Septembersonntag - Andreas Pietsch - E-Book

Septembersonntag E-Book

Andreas Pietsch

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Beschreibung

Im Mai 1918, kurz vor dem Ende des Ersten Weltkrieges, hungern die Menschen im Ruhrgebiet. Vierzig Jungen im Alter von sechs bis vierzehn Jahren werden zusammen mit ihrer Lehrerin für mehrere Monate aufs Land geschickt. Die Reise führt nach Posen ins östliche Deutsche Kaiserreich. Mit den widrigen Verhältnissen arrangieren sich die Kinder. Doch an einem spätsommerlichen Septembersonntag beginnt das Verhängnis. Die Geschichte basiert auf einer wahren Begebenheit, an die noch heute ein Gedenkstein in Castrop-Rauxel erinnert.

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Seitenzahl: 180

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Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© 2021, Andreas Pietsch · tangentetext.de

Lektorat: Marion Voigt · folio-lektorat.de

Coverdesign: Gisela Hoffmann · hoffmann-gisela.com

Satz & Layout / e-Book: BÜCHERMACHEREI · buechermacherei.de

Fotos: © Andreas Pietsch

Titelfoto: Ausschnitt aus: „Leibesübungen für Jung und Alt“, Bildreihe des Deutschen Hygiene-Museums Dresden, ca. 1920, © LWL-Medienzentrum für Westfalen

Autorenfoto: Christine Blei Photography · christineblei.de

Das auf der Rückseite abgebildete Katzengold stammt von der Zeche Graf Schwerin (Castrop-Rauxel). Der Bergmann Hubert Pietsch, Vaters des Autors, brachte den Stein 1968 seinen Kindern von unter Tage mit.

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand, Norderstedt

978-3-754-37276-0 (Paperback)

978-3-755-76218-8 (E-Book)

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Inhaltsverzeichnis

Das Elend

Die Gruppe

Die Katastrophe

Das Wiedersehen

Der wahre Kern

Namensverzeichnis

Castroper Kinder

• Heinrich Waimann / Katze (13 Jahre)

Eltern: Elfriede und Richard

• Rudolf Villis (8)

Alfred Villis (11)

Eltern: Klara und Wilhelm

• Stephan Walkowiak (10)

Mutter: Gertrud

• Josef Walter (10)

Mutter: Franziska

• Leo Talarczyk (11)

• Karl Mathis (14)

• Hans Götte (7)

• Willy Götte (8)

• Hermann Laumann (6)

Castroper Schule

• Agnes Exner (Lehrerin, 27)

• Dr. Mannsherr (Rektor, 60)

Posen

• Rozalia (Köchin, 24)

• Witek (ihr Vater, „fast 50“)

• Lothar Eichblatt / Łotr / Schuft (seit 1903 Gutsbesitzer)

• Małgośka (Bedienstete)

• Anna Płoszka (Lehrerin)

• Grzegorz (Kind aus Bierschlin/Wreschen)

• Hinz (Polizist)

Frei nach einer wahren Begebenheit.

Im Kern entspricht der Ausgang auf dem Gutshof dem historischen Geschehen.Trotzdem: Das meiste ist erfunden.

Das Elend

März und April 1918

„Bäh, Steckrüben!“ – Der ritualisierte Ausruf gehörte für die beiden Jungen an den Beginn eines Mittagessens wie das Amen ans Ende des Tischgebetes. In diesen kargen Zeiten war der Speiseplan genauso eintönig wie die Gespräche. Steckrüben, Hunger, Krieg, Steckrüben, Hunger, Krieg. Die herb-süßen Ackerfrüchte gab es zum Frühstück als Suppe, mittags als Schnitzelersatz und am Abend als Kuchen. Da freute man sich geradezu auf Steckrüben-Marmelade am Sonntag.

„Wenn es euch nicht passt, dann fresst was aus dem Kohlenschuppen“, brachte Vater Wilhelm die Jungen zur Räson. Manchmal suchte sich seine resignierende Wut ein falsches Ventil. Dann brauchte er gar nicht erst in Klaras mütterliche Augen zu blicken, um sich die Rüge für seine Grobheit abzuholen. Die Scham über die unbeherrschte Äußerung stellte sich von selbst ein. Schließlich fühlte Wilhelm wie seine Söhne. Es kam kaum was zu essen auf den Tisch und das Wenige schmeckte fad. Seit mehr als einem Jahr blockierten die Engländer die Nahrungslieferungen. Die heimische Kartoffelernte war schlecht ausgefallen. Was da war, ging an die Front oder blieb bei den Bauern.

