Sex: Weniger Porno, mehr fühlen, intensiver lieben - Michael Firnkes - E-Book

Sex: Weniger Porno, mehr fühlen, intensiver lieben E-Book

Michael Firnkes

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Beschreibung

Gentlemen, Alphatier, bester Kumpel, Sex-Gott, treuer Beschützer, Frauenversteher, unabhängiger Krieger, familienkompatibel. Der Mann von heute soll und will alles können, sich jederzeit souverän zwischen den Welten bewegen - meist vergisst er dabei, bewusst den Moment zu leben. Was bist du wirklich, was macht dich und deine ureigene Sexualität aus? Wie gelingt eine Intimität, die nicht fremdgesteuert ist? Wie erlebst du deinen Körper und deinen Sex intensiver, wie kannst du dich auf Liebe einlassen? Und wie hilft dir Achtsamkeit dabei? Aus dem Inhalt: - Wie du deine Sexualität (wieder) intensiver spürst - Schöner selbst berühren für Männer - Den Orgasmus erweitern - Berührungen zulassen - Die eigene Bedürftigkeit ablegen - Raus aus der Porno-Falle - Was tun bei sexuellen Störungen und Körperscham - Achtsame Sexualität in der Beziehung

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Danke

An die zahlreichen Männer, denen ich im Rahmen meiner Arbeit begegnen durfte, und die mich inspiriert haben. An Reinhold und Alma für ihre Unterstützung bei der Entstehung dieses Buches. Und ein großes Dankeschön von Herzen an meine Partnerin Maggy, die mich „Mann sein lässt“.

INHALT

Einleitung

1 Warum Achtsamkeit?

2 Was ist eine achtsame Sexualität?

3 Achtsamkeit und Männlichkeit

4 Mein Weg zur achtsamen Sexualität

5 10 Fragen an deine Sexualität

6 Sex und Bewusstheit

7 Solo-Sex

8 Orgasmus vs Ejakulation

9 Achtsamkeit und sexuelle Störungen

10 Achtsame Sexualität und Körperscham

11 Por-No

12 Falsch verstandene Männlichkeit

13 Männer und Bedürftigkeit

14 Achtsame Sexualität in der Beziehung

15 Wie lernst du eine achtsame Sexualität?

Wie geht es weiter?

EINLEITUNG

In ihrer Sexualität und Intimität werden Männer mit zahlreichen Herausforderungen konfrontiert, egal ob sie in einer Partnerschaft leben oder nicht. Wir sollen einfühlsame Partner sein, aber trotzdem die Spannung aufrechterhalten. Wir wollen für unsere Partnerinnen und Partner da sein, ihre intimen Wünsche erfüllen, spüren uns aber oft selbst nur wenig. Wir legen uns Ansprüche zu, wie Sex auszusehen hat, die aus unrealistischen Pornos stammen. Und meist hat uns schlicht niemand beigebracht, was eine erfüllte Sexualität ausmacht, abgesehen von rein technischer Aufklärung der Art „So ziehst du dir ein Kondom über“.

Wenn du bewusster mit deiner Sexualität umgehst, erweitert das dein erotisches Spektrum enorm. Du arbeitest dann nicht mehr nur auf ein paar Sekunden Triebbefriedigung hin, sondern du lebst dauerhaft glücklicher und bist zudem ein besserer Liebhaber. Gleichzeitig erfährst du eine Intimität, die deinen Bedürfnissen entspricht. Mit Sex und Solo-Sex, der dich voll erfüllt, aber auch dein Gegenüber. Dieses Buch zeigt dir, wie du deine Sexualität achtsamer gestalten kannst und damit tiefer wahrnimmst. Du musst dabei weder auf etwas verzichten, noch verlierst du eine deiner männlichen Qualitäten. Ganz im Gegenteil: Du erweiterst deinen sexuellen Horizont so, dass deine Ausstrahlung deutlich lebendiger wird – deine Mitmenschen werden den Unterschied spüren. Und sie sind neugierig darauf, wie du diese Veränderung erreicht hast. Achtsame Sexualität macht sexy. Du wirst insgesamt aufmerksamer – und du bekommst mehr Aufmerksamkeit.

Viele Frauen und Männer wünschen sich einen Partner, der weiß, was er will. Und der die Initiative übernimmt. Sie wollen keineswegs nur Blümchensex – das wäre auch langweilig. Und doch brauchen sie unsere aufmerksame achtsame Seite, damit sich ihre Sexualität in der Beziehung voll entfalten kann. Gerade Frauen haben nicht selten schlechte Erfahrungen mit Männern gemacht. Weil sie nicht gesehen oder in ihren Bedürfnissen missachtet wurden – die Achtsamkeit fehlte. Wenn du dann im Bett dein gewohntes Programm abspulst, oder wenn du den großen Zampano spielst, dann kannst du nur verlieren. Es gibt wenig Hybride, die beides können: Die unbewussten, animalischen Begierden zu erfüllen, und dabei achtsam und bewusst zu bleiben. Und doch werden beide Aspekte von uns eingefordert.

