Sentire cum ecclesia - Anton E. Wirmer - E-Book

Sentire cum ecclesia E-Book

Anton E. Wirmer

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Beschreibung

Selten zuvor sind so viele religionsbezogene juristische Streitfälle ausgetragen worden. In vielen Fällen standen und stehe n Fragen der Auslegung kirchlichen Rechts durch staatliche Gerichte im Kern der Auseinandersetzung. Auch wenn Kirche und Staat heute institutionell getrennt sind, gibt es Inder staatlichen Wirklichkeit weiterhin viele Berührungspunkte oder auch Überschneidungen, gerade in manchen Sozialbereichen. Der soziale Rechtsstaat hat die Gestaltungsformen kirchlichen Wirkens weitgehend in seine Rechtsordnung integriert. In den gemeinsamen Arbeitsfeldern stoßen damit zwei unterschiedliche Rechtsordnungen aufeinander. Dabei stellen sich eine Reihe von Zuordnungsfragen. Staatliche Gerichte stehen in manchen Rechtsgebieten vor der Problem, wie sie mit Kirchenrecht umgehen sollen. Können sie es anwenden und auslegen, vor allem aber, welche Kompetenzen stehen ihnen dabei angesichts der kirchlichen Autonomie zu? Wie weit reicht der Radius staatlicher Kontrolle bei der Beurteilung kirchlicher Rechtsfragen? Auch heute noch sind dies in Literatur und Rechtsprechung bis hin zum EuGH kontrovers diskutierte Themen.

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Anton E. Wirmer

Sentire cum ecclesia

Zur Auslegung kirchlichen Rechts –bes. Arbeitsrechts – durch staatliche Gerichte

 

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

 

1. Auflage 2019Alle Rechte vorbehalten© 2019, Lambertus-Verlag, Freiburg im Breisgauwww.lambertus.deUmschlaggestaltung: Nathalie Kupfermann, BollschweilDruck: Franz X. Stückle Druck und Verlag, EttenheimISBN 978-3-7841-3174-0ISBN eBook 978-3-7841-3175-7ISBN eBook 978-3-7841-3423-9

