Sexsucht - Kornelius Roth - E-Book
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Sexsucht E-Book

Kornelius Roth

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Beschreibung

Eine halbe Million Sexsüchtiger lebt in Deutschland – immer auf der Jagd nach dem nächsten Kick, rastlos, wahllos und letztlich unbefriedigt. Von Außenstehenden wird Sexsucht oft nicht als Suchterkrankung ernst genommen. Dabei sind die Folgen für Betroffene und Angehörige verheerend, finanziell und gesundheitlich, besonders aber in den sozialen Beziehungen, am Arbeitsplatz und in der Partnerschaft.
Kornelius Roth arbeitet seit Jahren als Psychotherapeut mit Sexsüchtigen. Anhand von Fallgeschichten schildert er Formen, Probleme, Auswirkungen der Sexsucht und geht auf die Besonderheiten der Online-Abhängigkeit ein. Er zeigt Wege auf, wie Betroffene der Sucht entkommen und Angehörige mit ihr umgehen können.
Die nunmehr 4. Auflage wurde aktualisiert und um neue Erkenntnisse zur Online-Sexsucht erweitert.

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Seitenzahl: 309

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Kornelius Roth

Sexsucht

Kornelius Roth

Sexsucht

Ein Ratgeber für Betroffene und Angehörige

Die polnische Ausgabe dieses Titels ist 2010 bei Gdańskie Wydawnictwo Psychologiczne erschienen.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

3., aktualisierte Auflage, April 2016

entspricht der 5. Druckauflage von April 2016

© Christoph Links Verlag GmbH, 2004

Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0

www.christoph-links-verlag.de; [email protected]

Titelgestaltung und Titelillustration: Burkhard Neie,

www.blackpen.xix-berlin.de, unter Verwendung

eines Fotos von Tatyana Lykova

ISBN 978-3-86284-339-8

Inhalt

Vorwort des Autors zur 5. Auflage

Vorwort von Walther H. Lechler

Sex als Sucht

Gesellschaftliche Rahmenbedingungen

Merkmale

Ausdrucksformen

Sexsucht und Sexarbeit

Ursachen

Psychische Faktoren und Sozialisation

Biologische Faktoren

Rolle des kindlichen Traumas

Sex, Sucht und Trauma: Neuere Aspekte

Funktionen

Auswirkungen

Auslösesituationen

Mehrfachsüchtigkeit

Sexsucht und andere psychische Erkrankungen

Wege aus der Sucht

Kriterien gesunder Sexualität

Sich dem Problem stellen

Selbsttest: Bin ich sexsüchtig?

Sexuelle Abstinenz und Entzugserscheinungen

Erste Schritte aus der Sucht

Psychotherapeutische Behandlung

Selbsthilfegruppen

Rückfall und Rückfallprophylaxe

Spiritualität

Wege der Genesung

Sucht und Cybersex: Wege und Auswege

Selbsttest: Bin ich cybersexsüchtig?

Angehörige

Sexuelle Co-Abhängigkeit

Wege aus der Co-Abhängigkeit

Gesellschaftlicher Ausblick

Anhang

Anmerkungen

Literatur

Hilfreiche Adressen und Internetsites

Zum Autor

Vorwort des Autors zur 5. Auflage

Je mehr Sex, desto besser – mit dieser Vorstellung werden wir täglich durch Medien, Werbung und Sexindustrie konfrontiert. In unserer Gesellschaft gilt eher derjenige als behandlungsbedürftig, der wenig Sex hat. In Wirklichkeit ist Sexsucht eine ernsthafte Erkrankung, von der allein in Deutschland schätzungsweise eine halbe Million Menschen betroffen sind. Sie ist die häufigste Störung der Impulskontrolle bei Männern. Die Dunkelziffer ist hoch, Sexsucht ist ein Tabu-Thema: Betroffene sprechen nicht über ihre »peinliche« Sucht, von Außenstehenden wird sie belächelt. Das Leiden der Sexsüchtigen und ihrer Angehörigen bleibt außen vor.