Single-Männer brauchen genauso einen neuen Zugang zu ihrer Sexualität. Stichwort „Selbstbefriedigung“. Kannst du dich selbst körperlich lieben, ohne in altgewohnte Mechanismen zu verfallen? Kannst du überhaupt länger für dich alleine sein, ohne in Bedürftigkeit nach einem anderen Menschen zu verfallen? Kennst du – zu zweit, aber eben auch für dich alleine – eine Ekstase, die deinen Kopf aus und das Herz anschaltet? Und die dadurch um einiges tiefer geht als alles, was du bislang zum Thema Sex erfahren hast? Keine Sorge. Egal, ob es um eine erfüllende Sexualität zu zweit oder alleine geht, beides kann Mann lernen. Mit Sex, den du bewusst wahrnimmst, erfährst du eine Lust und Ekstase, die dir zuvor verwehrt blieb. Mir ging es ganz genauso wie den meisten Männern, ich hatte die gleichen Fragen im Kopf: Meine „alte“ Sexualität war von Unsicherheit und Pornos geprägt. Mehrere Jahre und einige Trainings später hat sich mein Liebesleben deutlich gewandelt. Ich spüre nun viel mehr als früher, mein Sex ist deutlich erfüllter. In den nachfolgenden Kapiteln zeige ich dir, wie ich das erreicht habe.

Ein Hinweis noch: Dieses Buch richtet sich in seiner formellen Ansprache an Männer. Aber nur deswegen, weil ich mich selbst in meiner Sexualität als Mann definiere. Und weil ich hierin die meiste Erfahrung habe. Eine achtsame Sexualität beinhaltet, dass jeder und jede sein Liebesleben so ausrichten kann, wie Mann/Frau/divers es möchte. Es versteht sich von selbst, dass sich die Inhalte auf alle Personen übertragen lassen, wenn sie sich davon angesprochen fühlen, unabhängig von ihrer sexuellen Definition oder Orientierung. Mir ist bewusst, dass es weit mehr Identitäten gibt, als Mann und Frau. Wenn ich in den folgenden Kapiteln von Beziehungen und deiner Partnerin schreibe, dann kann dies natürlich genauso immer auch ein Partner sein. Der Lesbarkeit halber verwende ich nicht durchgängig beide Formen. Die Inhalte werden dir aber genauso helfen, wenn du Single bist.

Du liest als Frau hier mit? Wunderbar! Wir alle wissen viel zu wenig über die Sexualität des anderen Geschlechts (und über unsere eigene). Ich selbst habe viele Ratgeber zur weiblichen Sexualität gelesen, das hat mein Liebesleben deutlich facettenreicher gemacht. Du hast dieses Buch für deinen Partner gekauft? Auch prima. Vergiss jedoch nicht, dass du niemanden zu den Inhalten überreden kannst, die dieses Buch vermittelt. Die Aufgeschlossenheit dafür muss da sein. Wenn dem nicht so ist, dann nutze das Wissen für dich selbst.

KAPITEL 1: WARUM ACHTSAMKEIT?

Ich verstehe, dass du gleich zum Eingemachten kommen willst. Besseren Sex, sich und andere mehr spüren, wer will das nicht. Doch bevor es zur Sache geht brauchen wir hierfür ein paar Grundlagen. Sie helfen dir dabei, die späteren Inhalte besser zu verstehen und umzusetzen. Wenn du dich bereits mit Achtsamkeit auskennst, dann lies die nachfolgenden Absätze dennoch. Denn ich werde dir darin erklären, was bewusstes Wahrnehmen und Achtsamkeit mit deiner Sexualität zu tun haben. Nun also, was bedeutet eigentlich Achtsamkeit? Und worin äußert sie sich? Natürlich geht es dabei nicht nur um Lust und Liebe. Du kannst alle Tätigkeiten in deinem Leben achtsam führen, also ganz bewusst und umsichtig wahrnehmen. Es gibt achtsames Gehen, achtsame Erziehung, achtsames Kochen und Essen („Slow Food“), achtsamen Sport, achtsames Arbeiten und achtsame Mitarbeiterführung. Je mehr dieser Disziplinen deine achtsame Praxis umfasst, umso leichter fällt es dir, die zugrunde liegenden Prinzipien auch auf andere Gebiete auszudehnen.

Achtsamkeit lässt sich am besten als konzentrierte Aufmerksamkeit beschreiben. Mit dem Ziel, dein aktuelles Handeln mit der Zeit intensiver wahrzunehmen, als wenn du unbewusst vorgehst. Dabei fokussierst du dich ganz auf den gegenwärtigen Moment. Nicht auf die Vergangenheit („gestern fühlte ich mich...“) und nicht auf die Zukunft („wenn ich x hätte, könnte ich z erreichen“). Das ist wichtig, denn in der Regel hängen wir mit unseren Gedanken zum größten Teil in ebendieser Vergangenheit, oder in einer potenziellen Zukunft. Welche Zeitverschwendung, aus Sicht des aktuellen Geschehens. Deine Vergangenheit kannst du nicht mehr beeinflussen. Alles Zukünftige nur dann, wenn du nicht theoretischen Gedanken nachhängst, sondern wenn du im Augenblick lebst und handelst. Mit der achtsamen Sexualität ist es übrigens das Gleiche. Du spürst dich dann möglichst intensiv, wenn du weder in Altem verhaftet bist („mit Bärbel war es damals geil“), noch in der Zukunft („zwei Frauen, das wäre was“) noch in der Fiktion („ich habe noch diesen Porno von gestern vor Augen“). Dazu später mehr.

Mit Achtsamkeit nimmst du all deine Empfindungen intensiver wahr. Das dauert eine Weile und erfordert Geduld. Doch nach und nach merkst du, wie du deine Sinnesreize automatisch mehr spürst und insgesamt bewusster lebst. Das Konzept des achtsamen Handelns stammt aus dem Buddhismus: Du beobachtest möglichst jeden Moment ganz genau. Und das ohne ihn zu bewerten. Denn mit einer Bewertung bist du im Kopf, nicht mehr im Spüren. Gerade in der Sexualität verhindern wir neue Erfahrungen oft dadurch, dass wir uns auf ein Ergebnis konzentrieren, von dem wir ganz genaue Vorstellungen haben, wie es aussehen sollte. Dann werden deine Empfindungen durch das vorbestimmt und eingeschränkt, was du bisher schon erlebt hast. Achtsamkeit steigert also nicht nur die Intensität, mit der du deine Umgebung und dich selbst wahrnimmst. Sie führt dich auch zu neuen Erfahrungen. Viele Menschen berichten von einem erfüllteren Alltag, seit sie ihn achtsam leben – mir persönlich geht es genauso.