In den Chroniken hieß es später: Das Ruhrgebiet hungerte. Dortmund hungerte. Bochum hungerte. Recklinghausen hungerte. Und das kleine Castrop dazwischen hungerte auch. Vor dem Krieg hatte die Herzlichkeit der Revierleute einen hellen Kontrast gebildet zu den vom Kohlestaub geschwärzten Häusern. Mehr und mehr übertünchte nun ein tristes Grau die Gemüter. Man musste die Menschen genau ansehen, um noch ein paar Nuancen in den Schatten der Gesichter zu unterscheiden: ein zuversichtliches Grau, ein trotziges Grau, ein verzweifeltes Grau, ein totes Grau. Und stets der Hunger!

Nicht einmal der Krieg wurde satt. Er langte im März 1918 noch immer kräftig zu, verschlang Menschen und Hoffnung. Historiker bezeichnen das 1914 begonnene Desaster als den Ersten Weltkrieg. Schon dieser erste verlangte den Menschen das Letzte ab.

Wilhelm Villis war stolz auf seine Söhne Rudi und Alfred und darauf, dass sie dieses triste Leben mit kindlicher Unbekümmertheit bewältigten. Alfred war elf, Rudi acht Jahre alt. „Noch zu grün für die Schufterei im Pütt“, sagte Wilhelm, wenn ihm wieder einmal bewusst wurde, dass dem Ruhrgebiet die Arbeitskräfte ausgingen. Vor allem aber war er darüber froh, dass Alfred und Rudi zu jung fürs Militär waren. Niemals sollten sie für Gott, Vaterland oder einen wilhelminischen Popanz töten. Und schon gar nicht dafür sterben.

Der Rüffel des Vaters sorgte für Ruhe am Tisch. Lustlos löffelten die Jungen das undefinierbare Essen. Ohne Öl, Fleisch und anderes Gemüse blieb die Steckrübenmahlzeit extrem kalorienarm, dünn. Alfred und Rudi hatten das Glück, dass sie das alles zwischendurch vergessen konnten. Anders als die erschöpften und zermürbten Eltern.

Die Monotonie des Speiseplans, die Härte des Alltags, die Hartnäckigkeit des Winters. Mit Minustemperaturen krallte er sich am März fest. Anstatt den bunten Frühlingsboten auf den Wiesen Platz zu machen, klebte er jeden Morgen seine Eisblumen an die Fensterscheiben. Die Nerven der Menschen waren genauso geschunden wie ihre Kleidung. Und keine Besserung in Sicht. Bestenfalls ein paar Hoffnungsschimmer. Vor ein paar Tagen hatte das Deutsche Reich Frieden geschlossen mit Russland. Im Februar hatten die Deutschen und Österreicher mit der Ukraine einen Brotfrieden vereinbart. Blieb zu hoffen, dass das Wort hielt, was es versprach. Brot und Frieden für beide Seiten.

Die Zechen im Ruhrpott standen unter Dampf. Wilhelm Villis war Bergmann wie seine Brüder wie sein Vater wie sein Schwager wie alle. Hundert Millionen Tonnen Kohle pro Jahr zogen die Fördertürme nach oben. Und das, obwohl viele Kumpel den tiefen Schacht gegen den Schützengraben eingetauscht hatten. Die Soldaten fraßen den Dreck an der Front, die Bergleute unter Tage. „Bei uns klebt weniger Blut dran“, sagte Wilhelm.

Wäre das Volk nicht so erschöpft gewesen, hätte es endlich rebelliert. Gegen diesen alle menschlichen Werte verachtenden Krieg, gegen das unsinnige Schlachten und Sterben, gegen die Arroganz der Mächtigen, die den fruchtbaren Nährboden für all das schaffte.

„Wir schlucken unsere Wut runter, dann haben wir wenigstens etwas im Magen“, sagte Wilhelm manchmal. Leise. Irgendwo hatte er gelesen, dass die Leute in den Großstädten keine Trauerkleidung tragen durften, wenn ihr Sohn im Feld gefallen war. Das würde die Stimmung nur noch weiter drücken, hieß es von behördlicher Seite. Wut. Die kleinen Kinder macht der Hunger kaputt, die großen ein Geschoss. Und die Eltern sollen so tun, als habe der Gram sie nicht längst zerfressen.