Seit dreißig Jahren bin ich als Psychiater, Psychosomatiker und Psychotherapeut in der Behandlung sexsüchtiger Klienten tätig und konnte feststellen, dass das Thema Sexsucht zunehmend an Aktualität gewinnt. Dies zeigt auch ein inzwischen deutschlandweit geknüpftes Netz von Selbsthilfegruppen Sexsüchtiger.

Es ist umso erfreulicher, dass dieser Ratgeber inzwischen einen festen Platz unter den Sachbüchern im Suchtbereich eingenommen hat. Sex und Sucht sind und bleiben zwei große Schamthemen unserer Gesellschaft. Es ist wohl keine Übertreibung, wenn ich behaupte, dass die Sexsucht zu den stillen, verschwiegenen, aber auch verharmlosten Suchtformen gehört. »So eine Sucht möchte ich auch mal haben«, ist immer wieder zu hören. Nicht nur die Betroffenen selbst wollen ihre Abhängigkeit am liebsten verstecken, auch in unserer Gesellschaft regt sich Widerstand. Wie kann etwas so Natürliches, Instinktgeleitetes und Schönes süchtig machen? Es wird gern behauptet, dass es Sexsucht gar nicht gibt, und sie lediglich eine ABM-Maßnahme für Psychotherapeuten darstelle.

Pornographie scheint in unserer Gesellschaft immer mehr zu einem »Genussmittel« zu werden. Einsamkeit, Selbstwert- und Partnerprobleme, ungelöste Konflikte, Kränkungen, Trennungen, Arbeitslosigkeit – dies und mehr macht die Menschen verletzlich und trägt bei süchtiger Bereitschaft zur intensiven Nutzung der Internetpornographie bei. »Moderne Sexsucht« ist das neue Schlagwort. Es ist bisher aber nur wenig bekannt, dass die Pornographie im Netz das höchste Suchtpotential hat. »Machine enhanced sexuality«, durch Technik verstärkte sexuelle Empfindungen, nennt Patrick Carnes, der amerikanische Nestor der Sexsuchttherapie, die im Internet verbreitete moderne Pornographie in feinster Auflösung. Der Begriff erinnert an die »supernormalen« – stärker als die natürlichen – Auslöser in der Verhaltensbiologie (Niko Tinbergen), die im vorliegenden Fall intensivere als die natürlichen sexuellen Impulse triggern. Da kann realer Sex nicht mehr mithalten.

Weltweit drücken Menschen auf Touchscreen, Tasten und »Maus«, um sich mithilfe der sexuellen Reize Lustgefühle zu verschaffen. Wirkmächtige Bilder, Bewegungen und Geräusche, sprich optische und akustische sexuelle Reize, die über sogenannte »Spiegelneurone« verschaltet werden, stimulieren instinktgesteuert direkt das Lust- beziehungsweise Belohnungszentrum im Gehirn der User. Allein die pornographische Plattform »pornhub« – eine der großen Anbieter von Millionen Pornoseiten im Netz – hatte 2015 weltweit 21,2 Milliarden Besucher. Wieviele davon pornographiesüchtig geworden sind, wissen wir nicht.

Man muss in diesem Zusammenhang unweigerlich an das klassische Experiment von James Olds und Peter Milner zur Süchtigkeit aus den 50er-Jahren des letzten Jahrhunderts denken. Laborratten, denen Elektroden in das Lustzentrum ihres Gehirns eingepflanzt worden waren, lernten mithilfe eines Tastendrucks ihr körpereigenes Belohnungssystem zu aktivieren. Die Folge: Sie vernachlässigten Essen und Trinken und stimulierten sich bis zu mehreren Tausend Mal pro Stunde – buchstäblich bis zum Umfallen. Die sexuelle Stimulation hatte die anderen Triebe außer Kraft gesetzt.