„Im Hier und Jetzt sein“ ist eine Metapher, die diesen Zustand recht treffend beschreibt. Bei der Meditation – oder in der achtsamen Sexualität, dazu mehr im nächsten Kapitel – kennt man ihn als Zeitlosigkeit. Das hört sich gut an, ist dir aber zu abstrakt? Es gibt hilfreiche Übungen für den Einstieg, die deine Achtsamkeit schärfen. Hier ein paar Beispiele:

Beobachte deinen Atem: Der Klassiker unter den Achtsamkeits-übungen. Du hast Stress, bist unruhig oder spürst dich gerade selbst nicht? Dann halte kurz inne und konzentriere dich auf deinen Atem. Etwa auf die Bewegungen deines Bauchs oder auf den Luftzug in deiner Nase – wähle das, was dir leichter fällt. In der Meditation versucht man, die Konzentration auf die Atmung zeitlich immer weiter auszudehnen. Es geht nicht so sehr darum, „nicht mehr zu denken“, auch wenn die Stimmen in deinem Kopf mit der Zeit weniger werden. Sondern darum, bei einer Ablenkung wieder bewusst zur Beobachtung des Atems zurückzukehren. Das hilft dir später auch beim Sex, etwa wenn dich äußere Faktoren oder lästige Gedanken von deinem Empfinden ablenken.

Bewusst im Alltag: Nimm beim Weg zum Sportstudio jeden einzelnen Schritt detailliert wahr. Wie fühlt sich welche Bewegung in deinen Füßen an? Welchen Unterschied macht welcher Bodenbelag? Danach versuche jeden Strahl der Dusche einzeln wahrzunehmen. Da scheint zu Beginn unmöglich zu sein, wird aber nach und nach immer detaillierter. Beobachte dann deine Mitmenschen: Wer sieht fröhlich, traurig, gestresst oder gelangweilt aus? Fühle den Griff der Hantel: Wo ist er am kältesten? Wie ist die Struktur? Was verändert sich in der Bewegung deiner Muskeln? Spüre jedem einzelnen Schluck nach, den du aus deiner Wasserflasche nimmst. Die bewusste Wahrnehmung kannst du auf alle Situationen und auf alle Sinne hin abwandeln, egal ob dein Hobby Sport, Musik, Reisen oder Kultur ist.

Der Bodyscan: Richte deine Aufmerksamkeit nacheinander auf verschiedene Bereiche deines Körpers. Du kannst ihn von unten nach oben durchgehen. Wie fühlt sich jetzt gerade deine Stirn an, deine Nase, dein Kehlkopf, deine Arme, jeder einzelne Finger, deine linke Brust, deine rechte, dein Bauch, dein Becken etc.? Was nimmst du wo wahr? Zu Beginn kannst du einzelne Körperteile vielleicht noch gar nicht spüren bzw. voneinander unterscheiden, etwa die Finger oder deine Zehen. Mit ein wenig Übung wirst du jedoch immer „spüriger“. Dann nimmst du Lust auch nicht mehr einfach nur in deinen Genitalien wahr.

Sehen, hören, riechen, schmecken, fühlen: Konzentriere dich einmal eine Weile nur auf einen bestimmten Sinn. Einmal nimmst du alle Gerüche wahr, einmal ist das Sehen im Vordergrund, ein andermal dein Tastsinn. Unsere Umgebung und vor allem die Natur bieten hierfür genügend Übungsobjekte. Mit dieser Übung schärfst du deine Empfindungen erheblich. Beginne mit jenem Sinn, der dir leichtfällt. Später hole auch die anderen nach. Beim Sex hilft dir das beispielsweise dann, wenn du bisher hauptsächlich optische Reize brauchst, um in Fahrt zu kommen. Denn es kann sein, dass dieses optische Empfinden deine Körperempfindungen überlagert.

Für Fortgeschrittene: Fahre mit einer Hand über deinen Arm. Wie fühlt sich der Arm für die Hand an? Und wie führt sich deine Hand für deinen Arm an? Auf die Sexualität übertragen: Wenn dich deine Partnerin streichelt, was fühlst du in deinem Körper bzw. auf deiner Haut? Und wie fühlt sich die Hand deiner Partnerin an? Kannst du zwischen beiden Ebenen hin- und herwechseln?

Manche Männer haben schnell einen Zugang zu solchen Übungen, andere tun sich schwerer. Es ist hilfreich, wenn du jeden Tag eine gewisse Zeitspanne fest für deine achtsamen Übungen einplanst. 15 Minuten reichen zu Beginn schon aus, oder mehrmals 5 Minuten auf den Tag verteilt. Wichtig ist, dass du regelmäßig übst. Die Übung „Bewusst im Alltag“ etwa kannst du jederzeit machen, unabhängig davon, was du gerade tust. Such dir aus den oben genannten Beispielen oder aus ähnlichen Aufgaben etwas heraus, das dir liegt. Wenn es zu einseitig wird, dann erweitere dein Spektrum an Übungen. Die Regelmäßigkeit hilft dir dabei, die Achtsamkeit fest in deinem Bewusstsein zu verankern. Dann wirst du irgendwann ganz von alleine achtsamer, und zwar in allen Bereichen. Plötzlich fällt dir auf, dass deine Kollegin immer sehr empathisch auf Probleme im Team eingeht. Oder was der wirkliche Grund ist, warum du dich mit deiner Partnerin oder deinem Partner streitest.