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

A.   Einführung in die Thematik

B.   Methodik der Interpretation von Rechtstexten

I.     Auslegung als hermeneutisches Problem

1.   Die Bedeutungsvielfalt juristischer Begriffe

2.   Beurteilungsmaßstäbe

II.    Auslegung und Methodenpluralismus

1.   Die Entwicklung wissenschaftlicher Methodenlehren

2.   Die Bedeutung weiterer Auslegungselemente

III.   Gesellschaftliche und politische Einflussfaktoren

1.   Methodendiskussion

2.   Der Umfang der Gesetzesbindung der Gerichte

3.   Europäische Perspektiven

IV.   Heutige Tendenzen

1.   Auslegung als Diskurs

2.   Gesetzesbindung

3.   Rechtsordnung als System

4.   Rechtsgrundsätze als Leitlinien

C.   Auslegungsmethoden nach religiösem Recht

I.     Historische Aspekte

II.    Katholisches Verständnis

1.   Theologische Grundlegung

2.   Doppelcharakter des kanonischen Rechts

3.   Konsequenzen für die Methoden der Auslegung

4.   Die pastorale Funktion des Kanonischen Rechts

III.   Auslegung aus protestantischer Sicht

1.   Historische Aspekte

2.   Theologische Ortsbestimmung

3.   Maßstäbe für die Auslegung

4.   Gemeinsamkeiten mit katholischem Verständnis

IV.   Ein Blick auf die Situation im Islam

1.   Das Verhältnis von Religion und Politik/ Staat im Islam

2.   Die Scharia als religiöse Normenlehre

3.   Quellen und Auslegungsmethoden des islamischen Rechts

4.   Das Verhältnis der Scharia zu staatlichem Recht

D.   Auslegung kirchlichen Rechts durch staatliche Gerichte

I.     Tendenzen bisheriger Rechtsprechung

1.   Staatliche Jurisdiktion in Kirchensachen

a)  Wechselvolle Geschichte

b)  Justizgewährung versus Selbstbestimmung

2.   Anwendung kirchlichen Rechts durch staatliche Gerichte

a)  Innerkirchlicher Bereich

b)  Neuere Tendenzen der Rechtsprechung

c)  Reine Anwendung kirchlichen Rechts

3.   Auslegung kirchlichen Rechts durch staatliche Gerichte

a)  Rechtsprechung im Zivil- und Verwaltungsrecht

b)  Tendenzen in der Sozialgerichtsbarkeit

c)  Fragen der Auslegung im kirchlichen Arbeitsrecht

d)  Tendenzen im Verfassungs- und Europarecht

II.    Lösungsansätze in der Literatur

1.   Staatliche Jurisdiktion in Kirchensachen

2.   Die Außenwirkung kirchlichen Rechts

a)  Unterschiedliche Rechtsauffassungen

b)  Vermittelnde Positionen

3.   Fragen der Auslegung kirchlichen Rechts

a)  Die Befugnis der Kirchen zur Auslegung des eigenen Rechts

b)  Probleme bei der Auslegung durch staatliche Gerichte

c)  Spielräume für staatliche Kompetenzen bei der Auslegung

d)  Meinungsstand im kirchlichen Arbeitsrecht

e)  Auslegung nach kirchlichem Selbstverständnis

E.   Argumente einer system- und verfassungskonformen Auslegung kirchlichen Rechts

I.     Anwendbarkeit kirchlichen Rechts durch staatliche Gerichte

1.   Das Meinungsspektrum

2.   Die Rechtsqualität kirchliches Rechts

3.   Die Anordnung staatlicher Rechtsgeltung

II.    Die Bedeutung der theologischen Prägung kirchlichen Rechts für die Auslegung

1.   Das Gebot weltanschaulich-religiöser Neutralität

2.   Die Bindung kirchlichen Rechts an vorgegebene Glaubensaussagen

3.   Die Reichweite religiöser Prägung

III.   Die Bedeutung des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts für die Auslegung

1.   Die Gewährleistung kirchlicher Eigenständigkeit

2.   Die Bedeutung für die Befugnisse staatlicher Gerichte

3.   Orientierung der Auslegung am kirchlichen Selbstverständnis

4.   Die kirchliche Autonomie in der aktuellen europäischen Rechtsprechung

F.    Das internationale Privatrecht (IPR) als Modell für die Auslegung des Rechts eines fremden Rechtskreises

I.     Rechtsanwendungs- bzw. Kollisionsrecht

II.    Grundsätze des Internationalen Privatrechts

III.   Kriterien der Anwendung ausländischen Rechts

IV.   Der Vergleich mit der Anwendung von Kirchenrecht

G.   Konsequenzen für die Arbeit der Gerichte

I.     Ermittlung und Auslegung kirchlichen Rechts

II.    Rechtskontrolle kirchlichen Handelns

H.   Zusammenfassung der Ergebnisse

I.     Auslegung als hermeneutisches Problem

II.    Auslegungstheorie und Methodenpluralismus

III.   Auslegungsmethodik nach kirchlichem/religiösen Recht

IV.   Auslegung kirchlichen Rechts durch staatliche Gerichte

V.    Lösungsansätze in der Literatur

VI.   Argumente für eine system- und verfassungskonforme Auslegung kirchlichen Rechts durch staatliche Gerichte

VII.  Das IPR als Modell für die Auslegung des Rechts eines fremden Rechtskreises

VIII. Konsequenzen für die Arbeit staatlicher Gerichte

Literaturverzeichnis

Curriculum Vitae

Vorwort

Mein besonderer Dank gilt meinem Mentor Prof. Dr. Thüsing, der meine Aufmerksamkeit auf die Thematik der Arbeit gelenkt und mich stets in allen Fragen mit Rat und Tat unterstützt hat. Prof. Dr. Hense danke ich für die Erstellung des Zweitgutachtens.

Herzlich danke ich meiner lieben Frau Vera, der diese Arbeit gewidmet ist und und die mir immer tatkräftig zur Seite stand.

In gleicher Weise danke ich meinem Sohn Laurent für seine geduldige Hilfe bei allen Fragen der EDV-Technik.

Köln, im Mai 2019Anton E. Wirmer

A.  Einführung in die Thematik

Über ein Jahrtausend hat es in Deutschland und Europa – wenn auch in wechselnder Gestalt – ein enges Miteinander von Kirche und Staat oder Thron und Altar gegeben, das auch durch die Reformation und die nachfolgenden „Religionskriege“ nicht beendet wurde, sondern sich nur in seinen Formen verändert hat. Erst die Verfassungsrevolutionen des 18. Jh. haben die teilweise jahrtausendealte Klammer von Heil und Herrschaft aufgebrochen.1 In Deutschland wurde mit einiger Verzögerung durch Art. 137 I WRV die prinzipielle Trennung von Staat und Kirche verfassungsrechtlich umgesetzt. Es hatte sich die Überzeugung durchgesetzt, dass die wechselseitige Trennung möglich ist und im Interesse beider liegt: die Freiheit des Staates von kirchlicher Bindung und die der Religionsgemeinschaften von staatlicher Bevormundung.2 Diese Rechtslage entspricht einem modernen Verständnis von Wesen und Aufgaben von Staat und Kirche. Der Staat ist auf seine weltlichen Aufgaben beschränkt, die geistlichen liegen bei den Kirchen.3 Allerdings gibt es dafür allein in den westlichen Ländern eine breite Palette sehr unterschiedlicher Ausprägungen und Modelle.

Auch wenn sich Staat und Kirche institutionell trennen lassen, gilt dies nicht in gleicher Weise für das Religiöse und Politische. Aus einer Religion, dem damit verbundenen Menschenbild und seinem Verhältnis zur Welt können sich weitreichende Postulate für politisches Handeln ergeben.4 Beim einzelnen Bürger sind daher häufig religiöse und politische Überzeugungen eng miteinander verbunden. Die Säkularisierung der Staatsgewalt bedingt nicht gleichzeitig die Säkularisierung der Bürgergesellschaft.5 Das Gebot religiöser Neutralität betrifft den Staat, aber nicht die Arenen, in denen um politischen Einfluss gekämpft wird.6 In welch hohem Maße religiöse Überzeugungen Einfluss auf politisches Handeln haben können, zeigt sich heute in besonders extremer Form im Erstarken des politisch-religiösen Radikalismus im Islam. Auch die verbreitete Debatte über Fragen einer politischen Theologie kann als Anzeichen einer veränderten Wahrnehmung des Verhältnisses von Politik und Religion angesehen werden.7

Aber auch im Rahmen der institutionellen Trennung von Staat und Kirche gibt es zwischen beiden Bereichen weiterhin viele Berührungspunkte oder auch Überschneidungen. Dies gilt nicht nur für Staaten wie die Bundesrepublik Deutschland, die neben der organisatorischen Trennung von Staat und Kirche auch Maßnahmen der Kooperation Raum geben,8 sondern auch für Länder mit einem strikten Laizismus, also einer absoluten Trennung von Kirche und Staat und einer damit verbundenen Zurückdrängung der religiösen Akteure aus dem öffentlichen Raum. In einer Zeit der gesteigerten Sozialverantwortung des Staates bzw. der Entwicklung zum sozialen Leistungsstaat sind solche Berührungspunkte unvermeidlich. Nach dem GG hat der soziale Rechtsstaat die konkreten Gestaltungsformen kirchlichen Wirkens nicht aus seiner Ordnung ausgegrenzt, sondern soweit möglich in seine Rechtsordnung integriert.9

