Seltsam unverbunden - Jan Kleinmanns - E-Book

Seltsam unverbunden E-Book

Jan Kleinmanns

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Beschreibung

Sport war im »Arbeiter- und Bauernstaat« DDR ein wichtiger Bestandteil des Alltags vieler Millionen Menschen und war dort sogar in der Verfassung verankert. Jan Kleinmanns zeigt in seiner quellengesättigten Studie, wie Sportgemeinschaften in der DDR eigene, verkapselte Teilöffentlichkeiten entwickelten, die als geschlossene Einheiten gegenüber zentralen Institutionen auftraten. Innerhalb dieser Gruppen blieben Bekenntnisse zur Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft oftmals Lippenbekenntnisse. Mit der Untersuchung dieser Begebenheiten legt die Studie Mechanismen des Nebeneinanders von Partei und Gesellschaft in der DDR offen und zieht Schlüsse für die ostdeutsche Nachkriegsdiktatur, die weit über den Bereich Sport hinausgehen.

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Über das Buch

Sport war im »Arbeiter- und Bauernstaat« DDR ein wichtiger Bestandteil des Alltags vieler Millionen Menschen und war dort sogar in der Verfassung verankert. Jan Kleinmanns zeigt in seiner quellengesättigten Studie, wie Sportgemeinschaften in der DDR eigene, verkapselte Teilöffentlichkeiten entwickelten, die als geschlossene Einheiten gegenüber zentralen Institutionen auftraten. Innerhalb dieser Gruppen blieben Bekenntnisse zur Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft oftmals Lippenbekenntnisse. Mit der Untersuchung dieser Begebenheiten legt die Studie Mechanismen des Nebeneinanders von Partei und Gesellschaft in der DDR offen und zieht Schlüsse für die ostdeutsche Nachkriegsdiktatur, die weit über den Bereich Sport hinausgehen.

Vita

Jan Kleinmanns ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Bonn.

Inhalt

1.Einleitung

1.1Forschungsstand

1.1.1Alltag und Eigen-Sinn

1.1.2Geschichte der DDR

1.1.3Sport in der DDR

1.1.4Sonderfall »Erzählungen«

1.2Breitensport als Forschungsgegenstand

1.3Öffentlichkeit als Forschungsgegenstand

1.4Das Konzept »Eigensinn«

1.4.1Eigensinn und Öffentlichkeit

1.4.2Eigensinn und die Beschreibung der ostdeutschen Nachkriegsdiktatur

1.5Konzepte von Lebenswelt und Alltag

1.5.1Lebenswelt

1.5.2Alltag

1.5.3Frauen und Sport

1.6Zielsetzung

2.Sport und Struktur

2.1Die Wurzeln

2.2Die Grundlagen eines Sportsystems in der DDR

2.3Die Entwicklung des Sportsystems bis zur Gründung des DTSB

2.4Die Bedeutung des DTSB für den Breitensport

2.5Der Leistungssportbeschluss von 1969

2.6Nachzügler: Brettsegeln als »Fun-Sport«

2.7Zusammenfassung

3.Amateure, Ziele und Politik: Sport in der DDR-Presse

3.1Wie ein scharfes Schwert ohne Griff. Die politisierte Sportpresse in der DDR

3.2Die Bedeutung für den Sport: Bodybuilding und Reichweite

3.3Amateursport in der DDR-Sportpresse

3.4Die Umstellung auf Produktionsbasis

3.5Die Etablierung des DTSB und die Mobilisierung der Jugend

3.6Werte Vorleben – Sporthelden und Authentizität

3.7Angebissen – Angeln in der DDR

Eine Zäsur: der Mauerbau

3.8Die Nagelprobe – wenn Sportstars flüchteten

3.9Sport als Projektionsfläche der »großen Politik«

3.10Olympia 1972 und der DDR-Breitensport

3.11Zusammenfassung

4.Eigensinn in der Quelle

4.1Betriebssport im Bezirk Halle – alltäglicher Umgang mit dem Sport

4.2Sozialistisch Rudern in Rostock

4.2.1Geselliges Leben im Bootshaus

4.2.2Beispiel Zeitschrift

4.2.3Selbstverortung im sozialistischen Weltbild

4.3Das Zellwolleheim und der Sozialismus – Sport treiben in Thüringen

4.4Der Sport als Projektionsfläche – Beobachtungen in Ego-Dokumenten und Sportprogrammen

5.Schlussbetrachtung

Danksagung

Abkürzungsverzeichnis

Literatur- und Quellenverzeichnis

Archivalische Überlieferungen

Zeitungsartikel

Ortsregister

Personenverzeichnis

Jan Kleinmanns

Seltsam unverbunden

Breitensport in der DDR als öffentliche Sphäre zwischen System und Lebenswelt

Campus Verlag Frankfurt / New York

1.Einleitung

Walter Ulbricht […] sagte: »Um was geht es hier eigentlich, um eine Staatsverfassung oder um eine Sportverfassung?«Ich entgegnete »Um eine Staatsverfassung mit möglichst viel Sport!«Das Ergebnis war, daß der Sport zum ersten Mal in der Welt in einer Verfassung stand.1

»Ich« – das war Manfred Ewald, der seine Autobiographie 1994 mit dem wenig bescheidenen Titel Ich war der Sport versah, und die Verfassung, in der nun der Sport stand, war die Verfassung der DDR von 1968. Die DDR war damit das erste Land der Welt, das dem Sport in seiner Ausformung als Breiten- und Leistungssport Verfassungsrang beimaß. Dies war der Ausdruck einer Entwicklung, die den Stellenwert des Sports immer weiter erhöhte und den Alltag vieler Bürgerinnen und Bürger des Landes mit der körperlichen Ertüchtigung, dem Wettkampf und der Bewegung verwob. Sport war in der DDR ein essentieller Bestandteil des Alltags vieler Millionen Menschen: wer die DDR verstehen will, muss verstehen, was Sport dort bedeutete – und was er nicht bedeutete.

Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte der Osten Deutschlands mit der Gründung der DDR einen grundsätzlichen Neubeginn. Eine neue Gesellschaftsordnung begründend, formte die Sowjetunion mit neuen Eliten im Osten Deutschlands einen Staat, dessen Führung nicht nur dem Aufbau des Sozialismus, sondern auch dem Misstrauen gegenüber seinen Einwohnerinnen und Einwohnern verhaftet war. Neben der wirtschaftlichen Entwicklung baute die DDR-Führung unter dem Gesamtprojekt einer neuen Gesellschaftsordnung unter anderem ein ausgeprägtes und strukturiertes System im Bereich des Sports auf. Denn die Strukturierung des Alltags, eben jenes Eindringen in das persönliche Umfeld der Menschen, war eines der Hauptmerkmale der ostdeutschen Nachkriegsdiktatur und die Etablierung eines kleinteiligen Breiten- und Leistungssportsystems war nicht nur einer der Bausteine für den weltweit beachteten sportlichen Erfolg der DDR-Athletinnen und -Athleten, sondern gleichsam auch Baustein eines Staates, der in jedem Lebensbereich seiner Bürger um Bedeutung rang. Dies war kein Zufall – vielmehr war es das Resultat eines überlegten Prozesses, dessen Auswirkungen auf und Konsequenzen für die Entstehung von Öffentlichkeit in dieser Arbeit untersucht werden.

Die vorliegende Untersuchung widmet sich vor allem dem Ziel, aufzuzeigen, wie der Prozess der Ordnung der DDR-Gesellschaft zu einer eigensinnigen Verkapselung der gesellschaftlichen Teilgruppen führte. Es wird gezeigt werden, dass Teilgruppen wie Sportgemeinschaften sich zu eigenen Diskursräumen entwickelten, die als geschlossene Einheit gegenüber zentralen anderen Institutionen auftraten. Innerhalb dieser Gruppen blieben Bekenntnisse zur Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft, zum Weltfrieden und gegen den Faschismus oftmals Lippenbekenntnisse, die von der realen Entwicklung der Sportgemeinschaften losgelöst waren. Diese Lücke zwischen Anspruch und Realität verstetigte die Verkapselung der Sportgemeinschaften als eigene Teilöffentlichkeiten und fußt mutmaßlich auf den Erfahrungen einer Generation, die den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg mit vollem Bewusstsein erlebte und den Neuanfang vor allem im Hinblick darauf wagte, eine Diktatur nicht mehr in ihr persönliches Leben eingreifen zu lassen.

Sport bietet hierbei aus verschiedenen Gründen einen gewinnbringenden Zugang zu diesem Fragenkomplex: Zum einen weist er einen hohen Grad an Strukturierung, sprich an Durchdringung und Instrumentalisierung, auf und bietet damit exemplarisch Einblick in das Herrschaftssystem der DDR. Er ist daher eine Sonde für die Untersuchung der Gesamtgesellschaft, an dem sich gesellschaftliche Entwicklungen aufzeigen lassen. Zum anderen weist das Sportsystem in seiner Binnenstruktur trotz seiner starken Durchherrschung die (Frei-)Räume gesellschaftlichen Zusammenlebens auf, die die Entfaltung von Öffentlichkeit ermöglichen. Das Verhältnis dieser beiden Aspekte – auf der Mikro-, wie auch auf der Makroebene – wird im Zentrum der Betrachtung stehen.

Zeitlich ist dieses Projekt auf den Zeitraum zwischen der zweiten Hälfte der 1940er Jahre und der Mitte der 1970er Jahre eingegrenzt. Dies hat vor allem inhaltliche Gründe: Beginnend mit dem Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich auch ein Interesse am Aufbau eines funktionierenden Sportsystems. Mit seiner Umsetzung wurde zeitnah begonnen und der Aufbau des Sportsystems, das dem Breitensport einen Rahmen verlieh, und die damit verbundene Einschränkung persönlicher Freiheit, wurde, wie im Vorbild der Sowjetunion auch, in der ersten Hälfte der 1950er Jahre weitestgehend verwirklicht. Nach ersten Erfolgen, die sich insbesondere in der angestiegenen Anzahl der organisierten Sportreibenden äußerte, bedurfte es in den 1960er Jahren eines Ausbaus und einiger Änderungen, die sich vor allem in einem stärkeren Bezug zum Leistungssport äußerten. Insgesamt setzte sich damit der eingeschlagene Weg der Sportförderung durch und erreichte mit zahlreichen Erfolgen in den 1970er Jahren das ausgerufene Ziel der Wettbewerbsfähigkeit gegenüber allen anderen »Sport-Nationen«. Daher bietet sich hier die Möglichkeit einer Zäsur, welche die obere zeitliche Grenze des Untersuchungsraums darstellt.