Du bist in deinem Beruf oder deinem Alltag sehr angespannt? Und meinst, keine Zeit für zusätzliche Übungen zu haben? Nun, das ist zum einen eine Frage der Priorisierung. Vielleicht ist dir bewusstes Handeln – und eine bewusste Sexualität – einfach nicht wichtig genug. Oder du erkennst darin für dich keinen Vorteil. Dann ist es so. Oder du nutzt jene zahlreichen Gelegenheiten für dein Training, die wir normalerweise unbewusst an uns vorbeiziehen lassen:

Morgenritual: Nimm einmal jeden einzelnen Schluck deines Morgen-Kaffees wahr, statt ihn einfach nur herunterzuschütten. Dazu musst du jeweils kurz innehalten und dich ganz auf deinen Geschmackssinn einlassen. Wie lange hallt welche Note des Kaffees nach? Das Ganze geht natürlich auch mit einem guten Stück Schokolade, dass du dir buchstäblich auf der Zunge zergehen lässt. Oder generell beim Essen und Trinken. Schule deine kulinarischen Sinne, statt die Nahrungsaufnahme als notwendiges Übel zu betrachten oder auf dein Smartphone zu schauen.

Längere Autofahrt: Wie genau fühlen sich deine Hände auf dem Lenkrad an? Kehre immer wieder zu diesem Spüren zurück. Natürlich nur, wenn es die Situation gerade erlaubt. Für dich und andere gut zu sorgen ist eine weitere Achtsamkeitsübung.

In der Warteschleife: Du sitzt/stehst beim Arzt oder in der Einkaufsschlange? Spüre im Wechsel 10 Sekunden deinen einen Fuß auf der Erde bzw. deinen einen Oberschenkel auf dem Stuhl, 10 Sekunden den anderen.

Lästiges Meeting: Deine Vorgesetzten kommen mal wieder nicht zum Punkt? Spüre einen kurzen Moment in dich hinein. Wie fühlst du dich, außer gelangweilt? Welche Teile deines Körpers sind angespannt, welche locker? Warum nerven dich einzelne Aussagen deines Teams? Was macht dich wütend oder frustriert? Welches Bedürfnis steckt eigentlich dahinter, außerhalb vom Arbeitskontext?

Du kommst dir bei solchen Übungen albern vor? Das vergeht. Außerdem bekommt ja niemand mit, dass du dich selbst beobachtest. In der Gegenwart leben, stets zu wissen und aktiv zu erfahren, was man gerade tut, ist ein Kennzeichen achtsamer Handlung. Du kannst in ganz einfachen Dingen überprüfen, wie bewusst du in diesem Moment lebst. Wenn du mit deiner ganzen Aufmerksamkeit im Leben stehst, dann weißt du beispielsweise, dass du gerade dein Auto abgeschlossen hast. Du brauchst dann keine piepsenden und blinkenden Assistenten, die dir das erneut versichern.

Eine andere Variante zur Schärfung der Achtsamkeit, die dir insbesondere bei der Selbstreflexion hilft: Beobachte dich sehr genau, wenn du emotional wirst. Nehmen wir einmal an, deine Partnerin tut oder äußert etwas, was dich übermäßig stark verärgert. Und das, obwohl die Situation an sich recht banal ist. Halte hier kurz inne und nimm wahr: Welcher Film kommt da in dir hoch? Und welches Bedürfnis steckt als Auslöser dahinter? Fühlst du dich ungerecht behandelt, weil du früher in ähnlichen Situationen immer den Kürzeren gezogen hast? Dann wäre dein Bedürfnis Gerechtigkeit. Genauso kann der Wunsch dahinterstecken nach:

Anerkennung („ich habe etwas anderes verdient“)

Kommunikation („sie hätte vorher mit mir reden sollen“)

Verständnis („sie müsste doch wissen, dass“).

Vom Gefühl zu den dahinterliegenden Bedürfnissen zu kommen, das ist in sehr vielen Lebenslagen hilfreich. Gerade auch für Situationen, die deine Partnerschaft und deine Sexualität betreffen. Sie sagt: „Ich hätte gerne mal wieder Sex“. Er denkt bzw. deutet: „Sie hält mich für einen Schlappschwanz“ oder „Sieht sie nicht, wie viel ich im Moment für uns bei der Arbeit schufte?“. Dabei wollte dir deine Partnerin vielleicht einfach nur sagen, dass sie Lust hat. Ohne große Hintergedanken.

In solchen und ähnlichen Fällen prallen Gefühle wie Erregung, Sehnsucht, Abgeschlagenheit oder Verunsicherung auf Bedürfnisse wie Nähe, Ehrlichkeit, Wertschätzung oder Ruhe. Und schon ist der Konflikt da, zumindest dann, wenn dir die dahinterliegenden Prozesse nicht bewusst werden. Gefühle und Bedürfnisse zu erkennen ist der erste Schritt, um Konflikte auf achtsame Weise zu lösen. Mit der Zeit erkennst du immer früher, wann und warum eine Spannung entsteht, oder welches Grundbedürfnis eigentlich hinter deiner Reaktion steckt. Dann kannst du zielführender reagieren.

