung von Selfies auf Online-Plattformen, sozialen Netzwerkseiten und Sharing-Apps entstehen. (Tiidenberg 2018) Das Projekt erkundet die Wechselbeziehungen zwischen visuellen Datenobjekten, bildlichen und diskursiven Prozessen der Bedeutungskonstruktion und Metadaten, welche die »Klassifikation und Archivierung erleichtern und die Herkunft (Urheberschaft, Eigentumsrecht und Nutzungsbedingungen) anzeigen«. (Vgl. Rubinstein/Sluis 2013: 151, Übersetzung durch den Autor.)

Als Schauplatz divergierender Blickweisen und Sehkulturen werden nicht nur Bildpraktiken im engeren Sinne untersucht, sondern auch die mit ihnen eng verknüpften Kategorisierungs-, Kodierungs- und Kommentierungsverfahren (Hashtags, Emojis, Threads, GIFs, Hyperlinks) und crossmedialen/multimodalen Verbreitungs- und Analysestrategien (Social Insight, SocialRank, Hootsuite, Iconosquare, Social Media Radar), welche die Nutzer von Online-Plattformen und Messenger-Diensten durch ihr soziales Sichtbarsein und Gesehen-werden herstellen. Als bildbasiertes Handeln (Morelock/Narita 2021) sind Selfies in die Situierung von Subjekten der Technisierung in ein performatives Geschehen (Silvestri 2021: 275-287) eingebettet. Die performativen Aspekte des Handelns mit Bildern siedeln wir auf einer multimodalen Ebene an, welche die gesamte Bandbreite der Selfie-Kommunikation und des Selfie-Storytellings in mobilen und multimedialen Kommunikationsnetzwerken (schriftbasierte Texte, Hashtags, Emojis, GIFs, Hyperlinks, Threads) abdecken soll. (Mendoza 2022: 1-12)

(2) Bildrepertoires und Bildgedächtnis. Bildpraktiken sind immer auch visuelle Praktiken und Selfies beziehen sich immer auf visuelle Rollenmodelle und sind im Sinne einer endlosen Folge von Referenzbilder in Bedeutungsnetze eingebunden. Entlang dieser Perspektivierung ist im Projekt eine Interpretationsanalyse angesiedelt, die digitale Selbstbilder im Produktions- als auch im Rezeptionskontext als kommunikatives Bildhandeln »deterritorialer Gemeinschaften« (Hepp 2008) untersucht und Selfies als temporalisierte und wählbare Handlungs-, Kommunikations- und Identifikationsmuster ansieht, die im breiten Spektrum objektivierender Selbstvermessung und individualisierter Selbstinspektion neue Formen medialer Subjektivität ermöglichen. Da sich Online-Plattformen, Messenger-Dienste und Soziale Netzwerkseiten in geschlossene Kommunikationsräume ausdifferenziert haben, erforschen wir visuelle Kommunikationsskripte zum Aufbau digitaler Identität (Senft 2013, die spezifische Bildrepertoires (Silverman 1997) und Gedächtniskulturen (Budge 2020: 3-16) in unterschiedlichen Online-Kommunikationsräumen hervorgebracht haben – z.B. theatrale Selbstinszenierungen auf Instagram und Facebook und reziproke Kommunikationsformen auf WhatsApp, Twitter und Snapchat. (Ebbrecht-Hartmann/Henig 2021: 213-235)

(3) Stilkommunikationsanalyse. Im Mittelpunkt der Stilkommunikationsanalyse steht die vergleichende Analyse des bildlichen Ausdrucks im Kontext bildkompositorischer Gestaltungsweisen. (Bollmer 2020) Bei der Bildanalyse wird darauf Wert gelegt, dass die unterschiedlichen Bildformen und -stile nicht von einem »kategorial festgelegten Bildbegriff« abgeleitet werden, sondern heterogenen Bildpraktiken zugeordnet werden. Mit methodenoffenen Ansätzen der qualitativ orientierten Bildforschung können die formalästhetischen Stile der Hervorhebung, der Betonung, des Verbergens und Auslassens in der Kadrierung, der Bildgenres, der Handlungsepisoden, der Interaktionskonstellationen und die Ebene der Bild-Text- und Bild-Bild-Relationen auf geschlechts-, alters- und schichtspezifische Distinktionen bezogen werden, die spezifischen Stilräumen zugeordnet werden können. (Morse 2018) Die Studie exploriert fluide und translokale Beziehungsnetzwerke, um Veränderungen im Bildbestand und damit zusammenhängende Nutzungs-, Aneignungs- und Interaktionsmuster dokumentieren zu können. Dieser Ansatz ermöglicht die Kategorienbildung und eine mögliche Sondierung visueller Verwandtschaften, die sowohl synchron (im Vergleich mit anderen digitalen Selbstporträts auf Online-Plattformen) als auch diachron (im Vergleich mit kulturellen Bildrepertoires und historischen Referenzbildern) erschlossen werden können. So gesehen kann die Bildevidenz der Selfies nach ihren kulturellen und historischen Bedingtheiten befragt werden.

