Sexuelle Gewalt gegen Frauen - Daniela Pollich - E-Book

Sexuelle Gewalt gegen Frauen E-Book

Daniela Pollich

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Beschreibung

Dieses Buch befasst sich mit sexueller Gewalt durch strafmündige männliche Täter, die diese gegen weibliche Opfer ausüben. Nicht zuletzt infolge einzelner herausragender sexueller Gewalttaten sowie spezifischer deliktischer Phänomene, die insbesondere mit dem Zuzug von Flüchtlingen und Migranten in Verbindung gebracht werden, ist dieses Themenfeld in den allgemeinen gesellschaftlichen Fokus gerückt. Bei der Darstellung konzentrieren sich die Autoren ausschließlich auf Delikte, bei denen sich Täter und Opfer vor der Tat nicht oder nur flüchtig kannten. Den Schwerpunkt legen sie dabei auf Fälle sexueller Nötigung und Vergewaltigung. Im Einzelnen behandeln sie: Thematische Eingrenzung und Definitionen, Erklärungsansätze für sexuelle Gewalt, Kriminalitätslage- und entwicklung, Phänomenologie, Polizeiliche Bearbeitung von Sexualdelikten, Polizeilicher Opferschutz sowie Präventionsansätze. Die komplexen wissenschaftlichen sowie polizeilichen Wissensbestände zum Thema zusammenzufassen und praxistauglich darzustellen, ist dabei das erklärte Ziel der Autoren. Kompakt vermitteln sie so den Akteuren der praktischen Kriminalitätskontrolle die erforderlichen Kenntnisse für einen sachgerechten polizeilichen Umgang mit diesem Kriminalitätsphänomen und geben gleichzeitig Studierenden im Bereich Polizeivollzugsdienst ein wertvolles Arbeitsmittel an die Hand.

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Lehr- und StudienbriefeKriminalistik / Kriminologie

Herausgegeben von

Horst Clages, Leitender Kriminaldirektor a.D.,

Wolfgang Gatzke, Direktor LKA NRW a.D.

Band 25

Sexuelle Gewalt gegen Frauen

von

Prof. Dr. Daniela Pollich

Marcus Stewen

Julia Erdmann

Dr. Maike Meyer

Corinna Mahle

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

E-Book

1. Auflage 2020

© VERLAG DEUTSCHE POLIZEILITERATUR GMBH Buchvertrieb; Hilden/Rhld., 2020

ISBN 978-3-8011-0858-8 (EPUB)

Buch (Print)

1. Auflage 2019

© VERLAG DEUTSCHE POLIZEILITERATUR GMBH Buchvertrieb; Hilden/Rhld., 2019

Satz: VDP GMBH Buchvertrieb, Hilden

Druck und Bindung: Druckerei Hubert & Co, Göttingen

Printed in Germany

ISBN 978-3-8011-0859-5

Alle Rechte vorbehalten

Unbefugte Nutzungen, wie Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder

Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Satz und E-Book: VDP GMBH Buchvertrieb, Hilden

E-Mail: [email protected]