Die Betätigung des Staates und der Religionsgemeinschaften in den gleichen Bereichen von Erziehung, Krankenpflege, Fürsorge usw. bedeutet, dass sich ihre Arbeitsfelder nicht nur punktuell, sondern dauernd berühren oder überschneiden.10 Dies hat auch Folgen für die rechtlichen Strukturen. In den gemeinsamen Arbeitsfeldern stoßen zwei unterschiedliche Rechtsordnungen aufeinander. Bei Streitigkeiten können auch staatliche Gerichte mit kirchlichen Fragen bzw. kirchlichen Rechtsvorschriften konfrontiert werden. Nie zuvor sind vor Gericht so viele religionsbezogene juristische Streitfälle ausgetragen worden. In diesen Verfahren sind die verfassungsrechtlichen Anforderungen staatlicher Justizgewährung und die Gewährleistungen kirchlicher Autonomie und Selbstbestimmung gegeneinander abzuwägen und möglichst in Einklang zu bringen.

Daraus ergeben sich einige grundsätzliche Fragen: Welcher Stellenwert kommt kirchlichen Regelungen im staatlichen Bereich überhaupt zu und welche Kompetenzen haben staatliche Gerichte bei Streitigkeiten mit kirchenrechtlichen Fragen? Steht ihnen bei der Anwendung und Auslegung kirchlicher Normen eine eigene Kompetenz zu oder müssen sie sich an der Interpretation und dem Selbstverständnis der jeweiligen Religionsgemeinschaft orientieren? Entscheidend für die Beantwortung dieser Fragen ist, welche Konsequenzen sich aus der spezifisch bekenntnismäßigen Prägung kirchlichen Rechts, dem Gebot staatlicher Neutralität und dem verfassungsrechtlich garantierten Selbstbestimmungsrecht der Kirchen ergeben. Zu diesen Fragen gibt es bisher in Rechtsprechung und Schrifttum keine einheitliche Linie, sondern immer noch unterschiedliche Rechtsauffassungen und Vorgehensweisen.

Exemplarisch für dieses Meinungsspektrum steht das Verfahren B. Schüth, bei dem es im Rahmen einer arbeitsrechtlichen Kündigung durch eine katholischen Kirchengemeinde um die richtige Auslegung und Anwendung von Art. 5 Abs. 1 GrO der katholischen Kirche geht. In diesem Verfahren sind von AG /LAG sowie BAG unterschiedliche Auffassungen vertreten worden. Nach Rückverweisung an das LAG hat dieses nach weiterer Klärung die Klage abgewiesen. Rückfragen an die Amtskirche wegen der richtigen Auslegung der kirchlichen Grundordnung wurden in den Instanzen nicht durchgeführt. Eine Verfassungsbeschwerde hat das BVerfG nicht zur Entscheidung angenommen.

Mit Urteil vom 23.9. 2010 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in dem Verfahren einen Verstoß gegen Art 8 der EMRK festgestellt.11 Die vom Kläger daraufhin erhobene Restitutionsklage nach nationalem Recht wurde aber vom BAG verworfen. In einem erneuten, auf Schadensersatz gerichteten Verfahren hat das LAG Düsseldorf am 18.10.2017 entschieden, im Hinblick auf die richtige Auslegung der einschlägigen kirchlichen Rechtsvorschriften zunächst eine Stellungnahme des Kommissariats der Deutschen Bischöfe einzuholen.12

Das Verfahren macht deutlich, wie dringend eine Aufarbeitung und Klärung der angesprochenen Fragen ist, vor allem in Bezug auf die jeweiligen kirchlichen und staatlichen Kompetenzen. Im Folgenden soll versucht werden, hierzu einen Beitrag zu leisten.

1Habermas in: Politik und Religion, S. 295 ff.

2v. Campenhausen/de Wall, Staatskirchenrecht, S. 90 ff.

3de Wall/Muckel, Kirchenrecht, S. 82 ff.

4Papst Franziskus spricht von der sozialen Dimension der Evangelisierung: „Evangelisieren bedeutet, das Reich Gottes in der Welt gegenwärtig machen“. In: Apostolisches Schreiben „Evangelii gaudium“, Nr. 176.

5Habermas, in: Politik und Religion, S. 289.

6Graf, in: Politik und Religion, S. 32.

7Meier, in: Politik und Religion, S. 306 f.; Zur Re-Theologisierung der Politik vgl. Körtner, Für die Vernunft, S. 57 ff.

8Jeand`Heur/Korioth, Grundzüge des Staatskirchenrechts, Rn. 161.

9Kästner, Staatliche Justizhoheit, S. 176.

10v. Campenhausen/de Wall, Staatskirchenrecht, S. 338 ff.

11EGMR Schüth v. Deutschland v. 23.09.2010 Nr. 1620 /03 KirchE 56, 219 ff.

12LAG Düsseldorf 12 Sa 757 / 17, Pressemitteilung des LAG v. 18.10.2017.

B.  Methodik der Interpretation von Rechtstexten

I.    Auslegung als hermeneutisches Problem

1.   Die Bedeutungsvielfalt juristischer Begriffe

Bei der Hermeneutik geht es um die Theorie des Verstehens und der Auslegung vor allem schriftlich fixierter Texte im Wandel der Umstände und der Zeit. Mit dem Problem des richtigen Verständnisses haben alle Textwissenschaften zu tun, ganz gleich, ob es dabei um Philosophie, Geschichte, Literatur oder Recht geht. Sie sind alle mit dem Problem konfrontiert, dass es einen objektiven, ein für alle Mal festgelegten Sinn von Worten und Texten nicht gibt. Das richtige Verständnis eines Textes hängt von vielen Faktoren ab, vor allem auch von den Umständen der Entstehungszeit des Textes und dem zeitlichen Kontext der Rezeption oder Auslegung.