Das Kernstück der vorliegenden Forschungsarbeit ist die systematische Verknüpfung der unterschiedlichen Theorie- und Methodenansätze: Wie kann der Einfluss von technisch-medialen Enviroments der Social-Media-Apps auf die Interaktions- und Verhandlungsorte subjektzentrierter Bildkommunikation methodisch nachgewiesen werden? (Helmond 2015: 1-11) Auf welche Weise schaffen plattformbasierte Bedingungen wie das Abonnenten-Prinzip oder die Hashtagging-Funktion globalisierte Kommunikationsräume (Bossio/McCosker 2021: 634-647) einer Bedeutungszunahme des kommunikativen Handelns mit Bildern, neue ikonische Inszenierungsstile (»Gesprächsbilder«, Halter 2015: 3) oder konventionelle Bildrepertoires und Geschlechterstereotypen? (Williams/Moody 2019: 366-384; Grindstaff/Valencia 2021: 733-750) Kann das Selfie-Phänomen als ein Paradigmenwechsel in der Entwicklung einer globalen Öffentlichkeit verstanden werden, wenn heute Selfies wie Emoticons zu einer ›Weltsprache‹ geworden sind und sich »erstmals in der Geschichte der Menschheit eine universal gültige Form der Kommunikation etabliert«? (Ullrich 2019 40) Das Ziel des Forschungsprojektes ist es, eine theoretisch begründete und empirisch gesicherte Studie durchzuführen, die aufzeigen kann, dass ein erweiterter Methodenrahmen aus Bild-, Medien- und Kommunikationswissenschaft zur systematischen Erforschung von Bildkulturen in den Sozialen Medien beitragen kann.

In diesem Sinne distanziert sich das Konzept der bildlichen Selbstthematisierung von der Annahme einer hypostasierten Selbstbezüglichkeit, darin Medien lediglich als Werkzeuge zur Darstellung eines lebensweltlich bereits gegebenen Subjekts betrachtet werden. In Anlehnung an die Forschungsansätze zur »automedialen Biografie« (Dünne/Moser 2008) gestehen wir dem Medium eine konstituierende Bedeutung im Prozess der Subjektkonstitution zu und können daher nach einer sich medial im Aufnehmen, Speichern und Verbreiten konstituierenden Selbstbezüglichkeit fragen. Eine Identitäts- und Subjektforschung, die den Einfluss des Mediums auf den Vorgang der Subjektivierung als eigenständige Forschungsfrage und als wissenschaftliches Arbeitsfeld ansieht, lenkt den Blick auf das, was in den medialen Analysen der Subjektivität mit den Analysebegriffen »Dispositiv« (Engell 2000: 282) und »mediale Reflexivität« (Mersch 2008: 133) beschrieben wird. Sie lenkt den Blick auf die Medialität des Mediums und untersucht die Ermöglichung von historischen Erinnerungsorten und sozialen Bildkulturen mittels medialer Anordnungen, Verfahren und Formate. (Nora 1989; Galloway 2004) Die ästhetischen Praktiken der Identitätskonstruktion in Online-Medien medialisieren nicht nur individuelle Subjektentwürfe, sondern resemantisieren auch kollektive Erinnerungsorte (Wight/Stanley 2022: 1-15), die vermittels der Selfies als ›privatisierbar‹ in Aussicht gestellt werden. Die Studie von Samantha Hinckley und Christin Zühlke stellt Reaktionen der Öffentlichkeit auf Selfies an Holocaust-Gedenkorten nach der Veröffentlichung in den sozialen Medien gegenüber und zielt darauf ab »Selfies als Mikro- als auch Makrogeschichten [zu betrachten], die Realität und virtuelle Realität und eine Verschiebung traditioneller Arten der Gedächtnisbildung beinhalten.« (Hinckley/Zühlke 2022: 4; Übersetzung durch den Autor) Die produktive Verknüpfung dieser beiden Ansätze bildet den methodischen und forschungsleitenden Kern der vorliegenden Selfie-Analyse.

I.2.Digitale Ästhetik

Vor diesem Hintergrund können z.B. die ästhetischen Formen der Selbstinszenierung (self-staging), die das Selbst in den Mittelpunkt rücken und die mit Hilfe dieser Selbstdokumentation provozierte mediale Nähe (closeness) zum Aufnahmemedium (arm-length away) der Smartphone-Fotografie thematisiert werden. Die digitalen Medien der Selbstdokumentation vermittels der Smartphone-Technologien der permanenten Konnektivität und ihrer räumlichen Annotationen (Snapchat u.a.) eröffnen auch neuartige Handlungsräume für Selbstmodellierungen, insofern die Selbstbilder immer auch in digitale Gebrauchskontexte – Tracking (Robards et al. 2021: 2616-2633), Gamification (Bossetta 2022: 304-308) und Surveillance (Murray 2021: 1-19) – verwoben sind.

Die kommerziell motivierte Adressierung der User als Produzenten ihres eigenen Selbstbildes (Do-it-yourself-Ästhetik) darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Selfies immer auch in digitalen Medienkulturen verortet werden und innerhalb der Ökonomien der digitalen Vernetzung vermittels der Clicks, Likes, Tags und Comments mit den Kulturtechniken des Benennens, Sammelns, Auswertens und Zählens verknüpft sind (vgl. den Aspekt der Medialisierung als Ritual und die damit einhergehende Standardisierung der Selbstdarstellung, z.B. #tbt, #after sex, #museumselfie).