Inhaltsverzeichnis

1Eingrenzung und Vorwort

2Gesellschaftliche und rechtliche Definitionen

2.1Gesellschaftliche Wahrnehmungen von Opfern, Tätern und Taten

2.2Rechtliche Definitionen und Straftatbestände

2.2.1Rechtshistorie

2.2.2Aktuelle Straftatbestände

2.3Grenzen strafrechtlicher Einordnung und wissenschaftliche Definitionen

3Erklärungsansätze für sexuelle Gewalt

3.1Evolutionstheoretische und biologische Ansätze

3.2Psychologische Erklärungsansätze

3.3Soziologische und kriminologische Ansätze

3.3.1Gesellschaftsorientierte und feministische Ansätze

3.3.2Kriminologische und viktimologische Erklärungsansätze

3.3.3Situationsbezogene Erklärungsansätze

3.4Integrative Ansätze

4Kriminalitätslage und -entwicklung

4.1Erkenntnisse aus dem Hellfeld

4.1.1Entwicklung der Fallzahlen

4.1.2Erkenntnisse zu Fällen, Tatverdächtigen und Opfern im Jahr 2017

4.1.3Erkenntnisse zur Vorbeziehung zwischen Tatverdächtigen und Opfern

4.1.4Justiziell bearbeitete Fälle

4.2Erkenntnisse aus dem Dunkelfeld

5Phänomenologie

5.1Tatmerkmale

5.1.1Zeitliche und räumliche Merkmale der Tat

5.1.1.1Zeitliche Aspekte

5.1.1.2Kontaktort

5.1.1.3Ortsverlagerungen zwischen Kontaktort und Tatort

5.1.1.4Tatorte und -örtlichkeiten

5.1.1.5Räumliches Nachtatverhalten

5.1.2Handlungsabläufe der Tat

5.1.2.1Tatentschluss, Planungsgrad und Opferauswahl

5.1.2.2Kontaktaufnahme

5.1.2.3Verbalverhalten und Gewalteinsatz während der Tat, Verletzungsfolgen

5.1.2.4Opferwiderstand, Gewalteskalation

5.1.2.5Sexuelle Handlungen

5.1.2.6Tatabbruch und Nachtatverhalten

5.1.2.7Verschleierungshandlungen und Mitnahme von Gegenständen des Opfers

5.1.2.8Zusammenhang zwischen Tat- und Tätermerkmalen

5.1.3Situative Rahmenbedingungen der Tat

5.1.3.1Opfer-Täter-Beziehung

5.1.3.2Tatbeteiligte, Gruppentaten

5.1.3.3Substanzeinfluss zum Tatzeitpunkt

5.2Täterbezogene Erkenntnisse

5.2.1Soziodemografische Merkmale

5.2.2Soziale Schwierigkeiten

5.2.3Strafrechtliche Vorbelastung und polizeiliche Auffälligkeit

5.2.4Sexuelle Vorerfahrungen und sexualitätsbezogene Einstellungen

5.2.5Psychische Auffälligkeiten

5.3Opferbezogene Erkenntnisse

5.3.1Soziodemografische Merkmale

5.3.2Vorbelastungen der Opfer

6Polizeiliche Bearbeitung von Sexualdelikten

6.1Der Erste Angriff

6.1.1Sicherungsangriff

6.1.1.1Eingang der Information

6.1.1.2Maßnahmen am Tatort

6.1.1.3Übergabe des Tatortes

6.1.2Auswertungsangriff

6.1.2.1Maßnahmen in Bezug auf das Opfer

6.1.2.2Maßnahmen an den Tatörtlichkeiten

6.1.2.3Maßnahmen am Tatverdächtigen

6.2Weitere Ermittlungsmaßnahmen

6.2.1Personenwiedererkennungsverfahren

6.2.1.1Phantombilderstellung

6.2.1.2„Digitale“ Lichtbildvorzeigekartei

6.2.1.3Wahllichtbildvorlage, Gegenüberstellung, simultane Wahlgegenüberstellung und sequenzielle Wahlvideogegenüberstellung

6.2.2Weitere Informationserhebung und Umgang mit Informationen

6.2.2.1Büroermittlungen

6.2.2.2Datenabgleich und Rasterfahndung

6.2.3Nutzung von DNA im Ermittlungsverfahren und DNA-Reihenuntersuchung

6.2.3.1DNA im Ermittlungsverfahren

6.2.3.2DNA-Reihenuntersuchung

6.3Service der Dienststellen Operative Fallanalyse und ViCLAS

6.3.1ViCLAS

6.3.2Die Operative Fallanalyse

6.3.2.1Grundsätzliches zur Operativen Fallanalyse

6.3.2.2Vergleichende und geografische Fallanalyse

7Polizeilicher Opferschutz

7.1Bedeutung des Opferschutzes bei Sexualdelikten

7.2Rechtliche Regelungen im Bereich Opferschutz

7.3Opferschutz in der polizeilichen Ermittlungsarbeit

7.4Anonyme Spurensicherung als Opferschutz außerhalb der polizeilichen Ermittlungsarbeit

8Prävention von Sexualdelikten

Literaturverzeichnis

1Eingrenzung und Vorwort

Der vorliegende Band befasst sich mit sexueller Gewalt durch strafmündige männliche Täter, die an weiblichen Opfern im Jugend- und Erwachsenenalter verübt wird. Zudem beschränkt sich die Darstellung ausschließlich auf solche Delikte, bei denen sich Täter und Opfer vor der Tat nicht oder nur flüchtig kannten. Der Schwerpunkt der deliktischen Betrachtung liegt auf Fällen sexueller Nötigung und Vergewaltigung.

Mit dieser Eingrenzung soll keineswegs ausgedrückt werden, andere Opfergruppen, wie Männer oder Kinder, andere Tätergruppen, wie Täterinnen, oder andere Täter-Opfer-Konstellationen, wie Gewalt im häuslichen Kontext, seien weniger relevant. Vielmehr unterscheiden sich derartige Fallkonstellationen qualitativ von der hier dargestellten und würden eine gesonderte Darstellung beispielsweise hinsichtlich der Datenlage, der Erklärungszusammenhänge, der Phänomenologie und teilweise der polizeilichen Ermittlungs- und Opferschutzmaßnahmen erfordern. Da dies den Rahmen des vorliegenden Bandes sprengen würde, fand notwendigerweise eine Konzentration auf den oben beschriebenen Gegenstandsbereich statt.

Die Forschungsliteratur zum Untersuchungsgegenstand ist recht heterogen und Studien ausschließlich zu sexueller Gewalt männlicher Täter, die dem weiblichen Opfer fremd oder allenfalls flüchtig bekannt sind, sind rar. Aus diesem Grund wird hier auf eine breite Basis an allgemeineren Studien zu sexueller Gewalt zurückgegriffen, wobei stets angestrebt wird, Befunde zu den hier fokussierten Fallkonstellationen zu extrahieren. Wegen der bestehenden Analogien zwischen sexuell assoziierten Tötungsdelikten und Sexualdelikten, die für die Opfer nicht tödlich enden1, werden die Ausführungen an einigen Stellen zudem durch Befunde zu sexuell assoziierten Tötungshandlungen ergänzt. In erster Linie wird im vorliegenden Band die deutschsprachige Forschungsliteratur zum Phänomenbereich wiedergegeben, da die für Deutschland gültigen Befunde auch maßgeblich für die polizeiliche Arbeit hierzulande sind. An einigen Stellen wird jedoch ergänzend auf internationale Befunde zurückgegriffen.