Betrachtet man die Breitensportler und Breitensportlerinnen als eine Auswahl von Menschen, die sich mit der DDR arrangierten, dort lebten und ihren Weg fanden, eignet sich dieser Zeitpunkt ebenfalls für eine Zäsur. Die Strukturänderung, also die Auflösung der alten Sportvereine und die Neugliederung des Sportwesens nach sozialistischem Modell, die in den frühen 1950er Jahren begonnen wurde, entfalteten im Verlauf der 1960er Jahre zunehmend ihre Wirkung und ein neues gesellschaftliches Gefüge ergab sich. Es ist, möchte man diese Phase mit einem Titel belegen, die Phase der Strukturierung. Darauf folgend ist für den Zeitraum bis in die 1960er Jahre eine gewisse Unruhe innerhalb der Sportvereine festzustellen, die auf der Neugliederung des Systems beruhte und damit die Übergangsphase zwischen Neustrukturierung und Konstituierung begründete. Durch diese Konstituierung gewann das System an Statik, sodass die Unruhe auf der anderen Seite binnen weniger Jahre ihre Dynamik verlor und damit, während eines Prozesses, der bis in die 1970er Jahre reichte, in Eigensinn umschwenkte. Dieser entwickelte sich damit zum bestimmenden Leitmotiv gesellschaftlicher Individualisierungsprozesse in der DDR.

Wie bei allen anderen historischen Arbeiten auch, kann zur Erzählung der Geschichte von Öffentlichkeiten im DDR-Sport nur eine bestimmte Anzahl an Perspektiven gewählt werden. Das ist einerseits schade, denn jeder, der Geschichten schreibt, weiß, dass sie an Qualität gewinnen, wenn man mehrere Perspektiven einbindet, sie vergleicht, ihnen Raum für Widersprüchliches lässt und sie trotzdem durch eine gemeinsame Basis vereint. Andererseits ist die Eingrenzung auf wenige Perspektiven notwendig, weil das Buch und die Zeit der Leserinnen und Leser endlich sind. Wie wichtig der bewusste Umgang hiermit ist, zeigte beispielsweise Christoph Kleßmann, dessen Plädoyer für eine asymmetrisch-verflochtenen Parallelgeschichte2 die Blaupause für eine gemeinsame deutsch-deutsche Erzählung bilden kann. Mit diesem Konzept zeigte er bereits eindeutig auf, dass die Addition zweier Geschichten mehr sein kann als die schlichte Summe. Dies gilt auch für diese Studie:

Die Arbeit besteht deshalb aus drei Teilen. Im ersten Teil wird erklärt, wie der Sport in der DDR strukturiert war, im zweiten Teil werden die relevanten Themenkomplexe zum Breitensport in einer Presseschau skizziert und im dritten Teil werden die Breitensportlerinnen und Breitensportler selbst betrachtet. Dabei ergeben sich in der Erzählung verschiedene Perspektiven auf den Gegenstand Sport. Das erste Kapitel zum Sport in der DDR ist strukturgeschichtlich angelegt, das zweite erweitert die Perspektive in kommunikationsgeschichtlich, im dritten Kapitel werden die Akteure ins Zentrum der Erzählung gerückt. Diese Entscheidung ist nicht zufällig, sondern erzählerisch begründet. Fraglos kann man auch die Geschichte der Strukturen als akteurszentrierte Geschichte schreiben, denn das Ringen von Ewald und Walter Ulbricht böte hinreichend Material dafür, gleiches gilt für die Geschichte der DDR-Presse. Die zentrale Frage danach, wie sich der Alltag der Sportlerinnen und Sportler im Verhältnis zu staatlich dominierten Themen gestaltete, bedingt zwingend die hier gewählte Perspektive.

Dieser Schwerpunkt spiegelt sich auch in der Wahl des archivalischen Zugangs zu diesem Thema wider. Insbesondere der letzte Teil basiert auf Archivfunden aus Archiven in Rostock, Ribnitz-Damgarten, Erfurt, Dresden, Rudolstadt, Merseburg und dem Tagebucharchiv in Emmendingen. Auf dieser Basis entstand ein Bild des Alltags von Sportlerinnen und Sportlern in der DDR, das nicht nur auf (auto-)biographischen Zugängen und Erinnerungen beruht, sondern durch den Verweis auf Archivgut eine spätere Nutzung und Überprüfung vereinfacht. Die Recherche nach alltagsgeschichtlichen Schriftquellen erwies sich als schwierig. Wenn Schriftzeugnisse von Sporttreibenden überliefert sind, beschränken sich diese zumeist auf Urkunden, Kassenbücher, Programmhefte oder ähnliches Schriftgut. Zwar offenbaren auch diese einen Einblick, jedoch ist dieser verengt. Andererseits gibt es Bestände, in denen der Blick eine weitere Perspektive zulässt. Wo oder wann diese Bestände zu finden sind, bleibt jedoch Zufall.

Anders verhält sich dies bei der Suche nach Zeitungsartikeln: Das Zeitungsinformationssystem ZEFYS der Staatsbibliothek zu Berlin bietet mit dem »Zeitungsportal DDR-Presse« eine Volltext- und Metasuche für die Berliner Zeitung, das Neue Deutschland und die Neue Zeit, durch die sich Themen gut erschließen und zeitliche Schwerpunkte erkennen lassen. Neben diesem digitalen war aber ein analoges Werkzeug von herausragender Bedeutung für die Recherchen zur DDR-Presse. Das Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland verfügt über eine Zeitungsauschnittsammlung, die es vom Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen übernahm. Diese mehrere zehntausend Ausschnitte umfassende Sammlung ist durch ein Schlagwort- und ein Personenregister erschlossen und auf Anfrage einsehbar. Beide Sammlungen zeichnen sich dadurch aus, dass auch das originale Schriftbild der Artikel erhalten ist, was Hervorhebungen sichtbar macht, sowie Korrekturen und die Interpretation erleichtert. Da in ZEFYS zudem auch die den Artikel umfassende Seite als Ganzes digitalisiert ist, erschließt sich hierüber niederschwellig der Stellenwert bestimmter Meldungen im Vergleich zum weiteren Tagesgeschehen. Hinsichtlich der sportpolitischen Rahmenbedingungen konnte auf archivalisch überlieferte Dokumente aus dem Bundesarchiv zurückgegriffen werden. Diese liegen jedoch zu beträchtlichen Teilen ediert vor, wie im Folgenden geschildert werden wird.

1.1Forschungsstand

Für die vorliegende Studie war der Forschungsstand aus vier verschiedenen Themengebieten leitend und stellt den Ausgangspunkt für diese Untersuchungen dar. Diese vier Bereiche setzen sich zusammen aus (1) Alltag und Eigensinn, der (2) Geschichte der DDR im Allgemeinen sowie der Geschichte der DDR-Medien im Speziellen, der (3) Geschichte des Sports in der DDR und den (4) Erzählungen vieler begeisterter Laien.

1.1.1Alltag und Eigen-Sinn

Wer von Eigen-Sinn/Eigensinn3 schreibt, schreibt auch von Alf Lüdtke. Der 2019 verstorbene Göttinger Historiker darf fraglos als die maßgebliche Instanz für diesen Zugang zur Alltagsgeschichte angesehen werden, auch wenn er dies im persönlichen Gespräch gerne bestritt und stets auf die Offenheit des Konzepts verwies. Bereits frühe Studien, in denen Lüdtke Eigensinn als Konzept erarbeitete, sind von der Frage getragen, wie Menschen in Diktaturen und autoritären Regimen ihren Alltag gestalteten. Seine Studien zu Fabrikarbeitern sind hierbei exemplarisch zu nennen.4 Seine zehnteilige Aufsatzsammlung zum Eigensinn5 aus dem Jahr 1993 darf mittlerweile als moderner Klassiker der Geschichtswissenschaft bezeichnet werden, der zuletzt im Jahr 2015 mit ergänzenden Bemerkungen versehen6 und neu aufgelegt wurde. Diese Sammlung ist dabei für die Untersuchung des Breitensports in der DDR in zweierlei Perspektive leitend gewesen: Zum einen ist die Frage nach eigensinnigem Verhalten und Freiräumen in einer Diktatur auch für die Suche nach Sphären von Öffentlichkeit als überaus hilfreich zu erachten, zum anderen verstand es Lüdtke, seine Konzepte durch eine Kollage von Beobachtungen nebensächlich wirkender Aspekte des Arbeiteralltags zu belegen. Eine seiner letzten Studien, an der er bis zu seinem Tod arbeitete, eine Edition des »Aufschreibebuchs« des Krupp-Arbeiters Paul Maik, ist hier ein mustergültiges Beispiel.7 Die Verbindung von Denkansätzen aus Soziologie, Ethnologie und der Anthropologie mit denen der Geschichtswissenschaft zur historischen Anthropologie waren für die Untersuchung des Breitensports inspirierend und leitend. Auch Lüdtkes Überlegungen zur Beschreibung von Alltag, die er bis zuletzt verfeinerte, hatten diesen Einfluss und wurden zu einem wichtigen Baustein dieser Arbeit.8 Er gehörte, betrachtet man seine Forschungen wissenschaftshistorisch, zur ersten Generation dieser Denkrichtung. Als weitere Akteure sind hier Hans Medick, mit dem Lüdtke die Arbeitsstelle für Historische Anthropologie des Max-Planck-Instituts für Geschichte an der Universität Erfurt gründete, Oskar Negt und Alexander Kluge zu nennen. Letzte legten mit ihrem zutiefst eigensinnigen Buch »Geschichte und Eigensinn«9 einen zugleich widerspenstigen und trotzdem hoch inspirierenden Beitrag vor. Beide sahen ebenfalls die Anknüpfungspunkte von Öffentlichkeit und Sphären von Öffentlichkeit, wozu sie auch ihre Forschungsergebnisse publizierten.10

In der zweiten Generation derer, die sich mit Alltagsgeschichte und Eigensinn befassten und befassen, ist zu allererst Thomas Lindenberger zu nennen, der gemeinsam mit Michael Wildt und Belinda Davis 2009 die Festschrift zu Lüdtkes 65. Geburtstag verantwortete, die unter dem Titel »Alltag, Erfahrung, Eigensinn« stand.11 Insbesondere die stärkere Ausrichtung der Erforschung von Alltag und Eigensinn als Beitrag zur DDR-Geschichte, bei der Eigensinn oftmals nicht explizit genannt wird, jedoch als Grundannahme anzusehen ist, zeichnet diese Generation aus. Lindenbergers Sammelband »Herrschaft und Eigen-Sinn in der Diktatur« aus dem Jahr 1999 darf dabei als Musterbeispiel gelten. Seine Arbeiten zur Alltagsgeschichte der DDR haben noch immer eine hohe Gültigkeit.12

Zuletzt erschienen Arbeiten,13 die im Dunstkreis dieser Entwicklung entstanden, Alltag, Eigensinn und eine Diktatur als Gerüst annahmen und dieses um eine oder mehrere Facetten ergänzten und bei denen die Anleihen an die Arbeiten von Alf Lüdtke deutlich zu erkennen sind. Zudem fanden in den letzten Jahren Tagungen statt, die sich dezidiert mit Eigensinn14 oder neuen Ansätzen der DDR-Geschichte befassten, weswegen anzunehmen ist, dass weitere Forschungen in diesem Gebiet zu erwarten sind. Erste Studien sind aus diesem Dunstkreis bereits erschienen und zeigen, wie die Studie von Matěj Kotalík,15 eindeutige Anleihen an Lüdtkes Konzept.

