Sexuelle Störungen und ihre Behandlung - Volkmar Sigusch - E-Book

Sexuelle Störungen und ihre Behandlung E-Book

Volkmar Sigusch

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Beschreibung

Das Standardwerk - Ausführliche Darstellung aller in der Praxis vorkommender Probleme - Die ganze Palette der erfolgreichen Behandlungsverfahren von der einmaligen Sexualberatung über die niederfrequente Sexualtherapie bis hin zur hochfrequenten Psychoanalyse im Liegen, von medizinischen Behandlungen bis hin zu deren Kombination mit Sozial- oder Psychotherapie - Hochkarätiges Autorenteam unter hervorragender Herausgeberschaft

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Seitenzahl: 1455

Veröffentlichungsjahr: 2006

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Sexuelle Störungen undihre Behandlung

Herausgegeben vonVolkmar Sigusch

Mit Beiträgen von

Nikolaus Becker

Wolf Eicher

Eva S. Poluda

Wolfgang Berner

Herbert Gschwind

Reimut Reiche

Peer Briken

Margret Hauch

Hertha Richter-Appelt

Sabine Cassel-Bähr

Silvia Heyer

Ulrike Schmauch

Ulrich Clement

Andreas Hill

Christiane Schrader

Martin Dannecker

Carmen Lange

Volkmar Sigusch

Sonja Düring

Bernd Meyenburg

Bernhard Strauß

4., überarbeitete und erweiterte Auflage

5 Abbildungen

54 Tabellen

Georg Thieme VerlagStuttgart • New York

Bibliografische Information

Der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

1. Auflage 1996

2. Auflage 1997

3. Auflage 2001

© 2007 Georg Thieme Verlag KG

Rüdigerstraße 14

D- 70469 Stuttgart

Telefon: + 49/ 0711/ 8931-0

Unsere Homepage: http://www.thieme.de

Zeichnungen: Heike Hübner, Berlin

Umschlaggestaltung: Thieme Verlagsgruppe

Umschlagfoto: Skulptur (Ausschnitt) ‚Tanzende Paare’ von Stephan

Balkenhol; Fotograf: Axel Schneider, Frankfurt am Main

© Museum für Moderne Kunst, Frankfurt am Main

eISBN: 978-3-13-168944-31 2 3 4 5 6

Wichtiger Hinweis: Wie jede Wissenschaft ist die Medizin ständigen Entwicklungen unterworfen. Forschung und klinische Erfahrung erweitern unsere Erkenntnisse, insbesondere was Behandlung und medikamentöse Therapie anbelangt. Soweit in diesem Werk eine Dosierung oder eine Applikation erwähnt wird, darf der Leser zwar darauf vertrauen, dass Autoren, Herausgeber und Verlag große Sorgfalt darauf verwandt haben, dass diese Angabe dem Wissensstandbei Fertigstellung des Werkes entspricht.

Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag jedoch keine Gewähr übernommen werden. Jeder Benutzer ist angehalten, durch sorgfältige Prüfung der Beipackzettel der verwendeten Präparate und gegebenenfalls nach Konsultation eines Spezialisten festzustellen, ob die dort gegebene Empfehlung für Dosierungen oder die Beachtung von Kontraindikationen von der Angabe in diesem Buch abweicht. Eine solche Prüfung ist besonders wichtig bei selten verwendeten Präparaten oder solchen, die neu auf den Markt gebracht worden sind. Jede Dosierungoder Applikation erfolgt auf eigene Gefahr des Benutzers. Autoren und Verlag appellieren an jeden Benutzer, ihm etwa auffallende Ungenauigkeiten dem Verlag mitzuteilen.

Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden nicht besonders kenntlich gemacht. Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann also nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt.

Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Anschriften

Dipl.-Psych. Nikolaus Becker

Psychoanalytische Praxis

Falkenried 7

20251 Hamburg

Prof. Dr. med. Wolfgang Berner

Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf

Institut und Poliklinik für Sexualforschung und

Forensische Psychiatrie

Martinistraße 52

20246 Hamburg

Dr. med. Peer Briken

Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf

Institut und Poliklinik für Sexualforschung und

Forensische Psychiatrie

Martinistraße 52

20246 Hamburg

Dipl.-Psych. Sabine Cassel-Bähr

Psychotherapeutische Praxis

Rappstraße 16

20146 Hamburg

Prof. Dr. phil. Ulrich Clement

Heidelberger Institut für systemische Forschung und

Therapie

Kussmaulstraße 10

69120 Heidelberg

Prof. Dr. phil. Martin Dannecker

Joachim-Friedrich-Straße 2

10711 Berlin

Dr. phil. Sonja Düring

Psychotherapeutische Praxis

An der Alster 15

20099 Hamburg

Prof. Dr. med. Wolf Eicher

Diakonissenkrankenhaus

Frauenklinik

Kniebisstraße 5

68163 Mannheim

Dr. med. Herbert Gschwind

Psychotherapeutische Praxis

Adalbertstraße 12 a

60486 Frankfurt am Main

Dipl.-Psych. Margret Hauch

Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf

Institut und Poliklinik für Sexualforschung und

Forensische Psychiatrie

Martinistraße 52

20246 Hamburg

Dipl.-Soz. Silvia Heyer

Pro-Familia-Beratungsstelle Berlin

Kalckreuthstraße 4

10777 Berlin

Dr. med. Andreas Hill

Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf

Institut und Poliklinik für Sexualforschung und

Forensische Psychiatrie

Martinistraße 52

20246 Hamburg

Dr. phil. Carmen Lange

Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf

Institut und Poliklinik für Sexualforschung und

Forensische Psychiatrie

Martinistraße 52

20246 Hamburg

Dr. med. Bernd Meyenburg

Klinikum der Johann Wolfgang Goethe-Universität

Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des

Kindes- und Jugendalters

Deutschordenstraße 50

60528 Frankfurt am Main

Dipl.-Psych. Eva S. Poluda

Psychoanalytische Praxis

Kaiserstraße 34

50321 Brühl

Priv.-Doz. Dr. phil. Reimut Reiche

Psychoanalytische Praxis

Oppenheimer Landstraße 55

60596 Frankfurt am Main

Prof. Dr. phil. Hertha Richter-Appelt

Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf

Institut und Poliklinik für Sexualforschung und

Forensische Psychiatrie

Martinistraße 52

20246 Hamburg

Prof. Dr. phil. Ulrike Schmauch

Fachhochschule Frankfurt am Main

Fachbereich 4 Soziale Arbeit und Gesundheit

Nibelungenplatz 1

60318 Frankfurt am Main

Dipl.-Psych. Christiane Schrader

Psychoanalytische Praxis

Poststraße 5

63303 Dreieich

Prof. Dr. med. Volkmar Sigusch

Klinikum der Johann Wolfgang Goethe-Universität

Institut für Sexualwissenschaft

Theodor-Stern-Kai 7

60590 Frankfurt am Main

Prof. Dr. phil. Bernhard Strauß

Klinikum der Friedrich-Schiller-Universität Jena

Institut für Psychosoziale Medizin und Psychotherapie

Stoystraße 3

07743 Jena

Vorwort zur 4. Auflage

Die anhaltend positive Aufnahme unseres Buches ist mir eine große Freude.

Vollkommen neu sind in dieser Auflage die Kapitel „Systemische Therapie sexueller Luststörungen“ von Ulrich Clement, „Paartherapie bei sexuellen Störungen am Beispiel des Hamburger Modells“ von Margret Hauch, Carmen Lange und Sabine Cassel-Bähr, „Probleme der intersexuellen Entwicklung“ von Hertha Richter-Appelt sowie „Therapie bei sexueller Delinquenz“ von Wolfgang Berner, Andreas Hill und Peer Briken. Ich bin sehr froh, dass jetzt endlich auch die systemische Sexualtherapie als ein erfolgreiches Behandlungsverfahren und die Intersexualität als eine große Herausforderung für Psychologie und Medizin in dem Buch vertreten sind. Ebenso froh bin ich, dass die praktisch besonders relevante Paartherapie und die sich im Umbruch befindende Therapie von Sexualdelinquenten auf dem neuesten theoretischen und klinischen Stand dargestellt werden.

Alle anderen Kapitel des Buches wurden durchgesehen, aktualisiert oder korrigiert. Dabei sind manche Kapitel inhaltlich so verändert worden, dass sie umbenannt werden mussten. So heißt das alte Kapitel „Ist AIDS inzwischen eine normale Krankheit?“ von Martin Dannecker jetzt „Zur Transformation von AIDS in eine behandelbare Krankheit“, und das alte Kapitel „Sildenafil (Viagra): Wirkmechanismus und erste Ergebnisse“ von mir heißt jetzt „Sildenafil (Viagra) und andere Phosphodiesterase-Hemmer“.