Weiterhin wird für die hier betrachteten Delikte der Begriff der sexuellen Gewalt gewählt. In der aktuellen, besonders in der feministisch orientierten Literatur wird alternativ häufig der Begriff der sexualisierten Gewalt verwendet, um aufzuzeigen, dass „Sex zwar die Waffe, nicht aber die Motivation bei einer Vergewaltigung ist“2. Sexuelle Nötigung und Vergewaltigung werden in dieser, teilweise kontrovers diskutierten Sicht in erster Linie als ein Gewaltdelikt gesehen, bei dem die Sexualität eher als ein Tatmittel anzusehen ist.3

Auch in der kriminologischen Forschung zum Deliktsbereich herrscht weitgehend Einigkeit bezüglich der Tatsachte, dass bei weitem nicht alle Sexualdelikte dem Motiv der sexuellen Befriedigung entspringen, sondern „dass die Täter aggressiver Sexualdelikte Sexualität häufig als Instrument der Beherrschung, der Unterdrückung und Erniedrigung einsetzten – regelmäßig als Reaktion auf Kränkungen und Ängste, die zu einem von Hass und Wut bestimmten Verhältnis gegenüber Frauen geführt haben. Taten mit rein sexueller Motivation, d.h. um sexuelle Erregung abzureagieren, sind dagegen vergleichsweise selten“4. Es handelt sich demnach in erster Linie um Gewaltdelikte, bei denen auch ein Machtaspekt im Vordergrund steht. Dennoch ist nicht darüber hinwegzusehen, dass in den meisten Fällen von Vergewaltigung die sexuellen Handlungen das Tatgeschehen auf Verhaltensebene dominieren.5

Womöglich deshalb hat sich in der kriminologischen und kriminalistischen Literatur der Begriff der sexuellen Gewalt derart stark eingebürgert, dass er auch im vorliegenden Band Verwendung findet.

Erwähnenswert ist überdies, dass für die Betroffenen sexueller Gewalt in diesem Band der Begriff des Opfers verwendet wird, auch wenn dieser gelegentlich in der Kritik steht, eine gewisse Passivität und ein Ausgeliefertsein zu unterstellen, das womöglich ein Leben lang nachhallt. Aus diesem Grund bevorzugen einige Autorinnen und Autoren den aktiv konnotierten Begriff der Überlebenden von Sexualdelikten.6 In einem kriminalistisch und kriminologisch ausgerichteten Band wie diesem erscheint dieser Begriff jedoch, auch wenn seine beabsichtigte Konnotation sinnvoll erscheinen mag, unpräzise: Da sich die Darstellung hier nah an strafrechtlichen Sachverhalten orientiert, die danach differenzieren, ob eine Tötung oder auch ein Tötungsversuch bzw. eine Tötungsabsicht vorlagen oder nicht, würde die Argumentation an einigen Stellen verschwimmen. Gerade weil, wie weiter oben im Text beschrieben, auch Forschungsarbeiten zu sexuell assoziierten Tötungshandlungen einbezogen werden, wäre eine pointierte Darstellung von Forschungsbefunden nicht möglich.

Es ist Ziel des vorliegenden Bandes, die komplexen wissenschaftlichen sowie polizeilichen Wissensbestände zum Thema sexuelle Gewalt gegen Frauen zusammenzufassen und praxistauglich darzustellen. Damit sollen den Akteuren der praktischen Kriminalitätskontrolle die erforderlichen Kenntnisse für einen sachgerechten polizeilichen Umgang mit diesem Kriminalitätsphänomen kompakt vermittelt werden. An einigen Stellen war dies eine Gratwanderung zwischen der erforderlichen umfassenden Darstellung des Wissensstandes zum Thema und den Bedarfen und Erfordernissen der Praxis sowie von Studierenden im Bereich Polizeivollzugsdienst. Wir hoffen, diese weitestgehend bewältigt zu haben. Für wertvolle Hinweise zum Manuskript danken wir herzlich Arjen Akkersdijk, Horst Clages, Barbara Ernst und besonders Wolfgang Gatzke.

Düsseldorf, im Juni 2019

1Siehe beispielsweise Straub/Witt, 2002 S. 17–18, 29; Steck/Raumann/Auchter, 2005, S. 78.

2Sanyal, 2017, S. 41.

3Sanyal, 2017, S. 41–43.

4Elsner/Steffen, 2005, S. 13.

5Siehe beispielsweise Uhlig, 2015, S. 62.

6Siehe genauer Sanyal, 2017, S. 93–95.

2Gesellschaftliche und rechtliche Definitionen

2.1Gesellschaftliche Wahrnehmungen von Opfern, Tätern und Taten

Die gesellschaftliche Wahrnehmung und damit auch die Definition dessen, was abweichendes oder „unmoralisches“ sexuelles Verhalten ist, unterliegt einem ständigen Wandel. Damit verschieben sich nicht nur stetig die Bewertungsmaßstäbe in der öffentlichen Diskussion; auch die Entwicklung des Sexualstrafrechts wird essenziell von der gesellschaftlichen und medialen Wahrnehmung und Beurteilung mitbestimmt.7

Seit jeher sind Sexualdelikte stark mit den Begriffen „Ehre“ bzw. „Scham“ verknüpft. Schon in der Antike war die Ehre einer Frau – anders als bei Männern, die sich auch im Krieg oder im Beruf unter Beweis stellen konnten – aus gesellschaftlicher Sicht eng mit ihrer gelebten Sexualität, d.h. mit ihrer Jungfräulichkeit bzw. ihrem Status als Ehefrau, verbunden. Hatte eine Frau (freiwilligen oder unfreiwilligen) Geschlechtsverkehr mit einem Mann, der nicht ihr Ehemann war, galt sie damit als „entehrt“ und in der Gefahr, alles gesellschaftliche Ansehen und damit auch ihre „Existenzgrundlage“8 zu verlieren.9 Wurde eine Frau gewaltsam zum Sexualverkehr gezwungen, wurde sie damit in der gesellschaftlichen Wahrnehmung ihrer Ehre beraubt. Dies zeigt auch die Herkunft des englischen Begriffs für Vergewaltigung „rape“, welcher vom lateinischen „rapere“ (auf Deutsch „Raub“) abstammt. Auch der heute veraltete deutsche Begriff „Notzucht“ hat sich aus dem althochdeutschen Begriff für Raub im Allgemeinen entwickelt. Bemerkenswert hieran ist, dass die Ehre nur einer solchen Frau geraubt werden konnte, die zuvor in der gesellschaftlichen Wahrnehmung im Besitz einer solchen war.10