Achtsamkeit lernen

Manche tun sich leichter mit der achtsamen Praxis, wenn sie jemand an der Hand nimmt. Es gibt mittlerweile zahlreiche Angebote in allen Regionen, um Achtsamkeit in der Gruppe zu lernen. Manche Krankenkassen zahlen für einzelne Trainings sogar einen Zuschuss. Sie laufen unter diversen Namen: Von Stressbewältigung bis hin zum professionellen Achtsamkeitstraining. Aber auch Gruppen für Meditation, Yoga, Tai-Chi, Qi Gong oder autogenes Training sind eine gute Basis. Je nach Anbieter geht es dort ebenso um die Vermittlung der Achtsamkeit. Teste einen solchen Kurs nach Möglichkeit an. Achte zudem auf Trainer, deren Methoden leicht verständlich sind. In den nachfolgenden Kapiteln gebe ich dir weitere Hinweise hierzu.

Du lernst gut über Bücher oder Hörbücher? Als Einsteiger empfehle ich dir die Anleitungen von Jon Kabat-Zinn und Jack Kornfield. Dr. Kabat-Zinn hat mit MBSR („Mindfulness-Based-Stress-Reduction“) eine eigene Methode entwickelt, um Achtsamkeit nachhaltig zu vermitteln. Es handelt sich um eine Art Verhaltenstraining, das auf meditativen Praktiken basiert. Seine Bücher haben unterschiedliche Schwerpunkte: Von der Gesundheitsfürsorge über den Umgang mit Depressionen bis hin zur achtsamen Erziehung. Teils gibt es sie auch als Hörbücher mit konkreten Achtsamkeitsübungen und geführten Meditationen. Für mich war „Meditation für Anfänger“ inklusive Audio-Übungen von Jack Kornfield sehr hilfreich, um in die Thematik einzutauchen. Ebenso seine weiteren Bücher zur Achtsamkeit. Manchen sind sie jedoch zu spirituell – Kornfield ist im Buddhismus verwurzelt, er macht die östlichen Lehren für den westlichen Kulturraum verständlich.

Meditation ist ein klassischer Einstieg für ein achtsames Leben. Seit ich die achtsame Sexualität lebe versuche ich jeden Tag, mir zumindest eine viertel Stunde Zeit zu nehmen, um zu meditieren. Ich nutze hierfür die einfache Atem-Meditation, in ihrer vertieften Form auch Vipassana-Meditation genannt. Dabei beobachtest du schlicht dein Ein- und Ausatmen. Und das möglichst ohne dich von deinen Gedanken ablenken zu lassen. Falls dies doch geschieht – und es geschieht am Anfang sehr häufig – dann kehrst du immer wieder zur Betrachtung deines Atmens zurück. Fortgeschrittene dehnen den Fokus der Meditation bei Bedarf aus, etwa auf ihre Gefühle und Körperempfindungen (Fließende Bereiche aber auch Beklemmungen oder Blockaden, die spürbar sind). Es lohnt sich jedoch, die klassische Atemmeditation nicht gänzlich aus den Augen zu verlieren, sie dient als Basis für alles andere.

Der Sinn dahinter, ebenso wie bei allen anderen Formen der konzentrierten Achtsamkeitsübung: Mit der Zeit verlieren deine Gedanken an Bedeutung. Du lernst also, dich auf eine einzige Sache zu konzentrieren. Beispielsweise auf deine Empfindungen in der Sexualität, aber auch auf jede andere achtsame Handlung. Beides – weniger Kopfkino und mehr Bewusstheit für deinen Körper – sind zentrale Voraussetzung, um dich und dein Gegenüber beim Sex voll zu spüren. Und um zurück ins Spüren zu gelangen. Wenn du es schaffst, dich beispielsweise eine Stunde ausschließlich auf deinen Atem zu konzentrieren, dann kannst du auch eine Stunde und mehr bewusst Sex haben.

Bei mir ist der Unterschied enorm, im Vergleich zu meinem bisherigen Liebesleben. Die achtsame Praxis hilft mir sehr, um meine Sexualität deutlich vielschichtiger zu erfahren. Doch die Meditation leistet noch viel mehr: Durch sie habe ich das Gefühl, bei mir selbst anzukommen. Und bei dem, was mich als Mann ausmacht. Folgendes hat sich für mich durch die meditative Praxis verändert:

Ent-Spannung: Ich bin ein ungeduldiger Mensch. Eine Eigenschaft, die sich nicht wirklich mit bewusster Wahrnehmung verträgt. Die Meditation macht mich ruhiger.

Energie & Vitalität: Gleichzeitig schöpfe ich eine tiefe Kraft aus dieser Praxis. Nicht immer. Es gibt Tage und Wochen, da muss ich mich zur Meditation zwingen. Doch dann reicht manchmal eine Sitzung aus, um meine Tanks wieder zu füllen, gerade in stressigen Zeiten.

Körperbewusstsein: Ich nehme einzelne Teile meines Körpers deutlich besser wahr, seit ich täglich übe.

Fokus: Im Alltag – privat und beruflich – fehlt mir manchmal die Konzentration auf das Wesentliche. Ich lasse mich recht schnell ablenken. Auch das ist besser geworden.

Der Sinn des Lebens: Ich erlange durch die Meditation einen spirituellen Zugang. Sie verbindet mich mit meinen Wurzeln und mit meinem Mann-Sein. Du musst jedoch kein spirituelles Interesse haben, um die Achtsamkeit für dich zu nutzen.