Bei juristischen Texten kommt hinzu, dass der Jurist Normtexte nicht wie der Historiker vergangenheitsbezogen, sondern im Hinblick auf heutige Lebensvorgänge und aktuelle Fragen auslegen muss. Er ist bei der Auslegung von Gesetzen auch nicht frei, sondern nach Art. 20 Abs. 3 GG an Recht und Gesetz gebunden. Um die Vielfalt der Lebensvorgänge zu erfassen und trotzdem handhabbar zu bleiben, müssen gesetzliche Regelungen allgemein und abstrakt formuliert sein. Sie sind dadurch regelmäßig wenig bestimmt und bedürfen für die Anwendung der Konkretisierung. Ziel der Interpretation von Rechtstexten ist es daher, die konkrete Bedeutung abstrakter Gesetzesbegriffe zu bestimmen. Erst dadurch gewinnt eine Norm jene inhaltliche Bestimmtheit, die erforderlich ist, um sie auf einen konkreten Lebenssachverhalt anwenden zu können.13

Die Bedeutungsvielfalt juristischer Sprache und Begriffe hat viele Gründe. Dies liegt einmal daran, dass Wörter oder Begriffe mehrdeutig sein können.14 Der jeweils relevante Bedeutungsgehalt eines Begriffs ergibt sich häufig erst aus dem Zusammenhang, in dem er steht oder den Umständen der Verwendung. Er ist also vom Kontext abhängig.15 Zum anderen ist die Bedeutung vieler Begriffe vage oder unbestimmt. Zugunsten einer breiten Verwendbarkeit hat die Umgangssprache auf eine eindeutige Festlegung der Bedeutung verzichtet. Der Wortlaut lässt also gewöhnlich einen Spielraum möglicher Wortbedeutungen offen. Der Auslegung kommt die Aufgabe zu, innerhalb dieses Bedeutungsspielraums die jeweilige Bedeutung auszuwählen, die den Gesetzesworten gerade in der vorliegenden Norm richtigerweise zukommt.16

Dazu kommt, dass Begriffe im Laufe der Zeit ihre Bedeutung verändern können.17 Dies liegt teilweise an der normalen sprachlichen Entwicklung, die sich den Wandlungsprozessen der Zeit nicht entziehen kann. Aber auch die Veränderung der gesellschaftlichen und sozialen Verhältnisse kann sich in hohem Maße auf das Verständnis von Worten und Begriffen auswirken,18 vor allem wenn größere zeitliche Abstände zwischen der Erstellung eines Textes und seiner Rezeption liegen. Rechtsnormen sind immer in Bezug auf die vorhandene Lebenswirklichkeit zu konkretisieren. So konnten sich neue Formen technischer Kommunikation auf die Auslegung des Art.5 Abs. 1 GG auswirken. Darüber hinaus können veränderte Weltsichten und Wertvorstellungen zu einem Bedeutungswandel von Normen und Gesetzen führen. Dies gilt in besonderer Weise für Begriffe, die wertende Elemente enthalten.

Bei juristischen Texten stellt sich weiter die Frage, auf welchen Zeitpunkt bei der Interpretation abzustellen ist, den der Entstehungszeit des Gesetzes oder den der Anwendung.19 Eine rein vergangenheitsbezogene Auslegung wird kaum ausreichen, da juristische Texte auf heutige Lebensvorgänge und aktuelle Fragestellungen anzuwenden sind. Aber in welchem Maße müssen dabei dennoch auch die Vorstellungen und Intentionen berücksichtigt werden, die zum Erlass des Gesetzes geführt haben?

2.   Beurteilungsmaßstäbe

In der Rechtstheorie wird vielfach zwischen deskriptiven und normativen Begriffen unterschieden.20 Deskriptive Begriffe sollen dazu dienen, die vielfältige Wirklichkeit geordnet zu erfassen. Auch wenn sie häufig ungenau sind, kann ihr Inhalt durch Auslegung ermittelt und dann auch klar auf bestimmte Fallgestaltungen angewendet werden.

Im Gegensatz dazu enthalten normative Begriffe regelmäßig auch wertende Elemente.21 Solche gesetzlichen Normen enthalten generelle Beurteilungsmaßstäbe, innerhalb derer sich ändernde Wertvorstellungen Berücksichtigung finden können. Dabei handelt es sich meist um weit gefasste unbestimmte Rechtsbegriffe (z. B. „angemessen“ oder „verhältnismäßig“) oder Generalklauseln (z. B. „wichtiger Grund“, „Treu und Glauben“ oder „gute Sitten“). Der Begriff der Sittenwidrigkeit verweist auf die geschichtlich wandelbaren Anschauungen darüber, was im sozialen Verkehr zwischen den Bürgern als noch akzeptabel angesehen wird. Verändert haben sich auch die sozialethischen Vorstellungen, die das Zusammenleben der Geschlechter bestimmen oder wie der Begriff der Familie nach Art. 6 Abs. 1 GG unter heutigen Gegebenheiten zu verstehen ist.