1.1.2Geschichte der DDR

Eine alltagsgeschichtliche Perspektive auf die DDR ist keine neue Entwicklung, sondern liegt in der langen Tradition biographischer Erzählungen begründet. Mischformen dieser Erzählungen wie Stefans Wolles Trilogie16 zur Geschichte der DDR sind neben den politik- und sozialgeschichtlichen Studien zum Osten Deutschlands zu sehen. Die Arbeiten und Herausgeberschaften Hermann Webers,17 der die Geschichte der DDR in die Geschichte von Kommunismus und Sozialismus einzuordnen wusste, oder Jürgen Kockas,18 dessen Blickwinkel aus der Historischen Sozialwissenschaft der »Bielefelder Schule« neue Perspektiven auf die DDR eröffnete, sind für die Geschichte der DDR als maßgeblich zu erachten. Wie nicht anders zu erwarten, wurden in jüngster Zeit zunehmend Teilaspekte und kleinere Organisationseinheiten aus der DDR erforscht, die in vorherigen Abhandlungen bestenfalls kursorisch behandelt worden waren.19

Einen sehr großen Anteil an der geschichtswissenschaftlichen Forschung zur DDR bilden Arbeiten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur im Allgemeinen und der Stasi-Verbrechen im Speziellen. Dieser bedrückende Komplex der Aufarbeitung, der im Rahmen der vorliegenden Arbeit nur als untergeordneter, aber stets mitzudenkender Aspekt zum Tragen kommt, lieferte mannigfaltige und hervorragende Publikationen. Ilko-Sascha Kowalczuks Studie »Stasi konkret«20 ist hier zu nennen, ebenso Jens Giesekes Standardwerk »Die Stasi«.21 Insbesondere der Bereich der Opfergeschichte bleibt, obwohl er in dieser Arbeit nur am Rande angeschnitten werden wird, ein eindrückliches Beispiel für die Notwendigkeit fortwährender Beschäftigung mit der deutschen Nachkriegsdiktatur. Die Geschichte von Misstrauen gegenüber den eigenen Bürgern, einem verbrecherisch agierenden Geheimdienst und dem Unrecht, das vielen Menschen widerfahren ist, ist für immer untrennbar mit der Geschichte der DDR verbunden. Sie gehört stets mitgedacht – auch in der vorliegenden Arbeit, auch in positiven Teilaspekten und auch in Bereichen, die auf einen ersten Blick unpolitisch wirken mögen.

Wichtige Grundlage für einen weiten Teil dieser Arbeit ist die Geschichte der DDR-Presse. Die Forschungslage zur Struktur und zum Wesen der DDR-Presse, explizit außerhalb des Forschungsfeldes der Politisierung, ist überaus dünn. Besonders trifft dieser Befund zu, wenn man sich von den Schlaglichtern der Presselandschaft der DDR, wie dem Neuen Deutschland entfernt, sich lokalen Medien zuwendet oder nicht dem Ansatz der vollständigen Durchherrschung zustimmt. Eine gelungene Ausnahme bildet hierbei die Studie von Dorothee Harber zur Bezirkspresse der DDR,22 die einen Einblick in die Presselandschaft der DDR abseits des Neuen Deutschlands ermöglicht. Insbesondere hinsichtlich des Verhältnisses von Presse zu Partei(en) bietet diese Arbeit wertvolle Einblicke, wobei einige Teile der Studie nur ein geringes Maß an Belegen aufweisen.23 Vor allem liegt der Arbeit aber ein Mangel zu Grunde, der auch nahezu alle anderen Arbeiten zur DDR-Pressegeschichte belastet: Neben der Frage, was beabsichtigt war, was durchgesetzt werden sollte und welcher Druck dazu aufgebaut wurde, erscheint doch eigentlich die Frage, ob diese Pläne auch von den Lesern rezipiert wurden. Hierzu fehlen bislang leider weiterführende Forschungen. Auch für diesen Bereich der DDR-Geschichte ist augenfällig, dass viele Studien als teleologische Erzählungen auf das Ende der DDR zulaufen.24 Am ehesten nähert sich die Studie zu Leserbriefen in DDR-Tageszeitungen25 von Ellen Bos dieser Perspektive an, in der sie mit teils quantitativ ausgerichteter Methodik vermag, sich von der sonst üblichen Zentralperspektive zu lösen. Als ebenfalls lesenswerte Lektüre empfiehlt sich die 2011 erschienene Studie »Fiktionen für das Volk«,26 in der in zahlreichen Fallstudien Einblicke in den Pressebetrieb der DDR geschaffen wurden, sowie die Studie »Zensur ohne Zensor«,27 die einen Eindruck vom Agitations- und Propaganda-Betrieb der DDR vermittelt.

1.1.3Sport in der DDR

Sport hatte in der DDR einen hohen Stellenwert. Daher ist es wenig verwunderlich wie auch begrüßenswert zugleich, dass zahlreiche Studien zur Sportgeschichte dieses Landes vorliegen, die viele unterschiedliche Perspektiven abbilden und einen umfassenden Blick auf das sportliche Treiben in der DDR zulassen. Für die DDR-Sportgeschichte liegen einige Quelleneditionen vor. Exemplarisch sind hier die »Schlüsseldokumente zum DDR-Sport«28 und »Die Sportbeschlüsse des Politbüros«29 sowie die anschließende Publikation »Der Sport in der DDR«30 zu nennen. Alle drei Publikationen stammen aus der Feder des Potsdamer Sporthistorikers Hans Joachim Teichler, dessen Verdienst für die Sportgeschichte unumstritten ist und aus dessen Umfeld zahlreiche Studien31 hervorgingen. An dieser Stelle sind vor allem die zahlreichen, meist hervorragenden Studien von Jutta Braun zu nennen.32

Jedoch liegen, einen später zu erwähnenden Sonderfall ausgenommen, kaum Studien zum Breitensport in der DDR vor. Die vielfältige Geschichte des Kegelns in der DDR ist nicht erforscht, obwohl im Bundesarchiv Material zum Sportverband der Kegler vorliegt, das über seine Verknüpfung mit dem DTSB Aufschluss geben kann.33 Auch die facettenreiche Welt der Teildisziplinen um Bohlebahn, Bowlingbahn und Asphaltkegeln, nicht zu verwechseln mit dem vor allem in Norddeutschland auf Landstraßen durchgeführten »Boßeln«, ist noch unerforscht.34 Die Erforschung der Geschichte des Handballs in der DDR35 gleicht bestenfalls einem Flickenteppich, die Geschichte des Turnens in der DDR36 besteht bislang lediglich als Geschichte des Leistungssports. Nur der Fußball in seiner alles dominierenden Art und Weise sticht hier positiv hervor, wobei auch hier die Forschung bislang vor allem den Oberligafußball37 und weniger den Breitensport38 in den Blick nahm. Da diese Arbeit nicht als Kompendium des Breitensports in der DDR angelegt ist, bleibt diese Forschung weiterhin anderen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern überlassen. Die Studie zu Sport bei Stahl Brandenburg von Uta Klaedtke,39 in der Phänomene des Alltagssports mit regionalem Bezug geschildert werden, ist zuletzt als ein mustergültiges Beispiel für eine gelungene Untersuchung dieses Themenfeldes zu nennen, an die es sich anzuknüpfen lohnt.

1.1.4Sonderfall »Erzählungen«

Eine Arbeit, die sich auch um eine Perspektive »von unten«, also aus den Reihen der Breitensportlerinnen und Breitensportler, bemüht, ist auf eine besondere Form der historischen Forschung angewiesen: auf die Erzählungen Einzelner zu ihrem Leben, zu ihrer Heimat oder zu einzelnen Erlebnissen. Diese Erzählungen sind, selbst wenn man sie als Interview in die eigene Studie integriert, von höchst unterschiedlicher Qualität und noch unterschiedlicherem Nutzen.

Eine der interessantesten Erzählungen zur Geschichte des Sports in der DDR findet sich in der Geschichte des Windsurfens von Heinz Schäfer.40 Schäfers Perspektive auf das Windsurfen ist dabei eine teils autobiographische, jedoch an vielen Stellen verifizierbare Geschichte. Sie bildet einen wichtigen Einblick in die Anfänge dieser Sportart. Ebenfalls von großer Bedeutung für diese Arbeit ist die Chronik des Rostocker Ruderclubs,41 die anlässlich des 125. Jahres seines Bestehens verfasst wurde. Sie ist exemplarisch für viele Chroniken, die landein, landaus verfasst wurden und im Sinne einer Faktenbasis für weitere Forschungen unerlässlich sind. Fraglos genügen sie nicht höchsten wissenschaftlichen Standards, doch sind sie fast immer nach bestem Wissen und Gewissen verfasst und bieten dem forschenden Historiker einen validen Einstieg in die Geschichte einer Region, die er zuvor oftmals nicht betreten hat und die auch abseits aller wissenschaftlichen Standardwerke existiert.