Das alles klingt gut, doch die Meditation in Stille liegt nicht jedem. Manche werden schon alleine bei dem Gedanken daran unruhig. Ohne etwas zu tun auf einem Kissen sitzen? „Nicht mit mir!“, höre ich es rufen. Und das kann ich gut verstehen. Es ist Typsache, ob einem diese Art der Selbstreflexion liegt. Oder ob du auf körperbetontere Methoden wie Tai-Chi & Co. zurückgreifst. Eine zusätzliche Option sind kleine Auszeiten für den Alltag. Du hast Stress auf der Arbeit? Ziehe dich 5 Minuten zurück. Atme 10- oder 20-mal tief ein und aus, während du jeden einzelnen Atemzug intensiv beobachtest. Das bringt dich runter und du kannst wieder klarer denken. In deiner Beziehung herrscht dicke Luft, ihr steigert euch gegenseitig hoch? Einmal langsam um den Block laufen, jeden einzelnen Schritt genau wahrnehmend – das wirkt kleine Wunder.

Du kannst derlei Mini-Übungen auch ohne Anlass immer wieder zwischendurch machen. Das festigt deine achtsame Entwicklung. Schön sind zudem kleine Kartenspiele zur Achtsamkeit, teils auch „Karma-Kärtchen“ genannt. Sie stellen dir täglich eine neue achtsame Aufgabe, aus unterschiedlichsten Bereichen. Das trainiert insbesondere jene Sinne, die du normalerweise vernachlässigst. Zusätzlich gibt es dynamische Varianten der Meditation. Sie gehen teilweise auf den nicht ganz unumstrittenen Philosophen Osho oder auf buddhistische Lehren zurück – auch hierfür brauchst du keinen spirituellen Hintergrund. Die Meditationen haben gemeinsam, dass du dabei viel Energie aufbaust. Das baut Stress ab, dein Körper wird durchlässiger und insgesamt „fühliger“. Hier ein kleiner Überblick der wichtigsten Arten:

Dynamische Meditation: Eine sehr kraftvolle Variante mit verschiedenen Phasen. Manche Teilnehmer finden sie äußerst anstrengend, selbst wenn sie gut trainiert sind. Muskelpakete sind hier nicht von Vorteil – leicht gebaute Männer tun sich manchmal sogar leichter mit der dynamischen Meditation. Sie eignet sich unter anderem gut dazu, angestaute Emotionen wie Wut oder Trauer zu kanalisieren. Du solltest die Meditation jedoch unter fachkundiger Anleitung durchführen, gerade als Neuling. Ein YouTube-Video reicht zum Erlernen nicht aus.

Kundalini Meditation: Bei dieser Ausprägung geht es ruhiger zur Sache. Du spürst viel Anspannung in deinem Körper? Oder du kannst beim Sex nur schwer loslassen? Dann hilft dir die Kundalini Meditation. Sie lockert deinen gesamten Beckenbereich, eine perfekte Voraussetzung für energetischen Sex. Für Einsteiger bzw. von außen betrachtet sieht die Kundalini Meditation – bei welcher der gesamte Körper durchgeschüttelt wird – zunächst etwas befremdlich aus. Doch sie ist unkompliziert und wirkt nachhaltig. Vor allem dann, wenn du sie regelmäßig praktizierst. Du kannst diese Meditationsform gut alleine und zu Hause durchführen. Lass sie dir jedoch mindestens einmal zeigen, ebenfalls von fachkundigen Menschen.

Herz-Meditation: Du willst es lieber ruhig angehen? Die Herz-Meditation gibt es in unterschiedlichen Formen. Sie ist auch unter dem Namen „Herz-Chakra-Meditation nach Osho“ bekannt. Eine friedvolle und erfüllende Variante, eher für Menschen geeignet, die bereits einen spirituellen Zugang haben. Oder die hierfür offen sind.

Idealerweise lernst du die aktiven Meditationen in einer Gruppe kennen, um sie „richtig“ durchzuführen. In den meisten größeren Orten gibt es entsprechende Meditationskreise. Oder du nutzt ein Training mit tantrischen Wurzeln, dazu mehr in Kapitel 15. Teilweise werden Varianten wie die Dynamische Meditation aber auch von Volkshochschulen oder Yoga-Studios vermittelt. Für alle Kurse zur Achtsamkeit, zur Persönlichkeitsentwicklung und zur sexuellen Selbstfindung gilt: Achte auf Anbieter, die dir nicht gleich ihre Philosophie oder ihre Ideologie mitverkaufen wollen.

Achtsamkeit im Alltag

Du kannst deine Achtsamkeit immer und überall trainieren, selbst in schwierigen Zeiten. Etwa dann, wenn du bisherige Etappen deines Lebens hinterfragst, wenn du dich in einer Trennungsphase befindest oder wenn du älter wirst. Bewusstes Handeln lehrt uns neue Aspekte unseres Seins und unserer Menschlichkeit, gerade auch in Zeiten der Unsicherheit. Denn diese bringen uns dazu, innezuhalten und Fragen zu stellen:

Wie gehen wir und unsere Mitmenschen mit Krisen um?

Was macht es mit uns, alleine zu sein oder uns alleine zu fühlen?

Was passiert, wenn wir wenig oder gar keine Berührung erfahren?

Was haben derlei Krisensituationen mit Achtsamkeit zu tun? Nun, sie schulen unsere Wahrnehmung. Gleichzeitig zeigen sie uns, wie gut es uns geht, wenn wir überhaupt einen Zugang zu Liebe und Berührung haben. Und wie sehr wir die Zeiten genießen sollten, in denen wir Nähe und Zuneigung erfahren. Ganz Ähnliches gilt für die Sexualität. Schielst du immer nur nach der maximalen Lusterfahrung? Oder sind es die kleinen Dinge in deinem Liebesleben, die du genießen kannst und die dich prägen? Welcher der beiden Wege macht wohl zufriedener? Mehr zur Suche nach dem Höhepunkt, die viele von uns prägt, aber auch unter Druck setzt, erfährst du in Kapitel 8.