Zeigte eine Frau noch im 18. und 19. Jahrhundert ein sexuelles Gewaltdelikt bei der Polizei an, wurde bei verheirateten oder verwitweten Frauen der unbescholtene gesellschaftliche Ruf überprüft, bei unverheirateten Frauen die Dehnbarkeit der Vagina, um (vermeintlich) festzustellen, ob Geschlechtsverkehr bereits vor dem angezeigten Delikt stattgefunden hatte oder nicht. Zum Nachweis der weiblichen „Ehre“ vor Gericht war es sogar bis in die 1970er Jahre hinein (siehe Abschnitt 2.2.1) nötig, den Verlust eben dieser durch ein entsprechendes Auftreten als Opfer glaubhaft zu machen und nachzuweisen, dass man sich der Vergewaltigung in ausreichendem Maße und während des gesamten Tatgeschehens widersetzt hatte. Nur dann war in der gesellschaftlichen und auch rechtlichen Wahrnehmung eine „echte“ Vergewaltigung gegeben.11

Seit dieser Zeit hat das Konzept der (verlorenen) „Ehre“ in der gesellschaftlichen Wahrnehmung an Bedeutung verloren und wurde durch die „Scham“, die Opfer sexueller Gewalt empfinden, weitestgehend ersetzt. Während eine erlebte Vergewaltigung heute weniger einen (existenziellen) gesellschaftlichen Ehrverlust bedeutet, wenden viele Frauen die Reaktion auf den Angriff in Form von Scham nach innen und damit gegen sich selbst. Diese Scham kann beschrieben werden als „eine hochkomplexe Emotion, die kulturell erlernt werden muss und sich keineswegs automatisch einstellt.“12

Dass derartige Reaktionsweisen von Opfern erlernt werden, liegt sicherlich auch daran, dass die Gesellschaft bis heute Vergewaltigungsopfern, mehr oder minder bewusst, häufig eine gewisse Mitschuld am Erlebten zuschreibt. Beispielsweise in Form so genannter Vergewaltigungsmythen werden die althergebrachten Vorstellungen in die heutige Zeit übertragen. Vergewaltigungsmythen können definiert werden „als Meinungen über Opfer, Täter und Umstände einer Vergewaltigung, die durch vorliegendes Tatsachenwissen nicht gestützt bzw. widerlegt sind“13. Diese Mythen bieten vermeintliche Erklärungen für das Erleben sexueller Gewalt dahin gehend, dass nur bestimmte Frauen einem Risiko unterliegen, Opfer eines solchen Delikts zu werden: „Nice girls don’t get raped“14. Der Ursprung derartiger Mythen liegt nicht zuletzt in der gesellschaftlich lange verankerten Vorstellung der (vermeintlichen) Ungleichwertigkeit von Mann und Frau, die insbesondere von der feministischen Bewegung seit den 1970er Jahren angeprangert wird. Die damals gelebte Dominanz des Mannes über die Frau führte zu einem gesellschaftlichen Klima, in dem sexuelle Gewalt gegen Frauen verharmlost wurde und zum Teil auch heute noch wird.15

Vor diesem Hintergrund wird Opfern sexueller Gewalt häufig eine Mitverantwortung an ihren Viktimisierungserfahrungen zugeschrieben, beispielsweise durch ihre Kleidung, ihr Verhalten, ihre unzureichende Wehrhaftigkeit oder den unterstellten Wunsch, sie wollen „zum Sex überredet“ oder gar „insgeheim vergewaltigt“ werden. Schneider berichtet in diesem Kontext von einem lang gehegten „gesellschaftliche[n] Stereotyp, das bis heute nachwirkt: ‚Wirkliche’ Vergewaltigung besteht darin, dass ein psychisch abnormer, bewaffneter Fremder eine Frau aus dem Hinterhalt sexuell angreift und ihr erheblichen körperlichen Schaden zufügt. Das weibliche Opfer leistet vergeblich verzweifelten Widerstand“.16 Weicht eine Tat von diesem klischeehaften Bild ab, kann es für Opfer oftmals heute noch schwierig sein, für glaubwürdig gehalten zu werden. In den letzten Jahrzehnten haben sich diese Missstände gesellschaftlich und auch im behördlichen Umgang etwas abgeschwächt17, obwohl derartige Schuldzuweisungen auch heute noch durchaus vorzukommen scheinen.18

Doch nicht nur die gesellschaftliche Wahrnehmung der Opfer, sondern auch die der Täter ist im Bereich der Sexualdelikte besonders und wohl mit keinem anderen Delikt vergleichbar. So schreibt beispielsweise Sanyal, dass eine „unvoreingenommene Auseinandersetzung mit den Tätern ein noch größeres Tabu zu sein [scheint] als all die anderen Fragen um das hochaufgeladene Thema Vergewaltigung“; daraus resultiere eine „Entmenschlichung der Täter“19 seitens der Gesellschaft. So zeigen Studien, dass für Vergewaltigungstäter seitens der Bevölkerung im Vergleich zu anderen Straftätern höhere Strafen gefordert und deren Chancen auf Rehabilitation gleichzeitig deutlich niedriger eingeschätzt werden.20 Besonders bei Vergewaltigungstätern ist die Angst der Bevölkerung vor Wiederholungstaten groß und die gesellschaftliche Wiedereingliederung wird von vielen Bürgerinnen und Bürgern skeptisch gesehen.21 Die Täter eines derartig ablehnenswerten Verbrechens werden von der Gesellschaft daher als andersartig und bösartig, gar als nicht zur Gesellschaft gehörig definiert: „Vergewaltiger sind nicht wie wir. Oder anders ausgedrückt: Vergewaltiger sind nicht wir.“22