1.2Breitensport als Forschungsgegenstand

Zahlreiche geschichtswissenschaftliche Arbeiten befassten sich bereits mit dem Sport in der DDR, zielten jedoch auf den Leistungssport.42 Verglichen damit sind die Untersuchungen zum Breitensport merklich in der Unterzahl. Weshalb bei der vorliegenden Untersuchung aber der Breitensport im Zentrum steht und worin der Unterschied zwischen Breiten- und Leistungssport hinsichtlich des hier untersuchten Gegenstandes, der Öffentlichkeit, liegt, wird nachfolgend beschrieben werden:

Breitensport ist eine Bezeichnung, die im impliziten Gegensatz zum Leistungssport verstanden wird. Der Breitensport ließe sich auch treffend als Freizeitsport beschreiben, da er zumeist neben der Berufstätigkeit ausgeübt wird. Allerdings ist es auch möglich, dass Leistungssport neben einer Berufstätigkeit betrieben wird oder aus finanziellen Gründen betrieben werden muss. Eine dahingehende Unterscheidung war und ist deshalb nicht trennscharf. Auch der Trennung in wettkampforientierten und nicht-wettkampforientierten Sport fehlt diese Trennschärfe. Die Sportwissenschaft geht für den Breitensport jedoch von einem »weiten Sportverständnis aus, das Wettkämpfe auf unterem und mittlerem Niveau mit einschließt«.43 Ein hohes Wettkampfniveau wäre demnach ein Hinweis auf Leistungssport. Im Gegensatz zum Leistungssport, der sich jedoch definitiv durch den Vergleich mit anderen Athleten auszeichnet, ist es im Breitensport möglich, den Sport um seiner selbst willen, wie beispielweise beim Wandern, zu betreiben.

Ebenfalls ungeeignet für die Unterscheidung zwischen Breiten- und Leistungssport ist der finanzielle Gewinn durch Sport. So muss ein Leistungssportler nicht zwingend finanziell von seinem Sport profitieren. Jedoch sind höhere Prämien und Gehälter ein untrügliches Zeichen für einen stark kompetitiven Ansatz und damit ein Hinweis auf die professionelle, sprich berufliche, Ausübung des Sports. Menschen, die ihren Lebensunterhalt mit Sport bestreiten, sind nicht als Breitensportler anzusehen.

Weitere Synonyme und nicht scharf abgrenzbare Bezeichnungen für den Breitensport sind der Amateursport, der Volkssport, der Basissport, der Massensport oder auch der Trend- beziehungsweise Funsport. In der DDR waren zumeist die Bezeichnungen Breitensport oder Volkssport gebräuchlich. Als Arbeitsdefinition wird im Folgenden bei der Bezeichnung »Breitensport« davon ausgegangen, dass der betreffende Personenkreis den Sport neben seiner Berufstätigkeit in seiner Freizeit ausübte und dafür nicht oder nur geringfügig entlohnt wurde. Die Bezeichnung »Amateur« wird synonym hierzu verwendet werden. Inwieweit sich der Begriff damit an bestehende Deutungsmuster um den Begriff Breitensport anschließt und inwieweit der DDR-Breitensport Facetten abbildete, die für die DDR originär waren, ist eine der Fragen, die zu beantworten sein wird.

Gemeinhin geht man beim Verhältnis zwischen Breiten- und Leistungssport davon aus, dass sich die Leistungssportler als besonders talentierte Sportler ihrer Sportart ausgezeichnet haben und deshalb vom Breiten- in den Leistungssport wechselten. Jedoch wurde dieses Verhältnis, das vor allem auf einer weitestgehend zufälligen und unstrukturierten Bestenauswahl fußte, in der der DDR ausgehebelt. Das dortige Sichtungs- und Ausbildungssystem, auf das im späteren Verlauf eingegangen werden wird, untergrub diese allgemein akzeptierte Aufteilung. Dieses Sichtungssystem, das bestimmte Jugendliche und Kinder aus der Gemeinschaft der Breitensportler auswählte und dann dem Leistungssport zuführte, war eines der Merkmale, das den ost- vom westdeutschen Breitensport unterschied. Der Breitensport war damit in der DDR die unterste der drei Stufen »Breitensport«, »Leistungssport« und »Spitzensport«. Dabei teilte sich Sport aus Sicht der Verantwortlichen in der DDR in vier thematische Bereiche: Leistungs- und Spitzensport, Sport im Erziehungssystem, Sport als Gesundheits-, Freizeit- oder auch Erholungssport und den Wehrsport,44 von denen jedoch nur der erstgenannte Bereich zum Spitzensport und die beiden folgenden Bereiche zum Leistungssport durchlässig waren. Dem Wehrsport kam vielmehr die pragmatisch-praktische Aufgabe der Wehrertüchtigung zu. Als zum Breitensport zugehörig wird im Folgenden nur der Freizeit-, Gesundheits- und Erholungssport genauer als Teil des Breitensports untersucht werden. Er war in dieser Reihung die einzige Erscheinungsform des Sports, dessen Antriebsfeder maßgeblich die Freiwilligkeit war, was in dieser Studie das bestimmende Kriterium für die Klassifizierung als Breitensport sein soll.

In der Lebenspraxis der DDR erwies sich diese Freiwilligkeit als Anlass für Aushandlungsprozesse, denn Breitensport war ein freiwilliger Teil des Alltags der Menschen in der DDR: er war Teil der Frei-Zeit, also des Teils des Tages, über den man frei und eigensinnig verfügen konnte. Zwar wurde in offizieller Lesart der Freizeit- und Erholungssport keinesfalls als vollkommen frei angesehen, sondern sollte gesamtgesellschaftlichen Zielen, wie der Erhaltung der individuellen Arbeitskraft und der Kontrolle der Arbeitenden in ihrer Freizeit, dienen.45 Doch wird gezeigt werden, dass sich dieser Anspruch nicht mit der Lebenswelt der Sporttreibenden deckte, was der Parteiführung und der DDR-Sportwissenschaft, dies sei der Vollständigkeit halber erwähnt, vollends bewusst war.46 Vielmehr war diese Diskrepanz zwischen sozialistischem Anspruchsdenken und Lebenswelt der Punkt, an dem mit der ideologischen Durchdringung der Freizeit angesetzt werden sollte.

Wie die Arbeit, so bildete auch die Freizeit in der sozialistischen DDR einen nicht unerheblichen Teil des Tages. Zwar schrieb der SMAD-Befehl Nr. 56 vom 17. Februar 1946 bei einer Fünf-Tage-Woche eine tägliche Arbeitszeit von acht Stunden vor,47 doch blieb damit noch genug Zeit für Sport. Zudem war der Sport in der DDR, dazu ebenfalls im weiteren Verlauf der Studie mehr, im Zuge der »Umstellung auf Produktionsbasis«48 1950 an die Betriebe angeknüpft worden. Die Einheit von Sport und Arbeit als wichtige Teile des gemeinsamen und gemeinschaftlichen Alltagslebens fand in der Bezeichnung »Betriebssportgemeinschaft« ihren Ausdruck.

Wie viel Raum der Sport in der DDR im Alltagsleben einnahm und wie sehr sein Einfluss wuchs, lässt sich nicht nur aus der Zahl der Sporttreibenden ableiten, auch die infrastrukturellen Rahmenbedingungen geben einen bestechend scharfen Einblick in die Entwicklung des ostdeutschen Breitensports und seinen Stellenwert. Seit 1952, so wies es das Statistische Jahrbuch der DDR aus, war die Anzahl der Sportstätten enorm angestiegen. Die Zahl der Sportstadien49 stieg von 122 im Jahr 1952, dem ersten Jahr der statistischen Erfassung, auf 303 im Jahr 1974. Die für den Breitensport besonders wichtige Anzahl der Sportplätze50 blieb jedoch nahezu konstant und erhöhte sich nur leicht von 900 im Jahr 1952 auf 1010 im Jahr 1974. Anders stellte sich dies bei weiteren sportinfrastrukturellen Projekten dar: Die Zahl der Kleinsportanlagen51 stieg von 3621 im Jahr 1955 auf 8668 Anlagen an, wobei allein zwischen 1955 und 1960 über 1700 Anlagen neu gebaut wurden. Die Anzahl der Hallenschwimmbäder stieg im gleichen Zeitraum von 47 auf 129 und die Anzahl der Schwimmstadien52 wuchs von 222 auf 605.53 Dies ist deshalb bemerkenswert, weil daran zu erkennen ist, wie der Schwimmsport in der DDR von planender Seite her eingeschätzt wurde. Die Mehrzahl der umbauten Schwimmstätten in der DDR war dazu geeignet, dass das Schwimmen dort vor Publikum stattfinden konnte. Dies verweist zumindest indirekt darauf, dass diese Bauten auch Sportstätten und nicht nur Erholungsorte waren. Auch deutet die Stagnation im Bereich der Sportplätze im Vergleich zum Ausbau anderer Sportstätten darauf hin, dass ein Wachstum in der Vielfalt der Sportarten seitens der planenden Stellen gewünscht wurde.

Flankiert wurde der infrastrukturelle Ausbau des Sports zudem vom Ausbau und der Einrichtung von Sportheimen und Clubräumen. Dies ist für die Frage nach dem Zusammenhang von Öffentlichkeiten und Sport dahingehend relevant, da sich dort bei der Zusammenkunft der Sportler jene Räume diskursiver Meinungsbildung auftaten, die es zu untersuchen gilt. Die Zahl besagter Räumlichkeiten stieg, wie auch die Zahl der Sportstätten im Allgemeinen, rasch an. Gab es in der DDR 1952 nur 765 Sportheime und Bootshäuser, so wuchs ihre Zahl bis 1974 auf immerhin 2913.54 Die Zahl dieser Räumlichkeiten, die keine Privaträume waren, die aber auch nicht mit einem Arbeitsplatz, einer Schule oder einem Theater zu vergleichen waren, war sehr hoch. Zugleich waren es diese Räumlichkeiten, die vor allem den Breitensportlern ein sportliches Heim boten. Insbesondere für die ideologische Schulung und den Erholungscharakter des Sports waren derartige Räumlichkeiten unentbehrlich. Sie ermöglichten neben ihrem eigentlichen Zweck, dem Wechsel der Kleidung, der Benutzung von sanitären Anlagen und der Lagerung von Sportgeräten aller Art, auch den gemeinsamen Aufenthalt vor oder nach der gemeinsamen sportlichen Betätigung und das gesellige Beisammensein. Im Sinne einer sozialistischen Ausübung des Sports wäre in diesen Räumlichkeiten der Platz geschaffen worden, an dem sich die Sporttreibenden über Politik und ihre Ziele beim Aufbau des Sozialismus hätten austauschen sollen. Es wären die Orte gewesen, an denen die integrativen Praktiken des Kollektivs ihre Wirkung gegenüber dem Individuum entfaltet hätten, weshalb die enorme Bautätigkeit auf diesem Gebiet nicht nur als notwendiger Sportstättenausbau, sondern auch im Hinblick auf grundsätzliche politikdidaktische Konzepte zu interpretieren ist.