Die Ungenauigkeiten vieler Begriffe sind im Allgemeinen vom Gesetzgeber eingeplant, da es unmöglich ist, die große Vielfalt der Lebensvorgänge einzeln gesetzlich zu erfassen. Sie ermöglichen, die Besonderheiten der jeweiligen Einzelfälle zu berücksichtigen und geben dadurch dem Recht ein hohes Maß an Elastizität. Es werden breite Anwendungsfelder und Beurteilungsspielräume für die entsprechenden Rechtssätze geschaffen. Die wertorientierten Begriffe verlangen also bei ihrer Anwendung immer wertende Akte des Gerichts. Entscheidend sind die Maßstäbe, die dabei zugrunde gelegt werden. Diese können sich aus dem jeweiligen Gesetz oder der Rechtsordnung bzw. Verfassung ergeben, aber auch aus weltanschaulichen oder ethischen Prinzipien. Die Wertbegriffe können aber auch ein Einfallstor für neue, politisch motivierte Wertvorstellungen oder den jeweiligen Zeitgeist sein.22

Teilweise wird in der Literatur vertreten, dass es sich bei diesen Rechtsbegriffen um ein Stück offen gelassener Gesetzgebung oder gewollte Gesetzeslücken handele.23 Ph. Heck hat solche Vorschriften als „Delegationsnormen“ bezeichnet, die den Gerichten normsetzende Aufgaben zuweisen.24 Die h M in Schrifttum und Justiz betrachtet die Ausfüllung der unbestimmten Rechtsbegriffe und Generalklauseln weiter als eine Form der Auslegung rechtlicher Vorschriften.25 Gegen die Einordnung als Gesetzeslücken wird vor allem eingewendet, der Entscheidungsgewalt der Gerichte seien durch die Gesetze und Verfassungsnormen gewisse Maßstäbe und Grenzen vorgegeben. In der Wirklichkeit haben allerdings die Gerichte diese Grenzen nicht immer beachtet. Eine Reihe neuer Rechtsfiguren wie z. B. die Lehre vom Wegfall der Geschäftsgrundlage sind von der Rechtsprechung unter Bezug auf solche normativen Rechtsbegriffe (hier § 242 BGB) entwickelt worden.

Der Bedeutungsgehalt vieler juristischer Begriffe kann dementsprechend häufig nicht exakt, sondern nur mit einem Bedeutungsspielraum ermittelt werden. Die Konkretisierung oder die Auswahl der im Einzelfall passenden Wortbedeutung vollzieht sich i.d.R. nicht rein deduktiv, sondern argumentativ, d.h. durch das Abwägen von Argumenten und Gesichtspunkten. Welches Argument am Ende zum Zuge kommt, ist nicht immer Ergebnis eindeutiger Erkenntnis.26 Vielmehr können auch unterschiedliche Auslegungen „vertretbar“ sein, so dass in diesen Fällen beim Gericht die Letztentscheidungskompetenz liegt.

Dabei kann auch das Vorverständnis des Richters hinsichtlich der zu entscheidenden Frage eine Rolle spielen.27 Bei jeder Rechtsanwendung steuert der Richter immer auch einen bestimmten Anteil bei, der sich nicht unbedingt aus dem Gesetz ergibt. Das Verstehen von Gesetzen ist nicht nur ein rein reproduktiver, sondern auch ein produktiver Vorgang. Auch der eigene Erfahrungshorizont spielt dabei eine nicht unwesentliche Rolle.

Dies macht deutlich, dass bei der Hermeneutik oder der richtigen Auslegung von Rechtstexten häufig auch subjektive Elemente von Bedeutung sind.

Die Rechtswissenschaft versucht teilweise, der Unbestimmtheit und Ungenauigkeit rechtlicher Sprache durch fachsprachliche Definitionen gegenzusteuern.28 Dies bereitet grundsätzlich keine Probleme, soweit es sich um reine Nominaldefinitionen handelt. Das sind willkürliche Festlegungen der Bedeutung eines Begriffs wie z. B. „Sachenrecht“. Gesetzesvorschriften werden dadurch nur einem bestimmten Rechtsgebiet zugeordnet, aber keine Rechtspositionen verändert. Es ist allein eine Frage der Zweckmäßigkeit. Anders verhält es sich mit Definitionen, die gesetzliche Begriffe näher bestimmen. Solche Definitionen können den normativen Gehalt einer Norm verändern. So kann sich der Straftatbestand der Körperverletzung verändern, je nachdem, ob der Waffenbegriff technisch oder untechnisch interpretiert oder definiert wird. Definitionen von Gesetzesbegriffen können daher nicht völlig frei erfolgen. Sie haben immer den jeweiligen Normzweck zu beachten. Dementsprechend kann auch ein unbestimmter Rechtsbegriff wie „Nachtzeit“ in unterschiedlichen Gesetzen unterschiedlich definiert sein. Dies kann für juristische Laien verwirrend sein, zeigt aber, dass in der Rechtswissenschaft Definitionen nur in begrenztem Umfang zur Präzisierung der Sprache und Verständlichkeit rechtlicher Texte beitragen können.

Andere Überlegungen gehen in die Richtung, Anleihen bei Disziplinen mit einer größeren Aussagenpräzision zu machen.29 Naturwissenschaftliche Disziplinen wie die Mathematik oder Physik ersetzen die Umgangssprache teilweise durch vereinbarte Begriffe mit genau definiertem Bedeutungsgehalt. Oder es wird versucht, die Symbolsprache der modernen Logik für die Jurisprudenz nutzbar zu machen. Anwendungsfelder für die Instrumente moderner Logik werden besonders bei der Strukturierung von Gesetzestexten und der Analyse von Argumentationsformen gesehen. Aber es scheint so, dass die Probleme, die sich aus der Ungenauigkeit und Unbestimmtheit der Sprache und rechtlicher Begriffe ergeben, auch von der modernen Logik nicht wirklich gelöst werden können.