Dabei zeigt die Forschung, dass zahlreiche Vergewaltigungstaten durch Täter mit einer breiten Palette krimineller Aktivität begangen werden, die nur gelegentlich durch psychologische oder psychiatrische Störungsbilder auffallen (siehe hierzu genauer Abschnitte 3.2 und 5.2.5) und dass sich sexuelle Gewalt nicht selten situativ entwickelt. Damit zeichnen sich die Täter von Vergewaltigungen in vielen Fällen nicht durch wesentlich andere Merkmale aus, als die Täter anderweitiger Delikte. Dennoch werden in der gesellschaftlichen Wahrnehmung „vollkommen bösartige Täter“ „gute[n] unschuldige[n] Opfer[n]“23 (sofern diese als „unbescholten“ gelten und das Delikt dem oben geschilderten Stereotyp entspricht) gegenübergestellt. Dieses durch eine Vergewaltigungstat anhaftende gesellschaftliche Etikett ist für die Täter kaum wieder abzustreifen. Wie drastisch die Folgen einer solchen Etikettierung sein können, wird besonders an unschuldig bezichtigten Tatverdächtigen sexueller Gewalt deutlich. Jedoch auch die gesellschaftlichen, beruflichen und existenziellen Folgen für einige Täter, die im Kontext der #MeToo-Debatte24 als solche bekannt wurden, können hierfür als Beispiele herangezogen werden, ohne dabei die Tragweite der von ihnen begangenen Delikte schmälern zu wollen.

Die gesellschaftliche Funktion dieses Schwarz-Weiß-Denkens besteht womöglich – ähnlich wie bei der gesellschaftlichen Sicht auf die Opfer – darin, das Kontinuum und die Graubereiche der Ursachen von sexueller Gewalt nicht anzuerkennen. Auf diesem Weg kann vermieden werden, gesellschaftlich akzeptieren zu müssen, dass auch „normale“ Männer zu Vergewaltigungstätern werden können und dass auch das gesellschaftliche Klima eine Mitverantwortung für die Entstehung derartiger Übergriffe trägt.25 Diese Sichtweise hat einigen Autorinnen und Autoren zufolge auch auf gesetzliche Änderungen der jüngsten Zeit (siehe genauer Abschnitt 2.2.2) Einfluss genommen: Das höhere Strafbedürfnis und das gesellschaftliche Abgrenzungsbedürfnis gegenüber Vergewaltigungstätern spiegle sich auch im heutigen Sexualstrafrecht und den anhaltenden Diskussionen um dessen Ausweitung wider.26

Insgesamt zeigt sich, dass die Einstellungen zu Opfern und Tätern sexueller Gewalt sehr eng mit den vorherrschenden gesellschaftlichen Normen, Werten und Moralvorstellungen zusammenhängen. Selbiges gilt auch für die Taten selbst: Welche Arten sexueller Handlungen aus Sicht der Gesellschaft gegen die gültige Moral verstoßen oder sogar unter Strafe gestellt werden, hat sich im Laufe der Zeit verändert und wird stets einem Wandel unterworfen bleiben. Ein Beispiel hierfür ist die Homosexualität, die bis weit in das 20. Jahrhundert hinein gesellschaftlich abgelehnt und auch bis 1994 unter Strafe (ehemals § 175 StGB) gestellt war.27 Erst langsam hat sich in dieser Hinsicht die gesellschaftliche Wahrnehmung dessen, was als moralisch „akzeptabel“ gilt, gewandelt und führte zu einer Entkriminalisierung gleichgeschlechtlicher Sexualität. Beispiel für einen Wandel in eine umgekehrte Richtung ist die Strafbarkeit der Vergewaltigung in der Ehe ab dem Jahr 1998 (siehe genauer Abschnitt 2.2.1), die bis dahin straflos war und gesellschaftlich lange Zeit als moralisch bedenkenlos akzeptiert wurde. Diese Beispiele zeigen, wie eng die sich stetig wandelnde gesellschaftliche Wahrnehmung und Definition sexueller Gewalt mit der Gesetzgebung verbunden ist.

2.2Rechtliche Definitionen und Straftatbestände

2.2.1Rechtshistorie

Der dreizehnte Abschnitt des Strafgesetzbuches des Deutschen Reiches vom 15. Mai 1871 regelte unter der Überschrift „Verbrechen und Vergehen wider die Sittlichkeit“ u.a. strafbare Handlungen wie Doppelehe, Ehebruch und Blutschande. Im Mittelpunkt des Sexualstrafrechts standen zur damaligen Zeit die Begriffe Unzucht und unzüchtige Handlung. Als Unzucht galt jedes gegen Zucht und Sitte verstoßende Handeln im Bereich des geschlechtlichen Umgangs zwischen mindestens zwei Personen. Unzüchtige Handlungen waren solche, die objektiv das allgemeine Scham- und Sittlichkeitsgefühl in geschlechtlicher Beziehung verletzten und subjektiv von sexueller Begierde getragen wurden. Fand die Handlung innerhalb einer Ehe und nicht öffentlich statt, war die Sittlichkeit nicht berührt und es lag entsprechend keine Unzucht vor.28 Ebenfalls als Voraussetzung einer Strafbarkeit galt lange Zeit der moralisch einwandfreie Ruf der betroffenen Frauen sowie das „Brechen eines ernsthaften Widerstands“29.