Auch wenn dieser Aspekt bislang in der Sportgeschichte nicht betrachtet wurde, ist ihm eine große Bedeutung für die Interpretation des Breitensports beizumessen, was auch von anderen Überlegungen unterstützt wird: Breitensportlerinnen und -sportler bilden nicht die Mehrheit der Bevölkerung, auch war diese Gruppe sicherlich nicht repräsentativ, doch war die Gruppe derer, die in ihrer Freizeit Sport trieben, groß: 1974 trieben etwa 2,5 Millionen Menschen in der DDR organisiert Sport.55 Inwieweit diese Sportler ihre angedachte politische Rolle einnahmen, inwieweit sie in Freiräumen manövrierten und wie sich Öffentlichkeiten in diesem Rahmen beschreiben lassen, wird im Folgenden aufgezeigt werden und ist ein zentraler Gegenstand dieser Studie.

Die Relevanz des Untersuchungsgegenstandes »Breitensport« wird darüber hinaus durch seine breite Rezeption deutlich. Wendet man den Blick von den aktiv Sporttreibenden ab und lässt ihn auf das weite Feld der Sportbeobachter und Sportinteressierten schweifen, so ist unverkennbar, welche Bedeutung Sport in der DDR hatte. Zwar berichteten Sportzeitungen zumeist über Leistungs- und Spitzensport, weshalb ihr Absatz nicht direkter Beleg für ein Interesse am Breitesport ist, doch darf bei Lesern dieser Druckerzeugnisse von einem generellen Interesse am Sport ausgegangen werden. Wie im Kapitel zum Sport in der Presse gezeigt werden wird, kann von vielen Tausend wöchentlichen Lesern ausgegangen werden, deren Meinung in vielen Fällen durch mehr oder minder gezielt veröffentlichte Artikel gelenkt werden sollte.

1.3Öffentlichkeit als Forschungsgegenstand

Öffentlichkeit ist der zentrale Begriff beim Verständnis von Informationsströmen innerhalb der ostdeutschen Nachkriegsdiktatur.56 So häufig er genutzt wird, so sehr entzog er sich auch einer Definition. Es gebietet die Demut vor dem Begriff und der jahre- oder jahrzehntelangen Arbeit intellektueller Größen wie Jürgen Habermas,57 Hannah Arendt58 und Ernst Manheim59 an dieser Stelle nicht zu behaupten, man könne im zur Verfügung stehenden Rahmen auch nur eine im Ansatz umfassende Beschreibung dieses Begriffs leisten.60 Und doch wird hier der Versuch unternommen werden, ein Konzept für »Öffentlichkeit« zu vermitteln, das ausreichend belastbar ist, um auch zukünftig Quellen und Literatur daran anordnen zu können.

Muss man sich kurzfassen, genügt dazu die Beschreibung von Jürgen Habermas von Öffentlichkeit als eine »Sphäre der zum Publikum versammelten Privatleute«.61 Möchte man es dabei aber nicht belassen, sondern sich an der Anwendung am historischen Gegenstand versuchen, setzt eben diese kurze, wie gleichsam auch belastbare Beschreibung eine hohe Kontextualisierung voraus, an der sich im Folgenden versucht werden wird.

Die »Sphäre der zum Publikum versammelten Privatleute« teilt sich bei Habermas in mindestens eine staatlich-verwaltungstechnische Öffentlichkeit auf der einen Seite und mindestens eine nicht-staatliche Öffentlichkeit auf der anderen Seite, die ihrerseits durch die Zivilgesellschaft hergestellt und gepflegt wird. Für solche nicht-staatlichen Öffentlichkeiten gab Habermas zahlreiche Beispiele, aus denen schon bei einem ersten Blick hervor geht, dass sie auch für geschichtswissenschaftliche Untersuchungen von überaus hoher Anknüpfungsfähigkeit sein müssen. So könne Öffentlichkeit ein

»Netzwerk für die Kommunikation von Inhalten und Stellungnahmen [sein, d. Verf.], das sich nach der Kommunikationsdichte, der Organisationskomplexität, und Reichweite nach Ebenen differenziert, von der episodischen Kneipen-, Kaffeehaus- oder Straßenöffentlichkeit über die veranstaltete Präsenzöffentlichkeit von Theateraufführungen, Elternabenden, Rockkonzerten, Parteiversammlungen oder Kirchentagen bis zu der abstrakten, über Massenmedien hergestellten Öffentlichkeit.«62

Anknüpfend an die vorherigen Ausführungen zum Breitensport in der DDR sollte deutlich geworden ein, dass nicht die Kaffeehäuser in der DDR im Zentrum der Untersuchung stehen werden. Vielmehr werden Öffentlichkeiten im Blickpunkt der Untersuchung stehen, die sich im und aus dem Umfeld der Sporttreibenden ergeben. Vereinfacht könnte man diese Öffentlichkeiten daher »Sportöffentlichkeiten« oder auch, trotz der fehlenden Rechtsform des »Vereins« in der SBZ und der DDR, »Vereinsöffentlichkeiten« nennen. Diese Öffentlichkeiten können episodisch gewesen sein, was sie vor allem zeitlich definieren würde oder sie können Präsenzöffentlichkeiten gewesen sein, was sie vor allem über den anwesenden und nicht-anwesenden Personenkreis definieren würde. Diese Öffentlichkeiten interagierten mit den durch Massenmedien hergestellten Öffentlichkeiten, welche im Fall der DDR wiederum institutionell geprägt und damit häufig Teil der zuvor nur angerissenen staatlich-verwaltungstechnischen Öffentlichkeit waren. Im Rahmen dieser Studie wird Öffentlichkeit dabei nicht als Gegenöffentlichkeit verstanden werden, da diese nur eine Ausformung nebeneinander existierender Öffentlichkeiten und damit nur ein Fragment innerhalb des von Jürgen Habermas vertretenden Modells ist.

Ein besonderer Fall der verschiedenen Öffentlichkeiten ist die oftmals in der Forschung bemühte Gegenöffentlichkeit, die insbesondere bei der Interpretation der Öffentlichkeiten in Diktaturen und anderen autoritären Systemen sowie im Bereich der Pressegeschichte auf eine gewisse Prominenz in der Forschung zurückblicken kann.63 Als methodische Grundlage für den Begriff der Gegenöffentlichkeit haben sich Alexander Kluges und Oskar Negts Überlegungen erwiesen,64 in deren Auslegung die Gegenöffentlichkeit nicht mit den Teilöffentlichkeiten bricht, sondern sie vielmehr als Facette von »plebejischer Öffentlichkeit«65 begreift.

1.4Das Konzept »Eigensinn«

Möchte man sich von »Öffentlichkeit(en)« als reinem Konzept lösen und die dazu bestehende soziologisch-philosophisch dominierte Grundlagenforschung mit dem Schicksal einzelner historischer Akteure verknüpfen, bedarf es eines Anschlusses an die historische Lebenswelt eben jener Akteure. Nun gilt es hierbei zwischen einer mikroskopischen Aufsicht auf den Forschungsgegenstand Mensch, die sich Pierre Bourdieus Habitus-Konzept zu eigen macht, und einer Erzählung, die bei aller sozialgeschichtlichen Theorie das Individuum als Objekt fremder Mächte begreift, die Balance zu wahren. Um diese Verknüpfung zu schaffen, wird sich des Konzepts Eigensinn bedient werden.

Doch nicht nur über dieses Konzept dieser Arbeit sind Eigensinn und Öffentlichkeit miteinander verknüpft. Auch wissenschaftsgeschichtlich sind diese beiden Denkfiguren miteinander verknüpft: Noch vor Alf Lüdtke widmeten sich Oskar Negt und Alexander Kluge diesem Konzept und benannten ihr theoretisches Hauptwerk »Geschichte und Eigensinn«.66 Über dessen Inhalt, der als zutiefst eigensinnig bezeichnet werden darf,67 hinaus verbindet dieses Werk auch in personeller Form das Eigensinn-Konzept mit der Deutung von Öffentlichkeiten von Jürgen Habermas. Oskar Negt war von 1962 bis 1970 Assistent von Habermas an den Universitäten in Heidelberg und Frankfurt am Main, Alexander Kluge wurde ebenfalls im Umfeld des Frankfurter Instituts für Sozialforschung akademisch sozialisiert. Beide bilden sowohl biographisch als auch mit ihrer wissenschaftlichen Arbeit die Verknüpfung der beiden Konzepte vollumfänglich aus. So schrieb Alexander Kluge zum Entstehungshintergrund des gemeinsamen, 1283 Seiten umfassenden Hauptwerks:

»Das theoretische Hauptwerk Geschichte und Eigensinn ist eine Fortsetzung der Kritischen Theorie mit dekonstruktivem Charakter. Die Autoren lesen die klassischen Texte (vor allem Marx) als Spuren und entwickeln daraus eine ›Ökonomie der Arbeitskraft‹ oder der ›menschlichen Eigenschaften‹, ohne deren ›Eigensinn‹ Geschichtsprozesse nicht zu verstehen sind. Der aktuelle Anlass dieses Buches war der ›Deutsche Herbst‹ 1977, als die Bundesrepublik Züge eines Polizeistaates anzunehmen begann. Aus diesem Motiv ist insbesondere der zweite Teil, die Vertiefung in die deutsche Geschichte (›Deutschland als Produktionsöffentlichkeit‹) erwachsen. Der dritte Teil (›Gewalt des Zusammenhangs‹) untersucht die Geschichte und den besonderen Eigensinn von Krieg und Liebe (›Beziehungsverhältnisse‹).«68

Die formalen Parallelen zur späteren Nutzung des Eigensinn-Konzepts sind dabei offensichtlich Eigenschaften, die auch unter Lüdtkes Blickwinkel die Beschäftigung mit dem Eigensinn, insbesondere in den ersten Werken, prägen sollten. So sind bereits im Hintergrund von Negts und Kluges Hauptwerk, das Walter van Rossum in seiner Rezension für die Die Zeit eine »Spielanleitung in Theorie«69 nannte, angelegt: Es waren die Nähe zu Polizei und staatlicher Gewalt, die Lüdtke später aufgreifen sollte,70 sowie das Individuum im Verhältnis zur »Ökonomie der Arbeitskraft« und der »menschlichen Eigenschaften«, wie sie später in Lüdtkes Studien zu Fabrikarbeitern einen Platz fanden.71 Ganz im Gegensatz zu den späteren Arbeiten Lüdtkes ist Negts und Kluges Arbeit weniger als eine detaillierte geschichtswissenschaftliche Studie und vielmehr als ein sich explorativ erschießendes, in sich selbst eigensinniges Werk zu verstehen, das sich in die weiteren Arbeiten der beiden Autoren nahtlos einreiht.72

Wie sich der Zusammenhang von Eigensinn und Öffentlichkeit im Detail darstellt, gilt es nun zu zeigen. Dabei wird dargestellt werden, warum die Beschreibung des Rückzugs ins Private einen Wert für die Beschreibung von Öffentlichkeit hat.