Dieses Buch erscheint jetzt in der 5. Auflage. Süchtiges sexuelles Verhalten ist seit weit mehr als einem Jahrhundert beschrieben. Genauso wie die Esssucht oder die Internetsucht hat es bis heute noch keine Anerkennung als eigenständige Diagnose in den diagnostischen Klassifikationssystemen mit den dazugehörigen Rechten im Gesundheitssystem erlangt. Wie ist das zu verstehen oder zu erklären? Natürlich spielen viele Aspekte dabei eine Rolle. Auf einen besonderen Gesichtspunkt soll hingewiesen werden. Eine Gesellschaft ist nicht gut auf ihre süchtigen Mitglieder zu sprechen. Meist wird zunächst weggeschaut oder verharmlost, später, wenn der Suchtprozess fortgeschritten und zerstörerischer ist, stigmatisiert und ausgestoßen. Auch in der Behandlung durch Fachleute hat sich über Jahrzehnte ein ähnlicher Prozess vollzogen. Als Antwort darauf mussten Betroffene lernen sich selbst zu helfen, wenn sie ihrer Sucht entkommen wollten. Ende der 70er-Jahre des letzten Jahrhunderts gründeten sich die ersten anonymen Selbsthilfegruppen der Sexsüchtigen in den USA. Statistisch gesehen wird es also noch gute 20 Jahre dauern bis Sexsucht auch offiziell bei den Verhaltenssüchten eingereiht werden wird. Es scheint, dass Betroffene ihre Situation oft früher und besser begreifen als Fachleute. Gerade bei heimlichen, schambesetzten und stigmatisierten chronischen Erkrankungen, bei denen übliche Behandlungssysteme ohnehin kaum greifen, begegnen wir diesem Phänomen immer wieder. Aber es scheint auch so, dass Fachleute Menschen, die diesen Weg gehen, oft nicht ernstnehmen oder ihnen ihre eigene »objektive und wissenschaftliche« Sicht der Dinge nahelegen wollen. Denn bei allem unbestreitbaren Nutzen braucht sich die Wissenschaft in diesem Bereich gar nicht so weit aus dem Fenster zu lehnen. Sie hat sich schon oft geirrt. Allen voran die Sexualwissenschaft, die Homosexualität jahrzehntelang als Krankheit angesehen hatte, und die Suchtwissenschaft, die den Krankheitscharakter von Süchten erst sehr spät erkannt hat und bis heute ihre Forschungsschwerpunkte auf die medikamentöse Behandlung der Sucht setzt und Ansätze der Alkoholabhängigkeitsbehandlung jenseits des Abstinenzparadigmas sucht. Max Planck formulierte dazu: »Die Wahrheit triumphiert nie, ihre Gegner sterben nur aus.«

Aber es gibt auch Gutes zu berichten. Immerhin hat eine »Task Force Verhaltenssüchte« der größten nervenheilkundlichen Fachgesellschaft für Ärzte in Deutschland (DGPPN) die hilfreiche Sichtweise des Suchtparadigmas für die Behandlung der Sexsucht anerkannt. Erlaubt sein muss hier allerdings die Frage, wenn ein Störungsbild die Merkmale einer Sucht trägt, es sich für Betroffene wie eine Sucht anfühlt und das Suchtmodell ein erfolgreiches Behandlungsinstrument darstellt, warum soll es sich nicht auch um eine Sucht handeln?

Fest steht, dass Kinder und Jugendliche in immer jüngeren Altersstufen Erstkontakt mit Pornographie haben. Viele erleben dies vor der Geschlechtsreife, also in der Zeit der sexuellen Latenzperiode, in der intensive sexuelle Reize die Verarbeitungsfähigkeit der Kinder überfordern. Früh einsetzende Kompensations- und Konditionierungsprozesse, zum Beispiel in Form von kindlicher Selbstbefriedigung, können zum Baustein einer späteren Sexsucht werden. Dies ist bisher kaum ins Blickfeld geraten und weist auf die Bedeutung der frühen, altersgerechten sexuellen Aufklärung hin und der Nützlichkeit von Pornographie-Filtersoftware, die an jedem Computer installiert werden sollte, zu dem Kinder einen freien Zugang haben. Die in diesem Buch niedergeschriebenen Geschichten entstammen größtenteils Interviews mit Betroffenen, die bereit waren, an diesem Buchprojekt mitzuwirken, die Zitate sind weitgehend wörtliche Wiedergaben. Aus Respekt vor den Betroffenen und ihren Familien wurden manche Details verändert, um ausreichend Anonymität zu gewährleisten. Auch die beiden prosaähnlichen Geschichten basieren auf authentischen Fällen; ich habe lediglich den Sachverhalt verdichtet und pointiert.