Nach allgemeiner Auffassung bedurfte es für die Strafbarkeit von Sittlichkeitsdelikten zur damaligen Zeit nicht der Verletzung eines Rechtsguts. Entscheidend war vielmehr die gesellschaftliche Einordnung dessen, was als unzüchtige Handlung anzusehen ist. Erst mit Ende des neunzehnten und dem Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts setzte sich die Rechtsgutslehre in der Strafrechtswissenschaft durch. Nach dem Zweiten Weltkrieg, insbesondere ab Ende der fünfziger Jahre bis in die siebziger Jahre hinein, kam es zu tiefgehenden Diskussionen über das Strafrecht, an deren Ende die noch heute herrschende Auffassung stand, dass das Strafrecht durch den Schutz von Rechtsgütern der Verwirklichung des Gemeinwohls und des Rechtsfriedens dient. Dementsprechend darf der Staat seine Strafgewalt nur zum Schutze von Freiheiten und Rechten ausüben. Dieser Auffassung folgend darf unsittliches Verhalten nicht um seiner selbst willen mit Strafe bedroht werden, vielmehr ist die Verletzung eines Rechtsguts erforderlich. Ein solches ist die Sittlichkeit nach heutigem Verständnis nicht.30

Mit dem 4. Strafrechtsreformgesetz (StrRG) vom 23. November 1973 wurde der Übergang des Strafrechts vom so genannten Sittenstrafrecht hin zu einem am Freiheitsschutz orientierten Sexualstrafrecht geebnet. Nachdem die Vorschriften zum Sexualstrafrecht rund einhundert Jahre nahezu unverändert Bestand hatten, wurde das System der Vorschriften gegen unfreiwillige Sexualkontakte neu geordnet.31

Die Abkehr von den Begriffen der Unzucht und Sittlichkeit sowie die erneuerte Überschrift des dreizehnten Abschnitts „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“ verdeutlichen die Hinwendung zum echten Rechtsgüterschutz. Im Zentrum stand nun der Schutz des bzw. der Einzelnen vor Beeinträchtigung seiner oder ihrer sexuellen Selbstbestimmung.32 Als Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts wurde die sexuelle Selbstbestimmung von nun an aus der in Art. 1 Abs. 1 GG garantierten Menschenwürde und dem Grundrecht des Art. 2 Abs. 1 GG auf freie Entfaltung der Persönlichkeit abgeleitet.33 Gleichzeitig bewirkte die Reform eine Humanisierung, Liberalisierung und Entkriminalisierung im Bereich der gewaltlosen Sexualdelikte.34

Bereits in den frühen achtziger Jahren geriet die Rechtsprechung des BGH zu Vergewaltigungen und sexuellen Nötigungen in die Kritik von Frauenrechtlerinnen und Teilen der strafrechtlichen Wissenschaft.35 Insbesondere wurde der Begriff der Vergewaltigung im StGB in dieser Zeit als zu eng gefasst beanstandet. Ausschließlich sexuelle Handlungen, die durch körperliche Gewalt oder Drohungen mit erheblicher Gefahr für Leib oder Leben erzwungen wurden, waren strafbar. Damit blieben zum Beispiel Handlungen straflos, die die Betroffenen aus massiver Angst vor dem Täter wehrlos über sich ergehen ließen.36 Schwere Sexualstraftaten dieser Zeit, begangen durch rückfällige Sexualstraftäter37, führten zu einer weitergehenden Sensibilisierung der Bevölkerung und Emotionalisierung der Diskussion (siehe hierzu Abschnitt 2.1). Auch blieb das zu erwartende Absinken der registrierten Sexualdelinquenz aufgrund der beschriebenen Entkriminalisierung in der Polizeilichen Kriminalstatistik aus. Zunehmend wurde über eine grundlegende Gesetzesreform diskutiert, da die vorherrschende Rechtslage dem Rechtsgut der sexuellen Selbstbestimmung nicht ausreichend gerecht wurde.38

Das 33. Strafrechtsänderungsgesetz (StrÄndG) vom 01. Juli 1997 sowie das 6. StrRG vom 26. Januar 1998 trugen dieser Kritik Rechnung und gestalteten die §§ 177 bis 179 StGB neu. Im Zuge der Reformierung wurde die Vergewaltigung mit der sexuellen Nötigung in einem Paragraphen zusammengefasst (§ 177 StGB). Der Vergewaltigungsbegriff wurde dabei erweitert und die Vergewaltigung als Regelbeispiel eines besonders schweren Falles der sexuellen Nötigung normiert. Neben Gewalt und Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben wurde außerdem das Ausnutzen einer Lage, in der das Opfer der Einwirkung des Täters schutzlos ausgeliefert ist, als zusätzlicher Tatbestand eingeführt. Die sexuelle Nötigung (von 1973 bis 1997 geregelt in § 178 StGB) wurde um zusätzliche Qualifikationstatbestände ergänzt.39 Unter der Perspektive einer Opferorientierung wurden Straftatbestände erweitert, Strafrahmen erhöht und neue Straftatbestände eingeführt, „um den Schutz der Allgemeinheit insbesondere vor gefährlichen Sexualstraftätern zu gewährleisten“40.