1.4.1Eigensinn und Öffentlichkeit

»Die Beobachtung des Verhaltens von Individuen und von Gruppen zeigt, dass das Entweder-Oder von Zustimmen/Mitmachen oder Widerstehen fehl geht. Das Mitmachen mit zusammengebissenen Zähnen, jene widerwillige Loyalität, die nach 1915/16 mehr und mehr in den am Krieg beteiligten Gesellschaften in Europa überwog, und die – in eigener Form – seit den 1950er Jahren in der DDR eine Grundlinie des Verhaltens wurde, erforderte als Gegengewicht eine gehörige Dosis E[igensinn, d. Verf.].«73

Kaum ein Phänomen weist eine derart hohe Diskrepanz zwischen gesellschaftlichem Auftreten und geschichtswissenschaftlicher Erforschung auf, wie dies beim Phänomen Eigensinn festzustellen ist. Die wegweisenden Arbeiten von Alf Lüdtke ausgenommen,74 findet dieses Phänomen, gerade im Bereich der DDR-Forschung, bislang wenig Aufmerksamkeit.75 Eigensinn beschreibt, insbesondere auch im Gegensatz zum Sphären-Modell, einen entscheidenden Teil des gegensätzlich zum Öffentlichen gelagerten Privaten. Inmitten des Öffentlichen stellt das Private den Kern einer jeden Gesellschaft dar. Als Atom, das im Wortsinn »unteilbare (ἄτομος) Grundteilchen«, ist es die Grundlage des zuvor beschriebenen Sphärenmodells, also der Sphäre der »zum Publikum versammelten Privatleute«.76 Dabei ist es zugleich der Schlüssel zu Konzepten wie Authentizität, Herrschafts-Wirkung und -Legitimation. Die Bedeutung, die dem Privaten für die Öffentlichkeit in dieser Arbeit zugemessen wird, beruht dabei maßgeblich auf dem Anschluss an das Konzept des Eigensinns.

Studien zum Eigensinn eint dabei meist die Tatsache, dass sie diesen nicht explizit nennen. Oftmals befindet sich der Eigensinn, so wie Alf Lüdtke ihn beschrieb, hinter der Verklausulierung einer Alltagsgeschichte.77 Wobei diese Alltagsgeschichten wiederum zumeist auszeichnet, dass sie das Individuum im Zentrum eines größeren Zusammenhangs beschreiben78 und damit methodisch den gleichen Schritt vollziehen, der auch zur Beschreibung von Öffentlichkeiten notwendig ist.

Dabei ist Eigensinn, folgt man Lüdtke in seiner Argumentation, als die persönliche Resistenz gegenüber der zentralen Durchdringung zu verstehen, wobei er keine »Erfindung« moderner Gesellschaften ist: Im Lexikon Geschichtswissenschaft79 zeigte Lüdtke, dass die Wurzel des Begriffs80 im frühen 19. Jahrhundert liegt. Zu dieser Zeit, um 1800, bezeichnete der Eigensinn eine »ungesellige Widerborstigkeit«.81 Diese wenig schmeichelhaft erscheinende Beschreibung verweist auf den heutigen Kern des Begriffs. »Ungesellig« ist hier weniger als eine Abneigung gegenüber gemeinsamen Abendaktivitäten zu sehen, eher verweist es, wie gerade bemerkt, auf das Private oder auch Zurückgezogene. Dies ist auch als Anknüpfung an die »Widerborstigkeit« zu sehen. Eben diese Außenzuschreibung ist nämlich Ausdruck der Unbeherrschbarkeit der Eigensinnigen. Wohlgemerkt handelt es sich, dies sei an dieser Stelle ausdrücklich mit dem Hinweis auf die Perspektive bemerkt, um eine Außenzuschreibung. Die Ungeselligkeit, also die Enthaltsamkeit gegenüber dem Öffentlichen, ist aus der Perspektive des Herrschenden, ganz im Gegensatz zu der trivial anmutenden Begriffserklärung, problematisch und damit das, was dem Eigensinn im Kontext von Polizei-, Diktatur- oder Fabrikgeschichten Relevanz verleiht. Denn, wie Georg Wilhelm Friedrich Hegel es bereits 1807 formulierte, »der eigene Sinn ist Eigensinn, eine Freiheit, welche noch innerhalb der Knechtschaft stehen bleibt.«82 Der Eigensinn ist also zusammenfassend, folgt man dieser Beschreibung frei, der persönliche »Spielraum«, der in einem gesellschaftlichen System bestehen bleibt. Im Hinblick auf die in Sphären auftretenden Teilöffentlichkeiten ist die Enthaltsamkeit gegenüber dem Öffentlichen oder Geselligen, sprich die bereits zitierte »ungesellige Widerborstigkeit«, weiter zu differenzieren und in Teilen auch zu konkretisieren.

Und auch wenn Alf Lüdtkes Auffassung des Eigensinns auf seine Beobachtungen zum frühen 20. Jahrhundert und das zu Ende gehende Kaiserreich zurückgeht, lässt sich diese auf spätere Zeiten übertragen.83 Das Modell rund um Eigensinn und Öffentlichkeiten ist für die DDR dabei auch im Detail zutreffend, was insbesondere deutlich wird, wenn man sich dem Modell in seinen Feinheiten nähert. Es handelt sich bei dem Modell, das die verschiedenen Öffentlichkeiten als Sphäre beschreibt, schließlich nicht um ein einfaches Sender-Empfänger-Modell, bei dem der Empfänger, beeinträchtigt durch das ein oder andere Störgeräusch, die Nachricht des Senders empfängt. Wäre dem so, so würde sich die Frage nach Strukturen des Eigensinns nicht stellen, doch würde es die Möglichkeiten des Individuums zur Selektion der an ihn gerichteten Nachrichten unterschlagen.

Um die Bedeutung des Eigensinns für ein Modell, das sich die Sphären aus dem Konzept von Jürgen Habermas zu eigen macht, zu verdeutlichen, bedarf es einer Verbildlichung dieses Modells: Hierzu kann man sich mit dem Bild eines Venn-Diagramms behelfen. Bei Venn-Diagrammen überlappen sich mehrere Flächen, die zumeist durch Kreise oder Ellipsen dargestellt werden, und Mengen darstellen. Sie überlappen sich und stellen mit diesen Überschneidungen Teilmengen dar. In der Veranschaulichung von Teilöffentlichkeiten kann man auf diese Weise visualisieren, wie sich staatliche und nicht-staatliche Sphären überlappen; Je mehr die staatliche Sphäre die nicht-staatliche Sphäre überlappt, desto größer ist die Überschneidung von Themen in beiden. Ist viel Eigensinn vorhanden, so dringt die staatliche Sphäre nur gering in die persönliche Sphäre vor, ist wenig Eigensinn vorhanden, dann ist die Überlappung größer. Eigensinn und Korrelation, für die die Überlappung steht, verhalten sich zueinander also entgegengesetzt proportional. So individuell die Wirklichkeit ist, so wenig vermögen derartige Modelle auf situative Veränderungen zu reagieren. Trotzdem offenbart dieser Zugang eine ordnende Aufsicht auf das komplexe Konzept von Öffentlichkeiten. Eine Messung, also die Festlegung klarer Werte, ist jedoch auch bei der Nutzung dieses Modells nicht möglich. Trotzdem bietet es eine belastbare Einschätzung.

1.4.2Eigensinn und die Beschreibung der ostdeutschen Nachkriegsdiktatur

Eigensinniges Verhalten ist ein Teil der Lebenswelt, der nicht durchdrungen werden kann. Er ist nicht zu verwechseln mit dem Teil der Lebenswelt, der wegen seiner ihm zugeschriebenen Irrelevanz gar nicht durchdrungen werden sollte. Weil die Durchdringung der Lebenswelt meist medial und nur in der Minderzahl der Fälle durch Gewalt geschehen sollte, kommt dem Eigensinn für die Untersuchung von Teilöffentlichkeiten und damit auch für die Geschichte der DDR eine Schlüsselrolle zu. Zugleich ist die Annahme, dass nicht alle Bereiche der Lebenswelt durchdringbar seien, die Abkehr vom kommunistischen Leviathan,84 denn das Eingeständnis eines nicht-durchdringbaren Bereichs führt den Gedanken des funktionierenden Leviathans ad absurdum.