❊ ❊ ❊

„Wir gehen zu Katze.“

Die Eltern waren froh, wenn der Große den jüngeren Bruder unter seine Fittiche nahm. Alfred überragte die Gleichaltrigen und ging für dreizehn durch. Beim Armdrücken auf der Schulbank hatte er schon manch einem Aufschneider aus der höheren Klasse Respekt eingeflößt. Für Rudi war Alfred ein starker und verlässlicher Freund. Solange er sich bei ihm anhängte, konnte ihm nichts Schlimmes widerfahren.

Die beiden trafen sich fast täglich mit Heinrich Waimann aus der Cottenburgschlucht. Die „Schlucht“ war ein schmaler, unbefestigter Weg. Auf der einen Seite ging es steil hoch in den kleinen Wald. Auf der anderen klebten sechs, sieben Häuser eng aneinander. Dort, wo sich der Weg ins freie Feld verlor, begann das Gelände der Pferderennbahn mit ihren natürlich gewachsenen Hindernissen. Bis Kriegsbeginn hatten dort regelmäßig sportliche und gesellschaftliche Großereignisse stattgefunden.

So richtig hell wurde es in der Cottenburgschlucht nie und am wenigsten für Heinrich und seine Mutter. Vor einem halben Jahr erreichte sie die Nachricht vom Heldentod des Vaters. Der Bergmann Richard Waimann war ein letztes Mal unter die Erde gegangen, diesmal nicht tief, anderthalb Meter vielleicht, aber für immer. Eine Halbwaise und eine Kriegerwitwe mehr.

Wegen seiner beträchtlichen Katzengoldsammlung hieß Heinrich für jeden nur Katze. Er besaß die meisten und die prächtigsten Stücke. Seinen größten Schatz konnte der Dreizehnjährige kaum mit einer Hand halten.

Alle Söhne und Töchter von Bergmännern sammelten ein paar dieser goldschimmernden Brocken. Unter Tage lagerten Unmengen davon. Pyrit oder Schwefelkies hießen sie bei den Mineraliensammlern. Manche sprachen dem Pyrit heilende Kräfte zu und schworen bei Arthritis und Ischias-Schmerzen darauf.

Für die Kumpel war Katzengold wertloses Zeug. Nach der Schicht kramten sie hin und wieder einen hühnereigroßen Klumpen aus der Arbeitstasche. Den übergaben sie ihren Kindern wie eine Kastanie, die sie auf dem Nachhauseweg beiläufig aufgelesen hatten. Man bedankte sich brav und packte den Brocken zu den anderen in den Karton unter dem Bett.

Bei Heinrich war das anders, er hegte seine Sammlung wie andere Jungen Zinnsoldaten oder die Mädchen ihre Puppe.

Sein Vater Richard hatte ihm bis zur Einberufung täglich ein Stück Katzengold aus der fünfhundert Meter tiefen Unterwelt mitgebracht. „Mit einem schönen Gruß vom Berggeist. Er lässt dir ausrichten, du sollst in der Schule tüchtig lernen, damit du später dein Geld bei Tageslicht verdienst und nicht ein Leben lang wie dein Alter im Dunkeln wühlst.“

Das war das Ziel vieler Familien: Die Kinder sollten nicht im Dreck rumkratzen, Gefahren eingehen und ihre Gesundheit riskieren. So stolz der Bergmann auf seine Arbeit war, so wenig wünschte er, dass der Sohn ihm nacheiferte. „Wenn du dich nicht rechtzeitig vom Bergbau abwendest, verfällst du ihm“, hatte Richard seinen Sohn gewarnt.

Dabei war es nicht die Plackerei, die Richard Waimann zu schaffen gemacht hatte. „Kohle, Staub und Hitze sind die kleinsten Feinde unter Tage“, hatte er immer gesagt. „Und an die unmenschliche Schufterei gewöhnst du dich.“

Es war die Angst. Beim Einsteigen in den Förderkorb verbiss sie sich in seinem Nacken und ließ erst wieder locker, wenn er zum Schichtende in der Schwarzkaue seine schmutzige Kleidung auszog. Arbeitslumpen nannte er sie.