Nach wie vor folgen wir der Devise: Psychotherapeuten sollten die Körperlichkeit sehr ernst nehmen, Körpermediziner die Psychodynamik. Weil die körperliche Sphäre ebenso wichtig ist wie die psychische und beide nur mit Gewalt voneinander getrennt werden können, haben wir wieder mit besonderer Sorgfalt alle gegenwärtigen und zu erwartenden körpermedizinischen Behandlungsverfahren vorgestellt und diskutiert, von PT-141 bei sexuellen Funktionsstörungen von Männern und Frauen über Dapoxetin bei der stark verbreiteten vorzeitigen Ejakulation bis hin zu LHRH- bzw. GnRH-Agonisten bei sexueller Delinquenz. Und natürlich werden auch jüngste Fachdebatten aufgegriffen wie die um die Definition von „Female Sexual Dysfunction“ (FSD) und die Wirksamkeit von PDE-5-Hemmern bei Frauen. Außerdem werden letzte Gerichtsentscheidungen, zum Beispiel zur Kostenübernahme bei Viagra oder zur notwendigen Revision des Transsexuellengesetzes, berücksichtigt.

Insgesamt breiten wir wieder die ganze Palette aus, von der einmaligen Sexualberatung über die niederfrequente Sexualtherapie bis hin zur hochfrequenten Psychoanalyse im Liegen, von medizinischen Behandlungen bis hin zu deren Kombination mit Sozial- oder Psychotherapie. Kurzum: Wir sehen die Wege der Therapie so vielfältig wie die des Lebens. Entscheidend ist für uns die Seriosität der Fachvertreter und deren Dialogfähigkeit. Nur dann kann voneinander gelernt werden – den Hilfesuchenden und Notleidenden zuliebe.

Erneut hat mich Agnes Katzenbach vom Frankfurter Institut für Sexualwissenschaft Satz für Satz auf eine Weise unterstützt, die einzigartig ist. Bärbel Kischlat-Schwalm und Gabriele Wilke sorgten in unserem Institut und in unserer Sexualmedizinischen Ambulanz für eine überaus angenehme Arbeitsatmosphäre. Heide Addicks und Korinna Engeli vom Thieme Verlag kümmerten sich hinreißend um das Projekt. Ihnen allen danke ich sehr.