Auch die vereinfachten Möglichkeiten zur multimedialen Selbstveröffentlichung im Internet ermöglichen neue Formen infrastruktureller Aneignung und kollektiver Vernetzung. Kennzeichnend für die niedrigschwellige und zeitsparende Produktion von Selbstbildern ist die Kultur des Selbermachens. Diese Kultur des Selbermachens eröffnet nicht ein neues Wechselverhältnis von Praktiken des Selbstbezugs und medialen Technologien, sondern beeinflusst auch als ästhetisches Mittel die Repräsentationen des Selbst. Diese können als zusätzlicher Gegenstand der Untersuchung als bildkulturelle Elemente, Formen und Formate hinsichtlich ihrer historischen, kulturellen und medialen Subjektkonstruktion aufgefasst werden: »As an emblematic part of the social media’s increased »visual turn,« selfies provide opportunities for scholars to develop best practices for interpreting images online in rigorous ways.« (Senft 2013

Vor diesem Hintergrund können die Selfies hinsichtlich ihrer genrespezifischen Kultivierungsaspekte und ihrer Bezüge zu medienspezifischen Formaten untersucht werden. In diesem Sinne wurden Portfolios genre- und format- und medienspezifischer Bildkulturen erstellt, um daran anknüpfend die Frage aufzuwerfen, welchen netzwerkspezifischen Stellenwert Selfies in der Zirkulationssphäre von Social-Media-Plattformen aufweisen können. Das vorliegende Buch versteht sich daher sowohl als eine medien- und subjekttheoretische, bildkulturelle als auch eine kommunikationssoziologische Erweiterung der Arbeiten von Turkle (1995, 2012) und versteht Selfies als Ermöglichungen visueller Kommunikation, mit denen spezifische Handlungsorientierungen, bildästhetische Subjektmodelle und die soziale Integration für medialisierte Selbstthematisierungen bereitgestellt werden.

Davon ausgehend wird hier das Verhältnis zu den medialen Handlungs- und Ausdrucksmitteln, mit denen Individuen im Kontext gesellschaftlicher Anforderungen ihre eigene Subjektivität modellieren, untersucht werden. Die Diskussion um den erkenntnistheoretischen und sozialtheoretischen Status des Bildes, die unter verschiedenen Namen wie dem »Pictorial Turn«, dem »Iconic Turn«, dem »Visual Turn« oder den »Visual Methods« seit Anfang der 1990er Jahre intensiv geführt wird, soll im vorliegenden Buch in die Fragestellung münden, inwiefern Bilder und Bildmedien dazu beitragen, Personen bzw. Subjekte darzustellen, zu prägen und dadurch umzuformen.

Dementsprechend können Selfies als Formate des Kommunizierens thematisiert werden und damit kann ein Zugang zu den institutionellen Verfestigungen kommunikativer Handlungen erschlossen werden. Mit dieser Prämisse lassen sich die rekurrenten Merkmale der Selfies auf der Ebene von bildästhetischen Konventionen, semantischen Kodierungen, medialen Dispositiven und stereotypen Interaktionsstrukturen eingehend beobachten. Was das Format der Selfies analytisch besonders reizvoll macht, ist der Umstand, dass die Analyse der kommunikativen Formen von Selfies 1) die durch Medientechniken veränderte Medialisierung des Selbst aufzeigen kann und 2) die individuellen Verflüssigungen technologischer Dispositive und sozialer Rahmungen zu problematisieren vermag. In diesem Sinne ist die Geschichte der menschlichen Subjektivität eng mit den unterschiedlichen medialen Vermittlungsformen verknüpft und kann in mündliche, schriftliche, massenmediale und individualmediale Formen der Selbstthematisierung unterschieden werden. Mündliche Selbstthematisierungsformen zeichnen sich durch Kopräsenz und eine Interaktion des Face-to-Face aus, schriftliche Formen wie die Autobiographie und das Tagebuch sehen das Schreiben als substitutive Praxis für eine praktische Orientierung, oder machen das Handeln zum Schauplatz biografischer Rechtfertigung (Ricoeur 2002, 2004).

Im Zuge der Pluralisierung der Massenmedien insbesondere durch ihre Privatisierung deutet sich eine neue Form der Selbstthematisierung an. Zunehmend wird das Private zu einer (Aufmerksamkeits)Ressource, so dass die Grenzen zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen gesprengt werden. Die Intimsphäre, das persönliche Bekenntnis, die inszenatorische Selbstdarstellung u.a.m. werden zu Themen mehr oder weniger neuer massenmedialer Formate, die sich auf die interaktiven Online-Medien ausdehnen. In dieser Sichtweise können die digitalen Netzwerke immer auch als mediale Anordnungen verstanden werden, die auf die beteiligten Akteure institutionellen und normativen Druck ausüben, sich am Prozess der Selbstthematisierung zu beteiligen. Vor diesem Hintergrund wird die als mach- und planbar wahrgenommene Lebensgeschichte zum Gegenstand medialer Erzählstrategien, mit denen versucht wird, das eigene Leben vermittels narrativer Identitätsskripte, »multimedialer Medienformate« (Doy 2004; Reichert 2008: 47) und Formen genderbasierter Inszenierungenzu verorten. Alois Hahn bezeichnet die kommunikativen Institutionen der Selbstthematisierung als »Biografiegeneratoren« (Hahn 1987: 12) und verweist auf ihre Bedeutung für die praktischen Selbstverhältnisse der Individuen. Sowohl die individualisierten Arten der reflexiven Selbstdarstellung als auch jene Selbstthematisierungen, die durch institutionelle Vorgaben strukturiert sind, dienen einerseits der lebensweltlichen Orientierung in der alltäglichen Lebensführung, fungieren aber auch als gesellschaftlicher Mechanismus zur Normalisierung, Integration und sozialen Kontrolle.