Als Kind hatte Richard Waimann die Geschichten von den Grubenunglücken gehört. Acht Tote in Recklinghausen, neununddreißig Leichen in Dortmund, in Frankreich waren es mal über tausend.

Einmal, um die Jahrhundertwende, hatte es Richards Familie getroffen. Onkel Hermann war unter der Erde nach einer Schlagwetterexplosion erbärmlich krepiert. Erst lebte er noch. Die Kumpel, darunter Vater, Bruder und Schwager, bekamen ihn einigermaßen freigeschaufelt. Doch ein Fuß klemmte fest zwischen Gesteinsbrocken. Als die Sanitäter eintrafen, halluzinierte Onkel Hermann schon und kehrte nur noch sekundenweise in die schwarze Steinkohlewelt zurück. Fuß und Unterschenkel waren nicht zu retten, aber vielleicht der Mensch. Es musste schnell gehen, denn der Streb drohte weiter einzubrechen. In ihrer Verzweiflung griffen die Männer zum Fuchsschwanz.

Ob der Onkel an den Schmerzen, am Entsetzen oder am Blutverlust gestorben ist, hat später keiner herauszufinden gewagt. Niemand reinigte den wahren Kern der Geschichte vom Kohlenstaub der schauerlichen Übertreibungen. In die Familienchronik ging Onkel Hermann als der tapfere Hauer ein, dem sie mit achtundzwanzig das Bein abgesägt hatten. Ohne Betäubung und ohne Erfolg.

Die Erwachsenen waren damals bald wieder im Normaltempo durch die Mühen des Alltags geschritten. Anfangs mehr gebückt als sonst, später fand der einbeinige Onkel kaum noch Erwähnung. Außer in Richards Kopf. Die Vorstellung von der Säge, die sich durch Haut, Fleisch und Knochen fraß, hatte in sein junges Leben eine tiefe Angstfurche gerissen, die er ein paar Jahre später provisorisch zuschütten musste. Denn es gab für seinen Broterwerb nichts als den Beruf des Bergmanns. Richard wollte das nie, aber der Vater hatte es so bestimmt. „Keine Flausen!“

Also fuhr Richard in die Grube ein und schuftete wie jeder. Die Bergleute waren kräftig, mit drahtigen Oberarmen, die schweres Werkzeug gegen massives Material schlugen. Der moderne Drucklufthammer machte die Arbeit nicht leichter, nur effizienter. „So ein Ding wiegt seine zehn Kilo, die musst du erst mal im Liegen gegen das Flöz stemmen“, waren sich die Bergmänner einig, dass ihnen der technische Fortschritt den Körpereinsatz nicht abnahm. Richard war zufrieden mit seinem Tagewerk, wenn er die schweren Loren mit den Steinkohlebrocken zum Förderkorb bugsierte. Weil er und die anderen Männer unten ihr Leben riskierten, rauchten oben die Schornsteine. Und alle hatten einen warmen Arsch.

Richard gewöhnte sich an die Arbeit, aber nie an die Angst. Sie blieb sein Begleiter. Darüber reden konnte er mit niemandem. Die Kumpel gaben sich rau und hart wie das Leben. Sie waren aus anderem Holze geschnitzt, aus anderem Granit gemeißelt. Wenn ihre Mädchen von den Gefahren sprachen, kehrten die Kerle den starken Macker raus, priesen die Kameradschaft, einer für den anderen, alle zusammen. Nein, Mädchen, sorgt euch nicht. Eure Männer beherrschen mit Schlägel und Eisen den Stollen. Gegen die Dunkelheit hilft die Karbidlampe, der Steiger zeigt den Weg. Und er hat sein helles Licht bei der Nacht, und er hat sein helles Licht bei der Nacht schon angezünd’t, schon angezünd’t.

Seinem Sohn, den die Freunde nur Katze nannten, wollte Richard die ewige Fortsetzung der Familientradition ersparen. Vater im Pütt, Opa im Pütt, Uropa im Pütt, viele verschütt. Was Besseres sollte Heinrich werden. Vielleicht Schriftsetzer in einer Druckerei oder Elektriker. „Bevor ich meinen Jungen auf die Zeche schicke, hacke ich ihm lieber eine Hand ab“, hatte Richard auf der Taufe seines einzigen Kindes gesagt.