Wenn du deinen Alltag bewusster gestalten und erleben willst, dann mache zunächst eine Bestandsaufnahme. Schaue ehrlich in dich hinein, wie deine Persönlichkeit gestrickt ist:

Bist du ein eher zufriedener Mann oder nicht?

Erfreust du dich an Details, oder suchst du stets nur nach dem „großen Ganzen“?

Neigst du zu Suchtverhalten, egal welcher Form? Kommst du hauptsächlich durch Pornos in deine Lust?

Schaust du neidvoll auf andere oder freust du dich für sie? Etwa wenn du ein glückliches Liebespaar siehst? Oder eine erotische Szene in einem Film, die voller tiefer Begierde und Ekstase ist?

Wie wichtig sind dir Status, beruflicher Erfolg (abseits einer „Berufung“, mit der du Gutes tun willst) sowie die Maximierung deiner Besitztümer?

Die Antworten verraten nicht nur viel über dich selbst. Sie geben gleichzeitig Aufschluss darüber, wie sehr du dich in deinem Intimleben fallenlassen kannst. Und wie sehr du bereit bist, neue Erfahrungen zu machen. Du bist dir unsicher bei der Beantwortung der Fragen? Dann bitte deine Partnerin oder deinen Partner, deine Familie oder sehr gute Freunde um eine Einschätzung. Vor allem jene, die du selbst als besonders Lebensfroh und zufrieden einschätzt. Sie können dir viele wertvolle Hinweise liefern.

Du bist ein sehr ehrgeiziger Mann? Oder perfektionistisch veranlagt? Alles muss seinen Platz haben? Dann ist Achtsamkeit besonders wichtig für dich, um festgefahrene Pfade zu verlassen. Die fortlaufende Suche nach „mehr“ und „besser“ verhindern, dass du dich weiterentwickelst. Wenn du nach den folgenden Devisen lebst, steht das meist einer bewussten und erfüllten Lebensweise im Weg:

Mehr Profit

Mehr Erfolg im Sinne von mehr Macht

Mehr Ordnung

Mehr Geliebt-Sein

Achtsames und gütiges Handeln kann diese Spirale unterbrechen. In diesem Sinne kennt Achtsamkeit unzählige Handlungsgebiete. Du kannst deiner Partnerin oder deiner Familie mehr Liebe und Aufmerksamkeit schenken, dich sozial und politisch engagieren, auf Nachhaltigkeit beim Kauf von Produkten achten, deine persönliche CO₂-Bilanz verbessern und/oder dich für benachteiligte Gruppen in der Bevölkerung einsetzen.

Für manche Männer (und auch Frauen) ist Achtsamkeit ein harter Weg. Egal, ob es um den bewussten Umgang mit sich selbst oder mit ihren Mitmenschen geht. Alte Muster sind dann so tief in der Persönlichkeitsstruktur verankert, dass sie immer wieder aufbrechen. Doch es gibt einen Ausweg: Indem du dir fortwährend positive Erfahrungen ermöglichst, und indem du ins Spüren deiner selbst kommst – mehr dazu in den nachfolgenden Kapiteln. Gleichzeitig kannst du dir Wegbegleiter suchen, die dich mit ihrer Unbefangenheit und Lebensfreude anstecken. Und die dich nicht danach beurteilen, wie viel du leistest. Oder wie sehr sie von dir profitieren können.

Bist du ein eher zufriedener Mann oder nicht? Das Ergebnis dieser Frage spiegelt gleichzeitig dein Verhältnis zu Sexualität. Im besten Fall ist dein Blick auf intime Augenblicke nicht ungeduldig, besitzergreifend, bemessend, bedürftig, selbstverliebt oder kontrolliert. Sondern neugierig, unbefangen, spielerisch, aufrichtig, geduldig, vergnügt, empathisch und voller Liebe. Mit zunehmender Übung wächst die Achtsamkeit gegenüber dir selbst. Dann kannst du immer wieder von Neuem beleuchten, welche dieser Attribute dein Liebesleben prägen. Und was sich verändert hat.

Halten wir uns selbst noch aus?

Achtsames Handeln – genauso wie die achtsame Sexualität – hat mehr mit unserer modernen Welt zu tun, als man denken mag. In dem Sinne, dass Achtsamkeit immer gefragter wird. Nur so können wir die Herausforderungen eines Wachstums meistern, das für einige grenzenlos zu sein scheint und das andere überfordert. In dem Wort “achtsam“ stecken Bedeutungen wie aufmerksam, wachsam und sorgfältig. Wenn du achtsam bist, dann nimmst du die Welt mit offenen Augen und mit wachen, geschärften Sinnen wahr. Das alles sind Eigenschaften, die deine volle Präsenz erfordern.

Wir haben heute mehr Chancen, uns selbst zu verwirklichen, als je zuvor. Gleichzeitig gilt: In keiner anderen Epoche waren wir so vielen Möglichkeiten und Verführungen ausgesetzt, uns ablenken zu lassen. Heutzutage wird belohnt, wer „Multitasking-fähig“ ist, wer also möglichst viele Aufgaben auf einmal erledigt – das Gegenteil einer bewussten Wahrnehmung. Multitasking hat längst nicht nur unser Berufsleben erobert, auch der Alltag wird immer fragmentierter. Ein Beispiel:

1.Ihr kuschelt gemeinsam im Bett.

2.Eines der beiden Handys macht „Ping“. Beide fragen sich, wer da wohl schreibt.

3.Erst dann geht es weiter. Und doch ist man kurz raus aus dem Geschehen – und raus aus der Empfindung.