In diesem Sinne gehören automediale Dokumentationsverfahren wie die Selfies auch zu den kollektiv geteilten Leitbildern der Gegenwartsgesellschaft und können im Bezugsrahmen einer historisch langfristigen Etablierung kommunikativer Institutionen und Normen der Selbstthematisierung verortet werden. In dieser Hinsicht sind es nicht nur die Einzelnen, die sich selbst zum Thema von Kommunikation und damit zum Gegenstand des Wissens machen, sondern sozial habitualisierte Formen der Kommunikation, die das Individuum in ein bestimmtes Verhältnis zu anderen und dadurch zu sich selbst setzen. Das Subjekt kann also erst dann zu einem Vorbild des Handelns und zu einem Gegenstand des Wissens werden, wenn in einer Gesellschaft entsprechende institutionelle Rahmenbedingungen vorhanden sind, die das Subjekt im Allgemeinen als ursächliches Agens der Selbstthematisierung adressieren. Die stilistischen Merkmale der visuellen Selbstdarstellung verweisen demnach weniger auf eine Individualität von Subjekten, sondern auf historische und sozial bedingte Subjektivierungsweisen, die unter anderem an der Verwendung der Selfies ablesbar werden.

Im Anschluss an diese Forschungen beabsichtigt das Buchprojekt zur Untersuchung bildbezogener Selbstthematisierung in den Sozialen Medien des Web 2.0, einen disziplinenübergreifenden Beitrag zur digitalen Nutzungsforschung zu leisten. Dieser Beitrag besteht (1) aus der datenkritischen Reflexion der gängigen Technologien, Ressourcen und Analyse-Tools der nativ-digitalen Webanalyse und der Social-Media-Analyse (van Dijck 2013), (2) aus der Entwicklung von methodologischen Grundlagen zur Analyse von Bildobjekten im Internet, mit denen quellenkritische Standards für visuelle Selbstthematisierungen entwickelt werden sollen und leitet sich (3) aus dem zeitdiagnostischen Anspruch ab, den Stellenwert der digitalen Bild- und Kommunikationsmedien bei der Herausbildung medial vermittelter Subjektivität zu elaborieren. Dabei handelt es sich um den Versuch der Erklärung für das Phänomen, dass durch Bild-Text-Verschränkungen besonders wirkungsvolle Evidenzeffekte erzeugt werden. In diesem Zusammenhang werden die technisch-medialen Infrastrukturen, die zunehmende Durchdringung von Bild, Text und Materialität durch Informations- und Verbreitungstechnologien und ihre multimodalen Kommunikationsformen ebenso in Betracht gezogen wie die nutzerbedingten Gebrauchskulturen. (Morse 2018; Corfman 2022: 101-186)

Mediatisierte Kommunikation motiviert Individuen zur Selbstthematisierung und aktiviert personalisiertes Medienhandeln (Schultermandl 2022: 9-21). Diese These wird auch von Olu Jenzen (2022) gestützt, die sich mit der visuellen Selbstdarstellung in LGBTQ+-Jugendkulturen befasst hat und darauf verweist, dass LGBTQ+-Jugendliche ihre Identitätsarbeit plattformübergreifend kuratieren.

Vor diesem Hintergrund können Selfies als visuelle Praxis von Jugendidentitätsarbeit, affektiver/phatischer Kommunikation, Gemeinschaftsbildung und Öffentlichkeitsvernetzung untersucht werden.

Weitere Studien zeigen im Fall der Internetkommunikation auf, dass sich im Kontext der gegenwärtigen gesellschaftlichen, medien- und technikbasierten Umbrüche Subjektbefragungen herausbilden, welche die Sozialen Netzwerkseiten als mediatisierte Interaktionsorte jugendkultureller Thematisierungen von fluiden Subjektentwürfen in bildkommunizierenden Experimentalkulturen nutzen. (Mazzarella 2022: 311-318; Sherry 2022: 97-110) So bedeutend diese partizipatorischen Kommunikationsstrukturen auch sein mögen, sollte man ihre ökonomischen und politischen Interdependenzen nicht vernachlässigen, sondern als formatbedingende Praxis der Selbstthematisierung betrachten, die möglicherweise wieder zur Herausbildung von gemeinsam geteilten Kodierungen und diskursiven Rahmungen von sozialen Dynamiken führen können. Mit einer deutlich erkennbaren Sensibilität für diesen technologischen wie sozialen Umbruch, der auch neue ästhetische Einsätze verlangt, können bildästhetische und mediendispositive Forschungsperspektiven zusammengeführt werden, um herauszufinden, inwiefern Selfies als performative Medien verstanden werden können.

I.3. Strategien der Dissemination

In Anknüpfung an die performative Handlungstheorie von Erika Fischer-Lichte (2002; 2004) wird im Projektzusammenhang der Begriff des Performativen verwendet, um die prozessuale Aufführungs-, Vollzugs- und Transformationspraxis von visuellen Selbstthematisierungen aufzeigen zu können. In den vernetzten digitalen Kommunikationsräumen haben sich interaktive Mediensysteme und damit einhergehend kollektive und kollaborative Medienpraktiken der »Automedialität« (Dünne/Moser 2008) herausgebildet, die sämtliche Bereiche der Herstellung, Verbreitung, Nutzung und Bewertung von Medieninhalten umfassen. Aus performativer Perspektive kann folglich eine dynamische und sich provisorisch gebende Bedeutungsproduktion der Sozialen Medien des Web 2.0 freigelegt werden, mit welcher die Produktivität und die Prozessualität kollaborativer Praktiken in den Analysefokus einrückt.