Sie stellt nur eine begrenzte Sprache zu Verfügung, die nicht in der Lage ist, sämtliche juristischen Vorgänge abzubilden. Dies gilt vor allem für im Recht häufig notwendige Abwägungsvorgänge beim Zusammentreffen und bei Konflikten von Normen. Zur Bewältigung der Probleme, die sich aus der Vieldeutigkeit und Wandelbarkeit von Rechtsbegriffen ergeben, sind noch andere Methoden erforderlich.

II.   Auslegung und Methodenpluralismus

1.   Die Entwicklung wissenschaftlicher Methodenlehren

Angesichts der geschilderten hermeneutischen Unsicherheiten hat die Juristen schon seit jeher die Frage beschäftigt, wie die Auslegung von Rechtstexten möglichst objektivierbar gestaltet werden kann, insbes. ob es dafür Regeln und Methoden gibt. Auf der einen Seite muss Rechtsanwendung verlässlich und müssen juristische Entscheidungen für die Betroffenen einer rationalen Kontrolle zugänglich sein. Auf der anderen Seite muss Recht flexibel genug sein, um sich auf veränderte Verhältnisse und Rahmenbedingungen einstellen zu können, gerade wenn Recht über längere Zeiträume und Jahrhunderte gilt oder gelten soll. Beiden Aspekten gerecht zu werden, hat sich im Laufe der Rechtsgeschichte als eine nicht leicht zu lösende Aufgabe erwiesen.

Viele Faktoren sind dabei zu berücksichtigen. Recht ist kein isoliertes, für sich bestehendes Gebilde, sondern ein Spiegelbild der jeweiligen historischen Gesamtsituation. Alle bedeutsamen kulturellen, ökonomischen und politischen Faktoren und Tendenzen wirken auf das Recht ein und werden ihrerseits durch das Recht geprägt.30 Die Entwicklung der juristischen Auslegungsmethoden ist immer auch eine Auseinandersetzung um die Freiheiten, die dem Rechtsanwender bei der Interpretation von Rechtstexten eingeräumt werden, gewesen.31

Das Römische Recht hatte noch keine ausgebaute Methodenlehre zur Auslegung von Rechtstexten entwickelt. Der „corpus juris civilis“ des Oströmischen Kaisers Justinian enthielt lediglich zahlreiche Interpretationsmaximen und Argumente, sogenannte „regulae juris“, die meist auf Rechtsansichten klassischer römischer Juristen zurückgingen.32 Auch diese gerieten aber in den folgenden Jahrhunderten weitgehend in Vergessenheit. Erst nach der Wiederentdeckung der Rechtssammlung im 11. Jahrhundert erlangten sie eine größere Bedeutung, die bis ins 17. Jahrhundert anhielt. Im Zeitalter der Aufklärung wurde versucht, die unterschiedlichen Maximen zu ordnen und zu systematisieren.33

Von einer geschlossenen Methodenlehre kann erst ab dem Rechtslehrer v. Savigny gesprochen werden. Er war Haupt der historischen Rechtsschule und hat 1840 aufbauend auf dem damaligen Stand der juristischen Methodendiskussion34 zuerst ein Dreierschema und wenig später ein Viererschema von Auslegungskriterien entwickelt: Die grammatikalische, logische, systematische und historische Auslegungsmethode.35 Das grammatikalische Element bedeutet die Interpretation nach dem Wortlaut und den Regeln der Grammatik, das logische das Verhältnis der Gesetzesbegriffe im Satzgefüge sowie dem Kontext und das historische Kriterium die Interpretation nach dem Verständnis des historischen Gesetzgebers und den Umständen, die zum Erlass des Gesetzes führten.36

Mit dem Systemargument war gemeint, dass jede Rechtsnorm nicht isoliert für sich steht, sondern Teil eines größeren Ganzen oder Rechtssystems ist und richtig nur in diesem Rahmen verstanden werden kann. v. Savigny bezieht das Kriterium auf den „inneren Zusammenhang, welcher alle Rechtsinstitute und Rechtsregeln zu einer großen Einheit verknüpft.37“ Er hat diesem Kriterium eine besondere Bedeutung beigemessen. Aber auch schon vorher war anerkannt, dass bei der Interpretation von Rechtsvorschriften auch Normen aus anderen Rechtsquellen zu berücksichtigen sind. Das galt besonders für die Auslegung im Einklang mit dem Gewohnheitsrecht und – bei Partikulargesetzen – im Einklang mit dem sog. Gemeinen Recht.38

Eine Rangfolge der vier Auslegungskriterien hat v. Savigny nicht empfohlen. Vielmehr müssten alle Aspekte berücksichtigt werden, wobei je nach Sachlage das eine oder das andere größere Bedeutung gewinnen könne.39 Er hat außerdem schon darauf hingewiesen, dass es notwendig sein könne, weitere Hilfsmittel einzubeziehen, wenn der Gesetzestext den Regelungsgedanken nicht klar genug zum Ausdruck bringe. Dann seien die vier genannten Elemente nicht ausreichend und auf weitere zurückzugreifen wie vor allem – in heutiger Terminologie – der Normzweck einer Regelung und eine Folgenabschätzung.40

2.   Die Bedeutung weiterer Auslegungselemente

Im Laufe der weiteren Entwicklung, vor allem ab der Mitte des 20. Jahrhunderts hat der Viererkanon – auch wenn er nicht gesetzlich verankert wurde – in Deutschland grundsätzlich Eingang in die Rechtstheorie und -praxis gefunden, allerdings in einer leicht veränderten Form.41 Das logische Element wurde durch das teleologische Kriterium im Sinne der „ratio legis“ ersetzt. Teilweise ist es auch im Argument der Systematik aufgegangen. Einige Autoren plädieren heute dafür, beim Viererkanon zwischen Auslegungsziel und Auslegungsmittel zu unterscheiden. Der Normzweck sei das zentrale Ziel jeder Gesetzesauslegung. Die anderen Kriterien seien Mittel, um den richtigen Normzweck zu erkennen.42