Hinsichtlich der Stabilität der DDR vermag der Eigensinn und die eigensinnige Lebenswelt der DDR-Bürger zu klären, weshalb die DDR-Gesellschaft über einen langen Zeitraum, von der Mitte der 1950er Jahre bis in die späten 1980er Jahre, weitestgehend von Unruhen verschont blieb. Martin Sabrow formuliert es mit den Worten:

»Man kann davon ausgehen, dass die zweite deutsche Diktatur – anders als die erste – zu keiner Zeit eine stabile Mehrheit in der Bevölkerung hinter sich zu bringen vermochte. Aber offenbar hatte sie zumindest [in diesem Zeitraum, d. Verf.] die Mehrheit der Bevölkerung auch nicht gegen sich, sondern verdankt ihre langjährige politische Stabilität dem Zusammenspiel von Machtpotential und einer vorherrschenden Haltung des Staatsvolks, die zwischen begeisterter Identifizierung und passiver Hinnahme changierte. Besonders nach dem Mauerbau […] fand der Habitus einer als ›missmutige Loyalität‹ oder ›Widerwilligkeit‹ umschriebene Deutungsstarre breite Akzeptanz […].«85

Das, was als missmutige Loyalität oder loyale Widerwilligkeit bezeichnet wurde, deutete auf die gesamtgesellschaftliche und staatliche Bedeutung des Eigensinns für die DDR hin. Die Resistenz gegenüber der Herrschaft und der Rückzug ins Private wurden, so die These, zu herrschaftstragenden Mechanismen. Getragen wird dies auch von der Definition von Herrschaft nach Max Weber, der Herrschaft auf folgende Weise beschrieb:

»Herrschaft: Chance, für einen Befehl Gehorsam zu finden.«86

Sowie im Weiteren:

»[…] für jede Herrschaft ist ein gewisses Minimum von Gehorchenwollen Lebensfrage. Nicht jede Herrschaft bedient sich wirtschaftlicher Mittel noch weniger ist Wirtschaft ihr Zweck[,] aber allerdings braucht sie einen Stab, er muß Interesse an ihr haben, das sind: materielle Interessen, aber ebenso ideologische: Legitimitätsglauben.«87

Weber beschrieb hiermit, wenn auch ohne direkten Bezug zum Phänomen »Eigensinn«, die Grundlagen für eben diesen.

Bekommen beide Säulen Brüche, ist also davon auszugehen, dass der Legitimitätsglaube nicht mehr gegeben und auch das Gehorchenwollen nur noch fragmentarisch vorhanden ist, ist keine legitime Herrschaft mehr möglich. Dies schließt zwar eine Herrschaft durch materielle oder physische Zwänge nicht aus, beschreibt aber gut, weshalb in Teilen der DDR die Verbindung zwischen Bürgerinnen und Bürgern auf der einen sowie der SED auf der anderen Seite als lose zu bezeichnen war. In der Bevölkerung gab es weniger Gehorchenwollen und auch weniger Glauben an die Legitimität als notwendig gewesen wäre, um die Ziele der SED zu erreichen.

Es ist jedoch mit Sicherheit festzustellen, dass die negative Grundausrichtung, die bei den beiden Zitaten zu erkennen ist, nicht in dieser Schärfe zu halten ist. Eigensinn kann auch Ausdruck einer sehr zufriedenen Grundhaltung sein, die wegen ihrer beruhigenden Wirkung politisch-partizipatorische Auswüchse des Eigensinnigen unterbindet. Es muss hierbei weniger eine Zufriedenheit mit den »großen Fragen«, politischen Überzeugungen oder einer Weltanschauung sein. Vielmehr ist die Gewöhnung als eine Etablierung verzerrter Erwartungen zu sehen, die ein zufriedenstellendes Leben in der Diktatur ermöglichte. Besonders die Anknüpfungspunkte zu Begriffen, wie der »Fürsorge-Diktatur«88 oder der »participatory Dictatorship«89 sind an dieser Stelle offensichtlich und verdeutlichen auch die Ablehnung der Opposition als Kern eines solchen Erklärungsmodells. Diese Ambivalenz des Modells, die oftmals auch nur wenig konkrete Ergebnisse ermöglichte, ist dabei Chance und Problem zugleich. Abschließend wird nicht zu beurteilen sein, ob eigensinniges Verhalten sich eher herrschaftsstützend oder herrschaftsuntergrabend ausgewirkt hat. Tendenziell scheint aber, und das wird im weiteren Verlauf der Arbeit gezeigt werden, die zweite Option zu überwiegen.90

1.5Konzepte von Lebenswelt und Alltag

1.5.1Lebenswelt

»Die Wissenschaften, die menschliches Handeln und Denken deuten und erklären wollen, müssen mit einer Beschreibung der Grundstrukturen des vorwissenschaftlichen, für den – in der natürlichen Einstellung verharrenden – Menschen selbstverständlichen Wirklichkeit beginnen. Diese Wirklichkeit ist die alltägliche Lebenswelt.«91

Diese »alltägliche Lebenswelt«, die Schütz und Luckmann zur Wirklichkeit erhoben, stellt die Umgebung dar, in der die Öffentlichkeit als »Sphäre der zum Publikum versammelten Privatleute«92 besteht. Die historische Lebenswelt sei dabei eben die Welt, die der Mensch als »selbstverständliche Wirklichkeit« annimmt. Ohne hier eine Definition der Wahrheit erarbeiten zu können, erscheint eben diese Begriffsbestimmung als belastbar93 und für die konzeptionelle Bestimmung von »Alltag« auch notwendig: So sehr man morgens davon ausgehen kann, dass abends die Sonne wieder untergehen wird, so sehr nahm und nimmt man auch andere Ereignisse und Konditionen als »selbstverständlich« an. Dabei ist die Erfahrung der Schlüssel zu diesem Prozess, denn keinesfalls muss man verstehen, warum die Sonne auf- oder untergeht. Für eine alltägliche Zukunftsprognose genügt und genügte ein Rückgriff auf eigene oder tradierte Erfahrung. Beispielsweise konnte man in der DDR seit der Mitte der 1950er Jahre aus seiner Erfahrung schließen, dass man am nächsten Tag in derselben Staatsform leben würde, in der man gegenwärtig lebte. Dass zwischen Lebenswelt und Erfahrung also ein starker Zusammenhang besteht, ist plausibel. Wie sich dabei die Lebenswelt des Akteurs zusammensetzte, beruhte maßgeblich auf den Erfahrungen, die er zuvor gemacht hatte. Insbesondere in der DDR der 1950er Jahre dürfte hierbei der Transformationsprozess von der anfangs provisorischen Sowjetischen Besatzungszone hin zur stabilen Diktatur zu den grundlegenden Erfahrungen gehört haben. Neben Ereignissen wie der Niederschlagung des Aufstands vom 17. Juni 1953 und dem Mauerbau ab 1961, die eindeutige und breitenwirksame Anzeichen für die Stabilisierung der diktatorischen Verhältnisse gewesen waren, waren es auch der Wiederaufbau und die massiven Erneuerungen von Infrastruktur, die die ambivalenten Erwartungen der DDR-Bürger im weiteren Verlauf prägten.94

Dabei verhielt sich nicht jeder Bürger der DDR gleich, was nicht nur den persönlichen Verhältnissen geschuldet war, sondern auch seine Wurzel im Konzept der Erfahrung hat: Reinhard Koselleck fasste das Problem dieses Mechanismus zusammen, wobei er sich auf den Althistoriker Christian Meier bezog.95 Erfahrung sei »mit dem Glasauge einer Waschmaschine zu vergleichen, hinter dem dann und wann dieses oder jenes Stück bunter Wäsche erscheint, die allesamt im Bottich enthalten ist«.96 Koselleck beschrieb damit die Diskontinuität in der Erinnerungsbildung und schafft damit einen entscheidenden Anknüpfungspunkt an den Eigensinn. Würde sich der historische Akteur an alles, was er erlebt hat, zu gleichen Teilen erinnern, so würde sich eine sehr differenzierte Meinung von seiner Lebenswelt ergeben. Diese Ambivalenz von Erfahrung in einer geteilten Lebenswelt bedingt die fundamental unterschiedliche Haltung zum Staat DDR – von der Zustimmung bis zur Flucht.

1.5.2Alltag

Der Alltag ist der Teil der Lebenswelt, dessen Fortbestehen und dessen Herkunft nicht hinterfragt wird. Aspekte der Repetition und der Kontinuität sind Teilaspekte dieses Zusammenwirkens von Erfahrung und Erwartung. Wichtig ist hierbei aber nicht die Wiederholung oder das Eintönige, wie man vielleicht anfangs denken mag, es ist die Kompatibilität von Erfahrung und Erwartung: Das Erfahrene muss auch für die Zukunft erwartbar sein. Erfahrung bildet hierbei, wie Jörn Leonhard dies formulierte, im Gegensatz zur Wahrnehmung, »die deutende Aneignung erlebter Wirklichkeit ab.«97 Dies nimmt auf die Waschmaschinen-Metapher von Koselleck und Meier Bezug. Es sei diesbezüglich bemerkt, dass Koselleck sie an anderer Stelle auch ohne das Bild der Waschmaschine niederschrieb, wobei dann noch deutlicher der Bezug zu Leonhards Aussage zu erkennen ist: Auf die Grimm’sche Herleitung des Erfahrungsbegriffs bezogen, führte Koselleck aus, dass »er [Jakob Grimm, d. Verf.] die umgreifende Einheit des Begriffs zu retten [versuchte, d. Verf.], weil die rezeptive Erfahrung der Wirklichkeit und die produktive Erkundung und Überprüfung dieser erlebten Wirklichkeit einander bedingen, [bzw., der Verf.] untrennbar zusammengehören.«98 Hätte Grimm die Begrifflichkeit der »deutenden Aneignung« gekannt, er hätte sie an dieser Stelle wohl benutzt.

Die eingangs zitierten Alfred Schütz und Thomas Luckmann fassten dies zusammen, indem sie die Lebenswelt als »unbefragte[n] Boden der natürlichen Weltanschauung« beschreiben,99 wobei sie zu dessen Definition das Konzept des Sinngebiets100 einführten:

»Ein geschlossenes Sinngebiet besteht […] aus sinnverträglichen Erfahrungen. Anders gesagt, alle Erfahrungen, die zu einem geschlossenen Sinngebiet gehören, weisen einen besonderen Erlebnis- bzw. Erkenntnisstil aus; mit Bezug auf diesen Stil sind sie untereinander einstimmig und miteinander verträglich. Die hervorgehobene Einschränkung ist wichtig. Unstimmigkeiten und Unverträglichkeiten eigener einzelner Erfahrungen, mit Bezug auf ihren partiellen Aussagesinn, können durchaus im gleichen Sinngebiet auftreten, ohne daß diesem der Akzent der Wirklichkeit entzogen wird. Vielmehr mag dies nur die Ungültigkeit […] der betreffenden Erfahrung innerhalb des geschlossenen Sinngebiets zur Folge haben.«101

Diese Konstruktion, die in der Soziologie auch »Realitätsakzent« genannt wird, entspricht Leonhards »deutende[r] Aneignung erlebter Wirklichkeit«.102

1.5.3Frauen und Sport

Es ist beachtlich, dass der Eindruck entstehen kann, dass die Geschichte der DDR nicht »weiblich« war. Mit Ausnahme weniger Publikationen,103 die sich dezidiert mit Frauen im Sport in der DDR beschäftigen,104 dominieren männliche Akteure in den Erzählungen zum Leben in der DDR. Dies wird, diese kritische Anmerkung zur eigenen Arbeitsweise sei erlaubt, auch diese Arbeit nicht ändern.