Im vorliegenden Buch wird es darum gehen, die visuellen Selbstthematisierungen im Kontext von drei unterschiedlichen Performativitätsstrategien methodologisch zu verorten:

(1) In der Auseinandersetzung mit den von User/innen generierten Selfies geht es um die Frage, welche performative Rolle die Initiatoren von visuellen Uploads einnehmen. Welchen Stellenwert haben kollektive und kollaborative Rahmungsprozesse in Bezug auf die Bedeutungsproduktion, Ausverhandlung und Distribution von Selfies in Onlineportalen und Social Media-Formaten?

(2) Die in der Internetkultur ausgeprägte Tendenz zur Resignifizierung und Reiteration von bereits bestehenden Inhalten (Mashup, Remix) verweist auf einen Aspekt des Performativen, der Ausdruck von kollaborativen Rahmungsprozessen ist, die sich keinem intersubjektiv kontrollierbaren Diskursfeld subsumieren lassen. In diesem Sinne erweist sich »die produktive Kraft des Performativen nicht einfach darin, etwas zu erschaffen, sondern darin, mit dem, was wir nicht selbst hervorgebracht haben, umzugehen«. (Krämer 1998: 48) So gesehen kann der performative Vollzug als Überschuss von Bedeutung verstanden werden, der nicht nur eine neue performative Rahmung realisiert, sondern rückwirkend auch den bereits bestehenden Inhalt modifiziert.

(3) Performative Prozesse im Internet sind das Resultat technischer Ermöglichung. Speziell sind es die computergestützten Informations- und Kommunikationstechnologien, welche die Modi, die Geltung und die Verbreitung der von User/innen generierten Inhalte regulieren. Folglich sind die Netzmedien und ihr technisch generierter Handlungsvollzug an der Produktion von Sinn und Bedeutung maßgeblich beteiligt und müssen in die Methodologie der Untersuchung performativer Prozesse integriert werden.

Ausgehend vom Befund, dass in einer performativen Gegenwartskultur Aufführungen, Inszenierungen und Rituale an Bedeutung gewinnen, kann folglich die Annahme vertreten werden, dass Bilder in der Inszenierung und Wahrnehmung des Subjekts eine immer stärkere Rolle spielen. In diesem szenisch-prozessualen Spannungsverhältnis zwischen den dinglich-medialen Konfigurationen, die mit den Smartphones und Tablets in alltägliche Medienpraktiken expandieren, und den Subjektentwürfen mischen sich individuelle mit kollektiven Bildern, die auf die kulturelle Dimension von Bildlichkeit, Performativität und Sozialität verweisen. In welchem Maße von einer »Ikonologie des Performativen« (Panofsky 1964) oder von einer ikonischen Analyse (Imdahl 1994: 300-324) gesprochen werden kann, die auf konstitutiv kulturellen oder kunst- oder kulturhistorischen Aspekte bzw. auf ihre sozialen und politischen Implikationen befragt werden kann (Bohnsack 2001), versucht das vorliegende Buch in struktureller, historischer und methodischer Hinsicht zu beantworten.

Zur Sprache kommen dabei sowohl kulturspezifische wie kulturübergreifende Bildmuster szenischer Arrangements bedeutungsgeladener Gesten und Haltungen im Bild, die in kollektiven Bildräumen geteilt werden. In dieser Hinsicht wird gleichermaßen die Performativität im Bild als auch das Bild als performatives Medium untersucht. Allerdings muss in diesem Zusammenhang berücksichtigt werden, dass im Zeitalter der digitalen Vernetzungsmedien Bildlichkeit in den computerbasierten Medien weniger als etwas zu verstehen ist, dass der Repräsentation entspringt, sondern vielmehr aus der Pragmatik und der Performativität abgeleitet werden kann. Hierbei kann die Annahme verfolgt werden, dass allein schon das Auftreten der neuen Medien zu einem Wandel der kommunikativen Formen der Selbstthematisierung führt, dass sich also, um mit Mike Sandbothe zu sprechen, »das Bild nicht nur semantisch, sondern auch und vor allem pragmatisch, das heißt durch einen einfachen Mausklick auf andere Zeichen und vermittelt über diese auf virtuelle oder reale Handlungskontexte verweist.« (Sandbothe 2001: 193) Mit dieser Einschätzung verweist Sandbothe in einem doppelten Sinn darauf, dass wir im Gebrauch der Bilder immer etwas vollziehen und dass Bilder, die im Internet zirkulieren, immer auch Teil eines operativen Kodes sind, der die Aktion mit der Repräsentation irreduzibel überlagert.

Vor dem Hintergrund dieses Forschungsstandes zur digitalen Bildkultur nimmt das Projekt in methodischer Hinsicht die Bildhaftigkeit sozialer Interaktionen zum Anlass, um die Gattungs- und Diskursanalyse visueller Kulturtechniken weiterzuentwickeln, indem es den ikonologischen mit einem technologisch-pragmatischen Ansatz verbindet und darauf verweist, dass die mobile und smarte Technikentwicklung im Bereich der fotografischen Aufzeichnung durch drahtlos vernetzte Smartphones und Tablets nebst weiterer mobiler Medien, die mit dem Internet eine neuartige Verbreitungsform aufweist, eine mediatisierte Ästhetik des Selbst etabliert.