Wohl jeder von uns kennt vergleichbare Situationen. Wie soll man sich da noch tiefergehend auf etwas einlassen können? Das Smartphone ist ein Beispiel dafür, wie wir die Kontrolle abgeben. Warum hängen wir ständig an den Geräten? Und warum sind uns virtuelle Begegnungen manchmal wichtiger, als die echten? „Weil wir uns selbst nicht mehr aushalten“, sagt der Psychologe und Zeitforscher Marc Wittmann in einem Beitrag der Zeit. Die Konsequenz der permanenten Selbstberieselung und Dauerablenkung: Wir verlieren den Kontakt zu uns. Schon fünf Minuten ohne Ablenkung seien zu viel des „Aushaltens“ – wir holen das Handy raus. Du kennst dieses lästige Verhalten sicherlich auch.

Die Fragmentierung des Alltags betrifft genauso die körperliche Ebene. Und da kommt die Sexualität ins Spiel. Viele Menschen fühlen sich unwohl, wenn sie mehr als nur flüchtig berührt werden. Im Rahmen der Körperarbeit kann man das gut beobachten: Es dauert in der Regel eine halbe Stunde und mehr, bis sich die empfangende Person wirklich einlassen kann. Eine dreistündige tantrische Massage? In der sich der Empfänger oder die Empfängerin ausschließlich auf ihr Spüren konzentriert, und nichts sonst zu tun hat? Viele reagieren auf dieses Angebot irritiert – es scheint nicht mehr in die heutige Zeit zu passen. Schließlich sind wir auch beim Empfinden auf den schnellen Kick trainiert.

Laut Wittmann greifen wir deswegen permanent zu Smartphone & Co., weil wir uns nicht langweilen wollen. Was schnell pathologisch anmutende Züge annimmt, kann auch in der Sexualität zum Problem werden. Und zur Sucht. Überbordender Konsum von Pornos, das Hangeln von einem Tinder-Date zum nächsten, die Suche nach dem absoluten Höhepunkt... Langeweile hat viele Gesichter, ebenso wie jegliche Ablenkung vom emotionalen Hinspüren. Und es fällt uns immer schwerer, Berührungen und Begegnungen wirklich zu akzeptieren. Manchmal scheint zu viel Empfindung sogar lästig zu sein. Dann sind wir fast schon erleichtert, wenn die nächste Berieselung kommt – und unsere Sinne wieder weniger gefordert werden.

Wie wäre es mit einem Perspektivwechsel? Statt der Langen-Weile mit immer kürzeren Episoden zu begegnen, könnten wir versuchen, das Erlebte bewusster wahrzunehmen. Selbst dann, wenn die Berührung oder Begegnung nur wenig spektakulär scheint. Achtsamkeit ist in vielen Fällen zur hippen Mode verkommen, ja gar selbst zum Konsumgut geworden. Doch die Prinzipien dahinter haben nichts an Wirkungskraft eingebüßt. Es ist gar nicht so einfach, in die Natur zu gehen, und das Smartphone zu Hause zu lassen. Oder sich drei Stunden berühren zu lassen. Bewusstes, hinspürendes Verhalten kannst du genauso lernen, wie du dir den Griff zum Handy antrainiert hast. Und im nächsten Schritt führt es deine Intimität auf eine neue Ebene. Doch eins nach dem anderen.

KAPITEL 2: WAS IST EINE ACHTSAME SEXUALITÄT?

In ihrer Manchmal erreicht uns die Lust gar nicht mehr, wenn wir Sex oder Solo-Sex haben. Dann fühlt sich das Erleben seltsam schal an, wir sind nicht im Hier und Jetzt präsent, nehmen unser Gegenüber nur wenig wahr, turnen Pornos nach oder die Abläufe im Bett sind immer die gleichen. Das ist wie Sex auf Autopilot. Der wichtigste Schritt ist, sich dessen bewusst zu werden. Wenn du deine Sexualität mit Achtsamkeit verbindest, dann kann aus dem vorgefertigten Programm langsam wieder echte Hingabe werden, für dich alleine oder in einer Beziehung.

Wenn wir nicht präsent sind, dann läuft alles nach gewohnten Mustern ab: Kurz ein wenig da berühren, dann dort anfassen. Schließlich wie gewohnt in eine Richtung stimulieren und schon bist du am Ziel. Das befriedigt vielleicht kurzfristig, berührt dich aber nicht wirklich. Und auch nicht deine Partnerin oder deinen Partner. Sex wird dann „gemacht“, um Spannungen abzubauen oder um einschlafen zu können. Wer es im Bett heftig mag, dem kann ebenfalls etwas fehlen. Animalische Spielarten sind vollkommen in Ordnung. Doch wenn sie dazu führen, dass du deine Empfindungen trotz gesteigerter Stimulation gar nicht mehr bewusst wahrnimmst, dann steckst du in einem Kreislauf fest. Ficken, das wir nicht mehr fühlen. Die Hamburger Paartherapeutin Katrin Aschermann kennt das Phänomen der antrainierten Muster aus ihrer Praxis. In einem Interview für das Magazin Spiegel beschreibt sie:

Sobald man sich dem Intimbereich nähert, kommen die automatisierten Abläufe: Beckenbewegung, unechtes Stöhnen und so weiter… Es geht darum, diese Reaktionsketten zu unterbrechen. Nur so kann die Erfahrung gemacht werden, was einen emotional wirklich berührt und öffnet.

Hinzu kommt: Wir haben beim Sex so sehr das vermeintliche Ziel (den Orgasmus) vor Augen, dass wir den Weg dorthin nahezu ausblenden. Dann spüren wir am Ende einige Sekunden lang in uns hinein, und das war es. Wie schade.