Neben den von v. Savigny genannten Elementen haben im Laufe der europäischen Rechtsgeschichte auch andere Kriterien oder Wertungsmaßstäbe bei der Gesetzesauslegung eine Rolle gespielt. Zu diesen zählen Argumente der Gerechtigkeit und Billigkeit, aber auch der Zweckmäßigkeit und der Vernunft. Teilweise gehörten sie schon zu den Standardmaximen des Römischen Rechts wie z. B. das „argumentum ad absurdum“, das ungereimte oder absurde Ergebnisse vermeiden sollte. Auch der Gedanke der Zweckmäßigkeit oder praktischen Wirksamkeit einer Rechtsnorm lässt sich bis ins Römische Recht zurückverfolgen.43 Als “effet utile“ hat er Eingang in das französische Recht und das Völkervertragsrecht gefunden und wurde sogar zu einer Auslegungsmaxime des Gemeinschaftsrechts der EU. Außergesetzliche Wertungsmaßstäbe erlangten größere Bedeutung auch unter totalitären Regimen des 20. Jh. In der NS-Zeit galten in der Rechtsprechung des Reichsgerichts die NS-Weltanschauung und das gesunde Volksempfinden als außergesetzliche Interpretationsmaßstäbe.44

Eine wechselvolle Geschichte hatte der aus dem römischen Recht kommende Grundsatz der Billigkeit oder „aequitas“ (Gleiche Entscheidung bei gleich gelagerten Fällen). Ab der nachklassischen Periode spielte er bis zum Zeitalter des Humanismus eine erhebliche Rolle in der Auslegungslehre. Er wurde teilweise zum Sammelbegriff aller im Rahmen des Rechts möglichen ethischen Erwägungen.45 Ab dem späten 18. Jahrhundert wurde er nur noch als Orientierungshilfe für den Gesetzgeber, nicht aber mehr als Auslegungskriterium für die Rechtsanwendung akzeptiert. Für Kant war der Grundsatz der Billigkeit eine „stumme Gottheit, die nicht gehöret werden kann.“46 Erst beim Übergang ins 20. Jahrhundert gewannen solche Erwägungen wieder an Bedeutung, meist allerdings im Rahmen von Wertungsmaßstäben, die aus der gesamten Rechtsordnung oder der Verfassung und den Grundrechten abgeleitet waren.

Eine unverminderte Bedeutung hat der Grundsatz der „aequitas“ im kanonischen Recht. Er ist dort sogar ein allgemeines Auslegungsprinzip und geht in seinem Verständnis über den Begriff der Billigkeit im weltlichen Recht hinaus, indem er auch Elemente der christlichen Barmherzigkeit aufgenommen hat.47

III.  Gesellschaftliche und politische Einflussfaktoren

1.   Methodendiskussion

Der Vierer- Kanon der Auslegungskriterien bot allerdings, was den Stellenwert der einzelnen Kriterien und deren Rangfolge betrifft, weiterhin viel Spielraum für unterschiedliche Interpretationen und Gewichtungen; eine Folge der Tatsache, dass es weiterhin an einem Relevanzkriterium zur Bestimmung der Rangfolge und des Gewichts der verschiedenen Interpretationselemente fehlte. Dies hat sich als ein wesentliches Problem der juristischen Auslegungstheorie erwiesen. Über diese Fragen ist die Methodendiskussion in den letzten zwei Jahrhunderten nicht zur Ruhe gekommen. In den herrschenden Anschauungen haben sich sogar erhebliche Schwankungen ergeben. Es hat sich gezeigt, dass die Vorgehensweise bei der Interpretation von Gesetzen in hohem Maße auch abhängig ist von dem jeweiligen Zustand der Rechtskultur in einem Land und den herrschenden Rechtslehren. Verändert sich das Koordinatensystem der Rechtskultur, verändert sich häufig auch die Methodik der Gesetzesauslegung.48 Naturrechtsdenken, Rechtspositivismus oder Interessenjurisprudenz hatten jeweils auch eine unterschiedliche Sicht auf die Methodenfragen der Gesetzesauslegung.

Bei der Methodendiskussion ging es teilweise um den Stellenwert der grammatikalischen Methode oder des Wortlaut-Arguments. Im 19. Jahrhundert wurde dieser Methode von den Gerichten großes Gewicht oder sogar ein Vorrang von anderen Kriterien zuerkannt. In England wurde diese Periode als das Zeitalter der strengen Buchstabentreue bezeichnet.49

Der Bedeutungsgewinn dieses Kriteriums beruhte vor allem auf Veränderungen im Verfassungsgefüge. Es war die Zeit, in der die gesetzgebende Gewalt an Souveränität gewann und das Prinzip der Gewaltenteilung die Rechtsprechung strikter an das geschriebene Gesetz binden sollte. Daneben spielte wohl auch der Siegeszug des positivistischen Rechtsbegriffs eine Rolle. Ethische oder wertbezogene Erwägungen sollten bei der Rechtsfindung keine Bedeutung haben.50 Als die Faktoren, die zu dieser Entwicklung geführt haben, sich abschwächten, erfolgte gegen Ende des Jahrhunderts wieder eine stärkere Ausrichtung auf die teleologische Methode. Im Gegensatz zu eher formal argumentierenden Kulturen messen mehr wertbezogene Rechtskulturen dem hinter einer Norm stehenden Gesetzeszweck sowie Vernunft- oder Gerechtigkeitserwägungen eine höhere Bedeutung zu.