Das war 1905 und jetzt dreizehn Jahre her. Die Gäste schwiegen damals. Alle dachten wie Richard und alle wussten, dass es einmal anders kommen würde. Den Beruf des Bergmanns vererbt man im Ruhrpott wie die Haarfarbe. Da machse nix, sagen die Leute.

1916, zwei Jahre nach Kriegsausbruch, riefen Vaterland, Kaiser und Ehre Richard zu den Waffen. Die nationale Selbstüberschätzung war inzwischen abgeklungen, aber das von Menschenhand provozierte Stahlgewitter tobte noch immer über die Schlachtfelder. Auf die Angst im Bergwerk folgte die Angst vor den Schrapnells und Tanks. Ein schlechter Tausch, wie Richard bald klar wurde. Der Auswurf des Krieges sind keine Helden. Sondern Leichen, Witwen und Waisen.

Als Richard den Kriegsdienst antrat und seine schäbige Bergmannskleidung gegen eine schlecht sitzende Uniform eintauschte, da ahnte Heinrich, dass sein Vater der Katzengoldsammlung nie wieder etwas hinzufügen würde. Er betrachtete sie als fertig. Ein für alle Mal abgeschlossen war besser als ewig unvollendet. Den Ausdruck hatte er mal aufgeschnappt. Der Lehrer hatte von dem Werk eines berühmten Komponisten gesprochen, das unvollendet geblieben war. Heinrichs Sammlung sollte kein Fragment sein. Sie erzählte eine Vater-Sohn-Geschichte, die mit Richards Einberufung ihre dramatische Wendung nahm und kurz danach an der Front ein jähes Ende fand. Grausamer Tod, aber vollendete Sammlung.

Andere Bergleute, die von Heinrichs Begeisterung für Katzengold wussten, ließen dem Halbwaisen über ihre Kinder neue Stücke zukommen. Der Junge lehnte ab. Jede Ergänzung seiner Sammlung wäre für ihn ein Verrat am Vater gewesen. Katze arrangierte seinen Schatz im Schuppen hinter dem Haus: Mit seinen Freunden Rudi und Alfred verbrachte er Stunden vor dem Regal, das sein Vater aus abgetretenen Fußbodenbrettern gebaut – „zusammengekloppt“ – hatte.

Katze besaß ein koloriertes Foto aus Südamerika. Es zeigte einen würfelförmigen Katzengoldbrocken mit spiegelglatten Seitenflächen. Wie pures Gold glänzte der Pyrit-Quader in einer groben Männerpranke, die er rechts und links überragte. Katze hatte das Bild mit einem Nagel am Regal befestigt. Später wollte er nach Peru reisen, um ein solches Prachtstück zu finden und in den eigenen Händen zu halten. Ja, nach Peru! Dorthin zog es ihn.

Einen so imposanten Klumpen hatte sein Vater nie aus den Tiefen des Ruhrgebietes gehauen. Das Katzengold des Ruhrpotts war wie die Menschen hier: unauffällig, bloß kein Protz. Eher ein feines Funkeln als ein strahlender Schein. Einen halben Kilometer unter Castrop hatte der Pyrit keine goldigen Würfel geformt. Er war eher auf das Gestein gehaucht oder gesprenkelt. So nahmen ihn die Bergmänner wahr: Glitzerpunkte im schlackegrauen Gestein. Im Schein der Grubenlampe inszeniert sich unter Tage eine märchenhafte Schönheit, die oben aber eher an Firlefanz und Tand als an wertvolle Schätze erinnert.

„Unser Katzengold sieht aus, als hätte ein geiziger Pastor mit seinem Weihwasserwedel ein kleines bisschen Edelmetall in der Grube verteilt“, hatte Richard einmal gesagt. Seinem Sohn Heinrich sollte sich dieses Bild für immer einprägen: ein übertrieben sparsamer Kirchenmann, der mit großer Geste wenig Glanz in die Dunkelheit bringt.

Immerhin etwas Glanz. Auf Katzes Freunde wirkten die unzähligen metallischen Goldtupfer wie eine Verheißung.

„Wenn das echtes Gold wäre“, schwärmte Rudi, „würde ich mir ein Pferd kaufen und wegreiten.“

„Wohin?“, wollte sein großer Bruder wissen.

„Weiß nicht. Einfach weg. Wo es viel zu essen gibt für mich und meinen Braunen. Ich kaufe einen Bauernhof. Du und Mama, ihr kommt mit. Und Papa natürlich.“

Und Papa.

„Ihr habt wenigstens noch einen.“ Katze schluckte das Heulen hinunter. Seine Sammlung war greifbare Erinnerung an den Vater. Es tat ihm gut, wenn Alfred und Rudi mit großem Verlangen auf seinen Reichtum schauten. Aber wenn sie nur beiläufig ihren Alten erwähnten, wurde ihm bewusst, dass er es war, dem etwas fehlte. Rudi und Alfred hatten zu Hause, was er nie wieder besitzen würde. Einen Vater.

Mag sein, dass Katzes Sammlung bei den Villis-Brüdern Neid aufkommen ließ. Der verflog, sobald die Brüder den Schuppen verließen und kurz danach bei ihren Eltern ankamen. Auf dem Kilometer zwischen Cottenburgschlucht und Marienstraße ging diese harmlose Lust auf ein paar wertlose Steine im Straßengraben verloren. Dann blieb Katze mit seinem Neid auf eine vollständige Familie zurück. Und der blieb. Ihn nahm er mit ins Haus, mit in die Nacht, mit in jeden neuen Tag. Und Mutter weinte.

Von all dem verstanden die Brüder nur wenig. Deshalb traf sie Katzes Groll unvorbereitet: „Wenn das echtes Gold wäre, dann wäre es mein echtes Gold. Ihr würdet euch davon gar nichts kaufen!“

Rudi schwieg. Ihm war kalt, er hatte Hunger und wollte nach Hause.

Als die Brüder auf dem Heimweg von der Cottenburgschlucht in die Cottenburgstraße bogen, trat Leo Talarczyk aus dem Wald. „Du hast doch bestimmt wieder irgendeinen Scheiß gemacht“, begrüßte Alfred den Gleichaltrigen.

Leo grinste und kramte aus seiner Hosentasche eine Handvoll feuchte und fast vermoderte Bucheckern. Jeder nahm ein paar und pulend setzten sie zu dritt ihren Weg fort. Leo war Alfreds Mitschüler, nicht Schulfreund. Leo hatte keine richtigen Freunde. Er führte das Leben eines Außenseiters: mittelgroß, schwarze Haare. Auf der unreinen Haut sprossen die ersten Pickel, die er mit schmutzigen Händen ausdrückte, was hässliche Entzündungen im Gesicht zurückließ. Niemand mochte ihn so richtig, niemand lehnte ihn ganz ab. Leo war da, aber er gehörte selten dazu.

Vor einem halben Jahr hatte auch der Letzte begriffen, dass der Elfjährige komisch war. Da hatte sich Leo nach Unterrichtsschluss im Klassenraum versteckt. Er wartete, bis es im gesamten Gebäude still war. Dann begann er mit der Arbeit. Leo türmte Bänke und Tische in der Mitte des Raumes zu einem riesengroßen Haufen. Kein Möbelstück blieb unverrückt. Mit größter Kraftanstrengung und Geschicklichkeit wuchtete er zuletzt den Lehrerstuhl wie ein Gipfelkreuz auf den höchsten Punkt des konfusen Gebildes. Am nächsten Morgen war die Aufregung groß. Der Lehrer tobte, die Direktion war empört. Ein Schuldiger wurde nicht ermittelt. Weil kein Schaden zu beklagen war, verfolgte niemand die Angelegenheit. Den Mitschülern gegenüber erklärte Leo: „Da hat wohl ein Künstler ein großes Werk geschaffen.“ Keiner verstand, was er damit meinte. Aber jeder spürte Leos innere Aggression, die sich in einem zynischen Grinsen den Weg nach draußen bahnte. „Später werde ich Künstler.“

Damit wussten die Kinder alles über den unheimlichen Möbelhaufen. Niemand verriet Leo.

❊ ❊ ❊

„Alfred und Rudi können den Sommer über nach Posen“, empfing Klara Villis ihren Mann, als er erschöpft von der Untertageschicht nach Hause kam.

Wilhelm beugte sich vor, um seine abgeschabte Arbeitstasche auf dem Fußboden abzustellen. Arme und Hände waren müde und hatten nur noch einen Wunsch: loslassen. Er bekam den Rücken nicht richtig krumm, wollte aber auch nicht in die Knie. Deshalb schien es, als würde ihm die Schwerkraft dieses Stück Leder aus der Hand reißen. Die Tasche plumpste nach unten.

Dabei war sie schon auf dem Hinweg zur Arbeit leicht gewesen. Sie hatte nichts als ein Stück Papier enthalten, in das Klara sein spärliches Karo eingepackt hatte. Karo sagen sie im Ruhrgebiet zu einer belegten Brotscheibe. Wie so oft fehlte jeder Belag. Nicht einmal ein dünne Schmalzschicht erinnerte an bessere Zeiten. Trockenkaro nannte Wilhelm diese für einen hart arbeitenden Mann unzulängliche Kost.

„Von Mai bis September werden die Jungs in Posen gut versorgt“, sagte Klara. Die Aussicht auf regelmäßige Mahlzeiten für Rudi und Alfred entschädigte sie dafür, dass sie ihre Kinder so lange Zeit in fremde Hände geben würde. Wilhelm blickte seine Frau an.

„Und was sagen unsere Jungs dazu?“

„Sie freuen sich, weil sie die meisten kennen, die mitkommen.“

Wilhelm zog den Stuhl unter dem Küchentisch hervor. Die Nachricht kam nicht überraschend. In den letzten Tagen verbreitete sich auf dem Pütt das Gerücht, dass die Castroper Verwaltung für vierzig Kinder einen Platz in Posen aufgetrieben habe. Mehrere Städte aus Ruhrgebiet und Rheinland schickten Gruppen in die östliche Provinz.

Weit weg von der Stadt, die ihre Bürger nicht mehr versorgen konnte, sollten die Jungen den Sommer auf einem Gutshof verbringen. Die Auswahl traf die Schule. Wilhelm wusste, es durften die mit, denen man den Mangel am deutlichsten ansah oder deren Vater im Krieg war. Sein Rudi und sein Alfred gehörten zur ersten Gruppe. Die Schule hatte erkannt, dass die Eltern keine Gelegenheit fanden, außerplanmäßig Wurst, Brot oder eine Handvoll Möhren aufzutreiben. Die Erniedrigung würgte ihn. Alle Kraft, die Wilhelm besaß, fraß das Bergwerk. Niemand hielt es ihm vor, dass seine Kinder darbten. Trotzdem litt er unter seinem ohnmächtigen Versagen.

„Ja, lass Alfred und Rudi für den Sommer nach Posen. Sollen sie sich jeden Tag satt essen – oder wenigstens nicht hungern.“

❊ ❊ ❊

„Mama, bitte, ich will mit“, Stephan konnte hartnäckig sein. Gertrud Walkowiak weigerte sich, den Zehnjährigen nach Posen abzugeben. Das Amt hatte sie informiert, dass für ihn ein Platz frei sei. Aber Gertrud lehnte das ab! Ihr Mann war an der Front, dennoch kam die Frau einigermaßen durch die Zeit. Ihre Schwester hatte erst kürzlich in der Nachbarstadt Herne einen Bauern geheiratet. Bescheidener Hof, aber groß genug, dass von dort regelmäßig Eier, Butter und Kartoffeln ins Haus kamen und die amtlichen Zuteilungen ergänzten. Das reichte für sie, für Stephan und für die siebenjährigen Zwillinge Margarethe und Berta. Warum sollte sie Stephan für Monate in die ferne Provinz ziehen lassen, wo sie einen kräftigen Jungen hier zu Hause benötigte? Stephan hatte das Alter erreicht, in dem er Kohlen aus dem Keller schleppen und Anmachholz hacken konnte. Außerdem schickte sie ihn regelmäßig zum Bauernhof von Onkel und Tante, um dort etwas abzuholen.

„Mama, ich will ein Stück Kuchen!“

Während Gertrud in Gedanken noch bei der Landverschickung war, blickte Stephan gierig zum Schrank hinauf. Dort stand das Blech mit dem Streuselkuchen, den sie am Vormittag gebacken hatte. „Den gibt es erst, wenn Papa da ist. Vielleicht kommt er heute Abend“, wies die Mutter den nörgelnden Sohn ab.