Gleichzeitig ist zu beobachten, dass viele Formate, die mit den partizipativen Möglichkeiten der mobilen Netzwerkgesellschaft entstanden sind, technische, ökonomische und sozialstrukturelle Rahmenbedingungen für die Thematisierung von Subjekten geschaffen haben, was man als visuelle Kultur der Selbstthematisierungbezeichnen kann. Ein genaueres Verständnis dieses Verhältnisses kann aber erst gewonnen werden, wenn deutlich wird, auf welche Weise die visuelle Praxis und Ästhetik der fotografischen Selbstdarstellung mit der Vernetzungskultur der Sozialen Medien zusammenwirken. Die medialen Strukturen der Selbstthematisierungsformen sind nicht nur Resultate fortschreitender Technikentwicklung und individualisierter Kommunikationsformen, sondern resultieren in der historischen Perspektive ihrer Herausbildung aus technikbasierten Vorgaben von Organisations- und Regierungsformen des Sozialen, die gegenwärtig durch webbasierte Institutionen getragen wird, die es mit den im Folgenden dargestellten Methoden zu untersuchen gilt.

I.4.Methoden der digitalen Bildforschung

Die Bildforschung richtet ihre Aufmerksamkeit auf die Frage, welchen Stellenwert Bilder als eigenständige Medien bei der Konstitution von Bedeutungsgeschehen in Bezug auf Subjektivität aufweisen können. (Sachs-Hombach 2003: 157-190; Mitchell 1986, 2005; Bredekamp 2010: 25-56) Die Bildforschung zur visuellen Selbstthematisierung im Web 2.0 nimmt diese Grundproblematik der Visuellen Kultur zum Ausgangspunkt, um das gegenwärtige Verhältnis von Bild und Subjekt mittels digitaler Methoden zu erforschen. (Lehner 2021b)

Die hier avisierte Bildforschung verortet ihre bildwissenschaftlichen Fragestellungen grundsätzlich an der Schnittstelle von Bildhandeln und Bildästhetik und knüpft an die Forschungsmethode der Intervisualität an: »In the […] visual image, intertextuality is not simply a matter of interlocking texts but of interacting and interdependent modes of visuality that I shall call intervisuality.« (Mirzoeff 1998: 209) Diese Sichtweise verfolgt den methodischen Anspruch, Intervisualität als eine spezifische Art der Intermedialität der visuellen Medien aufzufassen und versteht das Selbst als eine Transformation von Darstellungs- und Wahrnehmungskonventionen, die den Beteiligten eine Medienreflexion im Mediengebrauch zugesteht. Daher kann die bildliche Selbstthematisierung immer auch als eine reflektierende Auseinandersetzung mit den Bedingungen der Möglichkeit von medialisierter Subjektivität angesehen werden. Dieser Forschungsansatz integriert schließlich eine der zentralen Grundannahmen bildpragmatischer Ansätze, die sich mit dem Wahrnehmungs- und Handlungsgeschehen zwischen Bild und Betrachter beschäftigen (Barthes 1985, 1990) und wirft folgende Fragen auf: (1) Inwiefern vollziehen Bildproduzenten an und mit Bildern Handlungen und (2) Wie erlangen Bilder in dinglich-medialen Beziehungsgefügen Handlungspotential und auf welche Weise werden sie zu Agenten von bestimmten Bildpraktiken? (3) Kann die Agency der Bilder, d.h. ihre Handlungsfähigkeit, mit Hilfe der genuinen Verfahrensweisen digitaler Medien erhoben werden?

Die Eingrenzung des Gegenstands und die Erstellung des Quellenkorpus soll stufenweise auf zwei Ebenen umgesetzt werden. Auf der Basis von Daten, die (automatisch) durch Software erhoben werden, sollen die medialen Bedingungen der Möglichkeit von digitaler Subjektivierung diagnostiziert und anhand der Nutzung des Internets kulturelle Veränderungen und gesellschaftliche Sachverhalte thematisiert werden. Der Quellenkorpus wird mit Hilfe von genuin digitalen Tools aus öffentlich zugänglichen Datenbeständen der Plattformen Facebook, Twitter, Imgur, Reddit, Snapchat, Instagram, Google+, Flickr, Pinterest, Foursquare und Tumblr erhoben. Datensamples werden auf der Grundlage von digitalen Nutzungspraktiken auf sozialen Plattformaktivitäten erschlossen, wenn Bildinhalte beispielsweise mit Likes, Favs, Retweets, Links, Hashtags, Reports oder Mentions konnotiert werden. Da analoge Methoden, die zur Erforschung interpersonaler oder Massenkommunikation entwickelt wurden (wie zum Beispiel Online-Fragebögen), nicht einfach auf die Kommunikationspraktiken im Social Net übertragen werden können, machen wir uns die computergestützten Verfahren zunutze, um große Mengen von digitalen Kommunikationsdaten zu erheben, zu filtern, aufzubereiten und zu modellieren. Zur Analyse der digitalen Bildkommunikation gehört dementsprechend auch die Berücksichtigung der Speicherungs-, Thesaurierungs-, und Feedbackstrukturen, die in unterschiedlichen Bereichen der Alltags- und Populärkultur zur Anwendung kommen. Feedbacksysteme, Leistungsvergleiche, Qualitätsrankings, Monitoring, Matching, Benchmarking, statistische Kontrollen, flexible Prozesssteuerungen, Selbsterfahrungskatalysatoren, Zufriedenheitsmessungen – systemisch-kybernetische Kontrollfunktionen und Beobachtungszusammenhänge wechselseitiger Bewertung und Beurteilung sind Funktionselemente der Medientechnologie des Web 2.0. (Murray 2021) Dabei sollte auch berücksichtigt werden, dass unterschiedliche Plattformen zur Verbreitung von Videos eine sozialstrukturelle Ungleichheitsdimension aufweisen: Akteure verbreiten ihre Selbstdarstellungen je nach Klassen- und Bildungslage beispielsweise durch unterschiedliche Social Networking Sites.