2.   Der Umfang der Gesetzesbindung der Gerichte

Eine bis in die heutige Zeit reichende Kontroverse gibt es über den Rang der historischen Auslegungsmethode im Verhältnis zu den anderen Kriterien. Es geht um die Frage, ob für die Ermittlung des Gesetzeszwecks der Wille des historischen Gesetzgebers maßgeblich sein soll oder ob es einen sog. objektivierbaren Willen des Gesetzgebers gibt.51 Mit anderen Worten: Ist ein Gesetz entstehungszeitlich (ex tunc) oder geltungszeitlich (ex nunc) zu interpretieren?

In der römischen Rechtstradition spielte die historische Entstehung des Gesetzes nur eine untergeordnete Rolle. Das Gesetz selbst hatte eine „voluntas“ oder „sententia“, also einen sachgerechten und zweckmäßig erscheinenden Sinn.52 Erst mit der Aufklärung und verstärkt zu Beginn des 19. Jahrhunderts begann ein Umdenken. Ziel der Auslegung sollte sein, den Sinn zu ermitteln, den das Gesetz zu der Zeit, in der es erlassen wurde, haben sollte. Die richtige Methode sei daher die historische Gebots- und Normzweckforschung (subjektive Auslegungsmethode).53 Gegen Ende des 19. Jahrhunderts erfolgte wieder eine Hinwendung zu einem stärker zweckorientierten Ansatz im Hinblick auf heutige Lebensvorgänge.54 Nach dieser Methode verselbständigt sich das Gesetz vom Gesetzgeber und gewinnt eine eigene Zielrichtung und Dynamik. Die Rechtsprechung, die Träger dieses Prozesses ist, erfuhr durch dieses Denken eine spürbare Aufwertung sowie auch einen Machtzuwachs im staatlichen Gefüge.

Bei diesem über Generationen geführten Methodenstreit geht es nicht nur um den Rang der historischen Auslegungsmethode im Verhältnis zu den anderen Kriterien, es geht vor allem um die Strenge der Gesetzesbindung der Gerichte bzw. die Spielräume, die dem Rechtsanwender bei der Interpretation der Gesetze eingeräumt sind. Im Kern geht es daher um die Definitionskompetenz über den materialen Inhalt der geltenden Rechtsordnung.

Je größer die Spielräume sind, die den Gerichten bei der Auslegung und Anwendung von Gesetzen eingeräumt sind, je größer ist auch die Gefahr, dass politische Veränderungen, zeitgebundene Wertvorstellungen oder richterliche Eigenwertungen über die in jedem Recht enthaltenen Allgemeinbegriffe und Generalklauseln Einfluss auf die Interpretation von Gesetzen gewinnen. Exemplarisch dafür stehen die Methodenkontroversen zu den Verfassungswechseln nach 1919, 1933 und 1945. Besonders die NS-Zeit hat gezeigt, wie leicht auch überkommene Gesetze auf neue politisch motivierte Wertsysteme umgedeutet werden können.55 Die Gerichte beriefen sich teilweise auf die nationalsozialistische Weltanschauung als einen außergesetzlichen Interpretationsmaßstab.56

3.   Europäische Perspektiven

Bei einem Vergleich der Auslegungsmethoden in verschiedenen kontinentalen Rechtsordnungen in Europa bestehen nach verbreiteter Meinung in der Literatur viele Gemeinsamkeiten. Unterschiede bestünden nur in Einzel- und Detailfragen und diese seien weniger inhaltlicher Natur als eine Frage der Terminologie. So stehe dem deutschen Viererkanon der Auslegungselemente in Frankreich das von Chr. Thomasius schon vor F. C. v. Savigny entwickelte Zweier-Schema von grammatikalischer und logischer Auslegung gegenüber. Die Aspekte der Systematik und des Normzwecks würden bei dem logischen Kriterium mitberücksichtigt.57

Unterschiedlich ist in der Literatur die Beurteilung der Gesetzesinterpretation in England im Vergleich zu Kontinent. Teilweise wird vertreten, für ein englisches Gericht gelte traditionell und auch heute noch das Gebot sog. Objektiver Auslegung. Die Entstehungsgeschichte und andere „extrinsic materials“ dürften nicht berücksichtigt werden.58 Demgegenüber vertritt St. Vogenauer in einer umfangreichen Studie die These einer grundlegenden Einheit der Auslegungspraxis in Europa. Die Differenzen zwischen dem Kontinent und dem englischen Recht seien nicht größer als zwischen den verschiedenen kontinentalen Rechtsordnungen. Dies betreffe sowohl die Auslegungskriterien als auch deren Gewichtung. In keiner der untersuchten Rechtsordnungen werde einem Kriterium absoluter Vorrang vor anderen Methoden eingeräumt. Es sei auch kein festes Rangverhältnis der Auslegungselemente festzustellen.59

Nach dieser Untersuchung haben die englischen Gerichte zwischen dem 13. und 18. Jahrhundert die kontinentalen Auslegungsgrundsätze übernommen. England sei insofern bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts ebenso wie Deutschland und Frankreich ein Teilgebiet des damals herrschenden Gemeinen Rechts gewesen. Auch die historischen Schwankungen in der Methodendiskussion seien in den europäischen Ländern im Wesentlichen ähnlich verlaufen. Nur der Übergang von einer Phase in die andere habe sich in England jeweils einige Jahre später vollzogen.60

IV.  Heutige Tendenzen

1.   Auslegung als Diskurs

Nach wohl allgemeiner Auffassung ist Ausgangspunkt jeder Auslegung juristischer Texte der mögliche Wortsinn gesetzlicher Regelungen. Da aber Begriffe selten eindeutig sind, gibt es i.d.R. einen Spielraum möglicher Wortbedeutungen.61