Erstmals in der Geschichte war von nun an eine Vergewaltigung in der Ehe strafbar. Der BGH entschied, dass der Strafrahmen eines besonders schweren Falls der sexuellen Nötigung generell auf eine Vergewaltigung in der Ehe anwendbar ist.41 In der Praxis hingegen wurde allerdings der Umstand vorausgegangener Intimbeziehungen, wie in Ehen üblich, häufig als wesentlicher strafmildernder Gesichtspunkt42 aufgefasst und eine Verurteilung nicht als schwerer Fall gem. § 177 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 StGB a.F., sondern nach § 177 Abs. 1 StGB a.F. oder als minder schwerer Fall gemäß § 177 Abs. 5 StGB a.F. vorgenommen.43

Da 1997 keine grundlegende Änderung des relevanten § 177 vorgenommen wurde, blieb die vorangegangene Kritik bestehen: Sexuelle Handlungen waren nur dann strafbar, wenn der Täter eines von drei so genannten Nötigungsmitteln angewandt hatte. So gab es weiterhin eine Reihe von Fallkonstellationen, in denen Täter sexuelle Handlungen gegen den Willen der Betroffenen vornehmen konnten und dabei straffrei blieben.44

Im Jahr 2000 stellte die Bundesregierung, begleitet von öffentlichen Diskussionen und Kritik um das Reformwerk, erste Überlegungen an, das gesamte Sexualstrafrecht dahingehend erneut zu überprüfen, ob strafwürdige Sachverhalte lückenlos erfasst werden.45 Das ab 01. Januar 2002 gültige „Gesetz zum zivilrechtlichen Schutz vor Gewalttaten und Nachstellungen“ (Gewaltschutzgesetz) war dabei ein Schritt, die rechtliche Stellung von Opfern häuslicher Gewalt zu stärken. Auch nachfolgende Anpassungen, wie beispielsweise das „Gesetz zur Änderung der Vorschriften über die Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung und zur Änderung anderer Vorschriften“ vom 27. Dezember 2003 trugen der Kritik teilweise Rechnung. Tatbestände wurden ausgeweitet, neue Tatbestände eingefügt und Strafdrohungen nochmals verschärft.46 Gleichzeitig wurden kritische Stimmen lauter, die in den Anpassungen lediglich gesetzgeberischen Aktionismus und einen Kurswechsel der Kriminalpolitik von einer liberalen zu einer repressiven Tendenz sahen.47 Im Gegensatz zu früheren Reformen, denen langjährige Auseinandersetzungen vorausgingen, nahmen nun tagespolitische Themen zunehmend Einfluss auf die Reformdiskussion, was sich mit einer bis dato unbekannten Schnelligkeit in Änderungen des Sexualstrafrechts niederschlug.48

Am 11. Mai 2011 wurde in Istanbul das „Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“ (Istanbul-Konvention) beschlossen.49 Zweck des Übereinkommens ist gemäß Artikel 1 Abs. 1a unter anderem, „Frauen vor allen Formen von Gewalt zu schützen und Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt zu verhüten, zu verfolgen und zu beseitigen“. Die Istanbul-Konvention verpflichtet die beteiligten Staaten, Maßnahmen gegen geschlechtsbezogene Gewalt zu ergreifen. Dazu zählen Prävention, Schutz, Strafverfolgung, organisatorische Zusammenarbeit staatlicher und nichtstaatlicher Stellen sowie das Monitoring der Umsetzung. Zudem werden die Staaten verpflichtet, Gesetze zu verabschieden, nach denen Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt bestraft wird, entsprechende gesetzliche Vorgaben einzuführen und dafür zu sorgen, dass Strafverfolgung auch tatsächlich stattfindet.

Deutschland unterzeichnete die Konvention als einer der ersten Mitgliedsstaaten im Mai 2011. Eine Ratifizierung fand allerdings zunächst nicht statt. Kritiker bemängelten, dass § 177 StGB in der damaligen Fassung dem Artikel 36 der Konvention nicht genügen könnte; letzterer sieht vor, dass jeglicher nicht einvernehmlicher Sexualverkehr unter Strafe zu stellen ist.

Bedingt durch die mediale und politische Diskussion um den Fall eines aus den Medien bekannten Modells, das nach der widerrechtlichen Veröffentlichung eines Sexvideos mit zwei Männern Anzeige wegen Vergewaltigung erstattet hat, aber wegen falscher Verdächtigung verurteilt wurde sowie die Übergriffe auf Frauen durch Gruppen junger Männer in der Silvesternacht 2015/2016 zum Beispiel in Köln50, wurde die Kritik am geltenden Strafrecht erneut laut. Mit dem 50. StrÄndG vom 04. November 2016 wurde die neueste Reform des Sexualstrafrechts beschlossen. Umgestaltet wurde insbesondere der § 177 StGB dahingehend, dass sich nicht mehr nur derjenige strafbar macht, der sexuelle Handlungen durch Gewalt, Gewaltandrohung oder die Ausnutzung einer schutzlosen Lage des Opfers erzwingt, sondern auch derjenige, der sich über den erkennbaren Willen des Opfers hinwegsetzt.

„Durch die Neuregelung wird die Missachtung der Entscheidung gegen einen Sozialkontakt – und nicht erst die Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung durch Nötigung – zum Gegenstand des strafrechtlichen Vorwurfs und die populäre Forderung ‚Nein heißt Nein‘ zum Leitprinzip des Sexualstrafrechts.“51

Ergänzt wurde das StGB im Zuge des 50. StrÄndG außerdem durch den Straftatbestand der sexuellen Belästigung (§ 184i StGB) und die Straftaten aus Gruppen (§ 184j StGB) (siehe genauer Abschnitt 2.2.2).

Bundesrat und Bundestag stimmten der Instanbul-Konvention am 17. Juli 2017, somit nach Einführung des neuen Sexualstrafrechts, zu.52 Nach dieser Ratifizierung trat die Instanbul-Konvention am 01. Februar 2018 für Deutschland in Kraft.

2.2.2Aktuelle Straftatbestände

Mit dem 50. StrÄndG wurde das Sexualstrafrecht 2016 grundlegend verändert. In dem folgenden Abschnitt werden die relevanten rechtlichen Bestimmungen zu Sexualdelikten in der aktuellen Fassung ausführlich dargestellt.