Eine weitere Herausforderung bestand in der Erforschung des visuellen Materials in der forschungspragmatischen Sichtung und Auswahl der unübersehbaren Menge von öffentlich zugänglichem Bildmaterial. Um dieses Problem zu lösen, wurden nur visuelle Artefakte in die Analyse einbezogen, die von ihren Herstellern explizit oder von ihrem Publikum implizit als Selbstthematisierungen bezeichnet werden. Folglich wurden nur öffentlich zugängliche und damit frei verfügbare Selfies ausgesucht, für die eine Autorschaft beansprucht wird, in denen die Protagonisten also sich selbst thematisierten. Angesichts der Verbreitung der erörterten Darstellungsformen des Selbst sollte über die Frage Aufschluss gewonnen werden, auf welche Weise die Figurationen der digitalen Bildpraktiken als neue Signifikationsprozesse des Selbst interpretiert werden können.

Für die Erschließung eines umfassenden und heterogenen Bildkorpus wurden sowohl die Methoden der seriellen als auch der exemplarischen Bildanalyse herangezogen. Die Thesenbildung der digitalen Bildforschung hat sich die theoretischen und methodischen Angebote von verwandten Disziplinen nutzbar gemacht. Ihre Grundlagen wurden aus der interdisziplinären Methodenreflexion zur Visualitätsforschung in den Forschungskontexten der visualisierten »Intertextualität« (Mirzoeff 2002: 24), der »Intermedialität« und ihren multimodalen Beziehungen von Kommunikationsformen und deren Zeichensystemen (Mitchell 1995: 5), »Interdiskursivität« (Parr 2020: 234-237), der »Interpiktorialität« (Iskenmeier 2013) und der »Interikonizität« mit ihren Referenzen materieller Abbilder auf andere Präbilder im Sinne des ikonischen Zeichens (Bosch 2022: 1-16) bezogen.

Die Bildquellen und ihre Bild-Bild-Bezüge stehen im Zentrum der Untersuchung und sollen nicht mehr illustrativ, sondern aus interdisziplinärer Multiperspektive analytisch entlang von Fallstudien beschrieben werden. Untersucht werden das Verhältnis zu medien-, kunst- und kulturtheoretischen Konzepten – wie dem der Intertextualität, der Intermedialität oder der Interikonizität –, die methodischen Implikationen des Begriffs der Interpiktorialität sowie die historisch und medial spezifischen Ausprägungen interpiktorialer Verweise von der Fotografie zum Bewegtbild, von der bildenden Kunst zum technischen Bild u.v.a.m.

Im historischen Vergleich macht die digitale Bildforschung festgelegte Semantiken, ikonographische Darstellungskonventionen sowie Aspekte von Materialität und Medium sichtbar. Für eine perspektivenreiche Theorie der Interikonizität erscheint aber die klassische Motivgeschichte als zu eng gefasst. Vielmehr muss sie offen sein für eine Vielfalt möglicher Bedeutungen und Bezüge, um einer bloßen Rekanonisierung von »Schlüsselbildern«, die zu einer kulturellen Institutionalisierung von visuellen Alltagspraktiken führt, zu entgehen.

Folglich muss eine Interikonizität also in der Lage sein, Verbindungen zu beschreiben, die auf anderen Ebenen als der formalen und der visuellen angesiedelt ist. In diesem Sinne geht es in der seriellen Bildanalyse nicht um die Konstruktion einer akademischen kunst- und kulturgeschichtlichen Filiation des Selfie zum Vorbild, sondern um die heuristische Bildfindung einer grundsätzlichen Unabgeschlossenheit und medialen Vielfältigkeit von digitalen Objekten, das die multiplen Verbindungen anerkennt, die nicht nur im künstlerischen oder gebrauchsgrafischen Zusammenhang kursierte, sondern auf ein alltäglich-bildbezogenes Handeln in der Peergroup-Kommunikation auf Internet-Plattformen eingeht, das die interpiktoriale Transformation zwischen high und low integriert.