Dabei sind die drei Hauptkapitel methodisch in unterschiedlicher Art und Weise betroffen. Das Kapitel zur politisch-strukturellen Entwicklung des Sports in der DDR ist dabei das am wenigsten von diesem Problem betroffene. Eine Strukturgeschichte des Sports orientiert sich stets an den Rahmenbedingungen, sodass alltagsgeschichtliche Akteure, unberührt von ihrem Geschlecht, zumeist nicht als Individuen wahrgenommen werden. Fraglos übergeht dies das Handeln und Leben von Frauen, doch ebenso das von männlichen Akteuren. Zwar mögen Akteure seitens der SED zumeist männlich imaginiert worden sein, für die Erforschung alltäglichen Handelns spielt dies jedoch nur eine untergeordnete Rolle.

Verstärkt tritt dieses Problem dagegen im zweiten Kapitel auf. Für die Transmission von sportpolitischer oder sozialistischer Agenda in weite Teile der Bevölkerung gilt der erste Gedankengang: Frauen wurden hier unter der Gesamtheit der Sporttreibenden subsummiert, auch wenn dabei mutmaßlich vor allem Männer den Fokus der Gedankenwelt der Sportredaktionen gebildet haben. Im Falle der Sportberichterstattung ist die Unterrepräsentation der Sportlerinnen als problematischer anzusehen: Obwohl zahlreiche Spitzensportlerinnen Teil der Berichterstattung in der DDR-Presse waren, scheinen Sportlerinnen im Breitensport für die Berichterstattung als weitestgehend irrelevant eingeschätzt worden zu sein. Sie waren lediglich Teil der Masse von Sporttreibenden. Dass sie als Einzelpersonen wahrgenommen wurden, war deutlich weniger häufiger der Fall als bei Männern.

Umso schwerer wiegt das Problem daher im dritten Kapitel der Studie. Auch in der quellengestützten Schilderung alltäglicher Lebenswelten sind Frauen als Akteure massiv unterrepräsentiert. Mit wenigen Ausnahmen scheinen sie im Quellenmaterial unsichtbar zu sein – an den Stellen, an denen sie archivalisch nachweisbar sind und als einzelne Akteurinnen und nicht als eine entindividualisierte Gruppe auftreten, sind sie zumeist lediglich Projektionsfläche männlichen Handelns oder Vergleichspunkte zur männlichen Sportlerschaft. Leider ließ sich dies im Rahmen der Archivrecherchen nicht vermeiden und bleibt somit ein Forschungsdesiderat.

1.6Zielsetzung

Die größte Herausforderung in der Beschreibung des Zusammenhangs von Eigensinn, Alltag, Lebenswelt und Öffentlichkeit für die DDR liegt wohl darin, dies auf entsprechendes Quellenmaterial zu stützen. So einfach sich eine Theorie abseits der Quellen aufstellen lässt, so schwer ist ihre Anwendung, selbst wenn besagte Anknüpfungspunkte vorliegen. Trotz der absehbaren Probleme seien, den frischen Eindruck des Exkurses zum Eigensinn nutzend, schon einige Bemerkungen gemacht. Dass für eine solche Erzählung die erarbeiteten Begriffe von Belang sind, zeigen zahlreiche bereits publizierte Ansätze. So wies beispielsweise der tschechische Historiker Pavel Kolář zu Recht darauf hin, dass es töricht wäre, wenn man die Geschichte kommunistischer Diktaturen auf eine Geschichte ihrer Herrschaftstechniken reduzieren würde.105 Er begründete dies damit, dass oftmals ein zu großer Maßstab für die Betrachtung gewählt worden sei und daher ein anderer Maßstab gewählt werden müsse. Er forderte, dass »[e]ine solche [neue] Verkleinerung des Maßstabs […] eine differenzierte Betrachtung [einer] staatssozialistischen Diktatur [ermögliche]«.106 Vor allem sei dadurch auch den binären »Partei vs. Gesellschaft«107-Erzählungen entgegenzuwirken, die nicht mit den historischen Verhältnissen übereinstimmen.

Der Bruch mit dieser Dichotomie ist ein Ziel der zuvor vorgestellten konzeptionellen Überlegungen. Die Hinwendung zum Eigensinn und die Abkehr von der totalen Durchherrschung ist, um es mit den Worten von Kolář zu sagen, eine Veränderung des Maßstabs. Kehrt man an dieser Stelle zu Max Weber zurück, so wie Martin Sabrow diesem Gedankengang in seinem Aufsatz zur diktatorischen Herrschaft in kulturhistorischer Perspektive108 beispielhaft folgt, stellt man fest, dass diese Maßstabsverschiebung zur Erklärung der Beziehung zwischen Herrschenden und Beherrschten beiträgt. Ist der Maßstab richtig gewählt, so lässt sich auch das Beziehungsgeflecht von Herrschenden und Beherrschten weniger verworren erzählen, denn das Verhältnis von beiden zueinander wirkt weniger wie eine unerklärliche Kohäsionskraft, sondern viel mehr wie ein überschaubares, wenn auch »vielschichtige[s] soziale[s] Beziehungsgeflecht«.109 Für die Erforschung von Gesellschaften, in denen dieses Geflecht vorliegt, muss es eine Beschreibung geben, bei der ein einfaches »Entweder/Oder« oder die Einordung in »Zustimmen/Mitmachen oder Widerstehen« nicht genügt.110 Zwar zeichnen sich diese Systeme zum einen durch »den politischen Führungsanspruch der Avantgarde-Parteien«111 und zum anderen durch die Bereitschaft, »diesen Anspruch anzuerkennen und ihm […] Geltung zu verschaffen«,112 aus, doch wird in dieser Studie im Folgenden gezeigt werden, dass und warum eben dieser Anspruch in der DDR in den Jahren zwischen 1949 und 1975 nie erfüllt wurde. Denn

»From the first to the last, historical reconstructions of dictatorial rule in the modern era, and particularly in the 20th century, have persistently revolved one primary issue: what did the masses do, and how did they do it?«113

2.Sport und Struktur

Der meiste Sport, den wir kennen, ist organisierter Sport. Und auch in dieser Arbeit wird Sport vor allem als organisierter Sport beschrieben. Ausdauerläufern im Breitensport, die einsam und nach Lust und Laune ihre Runden auf den befestigten Wegen landein und landaus ziehen und auch Kinder, die auf einem Bolzplatz das Leder malträtieren, stehen nicht im Fokus dieser Arbeit, sondern Sportlerinnen und Sportler, die ihrem Hobby in einer Struktur nachgehen. Dies liegt darin begründet, dass zur Untersuchung eigen-sinniger Verhaltensweisen und Öffentlichkeit die Personen besonders geeignet erscheinen, die zwischen einem »Dafür« und einem »Dagegen« changieren, dabei jedoch, und dies ist hinsichtlich »bolzender« Kinder und einsamen Langstreckensportlern problematisch, auswertbare Spuren hinterlassen.

Wie diese Spuren aussehen, wird Gegenstand eines späteren Kapitels sein. In diesem Kapitel werden die Rahmenbedingungen des Sports erörtert werden, in denen diese Sportlerinnen und Sportler navigierten. Es wird aufgezeigt werden, dass auch das DDR-Sportsystem nicht »bei null« begann, welche einschneidende Wirkung die Gründung des Deutschen Turn- und Sportbundes (DTSB) hatte, wann und wie der Sport in der DDR auf eine hohe Leistungsfähigkeit eingestellt wurde und es sich mit neuen Sportarten verhielt, die nicht »schon immer« im Osten Deutschlands ausgeübt wurden.

2.1Die Wurzeln

»Alles war für immer, bis es nicht mehr war.« Dieses Fazit, das für die gefühlt ewig-bestehende sowjetische Lebenswelt formuliert wurde,114 traf nicht nur auf ihr Ende, sondern auch auf ihren Anfang zu. Das Kriegsende, also den Zeitraum zwischen Kapitulation der Wehrmacht am 8. Mai 1945 und der Übernahme der Regierungsgewalt durch die Alliierten am 5. Juni 1945, als Zäsur zwischen Nationalsozialismus und DDR anzunehmen, erweitert um eine diffuse Zwischen- und Übergangszeitzeit in der sowjetischen Besatzungszone, liegt schon auf den ersten Blick nahe. Das, was 1.000 Jahre bestehen sollte, war kollabiert und keinesfalls mehr »für immer«. Im Falle eines Systemwechsels gilt dies gleich in mehrfacher Hinsicht, denn zweifelsohne gab es bereits vor 1949 organisierten Sport im Osten Deutschlands. Doch ist es weder zielführend noch sachdienlich, diese Entwicklung von ihren Ursprüngen an zu erzählen. Ein Blick auf eine kurze Zeitspanne vor dieser Zäsur ist ausreichend, denn die Wurzel des strukturierten DDR-Sports ist spätestens in der Strukturierung des Breitensports im Nationalsozialismus zu sehen. Die Entwicklungen in der Weimarer Republik, die das Phänomen des Massensports erst befeuerten, werden an dieser Stelle nicht behandelt werden.

Die Gleichschaltung vieler gesellschaftlicher und politischer Strukturen, sprich die zentrale Vereinnahmung des kulturellen und politischen Lebens durch die Nationalsozialisten, hatte auch ihre Auswirkung auf den Sport. Auch Vereine und Sportgemeinschaften waren »gleichgeschaltet« worden und wurden auf diese Weise für die Vereinnahmung durch die nationalsozialistische Ideologie vorbereitet.115 Dies wirkte sich manchmal mehr und manchmal weniger drastisch auf den Alltag der Sporttreibenden aus, doch wurde die Strenge dieser Gleichschaltung aber durch den Zweiten Weltkrieg und dessen Ende aufgebrochen. Die gleichgeschaltete Struktur wich dann, wie fast jeder gesellschaftliche Faktor, einer Phase der kurzen und chaotischen Neuordnung, bei der die Vereine sich neu aufzustellen versuchten, ohne dabei auf die vorher bestimmenden, nationalsozialistisch geprägten Strukturen zurückgreifen zu können, zu wollen oder zu dürfen. Die oftmals geäußerte These, dass der Sport im Osten Deutschlands »bei null« hätte aufgebaut werden müssen,116 ist jedoch falsch: