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Das Internet ist seit Jahrzehnten abgeschaltet, die Statussymbole von früher sind nur noch Elektroschrott. Reiner, Mitte zwanzig, sammelt Laptops aus dieser lange vergangenen Zeit und wird zum Begründer einer Jugendbewegung, die verklärt, was es früher wohl einmal gab – die Freiheit einer Gesellschaft, die alles miteinander teilt. Mit Hilfe einer Autobatterie gelingt es, eine Verbindung zu lange stillgelegten Servern herzustellen. Die Jugendlichen sehen, was seit Jahrzehnten keiner mehr gesehen hat: das Internet. Mit einem sezierenden Blick auf unsere Gegenwart hat Josefine Rieks einen rasanten wie klugen Roman geschrieben. Ein Debüt, das man mit weit aufgerissenen Augen liest.
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Seitenzahl: 183
Veröffentlichungsjahr: 2018
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Reiner ist Mitte zwanzig und arbeitet bei der Deutschen Post. Er sammelt Laptops und wird damit nicht nur zu einem Experten einer lange vergangenen Zeit. Der schüchterne Computernerd wird auch zum Begründer einer Jugendbewegung, die sich auf Industriebrachen versammelt und das verklärt, was es früher wohl einmal gab – die Freiheit einer Gesellschaft, die alles miteinander teilt. Mit Hilfe einer Autobatterie gelingt es Reiner, eine Verbindung zu lange stillgelegten Servern herzustellen. Die Jugendlichen sehen, was seit Jahrzehnten keiner mehr gesehen hat: das Internet.
Serverland erzählt von einer Zukunft, die sich anfühlt wie die Vergangenheit. Ein Romandebüt, das man mit weit aufgerissenen Augen liest.
Hanser E-Book
Josefine Rieks
Serverland
Roman
Carl Hanser Verlag
Governments of the Industrial World,
you weary giants of flesh and steel, I come from Cyberspace, the new home of Mind. (…)
We have no elected government, nor are we likely to have one, so I address you with no greater authority than that with which liberty itself always speaks. I declare the global social space we are building to be naturally independent of the tyrannies you seek to impose on us.
John Perry Barlow, A Declaration of the Independence of Cyberspace, 1996
In dem Moment, als eine der sowjetischen Dreadnoughts ihren Sockel traf, blitzte Panik in den patinagrünen Augen der Freiheitsstatue von Amerika auf. Die Erschütterung war so heftig, dass sich auf Höhe des Halses mit ohrenbetäubendem Knirschen ein Riss bildete. Unaufhaltsam trennte der Riss das Kupfer, Stahl krachte auf Stahl, verbog kreischend und brach. Krachend fiel die linke Gesichtshälfte. Der Strahlenkranz raste wie ein Geschoss nach unten und spießte einen GI auf, der an den Boden genagelt starb. Splitter des gebrochenen Metalls schossen in alle Richtungen und trafen andere GIs wie MG-Salven.
Dann gab mein Betriebssystem den Geist auf. Noch ein keuchendes Surrgeräusch und der Bildschirm war schwarz.
Das war der fünfte Absturz. Nachdem ich den Rohling mit dem überspielten Betriebssystem endlich unter dem leeren Besteckkasten in der Küche gefunden hatte, tauschte ich den Windows-95-PC mit dem DELLLatitude C840, um das Windows 98 neu zu installieren. Aber selbst das brachte nichts. Das Spiel kratzte immer noch an derselben Stelle ab. Ich starrte auf den schwarzen Bildschirm und musste mir eingestehen, dass ich nicht kapierte, wo der Fehler lag. Ich konnte weder ausschließen, dass meine Kopie des Betriebssystems fehlerhaft war, noch, dass es an der Hardware lag. Noch viel schlimmer, es drängte sich mir der einzig logische Gedanke auf, dass das Spiel schuld war. Ich versuchte es seit gestern Nachmittag zu spielen und war nicht mal über die Eingangssequenz hinausgekommen, in der Romanov, der Premier der Sowjets, die Freiheitsstatue niederschoss und zu einem Monolog ansetzte: »Schaut euch eure Freiheit an, da liegt sie zerbrochen vor euch.«
Ich saß ziemlich fertig auf dem Teppich, um mich verteilt ein paar der Mikroprozessoren, die mir beim Suchen aus dem Schrank gefallen waren, als das durchdringende, fiese Piepen des Weckers losging. Es war schon 6.30 Uhr.
»Frag doch mal Reiner. Der kennt sich mit so was aus. – He, Reiner?! Onlinepornographie war doch besser, oder?«
Im Endeffekt interessierte es mich wenig, was sie sagten, denn heute hatte ich den Fund gemacht.
Ein MacBook Air.
Das MacBook Air war der Cadillac unter den Notebooks. Es hatte meiner Sammlung quasi noch gefehlt.
Ich saß an meinem Thekenplatz und nippte am Wodka; meine Regel war, dass ich ging, wenn er leer war. Dazu trank ich genau zwei Bier. Neben dem Wodkaglas lag die BZ vor mir. Ich las sie wie immer von vorne, ohne einen Artikel auszulassen. Prinzessin Charlotte hatte eine Fehlgeburt gehabt, aber ich konnte mich kaum darauf konzentrieren.
Außer Chris, der mit Lesebrille Kreuzworträtsel löste, waren noch zwei Männer in der Kneipe, die ich vom Sehen kannte. Sie saßen rechts an der Theke und schwiegen. Der anschließende Billardraum war leer. In den Fenstern hingen vergilbte Spitzengardinen, dahinter Schultheiss-Werbung. Links in der Ecke hatte ein blondierter Typ den Kopf auf die Theke gelegt und schien zu schlafen. Alles war gut, aber dann wurde ich angesprochen.
»Frag doch mal Reiner. Der kennt sich mit so was aus. – He, Reiner?! Onlinepornographie war doch besser, oder?«
Ich blickte auf. Chris hinter der Theke nickte mehrmals. Er hatte sich ein Geschirrtuch über die Schulter geworfen. Ich tat so, als würde er nicht mich meinen, und versuchte weiterzulesen.
»Ne? Mehr, wie heißt das? Sodomie? Kranker Scheiß mit Tieren und so –«, sagte er grinsend. »Und weniger Haare. Haha.«
»Was hat er gesagt?«, sagte einer der beiden Männer und hieb dabei seine Hand gegen den Oberarm des anderen. »Mit Tieren?!«
Ich hatte den Fehler gemacht, ihm damals vom Lenovo zu erzählen. Das war vor zwei Jahren gewesen. Der Lenovo Z580 mit Windows XP hatte auf einem Haufen Sperrmüll gelegen, und ich hatte ihn eigentlich nur aus einer Laune heraus mit nach Hause genommen. Der Akku hielt genau 15 Minuten. Auf dem Desktop war das Foto einer hübschen blonden Frau zu sehen gewesen, die zusammen mit einer Kurzhaarigen in die Kamera lächelte. Ihre beiden Gesichter waren viel zu nah aufgenommen worden, trotzdem hatte ich das Foto als Desktophintergrund behalten und sah es immer noch jedes Mal, wenn ich den Lenovo hochfuhr.
»Erzähl doch mal die Geschichte von der blonden Frau«, sagte Chris jetzt, wie erwartet. Ich blickte auf meine Hände, die vor mir auf der Theke lagen.
»Der Junge hat ein Notebook gefunden mit den ganzen Sachen, die eine blonde Frau, der das Ding mal gehört hat, drauf gespeichert hat. ’Ne Menge Fotos und auch Pornos«, sagte er und lachte.
Keiner reagierte so richtig. Aber dann war auf den Gesichtern der beiden Männer so etwas wie Einverständnis zu lesen.
»War nicht alles schlecht damals«, bestätigte der Dickere der beiden jetzt. Und der andere sagte, als würde er endlich die Wahrheit über einen schlechten Torwart aussprechen: »Wird man ja noch mal sagen dürfen«, und ließ dabei seine Hand auf die Theke fallen. Beide nickten und wirkten dann auf die gleiche Weise befriedigt wie Chris.
Ich sah wieder auf meine Finger mit den langen Nägeln. Obwohl ich die Kneipe noch am liebsten hatte, weil man hier eigentlich nichts sagen konnte, für das man sich nachher schämen musste, was ja auch der Grund war, warum ich hier ab und zu über die Notebooks und manchmal auch über die Spiele redete, entschied ich, nichts vom MacBook Air zu erzählen. Es war zu wertvoll, um es der Gefahr auszusetzen, in einem von Chris’ Monologen zerpflückt zu werden. Ich hatte jetzt auch keine Lust mehr, eine Runde auszugeben. Das hatte ich zur Feier des Tages noch vorgehabt, als ich meine Wohnungstür abgeschlossen hatte.
Also trank ich den Rest Wodka, das zweite Bier musste heute ausfallen. Ich war nicht mal eine halbe Stunde hier gewesen, das las ich in Chris’ Blick, während ich bezahlte und ging.
Als ich dann die zwei dunklen Seitenstraßen nach Hause lief und sich die Straßenbeleuchtung auf dem nassen Kopfsteinpflaster spiegelte, war ich wieder ganz ruhig und dachte an mein neues MacBook Air.
Nach Feierabend hatte ich einen Abstecher zum Trödel an der Pankstraße gemacht. Der Laden war nie sehr ergiebig, die Waren lagen lange herum und es gab nur selten etwas Neues. Ich hatte mich gerade gelangweilt umgesehen und überlegt, ob das vollgestellte Ladenlokal nicht doch bloß zur Geldwäsche betrieben wurde, da hatte ich das MacBook Air neben einem alten Toaster und einer DVD-Sammlung James Bond Collector’s Box aus den Nullern entdeckt.
Vorsichtig hatte ich es hochgehoben. Es war federleicht. Ich hatte einen Fünfziger aus meinem Portemonnaie geholt und ihn wieder zurückgesteckt. Plötzlich hatte ich mich sehr selbstsicher gefühlt und recht damit gehabt. Der marokkanische Händler stimmte dem Zwanziger, den ich ihm dann hinhielt, mit einer gelangweilten Handbewegung zu. Er guckte gar nicht richtig hin. Neu war das MacBook Air mal über 1000,– wert gewesen.
Ich kam in meine Wohnung und trat auf zwei Mikroprozessoren, die auf dem Boden herumlagen und beim Drauftreten knackten. Das war jetzt egal. Ich setzte mich noch mit Schuhen wieder an meinen Küchentisch und fuhr mit dem Finger die Konturen des schmalen, silbernen Notebooks entlang.
Es war viel zu elegant, als dass dieses Wort noch gepasst hätte, dachte ich, und dass es richtig gewesen war, ihm einen neuen Namen zu geben. 1,7cm Durchmesser, 13 Zoll, mit integrierter Lithium-Polymer-Batterie; das bedeutete bei Neukauf Höchstleistungen von bis zu 12 Stunden bei geringer Belastung. Ich stand auf und stellte das Fenster auf Kipp, dann schob ich alles mit dem Unterarm zur Seite, zog den Mac auf mich zu und klappte ihn auf.
Das MacBook Air war perfekt. Viel mehr noch. Das minimalistische Trackpad, das schlanke Design, die Resistenz gegen Probleme, Systemabstürze oder Viren, hatten es zu etwas Schönem gemacht. Hardware und Software waren aus einem Guss und zu 100% aufeinander zugeschnitten. Man konnte sagen, dass das MacBook Air das perfekte Produkt war, hervorgegangen aus wenigen Jahrzehnten Computerkultur. Eigentlich war es der Repräsentant jener Kultur, in der Computer benutzt wurden.
Der Mac fuhr problemlos hoch. Der Akkord ertönte und ich sah auf eine pink schimmernde Aufnahme der Milchstraße. Ich klickte auf das Apfel-Menü. Das MacBook Air war neu formatiert worden. Aber Vorbesitzer auszuspionieren war etwas, wozu ich mittlerweile oft genug die Gelegenheit gehabt hatte, und eigentlich auch langweilig. Die Dateien der Leute unterschieden sich im Wesentlichen einfach nicht.
Ich wählte die Unterkategorie Über diesen Mac, dann Systembericht und sah unter der Kategorie Stromversorgung bei Informationen zum Batteriezustand die Anzahl der Ladezyklen. Der Akku war erst 427 Mal geladen worden. Das entsprach dem »Zustand gut«. Das war mehr als gut. Jeden anderen Akku, egal, DELL, Samsung, Lenovo, HP, hätte man nach dieser Zeit einfach vergessen können. Ich schätzte die verbliebene Akkuleistung des Macs immer noch auf realistische vier Stunden.
Dann öffnete ich das Terminal. Es wäre nicht nötig gewesen, den Mac über die Konsole zu bedienen, schließlich war die intuitive Bedienbarkeit eine seiner Stärken; aber ich liebte es. Ich fühlte mich wie in einem Cockpit zu einer anderen Dimension. Während sich auf meinen Befehl hin Kaskaden von Zahlen- und Buchstabenkombinationen über den schwarzen Bildschirm schoben, dachte ich an gar nichts. Ich war vollkommen entspannt.
Es war genau eine Woche her, dass ich am Wochenende mit Regionalbahnen bis nach München und zurück gefahren war. Ich hatte dort einen Typen getroffen, der Wohnungsauflösungen durchführte. »PC-Spiele für Sammler« hatte es in der Zeitungsannonce geheißen.
Er hatte Hunderte. Den Rest würde er entsorgen, hatte er zu mir gesagt. Er bräuchte den Platz. Seine Exfrau würde darauf bestehen, dass er für ihre Tochter endlich ein Zimmer freiräume. Während ich in seiner Wohnung, die er als Lager nutzte, die in Kartons verstauten Spiele durchsucht hatte, hatte er im Türrahmen gelehnt und mir zugesehen. Früher hätte er sie noch heimlich selbst gespielt, hatte er mir anvertraut, vor allem nach der Trennung.
»I hob des alles no aufghobm. Oba haid braucht des ja koana mehr«, hatte er gesagt. »CDs genga wuida ganz guad. De as de Nullern und as de Zehnern san zum Teil echt wos wert. – Oba de Schbuim … Nehmen S’ ruhig olle mid.«
Ich war froh gewesen, dass er mich nicht gefragt hatte, warum ich sie haben wollte.
Insgesamt konnte ich nur so viele mitnehmen, wie in meinen Rucksack passten. Deshalb brauchte ich den ganzen Nachmittag, um eine Auswahl zu treffen. Auf das Command & Conquer: Alarmstufe Rot 2 hatte ich mich am meisten gefreut, und dann stürzte es immer wieder an derselben Stelle ab.
Am nächsten Morgen versuchte ich es trotzdem noch einmal. Ich stand früh auf und kochte Kaffee, von draußen fiel morgendliches Licht durch die Jalousien. Dann setzte ich mich mit dem Becher von gestern, den ich einfach noch einmal benutzte, an den Küchentisch und startete das Spiel. Es fing mit einer Sequenz an, die durch Filmszenen in die Story einführte.
Special Agent Tanya trat auf.
Sie war im Außeneinsatz und lieferte sich ein selbstbewusstes Wortgefecht mit ihrem Vorgesetzten über Videotelefonie. Ihre Hundemarke hing in ihrem vom Kampf und der Verantwortung dezent verschwitzten Ausschnitt.
Special Agent Tanya war die vielseitigste Infanterieeinheit der Alliierten. Sie war etwa genauso schnell wie die GIs, konnte aber Flüsse und Ozeane überqueren und durch C4-Angriffe feindliche Gebäude und Schiffe sowie Brücken und Bauhütten von Brücken völlig zerstören. Nur in Command & Conquer: Alarmstufe Rot 2 wurde sie von Kari Wuhrer gespielt. Abhängig vom Produktionsjahr waren es in den anderen Episoden Lynne Litteer oder Jenny McCarthy. Was im Endeffekt auch egal war, denn beide spielten die Elitekämpferin als Schlampe mit aufgepumpten Brüsten und dicken Lara-Croft-Knarren. Nur Kari Wuhrer spielte Tanya demütig.
Sie schleuderte ihrem männlichen Vorgesetzten, der sich bloß mit bürokratischer Strategie befasste, anstatt wie sie an der Front zu kämpfen, noch einen taffen Spruch entgegen, dann startete das Spiel und ich hielt die Luft an, als würde das irgendetwas ändern können.
Tanya informierte mich über sowjetische Dreadnoughts, die die Freiheitsstatue beschossen. Ich schoss zurück. Die Übermacht des Feindes war erdrückend …
Und dann schmierte das Spiel ab, nach weniger als fünf Minuten Einsatzzeit.
Ich fand die Visitenkarte und wählte die Nummer des Münchener Händlers.
»Guten Morgen«, sagte ich in den Telefonhörer. »Ich war letztes Wochenende …«
»Ja?«, wurde ich von der anderen Seite knapp unterbrochen.
»Vielleicht erinnern Sie sich an mich. Ich habe ein paar PC-Spiele mitgenommen, unter anderem das C&C: Alarmstufe Rot 2, das jetzt leider nicht richtig läuft… «, sagte ich. Schweigen am anderen Ende der Leitung.
»Deshalb«, sagte ich.
»Lassen S’ mir mei Ruah. Des is mir so was von Wurscht.«
»Also«, versuchte ich es noch mal.
»Machen S’ es guad. Servus.« Auf der anderen Seite wurde aufgelegt. Ich hatte gedacht, es könnte ihn interessieren. Ich betrachtete meine langen Fingernägel.
Dann ließ ich mir an der Spüle Wasser in den Becher laufen und holte das MacBook Air.
Den Rest des Sonntags verbrachte ich damit, meine Pornosammlung auf die Festplatte des MacBook Air zu transferieren. Es ergaben sich gewisse Probleme mit der Formatierung der 1-Terabyte-Festplatte, die für das Betriebssystem des Macs nicht lesbar war, sodass ich erst eine andere Festplatte leer räumen und als FAT32 neu formatieren musste und so weiter und der Prozess letztendlich den ganzen Tag in Anspruch nahm. Zwischendurch ging ich rüber zu Aral, kaufte mir Grießpudding im Tetra Pak und Haribo.
Zusätzliche Zeit brauchte ich, weil mich manchmal schon die Titel erregten. Aber ich sah mir nur einen einzigen Porno an; einen osteuropäischen mit einer kleinen Blonden. Dazu wichste ich und kam schnell auf meine Hosenbeine, die ich dann mit dem Geschirrtuch abwischte.
Chris lag mit seinen Anspielungen daneben. Ich sammelte die Pornos nur, weil ich sie auf den Notebooks finden konnte. Er lieh sich unter der Ladentheke in der Videothek sicher ganz anderes Zeug aus.
Der letztendliche Übertragungsvorgang von Festplatte zu Festplatte brauchte nicht lange, und ich nahm mir vor, es zu verschieben, die einzelnen Sequenzen nach Themen zu sortieren.
Gerade als ich endlich so weit war, mich der nächsten Mission des Vorgängerspiels vom fehlerhaften Command & Conquer: Alarmstufe Rot 2, Command & Conquer: Alarmstufe Rot 1, zu widmen, das ich ersatzweise noch einmal durchspielen wollte, klingelte das Telefon.
Es war mein Chef. Er gab mir den Arbeitsplan der nächsten Woche durch. Morgen, Donnerstag und Freitag als Vertretung auf der Route durch Alt-Reinickendorf. Ich notierte mir die Tage mit Kuli auf dem Notizblock, der neben meinem Telefon lag, und setzte mich zurück in die Küche. Ich steckte mir noch eine Gummihimbeere in den Mund. Die Tüte hatte ich auf den Teller gekippt, von dem ich am Morgen Toast gegessen hatte. Mein Chef war kein hohes Tier bei der Deutschen Post. Ich schätzte, dass er genau wie ich mit einem Zustellerjob angefangen hatte, niemals aufgehört hatte und irgendwann befördert worden war. Wahrscheinlich würde ich genauso enden wie er.
Ich startete meinen DELLLatitude und setzte noch einen Kaffee auf, während er bootete.
In der ersten Mission hätte sich sowjetische Infanterie hinter Bäumen versteckt. Special Agent Tanya (leider gespielt von Lynne Litteer) würde sie früh genug entdecken und mit einem einzigen Schuss erledigen.
Dann klingelte das Telefon schon wieder. Ich musste also noch mal aufstehen und brauchte einen Moment, bis ich wusste, wer sich am anderen Ende der Leitung mit Meyer meldete und seine Stimme vertraut absenkte, als sei mit seinem Namen schon alles gesagt.
»Können wir uns treffen?«, fragte er.
»Ich … habe eigentlich was zu tun«, sagte ich.
»Na komm. Ich hab ’n Sechser. In fünf Minuten an der Pankebrücke.« Dann legte er auf. Ich starrte auf den Hörer in meiner Hand und schüttelte den Kopf.
Die Anzahl der Sätze, die Meyer und ich in der Schule miteinander gewechselt hatten, war von den Sätzen jetzt gerade am Telefon wahrscheinlich schon übertroffen worden. Ich beobachtete, wie der Kaffee in der Maschine von oben auf den fertigen Kaffee in der Kanne tropfte. Soweit ich mich erinnerte, war er ein paar Monate mit Lena zusammen gewesen, in die ich, wie in die meisten anderen Mädchen auch, verliebt gewesen war. Mehr fiel mir nicht ein. Außer seinem Kleidungsstil. Alle anderen, mich eingeschlossen, hatten spätestens seit der Achten Oberhemden in der Schule getragen.
Ich sah an mir herunter. Ich trug eine Jeans und ein Oberhemd, das ich nicht gebügelt hatte. Dann ging ich ins Bad und sah in den Spiegel. Selbst Kleidung, die mir passte, war mir immer ein bisschen zu weit. Am Morgen hatte ich geduscht und mich trotz meines geringen Bartwuchses rasiert. Meine Haare schnitt ich mit demselben Rasierapparat, den man mit einem anderen Aufsatz zur Langhaarrasur verwenden konnte. Auch das war noch nicht lange her. Ich sah weder besonders gepflegt noch besonders ungepflegt aus. Eigentlich strahlte ich gar nichts aus. Dass ich bei der Deutschen Post arbeitete, passte zu mir.
Ich ging in die Küche, ließ den DELL wieder herunterfahren und kippte den Kaffee in die Spüle. Dann verließ ich die Wohnung.
Auf der anderen Seite der Prinzenallee führte die Soldiner Straße über die Panke. Ich ging spazieren und schlug nur zufällig die Richtung ein. Meyer lehnte am Brückengeländer. Er sah genauso aus wie in der Schule. Blondierte, halblange Haare, dazu trug er ein Unterhemd und eine abgeschnittene labbrige Stoffhose; zu seinen Füßen stand wirklich ein Sechserpack. Vor ihm parkte ein Wagen am Straßenrand, die Beifahrertür stand offen und es lief laute Musik. Ein paar Passanten schüttelten den Kopf.
Ich wollte gerade wieder gehen, als er mich sah. Er grüßte mich mit einem Finger an der Stirn und kam ums Auto herum.
»Wir fahren ein Stück«, rief er und setzte sich hinters Steuer. In dem Moment realisierte ich, dass er es gewesen war, der gestern Abend im Soldiner Eck an der Theke geschlafen hatte.
Ich stand unschlüssig auf dem Gehweg. Ich dachte an C&C: Alarmstufe Rot 1, aber dass ich es ja eigentlich schon mehrmals gespielt hatte. Währenddessen atmete ich mir in die Hand und überprüfte, ob ich Mundgeruch hatte. Dann nahm ich den Sechserpack, der noch da stand, wo Meyer am Geländer gelehnt hatte, und setzte mich auf den Beifahrersitz. Unwillkürlich hielt ich mir mit den Zeigefingern die Ohren zu. Meyer zog die Augenbrauen hoch und stellte die Musik leiser.
»Is’ Zehner-Hiphop«, sagte er und startete den Motor. »Kommt man nicht leicht dran.«
»Aha«, sagte ich.
Eine raue Stimme, die einen unangenehmen Druck in meinem Kehlkopf auslöste, sang: »… Atomschutzbunker. Hurra, diese Welt geht unter …«
»Krieg ich eins, bevor die ganz warm sind?«, fragte jemand von hinten.
Ich merkte erst jetzt, dass auf der Rückbank zwei Typen saßen. Meyer machte eine Kopfbewegung in meine Richtung und ließ beim Losfahren die Räder durchdrehen. Also bückte ich mich zu dem Sechserpack im Fußraum und löste eine Flasche aus der Verpackung. Ich reichte sie nach hinten.
»Für jeden eins«, sagte Meyer.
Beide hinten trugen Baseballkäppis und weite T-Shirts. Diesen Stil kannte ich nur aus den animierten Sequenzen in manchen Shootern, Grand Theft Auto: San Andreas zum Beispiel, auf der Straße hatte ich ihn noch nie gesehen. Außer Meyer kannte ich wirklich niemanden, der sich nicht ordentlich und zurückhaltend kleidete.
»Wir warten«, sagte er. Ich beeilte mich, jedem ein Bier zu geben, und öffnete mir, als Meyer mir auffordernd zunickte, selbst eins.
Es war lange her, dass ich am Nachmittag Alkohol getrunken hatte. Eigentlich erst ein Mal, als uns die Abschlusszeugnisse überreicht wurden. Vielleicht war es damals sogar Meyer gewesen, der mich dazu animiert hatte. Später hatte ich mich übergeben müssen.
Das Bier war nicht kalt und schäumte mir beim Absetzen entgegen. Einer der Typen lehnte sich nach vorn und drehte die Musik wieder laut. Ich roch sein starkes Deodorant.
»Das sind Wolle und Flens«, sagte Meyer zu mir. Ich drehte mich nach hinten, um ihnen die Hand zu geben. Die beiden grinsten nur.
»Lass dich von denen nicht irritieren«, sagte Meyer und nahm einen Schluck Bier.
»Was ist jetzt mit dem?«, fragte der Dicke von den beiden, der genau hinter mir saß.
»Halt die Klappe«, sagte Meyer. Er klemmte sich die Bierflasche zwischen die Beine und ließ seinen Ellbogen aus dem offenen Fenster hängen.
Ich versuchte, cool zu bleiben, sah nach draußen und dachte an GTA. Wenn man dort ein Auto klarmachte und einstieg, hörte man den Radiosender aus den PC-Boxen, den auch der Fahrer vorher gehört hatte. Meistens Musik, manchmal sogar Radiogespräche. Ich kurbelte wie Meyer die Scheibe runter und ließ den Fahrtwind in mein kurzgeschnittenes Haar fahren.
»Kennst du Grand Theft Auto?«, fragte ich.
»Was hat er gesagt?«, fragte einer der Typen von hinten, ich glaube, es war der dünnere. »Gränseft Auto?«
»Grand Theft Auto«, sagte ich. »Das ist ein Third-Person-Shooter mit Rollenspielelementen.« Meyer unterbrach mich und seufzte, als wären seine Befürchtungen über mich in diesem Augenblick wahr geworden.
»Wer wird heute alles da sein?«, sagte er energisch und sah mich aus den Augenwinkeln an.
»Simon und seine Leute«, sagte der Dicke.
»Krieg ich noch ’n Bier? Und mach mal das Scheißfenster zu«, rief der andere von hinten.
Meyer reagierte nicht. Also kurbelte ich die Scheibe wieder hoch.
»Woher hast du denn die CD?«, versuchte ich noch einmal, ein Gespräch anzufangen, aber Meyer sah mich nur abschätzig von der Seite an.
»Jetzt gib ihm ein Bier«, sagte er und guckte wieder nach vorn.