Es ist daher notwendig, Aspekte wie Material, Medium und insbesondere Medienwechsel zu betrachten. Auch dies ist ein Beispiel dafür, dass es nicht ausreicht, auf einer formalen Ebene Bild und Vorbild zu ermitteln und es dabei bewenden zu lassen. Daher müssen auch massenmediale und populärkulturelle Bildlichkeiten einbezogen werden. (Lehner 2021a)

Gemeinsam mit der visuellen Diskursanalyse konzentriert sich die digitale Bildforschung auf umfassende Bildkorpora statt auf einzelne ikonische Darstellungen, um (a) ein Netzwerk von sozial geteilten Motivgruppen und Darstellungsweisen zu generieren, die (b) vergleichend in ihrer historischen Dimension kontextualisiert werden sollen. Das Vorgehen der seriellen Fotoanalysen ist daher auf einer diachronen Ebene und auf einer synchronen Ebene angesiedelt:

(1) Im diachronen Vergleich können die intertextuellen, intermedialen und intervisuellen Bezüge der Bilder, die in der Bedeutungskonstitution wesentlich sind, miteinander vergleichbar werden. Die Bildanalyse orientiert sich an der Ikonizität des Dargestellten und untersucht Selfies als sozial geteilte und historisch tradierte Referenzbilder, mit deren Wiedererkennen sie bestimmte Erinnerungsinhalte aktualisieren. Es sollen neben den Bezugsverhältnissen von Bildmotiven, Bildreihen, Stilanlehnungen auch Formen der Zitierung signifikanter Gesten und prägnanter Figurenkonstellationen über die Gestaltähnlichkeit von Figuren auch stilistische Anlehnungen an Epochen und Dramaturgien des Visuellen nachgewiesen werden.

(2) Der synchrone Vergleich der seriellen Bildforschung rekonstruiert hingegen die sozialen Netzwerkbeziehungen des plattformspezifischen Bildmaterials und setzt diese miteinander in Beziehung. Der hiermit zur Anwendung kommende kontrastierende Vergleich differenziert Bilder und bildbezogenes Handeln aus unterschiedlichen Netzkulturen der Peergroup-Kommunikation. Schließlich sollen die dem Forschungsdesign entsprechenden Datensamples mit Hilfe einer Überprüfung an erweiterten Bildbeständen und einer nachträglichen Kontexterhebung zur Sicherung unterschiedlicher Perspektiven sondiert werden.

Die mediale Ermöglichung und Anordnung digitaler Objekte liefert aber kein Abbild des menschlichen Verhaltens oder sozialer Sachverhalte jenseits ihrer Software. Eine datenzentrierte Perspektive vernachlässigt daher den Beitrag der Nutzer im Umgang mit dem Medium. Denn Daten sind immer auch das Ergebnis sozial und kulturell ausdifferenzierter Gebrauchsweisen (Gitelman/Jackson 2013). Um den Umgang der Objekte mit dem Medium, den die Nutzer mit Hilfe ihrer Reflexivität einbringen, erheben zu können, benötigen wir also eine zweite Forschungsperspektive zur Erstellung und Erhebung des Quellenkorpus.

Begleitend zur seriellen Bildanalyse erforschen wir in exemplarischen Case Studies daher die visuellen Diskurse des reflexiven Self Staging. Die in unserem Forschungsdesign festgelegte Methodologie der digitalen Bilderhebung geht davon aus, dass Mediendispositive und technische Infrastrukturen zwar die digitale Bildproduktion maßgeblich formieren, aber auch Kommunikationsräume eines reflexiven Bildgebrauchs eröffnen. Michael Koliska und Jessica Roberts zeigen in ihrer Studie »Reimagining Selfies as Thirdspace« (2021: 1-10), dass Akteure, die Selfies herstellen und verbreiten, Bedeutungsherstellungsprozesse in Gang setzen, die Orte involvieren. Die in Selfies abgebildeten Orte sind mit einem affektiven Begehren aufgeladen, sich mit einem spezifischen Ort zu assoziieren. Selfies treffen folglich eine Aussage, die diesen Ort und die mit ihm verbundene dominante Bedeutung in Frage stellt. Sie schaffen eine neue Bedeutung in Bezug auf den Ort und das Selbst, das sich diesen Ort auf eine radikal subjektive Weise aneignet. Koliska und Roberts argumentieren, dass digitale Akteure mit Hilfe ihrer visuellen Aufzeichnungs-, Speicher- und Verbreitungsmedien das kollektiv geteilte Bildrepertoire von kulturell bedeutsamen Orten transformieren. Sie tragen zur Konstruktion von Orten bei und werden motiviert, sich selbst an diesen Orten einzubringen. Dabei entwickeln sie alternative oder personalisierte Perspektiven dieser Orte und vermischen diese geographische Repräsentation mit ihren (radikal subjektiven) Erzählungen und Darstellungsweisen. In Bezug auf eine reflexive Metaebene setzen sich Selfie-Diskurse mit den dominanten Bedeutungen historisch bedeutsamer Erinnerungsorte auseinander und versuchen, minoritäre, dissidente oder oppositionelle Bedeutungsverschiebungen zu entwickeln.

Die praxeologische Befragung der Bilder distanziert sich von einer Vermessung des Sozialen und befasst sich mit der Reflexivität der sozialen Akteure auf sozialen Netzwerkseiten und versucht, deren Reflexivität möglicher Ordnungen oder möglicher Konsequenzen in der ästhetischen Praxis der Bildproduktion zu verorten. Dieser Ansatz vermag aufzuzeigen, inwiefern Selfies auf Reflexionsformen verweisen, die nicht immer eindeutig lesbar sind, nicht auf die formale Genauigkeit repräsentativer Aussagen hochgerechnet werden können und eher auf die Erzeugung spieltaktischer Effekte und experimenteller Situationen seitens der Bildproduzenten verweisen.

In einem letzten Schritt geht es darum, auch diese Beobachterrolle abzustreifen und Reflexionsformen in die Bildanalyse einzuführen. In den Einzelbildanalysen rekurrieren wir auf die der antiken Rhetorik entnommenen Figur der Ekphrasis