Ich möchte all meinen Gesprächspartnern für ihre Mitarbeit und ihr Vertrauen herzlich danken: Durch ihre Ehrlichkeit und Offenheit haben sie eine Innensicht der Problematik geschildert, die persönliche Anteilnahme erlaubt, und das Buch dadurch lebendig gemacht. Ihre Geschichten zeigen, dass es trotz schwieriger Ausgangsbedingungen einen Ausweg gibt und die Möglichkeit, couragiert mit der eigenen Süchtigkeit umzugehen.

Bad Herrenalb, im März 2016

Kornelius Roth

Vorwort von Walther H. Lechler

Kornelius Roth legt hier als erster deutschsprachiger Autor ein Buch über Sexsucht vor. Es ist entstanden unter Mitwirkung von Betroffenen, die sich selbst als sexsüchtig bezeichnen und in einem Genesungsprozess ihrer Sucht stehen. Hier ist ein Buch entstanden, das für Interessierte, Betroffene und deren Angehörige sowie Fachleute gleichermaßen interessant und wichtig ist.

Man kann sich fragen, ob Sucht mit ihren vielen Facetten und Formen nicht allgemein und überall verbreitet ist: Sind wir nicht vielleicht alle süchtig oder im übertragenen Sinne »Alkoholiker«? Ist Sucht nicht lediglich ein Ausdruck, eine Metapher unseres Mangels und unseres allgemeinen Unwohl-Seins? Wir werden in diese Welt hineingeboren, auf diese Welt geworfen und sind eingeladen, hier heimisch zu werden. Aber sind wir überhaupt in der Lage, die Realität anzunehmen, wie sie ist und nicht, wie wir sie uns wünschen oder vorstellen? Sind wir nicht alle in einem Zustand von Trunkenheit, ja Besoffenheit, der bis zur Selbstvernichtung gehen kann? Sucht leitet sich aus dem alt- und mittelhochdeutschen »suht« ab und bedeutet Krankheit. Diese ursprüngliche Bedeutung finden wir heute noch in dem früher gebräuchlichen Wort »siech« (engl. sick). Der Ausdruck »suchtkrank« ist deshalb eigentlich ein Pleonasmus: krank-krank.

Auch die Sexsucht ist lediglich eine Ausdrucksform unseres Süchtigseins. Dabei ist sie wie alle anderen Süchte nicht nur Krankheit, sondern im ganzheitlichen Sinne ein Krank-Sein. Sowohl im englischen Wort für Krankheit, »disease«, als auch im französischen »malaise« tritt diese Bedeutung hervor. Sie bezeichnet ein Grundbefinden in uns selbst, das von Un-Behagen und Un-Wohlsein, nämlich »dis-ease« und »mal-aise« gezeichnet ist. Es ist ein Zustand von Unsicherheit in dieser Welt: Oft wissen wir einfach nicht, wie wir in ihr klarkommen sollen.

Das englische Wort für Sucht, »addiction«, kommt aus dem Lateinischen (addicere) und bedeutet »jemandem etwas zusprechen«. Dieses Verbum wurde nur im Zusammenhang mit dem Sklavenverkauf verwendet: Es wird einem ein Sklave zugesprochen oder man schafft sich Sklaven an, die das tun, wozu man eigentlich selbst aufgerufen ist. Je mehr Sklaven man hat, umso unfähiger wird man, das, was von einem gefordert wird, selbst zu tun. Nicht der Süchtige wird demnach Sklave einer Droge, sondern umgekehrt: Der Süchtige heuert stellvertretend für sich Sklaven an, da er selbst sich dem Leben nicht stellen mag. Sucht wird so zu einem Synonym von Lebenslüge, Selbstbetrug und Selbsttäuschung.

Jede Form des süchtigen Verhaltens dient dazu, wenn auch nur für kurze Momente, das Gefühl zu erleben, angekommen und daheim zu sein, in Harmonie und Sicherheit zu leben. Es ist letztlich das, was wir alle suchen: Geborgenheit, einen Ort, an dem wir beschützt sind. Und weil wir nicht in der Lage sind, diesen Zustand aus uns selbst heraus zu schaffen, wählen wir aus lauter Verzweiflung die Sucht. Sie gibt, und sei es manchmal nur für Sekunden, das Gefühl: Ich bin angekommen, so wie jetzt möchte ich mich immer fühlen, so will ich immer sein, das habe ich schon lange ersehnt! Es ist die Erfüllung einer ungeheuren Sehnsucht. Darin sehe ich den Grund für die Sucht und das süchtige Verhalten.