Der neue § 177 StGB „Sexueller Übergriff; sexuelle Nötigung; Vergewaltigung“ ist im Vergleich zum vorhergehenden Straftatbestand deutlich reformiert worden.53 Hierbei hatte die Implementierung der so genannten Nichteinverständnislösung („Neinheißt-Nein“-Lösung) höchste Priorität. Entscheidend für die Strafbarkeit der Handlung ist nun der erkennbare entgegenstehende Wille des Opfers.

Nach § 177 Abs. 1 StGB wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren bestraft,

„wer gegen den erkennbaren Willen einer anderen Person sexuelle Handlungen an dieser Person vornimmt oder von ihr vornehmen lässt oder diese Person zur Vornahme oder Duldung sexueller Handlungen an oder von einem Dritten bestimmt“.

Sexuelle Handlungen sind gem. § 184h StGB nur solche, die im Hinblick auf das jeweils geschützte Rechtsgut von einiger Erheblichkeit sind.

Der Gesetzgeber hat an dieser Stelle auf den Begriff der Nötigung verzichtet. Dieser setzte die Überwindung des entgegenstehenden Willens des Opfers mit Zwangsmitteln voraus. Folglich wird nun kein Finalzusammenhang mehr zwischen dem Einsatz des Nötigungsmittels und der sexuellen Handlung verlangt. Ob der entgegenstehende Wille des Opfers erkennbar ist, ist aus der Sicht eines objektiven Dritten zu beurteilen. Dafür wird entweder eine ausdrücklich, das heißt verbale Erklärung oder ein konkludentes Verhalten, wie z.B. Weinen, vorausgesetzt.54

Ist der entgegenstehende Wille des Opfers nicht erkennbar, wird der Täter ebenso bestraft, wenn die in § 177 Abs. 2 StGB genannten Umstände vorliegen. Dies trifft zu, wenn

„1. der Täter ausnutzt, dass die Person nicht in der Lage ist, einen entgegenstehenden Willen zu bilden oder zu äußern,

2. der Täter ausnutzt, dass die Person auf Grund ihres körperlichen oder psychischen Zustands in der Bildung oder Äußerung des Willens erheblich eingeschränkt ist, es sei denn, er hat sich der Zustimmung dieser Person versichert,

3. der Täter ein Überraschungsmoment ausnutzt,

4. der Täter eine Lage ausnutzt, in der dem Opfer bei Widerstand ein empfindliches Übel droht, oder

5. der Täter die Person zur Vornahme oder Duldung der sexuellen Handlung durch Drohung mit einem empfindlichen Übel genötigt hat.“

Wurden dem Opfer beispielsweise sog. K.O.-Tropfen beigebracht, sind in der Regel die Voraussetzungen gem. § 177 Abs. 2 StGB erfüllt.55

Waren in der alten Fassung des § 177 StGB sämtliche Tatbestände, mit Ausnahme der minder schweren Fälle gem. Abs. 6 (a.F.), als Verbrechen (Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr) klassifiziert, so verwirklichen die rechtswidrige Taten nach § 177 Abs. 1 und 2 StGB in der neuen Fassung Vergehenstatbestände (Freiheitsstrafen von 5 Monaten bis zu fünf Jahren). Der Gesetzgeber trug mit dieser Veränderung des Strafrahmens der Vielzahl an möglichen und erwartbaren Fallkonstellationen Rechnung, denen eben keine Nötigung des Opfers mehr voraus gegangen sein muss.56

Die Grundtatbestände des § 177 Abs. 1 und 2 sind nach Abs. 3 StGB im Versuch strafbar. Der Versuch beginnt mit dem unmittelbaren Ansetzen zur Vornahme der sexuellen Handlung bzw. mit dem unmittelbaren Ansetzen zur Einwirkung auf das Opfer.57

Ist die Unfähigkeit, einen Willen zu bilden oder zu äußern, auf eine Krankheit oder Behinderung des Opfers zurückzuführen, so ist die Freiheitsstrafe gem. der Qualifikation nach § 177 Abs. 4 StGB nicht unter einem Jahr zu erkennen.

Gemäß § 177 Abs. 5 StGB ist ebenfalls auf Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr zu erkennen, wenn der Täter bei der Verwirklichung der Grundtatbestände nach § 177 Abs. 1 und 2 StGB

„1. gegenüber dem Opfer Gewalt anwendet,

2.dem Opfer mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben droht oder

3.eine Lage ausnutzt, in der das Opfer der Einwirkung des Täters schutzlos ausgeliefert ist.“ 58

Regelbeispiele des § 177 Abs. 6 StGB benennen zwei besonders schwere Fälle bei der Verwirklichung der Grundtatbestände nach § 177 Abs. 1 und 2. Vollzieht der Täter mit dem Opfer den Beischlaf, lässt er diesen vollziehen oder nimmt er ähnlich sexuelle Handlungen an dem Opfer vor, die dieses besonders erniedrigen, insbesondere wenn sie mit einem Eindringen in den Körper verbunden sind (Vergewaltigung) oder lässt er diese vornehmen, ist ein Strafrahmen nicht unter zwei Jahren vorgesehen. Während der Gesetzestext des § 177 Abs. 6 StGB zwar nahezu wortgleich mit § 177 Abs. 2 StGB a.F. gestaltet wurde59, begeht der Täter allerdings „nunmehr auch dann eine Vergewaltigung, wenn er ohne eine Nötigung die Voraussetzungen der Abs. 1 und 2 erfüllt, sodass es zu einer Loslösung von Ausübung von ‚Gewalt‘ im strafrechtlichen Sinne kommt“60. Gleicher Strafrahmen ergibt sich, wird die Tat von mehreren Personen gemeinschaftlich begangen.

Auf Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren ist gem. § 177 Abs. 7 StGB zu erkennen, wenn der Täter

„1. eine Waffe oder ein anderes gefährliches Werkzeug bei sich führt,

2.