Und dann kommt irgendwann der Einbruch, die Ent-Täuschung, das große Unglück, das uns aufweckt und uns unsere Selbsttäuschung zeigt. Der Zusammenbruch, die Krise, ist oft die Wende und die Chance zum Neubeginn. Wir wachen auf und sehen, was wir wirklich brauchen. Über einen langen Genesungsweg wird das Leben eine neue Fülle bekommen und sich auf das Wesentliche vereinfachen. Denn eigentlich, so werden wir feststellen, haben wir ja bereits alles in uns. Angelus Silesius, der schlesische Arzt und Mystiker, formulierte es so: »Mensch, was rennst du für und für, alles was du suchst, ist schon in dir.«

1954 lernte ich als Bataillionsarzt in der amerikanischen Armee die in Deutschland und in Europa damals noch unbekannten Alcoholics Anonymous (AA) kennen und nahm vier Jahre an ihren Treffen teil. Anhand der dort erzählten Berichte bekam ich Einblicke in dramatische Lebensgeschichten von Sucht, Abhängigkeit und von der totalen Wandlung, die innerhalb einzelner Menschen im Laufe der Zeit erfolgte. Sie erzählten ihre Geschichten, damit andere sich identifizieren konnten, wussten, dass sie nicht allein sind und angesteckt wurden, selbst in einen Prozess der Wandlung einzutreten. In mir war damals die Sehnsucht nach etwas anderem sehr lebendig und wach, nach all dem Grauenhaften, das ich im Krieg als Soldat erleben musste. Ohne selbst Alkoholiker zu sein, hat man mich vom ersten Meeting an – und das war das Entscheidende –, einfach so angenommen, wie ich war. Man hat nichts von mir verlangt, keine besondere Einstellung, kein Glaubensbekenntnis. Was ich damals bei den Anonymen Alkoholikern erfahren habe, habe ich später in vielfältiger Form auf meine Art und Weise in mein ärztliches Handeln eingebracht. Obwohl sich der Begriff Selbsthilfegruppe eingebürgert hat, sollte man in Anlehnung an Ernest Kurtz und Katherine Ketcham lieber von Gruppen sprechen, in denen man sich gegenseitig Hilfestellung bietet (mutual-aid groups). Ich bin versucht, an das Grundparadigma des Begründers der Homöopathie Samuel Hahnemann zu denken: »Similia similibus curentur«, also »Ähnliches möge durch Ähnliches geheilt werden«.

Als sich vor ungefähr zwanzig Jahren die anonymen Gruppen zum Thema Sexsucht in Deutschland gründeten, habe ich den Begründer der Sexaholics Anonymous, Roy K., als Referenten zu uns in die Klinik eingeladen. In den USA hatte ich später Gelegenheit, einige Meetings von Sexsüchtigen zu besuchen, die auch für Nichtbetroffene offen waren. Bei den sexuellen Abstinenzregeln mancher Gruppen fiel mir allerdings auf, dass beispielsweise Unverheiratete überhaupt keine sexuellen Beziehungen vor der Eheschließung eingehen sollten. Da fragte ich mich schon, ob nicht vielleicht bestimmte religiöse Vorstellungen und Erfahrungen hineinspielten, die da eigentlich nicht hingehörten.

In unserer heutigen Gesellschaft leiden wir an einer Überbetonung des Sexuellen, dabei ist Sexualität so etwas wie die Sahne auf dem Kuchen. Der weitaus größere Bereich ist jedoch die Sensualität. Wir haben den unendlichen Reichtum an möglichen sinnlichen Erfahrungen überhaupt noch nicht erschlossen und uns noch nicht bewusst gemacht, welch starke Sinnlichkeit uns als Geschenk gegeben ist. Besondere Erlebnisse wie Einladungen oder Reisen, aber auch alltägliche Dinge wie Essen, Trinken, Gespräche oder Berührungen, nehmen unsere fünf Sinne intensiv in Anspruch. Wir haben viel mehr Freuden am Tag, als uns bewusst ist.

In den Selbsthilfegruppen spielt auch die Spiritualität eine Rolle. Anfangs hat mich das Thema ziemlich abgestoßen. Da ist bei mir alles hochgekommen, was ich aufgrund meiner protestantischen Erziehung nicht verdaut hatte. Aber diese Kraft, der die Menschen dort auf die Spur gekommen sind, ist so allgemein, dass sie auf der ganzen Welt gültig ist – ganz gleich, welche Religion dort ansonsten herrscht. Beim dritten Geburtstag der Anonymen Alkoholiker in Moskau erlebte ich, wie junge Leute, die nach der langjährigen kommunistischen Erziehung nichts mehr von Gott wissen konnten, diese Quelle entdeckt haben. Und es war vollkommen egal, wie sie es nannten. Sie wussten nur, dass sie etwas angezapft oder geschenkt bekommen hatten, durch das sie abstinent wurden, das sie verwandelte und das ihnen eine neue Sicht gab – wie es der Jesuitenpater Ed Dowling gegenüber C. Chuck, einem Anonymen Alkoholiker ausdrückte: »Manchmal muss ich direkt glauben, dass der Himmel nichts anderes ist als eine neue Brille.«1 Die Selbsthilfegruppen sind inzwischen in über 150 Ländern verbreitet. Und es spielt überhaupt keine Rolle, woher die Leute kommen, in welchem Land sie leben, welcher sozialen Schicht sie zugehören und welche Sprache sie sprechen.

C. G. Jung schrieb im Januar 1961, wenige Monate vor seinem Tod, an Bill W., einen der Mitbegründer der Anonymen Alkoholiker, über den Patienten Rowland H., einen hoffnungslosen Trinker: »Sein gewaltiger Drang, diese Sehnsucht nach Alkohol, war auf einer niedrigen Stufe unseres Seins nur das Äquivalent unseres spirituellen Durstes nach Ganzheit, und in der Sprache des Mittelalters: nach der Vereinung mit Gott.«2 Ich möchte mich ganz fühlen und ganz werden – das ist es, was eigentlich hinter jeder Sucht steckt.

Glarus/Schweiz, im Dezember 2003

Walther H. Lechler

Sex als Sucht

»Denn alle Lust will Ewigkeit.«

Friedrich Nietzsche

Gesellschaftliche Rahmenbedingungen

Der Konsum stimmungs- und bewusstseinsverändernder Substanzen ist Teil der menschlichen Kultur. Auch die Sucht, eine der Folgen, ist überall verbreitet. Jede Gesellschaft unterliegt zu verschiedenen Zeiten unterschiedlichen süchtigen Gewohnheiten. Biologische, gesellschaftliche und persönliche Faktoren bilden den Boden, auf dem sich Suchtverhalten entwickeln kann. Während beispielsweise vor der Entdeckung Amerikas das Rauchen in der alten Welt gänzlich unbekannt war, raucht heute weltweit circa ein Drittel aller über 15-Jährigen.

Suchtgesellschaft

Fast alle Industrienationen westlicher Prägung weisen ein ähnliches Suchtmuster auf wie Deutschland, wobei Alkohol, Nikotin, Medikamente und Drogen eine große Rolle spielen. Diese Suchtstoffe haben vielschichtige Auswirkungen auf Menschen und können bis zum Tod führen: In Deutschland sterben jährlich circa 42 000 Menschen an den Folgen des Alkoholkonsums und circa 110 000 an den Folgen des Rauchens. Allein diese zwei Suchtstoffe sind für über ein Viertel aller Todesfälle in Deutschland verantwortlich. Betrachtet man die Zahlen, kann man getrost von einer Suchtgesellschaft sprechen. Und wie groß ist der psychologische Schaden, den die Sucht beim Süchtigen und in seinem Umfeld anrichtet? Wie destruktiv können die Auswirkungen auf Partnerschaft, Kinder oder Leistungsfähigkeit am Arbeitsplatz sein? Warum hält ein süchtiger Mensch trotz der vielen negativen Konsequenzen an seiner Sucht fest bzw. wird von ihr festgehalten?

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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