Frankfurt am Main, im Juli 2006

Volkmar Sigusch

Inhaltsverzeichnis

I Einleitung

1 Was heißt sexuelle Störung?

Volkmar Sigusch

2 Kultureller Wandel der Sexualität

Volkmar Sigusch

II Sexuelle Entwicklungen und Probleme

3 Probleme der weiblichen sexuellen Entwicklung

Sonja Düring

4 Probleme der männlichen sexuellen Entwicklung

Ulrike Schmauch

5 Probleme der weiblichen homosexuellen Entwicklung

Eva S. Poluda

6 Probleme der männlichen homosexuellen Entwicklung

Martin Dannecker

III Sexuelle Symptome und Störungen

7 Das sexuelle Symptom in der Sprechstunde

Herbert Gschwind

8 Grundzüge der Sexualberatung

Christiane Schrader und Silvia Heyer

9 Diagnostik und Differenzialdiagnostik sexueller Störungen

Volkmar Sigusch

10 Symptomatologie, Klassifikation und Epidemiologie sexueller Störungen

Volkmar Sigusch

11 Organogenese sexueller Funktionsstörungen

Volkmar Sigusch

12 Psychoanalyse und sexuelle Funktionsstörungen

Hertha Richter-Appelt

13 Paartherapie bei sexuellen Störungen am Beispiel des Hamburger Modells

Margret Hauch, Carmen Lange und Sabine Cassel-Bähr

14 Systemische Therapie sexueller Luststörungen

Ulrich Clement

15 Organotherapien bei sexuellen Funktionsstörungen

Volkmar Sigusch

16 Sildenafil (Viagra) und andere Phosphodiesterase-Hemmer

Volkmar Sigusch

IV Körperliche Erkrankungenund Sexualität

17 Sexuelle Probleme und Störungen in der gynäkologischen Praxis

Wolf Eicher

18 Probleme der intersexuellen Entwicklung

Hertha Richter-Appelt

19 Chronische körperliche Erkrankungen und Sexualität

Bernhard Strauß

20 Zur Transformation von AIDS in eine behandelbare Krankheit

Martin Dannecker

V Sexuelle Perversionen

21 Psychoanalytische Theorie sexueller Perversionen

Nikolaus Becker

22 Psychoanalytische Therapie sexueller Perversionen

Reimut Reiche

VI Sexueller Missbrauch, Gewalt und Delinquenz

23 Sexueller Missbrauch und Pädosexualität

Martin Dannecker

24 Psychotherapie nach sexueller Traumatisierung

Hertha Richter-Appelt

25 Therapie bei sexueller Delinquenz

Wolfgang Berner, Andreas Hill und Peer Briken

26 Organotherapien bei sexuellen Perversionen und sexueller Delinquenz

Volkmar Sigusch

VII Geschlechtsidentitätsstörungen und Transsexualität

27 Geschlechtsidentitätsstörungen im Kindes- und Jugendalter

Bernd Meyenburg

28 Transsexuelle Entwicklungen

Volkmar Sigusch

VIII Fort- und Weiterbildung

29 Fort- und Weiterbildung in Sexualmedizin und Sexualtherapie

Volkmar Sigusch

Sachregister

I Einleitung

1 Was heißt sexuelle Störung?

2 Kultureller Wandel der Sexualität

1 Was heißt sexuelle Störung?

Volkmar Sigusch

Es gibt auch heute noch Experten, die ziemlich genau zu wissen glauben, welche Sexualität natürlich, normal und gesund ist. Ich gehöre nicht unbedingt zu ihnen, und zwar aus folgenden Gründen.

Seitdem es unsere Sexualität als ein Abgegrenztes und Allgemeines gibt, also eigentlich erst seit dem 19. Jahrhundert, haben sich die Vorstellungen von natürlicher und widernatürlicher, von normaler und abnormer, von gesunder und kranker Sexualität ständig verändert. Das ist nicht verwunderlich, wenn wir daran denken, wie sehr sich in den letzten zwei Jahrhunderten unser Empfinden und Denken, unser Leben und Sterben verändert haben. Zwischen der Venus von früher und der Liebesbeziehung von heute liegen nicht nur die Prozesse des Trennens, Zerstreuens und Vervielfältigens, die ich im nächsten Kapitel beschreibe. Doch die Sexualität soll immer noch so sein, wie sie einmal vor mehr als hundert Jahren von unseren wissenschaftlichen Vorgängern verstanden worden ist: ganz natürlich. Nüchtern betrachtet aber ist „natürliche“ Sexualität tierisch, nichts als Reflex, Instinkt, Verschlingung: ein Inbegriff des Schreckens.

Auf die Frage, was eine sexuelle Störung sei, gibt es heute nicht nur eine glatte, sondern auch eine verschlungene Antwort. Die glatte Antwort verweist auf Dysfunktionen, Dysphorien und Dysphilien, die in Krankheitslehren und Symptomregistern erfasst sind. Sie wird von Psychotherapeuten ebenso gegeben wie von Urologen und orientiert sich an dem, was allen geläufig scheint: Anatomie und Physiologie des Körpers und der Seele. Dieser Antwort zufolge ginge es also um gestörte Funktionen, Missempfindungen, abweichendes Verhalten und krankhaftes Erleben. Das aber wirft bereits weitere Fragen auf, die eine etwas kompliziertere Antwort erfordern.

„Funktion“ der Dysfunktion

Was beispielsweise stellen sich die Expertinnen und Experten unter „Funktion“ vor? Denken auch Psychotherapeuten bei diesem Wort an die kompetitive Hemmung von Wirkstoffen? Oder haben sie ganz andere Hemmungen im Kopf? Kann nicht die „erektile Dysfunktion“, von der unsere Mediziner gegenwärtig so selbstgewiss reden, eine seelische Funktion haben, die für das innere Gleichgewicht der Person (und des Paares) von Bedeutung ist? Und gilt das nicht noch tiefreichender für die Dysphorien und Dysphilien, für die so genannten Paraphilien oder Perversionen? Dürfen wir sie, wenn das so ist, einfach beseitigen, sofern wir mit therapeutischen Waffen schweren Kalibers dazu imstande wären? Oder bestünde die Gefahr, die Person und nicht „nur“ ihre Perversion zu zerstören? Ahnen unsere Mediziner, die in einer Etappe der allgemeinen Psychologisierung aufgewachsen sind, dass eine Dysfunktion eine Funktion haben kann, wenn sie die alte Impotenz jetzt beharrlich „erektile Dysfunktion“ nennen? Denn das heißt ja übersetzt merkwürdigerweise: „schwellfähige“, also „potente“ Fehlfunktion.

Und was meint „sexuelle“ Funktionsstörung oder „sexuelle“ Gewaltanwendung? Handelt es sich oft nicht sehr viel eher um ein allgemeines Symptom, das erst in zweiter oder dritter Hinsicht etwas mit Sexualität zu tun hat und deshalb als „sexuelles“ Symptom vordergründig oder vorgeschoben ist? Geht es in Sexualtherapien, die auf Reparaturen aus sind, wirklich um Sexualität im emphatischen Sinn? Ist nicht jede Sexualtherapie, die den Namen verdient, eine Psychotherapie, weil sich das Sexuelle (und Geschlechtliche) nicht aus der Seele lösen lässt wie das Fleisch vom Knochen? Gibt es nicht Patienten, bei denen alle sexuellen „Funktionen“ funktionieren, die aber trotzdem unglücklich sind, weil sie keine sexuelle Erfüllung finden?

Lässt sich das, was ein Mensch als krankhaft erlebt, nur individuell bestimmen? Oder ist es auch kulturell bedingt, vielleicht sogar in erster Linie? Unter welchen Umständen bezeichnen wir ein sexuelles Verhalten als „abweichend“, „deviant“, „paraphil“ oder „pervers“? Können wir das einigermaßen verlässlich mit psychologisch-medizinischen Kriterien tun? Oder verlassen wir dann, wenn wir das tun, den Boden unserer Profession? Was bedeutet es, wenn Psychoanalytiker davon sprechen, diese oder jene Entwicklungsphase sei „normal“ verlaufen? Gibt es das in Physiologie und Psychologie? Oder bezieht sich „normal“ immer auf Normativität und Normalität, also auf Recht und Ordnung, Moral und Common Sense?

Kulturelle Weichenstellungen

Hängt die Diagnose „sexuelle Störung“ oder „sexuelle Perversion“ nicht sehr davon ab, wer mit wem zu welcher Zeit unter welchen Umständen und mit welchem Ziel in Kontakt gerät? Ändern sich die Diagnosen womöglich schneller, als uns recht ist? Hinken wir folglich mit unseren Vorstellungen oft dem hinterher, was der Zeitgeist injiziert, die Diskurse diktieren und die Imperative bestimmen?

Fragen über Fragen. Eines aber scheint mir sicher zu sein: Wer eine glatte Antwort gibt, setzt sich und seine Patienten der Gefahr aus, auf der Ebene der Gemeinplätze zu operieren. Er folgt unreflektierten Voraussetzungen, die sich im Verlauf dieses Jahrhunderts als äußerst prekär erwiesen haben. Während jede Reflexion anstrengend und zeitaufwändig ist und eine ebenso verschlungene wie vorläufige Antwort zur Folge hat, begnügt sich die fixe Antwort mit dem, was ohnehin gang und gäbe ist, ob nun im Alltagsoder im Berufsleben. Diesem Sog sind wir alle ausgesetzt. Sprechen wir von sexuellen oder geschlechtlichen Störungen oder Krankheiten als solchen, setzen wir zwangsläufig voraus, wie jene Sexualität und jene Geschlechtlichkeit beschaffen sind, von denen wir indirekt oder direkt annehmen, sie seien rund, ungestört und normal.

Wir tun das tagtäglich, weil wir ohne solche Distinktionen gar nicht leben und arbeiten könnten, ohne von den Wirrnissen und Widersprüchen der Welt zerrissen zu werden. Wir haben alle mehr oder weniger verschattete Vorstellungen von dem, was die Menschen bewegt und bewegen sollte, Vorstellungen von einem gelungenen, gemeisterten, sinnvollen Leben, von Gesundheit und Glück, Vorstellungen, die, weil sie zu einer bestimmten Zeit in einer bestimmten Kultur entstanden sind, auch wieder verschwinden oder sich ändern können.

Berater und Therapeuten aber, die in relativer Ruhe professionell arbeiten wollen, müssen sich an das halten, was der Patient als Problem oder Konflikt erlebt, an das, dessentwegen er sie konsultiert. Selbst wenn sie es wollten, könnten sie eine Kultur, in der Störungen erscheinen, nicht in eine verwandeln, in der die Störungen nicht mehr auftreten. Kulturen oder Gesellschaften entziehen sich jeder Therapie. Professionell arbeiten heißt: die eigenen Begrenzungen, die persönlichen und die fachlichen, reflektieren und das individuelle Leiden der Patienten als Individuelles ernst nehmen. Daraus folgt aber nicht, dass die Probleme und Konflikte individualpathologisch ausreichend begriffen werden könnten. Sie sind von der Kultur, in der sie entstehen, umrissen und definiert – bis hin zur scheinbar rein seelischen Repräsentanz so genannter Objektbeziehungen. Für die sexuellen Störungen gilt das in einem exorbitanten Sinn, weil nur unsere Kultur gewisse Empfindungen und Verhaltensweisen als „Sexualität“ exponiert und unter besondere Beobachtung gestellt hat. Es gilt aber auch ganz generell.

Wer kennt nicht die Patienten, die in die Praxis kommen, wie sie zu Aldi oder Massa gehen. Sie leben in einer Kultur, die verheißt, alles bewerkstelligen zu können, und wir wundern uns, wenn sie nur durchgecheckt und dann repariert werden wollen. Sie leben in einer Kultur, in der die meisten Menschen systematisch entwertet werden, und manche Therapeuten sind entsetzt, wenn sich das in den Beziehungen niederschlägt. Diese Therapeuten nennen diese Beziehungen neuerdings „pervers“, verschwenden aber keinen Gedanken darauf, ob sich hier nicht allgemeine Tendenzen niederschlagen und warum ihre „Perversionen“ möglicherweise nichts mehr mit Sexualität im bisherigen Sinn zu tun haben. Die Patienten leben in einer patriarchalen Kultur, und einige Psychoanalytiker haben nur das Schicksal des klassisch und positiv gefassten Ödipuskomplexes im Kopf, als seien die hundert Jahre alten Physiologien der Liebe noch der Maßstab. Die männlichen Patienten hörten von klein auf die Losung „Etwas wert ist nur der, der seinen Mann steht“, und wir sind irritiert, wenn sie mit destruktiven Techniken ihre „Potenz“ wiederherstellen wollen. Die Patienten leben in einer Kultur, zu deren Generaltechniken Verführung gehört, und wir haben große Schwierigkeiten, Verständnis dafür aufzubringen, dass sie sich als verführt begreifen und nicht sehen können, was sie selbst mit dem Versagen und dem Verbrechen zu tun haben. Die Älteren waren der Parole ausgesetzt, nach der alles, was Spaß macht, erlaubt sei; sie sind mit der Verheißung aufgewachsen, Sexualität sei befreiend, mache glücklich und zufrieden und müsse auch deshalb möglichst umfassend gelebt werden, und wir kommen uns altmodisch vor, wenn wir ihnen nahe bringen müssen, dass diese Verheißungen uneinlösbar sind. Patienten klagen sexuelles Funktionieren bis ins höchste Alter und trotz schwerer Krankheit ein, und wir gestatten uns nur sehr zaghaft den Gedanken, dass alle Blüten einmal verwelken und der Prothesengott, dem wir frönen, am Ende nicht mehr maskieren kann, was er produziert.

Historische Relativierungen

Wie sehr die Frage, was eine sexuelle Störung sei, der glatten Antwort spottet, zeigt am deutlichsten ein Blick in die alte Literatur. Zur Zeit Lallemands (1836–42) klagten Ärzte über das Grassieren der Spermatorrhoe, weil angeblich immer mehr Männern der Samen einfach ohne Zeichen der Erregung herauslief. Zur Zeit Krafft-Ebings (1886) wurde der Geschlechtstrieb, der bei Kindern oder älteren Männern in Erscheinung trat, als paradox bezeichnet und den „cerebral bedingten Neurosen“ zugerechnet. Zur Zeit der epochalen „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“ von Freud (1905; vgl. zur Rezeption nach 100 Jahren Dannecker u. Katzenbach 2005, Quindeau u. Sigusch 2005) wurde der aktive Mundverkehr, auch von Freud selbst, als „pervers“ angesehen. Und der ebenso kritische wie liberale Sexualforscher Eulenburg (1906: 190), der sich mit einer einzigartigen Enzyklopädie der gesamten Medizin seiner Zeit verewigt hat, fürchtete allen Ernstes, dass ein Mann, an dem eine Frau den passiven Mundverkehr, genannt „Fellation“ oder „Irrumation“, vornimmt, durch dieses anomale „Uebermaass von Genuss“, das „Virtuosinnen der Liebeskunst zu gewähren im Stande“ seien, entweder an einer Impotenz oder an einer Neurasthenie oder an einer „sexualen Hypochondrie“ erkranken werde. Spätere Psychoanalytiker und Sexualwissenschaftler – um ein letztes Beispiel zu erwähnen – sahen alle Frauen, die den „richtigen“, den „vaginalen“, „reifen“ Orgasmus nicht erreichen konnten, als frigide an. Einige hatten nichts dagegen, diese Frauen einer Klitoridektomie zu unterziehen, das heißt, ihnen die Klitoris operativ entfernen zu lassen.

Zu jeder Zeit hatten die Experten natürlich (und das meint immer kulturell) einen anderen nosomorphen Blick, der andere Störungen und Krankheiten zu sehen meinte, weil die epistemologischen Raster und die allgemeinen Dispositive anders beschaffen waren. In den siebziger Jahren stachen uns die Anorgasmie der Frau und die vorher kaum gesehene Ejaculatio deficiens bei jungen Männern ins Auge, ein Ausbleiben des Samenergusses, für den kein organischer Grund gefunden werden konnte. Gleichzeitig verschwand die Sodomie von der Bildfläche, um nur wenige Beispiele zu nennen. Wie sich die Lage am Beginn des neuen Jahrhunderts fachintern darstellte, kann der interessanten Bestandsaufnahme von Ulrike Brandenburg und Steffen Fliegel (2001) entnommen werden. Heute sticht Lustlosigkeit hervor, vor allem bei Frauen, aber inzwischen auch bei Männern (vgl. Hauch et al. in Kap. 13, Tab. 13.1). Offenbar gibt es so etwas wie kulturelle Lustlosigkeit, soziale Impotenz, diskursiven Missbrauch und mediale Perversität.

Außerdem ist heute die Konstruktion von Krankheitsbildern aus unmittelbar ökonomischem Grund nicht mehr zu übersehen. Als sich abzeichnete, dass mit dem Phospodiesterase-Hemmer Sildenafil (Viagra) bei der Behandlung von Erektionsstörungen des Mannes jedes Jahr ein Milliardengeschäft zu machen ist, entdeckte die Pharmaindustrie und auf ihrer Leimrute eine Legion angesehener Forscherinnen und Forscher die weibliche Sexualität. Seither wird versucht, eine „Female Sexual Dysfunction“ (FSD) herauszustanzen, die unter design- und ergebnisstrategischen Gesichtspunkten so eindeutig ist wie die „Erektile Dysfunktion“ (ED) beim Mann – aus gegenwärtiger fachlicher Sicht eine Illusion, die aber durch Umdefinition einiger Physiologika, Schulenbildung der üppig finanzierten Forscher und anhaltende Investition in die Werbung zur diskursiven Gewissheit werden könnte. Zur Zeit wird allerdings noch heftig gestritten und der Trick kritisiert, alles erotischsexuelle Unwohlsein, das eine eher gesunde, auf jeden Fall angemessene Reaktion auf partnerschaftliche, überhaupt soziale Schwierigkeiten ist, in eine FSD umzumünzen, sodass eine riesige Prävalenz und damit ein riesiger Bedarf an Viagra für Frauen herauskommt (vgl. z. B. Basson 2005, Basson et al. 2000, Hauch 2005, Matthiesen u. Hauch 2004, Moynihan 2003, Tiefer 2000, West et al. 2004, Working Group 2003, vgl. auch Kap. 9 und 10).

Diese Vorgänge erinnern daran, wie vor gar nicht so langer Zeit „Premenstrual Syndrome“ (PMS) resp. „Premenstrual Dysphoric Disorder“ (PMDD) als Krankheitsbilder konstruiert worden sind (Chrisler u. Caplan 2002) – mit einem Resultat, das nahtlos in jede patriarchale Gesellschaft passt: Eine Frau ist immer unvernünftig, krank oder inkomplett, ob sie nun menstruiert oder nicht mehr menstruiert. Und damit die Männer auch dann, wenn sie alt geworden sind und weniger Androgene produzieren, komplett bleiben können, wurden PADAM („Partielles Androgen-Defizit des Alternden Mannes“), „Aging Male Syndrome“ und ADAM-Syndrom („Androgen-Defizienz des Alternden Mannes“) erfunden (siehe ausführlich Kap. 15). Konkreter gesagt: Die Pharmaindustrie verspricht sich in den reichen Gesellschaften des Westens, in denen die Menschen immer älter werden, hohe Umsätze. Da wird es unter dem Strich nichts helfen, wenn inzwischen selbst namhafte Urologen die „breite Vermarktung der neuen Testosteron-Gele als ‚Lifestyle-Medizin’ gegen die Midlife-Crisis“ als „irreführend“ bezeichnen (Weidner 2003: 29).

Wie sich unsere eigenen Vorstellungen verändert haben, könnte ein Vergleich des vorliegenden Buches mit dem Gemeinschaftswerk „Therapie sexueller Störungen“ zeigen, das ihm in zwei Auflagen vorausgegangen ist (Sigusch 1975; 1980). In den Jahrzehnten zwischen 1975 und heute wurden alle Gegenstände neu betrachtet und folglich im vorliegenden Buch auch neu dargestellt. Sonja Düring spielt im Kapitel 3 darauf an, wie andromorph unser Blick in den siebziger Jahren war. Tatsächlich enthält erst die Auflage von 1980 einen Beitrag von Margarete Mitscherlich-Nielsen über Theorien und Probleme der psychosexuellen Entwicklung der Frau. Heute erörtern wir auch die Probleme der männlichen Entwicklung (Kap. 4) und trennen die homosexuellen Entwicklungen nicht mehr durch die Anordnung der Themen von den heterosexuellen ab, damit auch dem letzten Verdacht begegnet werde, wir würden die Homosexualität als solche als Pathologie betrachten, obgleich immerhin Fritz Morgenthaler in der Auflage von 1980 als erster Psychoanalytiker versuchte, die Homosexualität mit seelentheoretischen Mitteln grundsätzlich zu entpathologisieren. 1975 aber musste Martin Dannecker noch davor warnen, dass „die Therapie der Homosexualität die Lage der Homosexuellen verschlechtert“, wie der Titel seines Beitrages lautete. Heute wollen die meisten Psychotherapeuten nicht mehr die Homosexualität beseitigen, sondern Konflikte, die mit ihr einhergehen wie mit der Heterosexualität auch. Der Wille zum Psychopathologisieren aber ist noch virulent. Und um noch ein Beispiel für den Wandel zu nennen: Erst in der zweiten Auflage der „Therapie sexueller Störungen“ erörterten wir die „Untersuchung und Behandlung transsexueller Patienten“ (Sigusch u. Reiche 1980), wodurch wir unwillkürlich daran beteiligt waren, den Verlust, der der Medizin durch das Heraustreten einiger Abweichler aus ihrem Bannkreis drohte, wenn nicht zu kompensieren, so doch abzuschwächen. Experten aber, die Geschlechtsidentitätsstörungen im Kindes- und Jugendalter hätten erörtern können, gab es damals bei uns nicht. Bernd Meyenburgs Aufsatz in der ersten Auflage dieses Buches (vgl. Kap. 27) ist der erste seiner Art in deutscher Sprache.

Pro und Kontra der Medizinalisierung

So kämpft sich offenbar die eine Menschengruppe aus Medizin und Psychologie heraus – gegenwärtig sind es vor allem die Intersexuellen (vgl. Kap. 18) –, während die andere von ihnen umschlungen wird. Umso ernster sind die Bedenken von Eva S. Poluda zu nehmen, mit denen sie an ihren Beitrag heranging: heute die Probleme der weiblichen homosexuellen Entwicklungen in einem medizinischen oder therapeutischen Zusammenhang darzustellen (vgl. Kap. 5). Die Medizinalisierung der Sexualität, die Eberhard Schorsch (1988) an der Entwicklung der Sexualmedizin aufgezeigt hat, treibt sie unweigerlich tiefer in die allgemeine Verstofflichung hinein. Die Autorinnen und Autoren dieses Buches gehören wohl eher zu jenen, die diese Tendenz kritisieren. Andererseits kann niemand aus einer Therapiegesellschaft einfach heraustreten, in der die Vorstellung verbreitet ist, Therapie sei Leben und Leben sei Therapie. Insofern ist es realitätsgerecht und ein Stück Normalität, wenn sich lesbische Frauen oder homosexuelle Männer in eine Beratung oder Psychotherapie begeben (und begeben können, weil es Therapeutinnen und Therapeuten gibt), ohne befürchten zu müssen, die Therapeuten betrachteten ihre Lebensweisen als Pathologien und wollten sie liquidieren. Einiges spricht dafür, dass dieser Respekt zunehmend auch anderen Patienten mit abweichendem Erleben und Verhalten, ob nun „pervers“, „transgenderistisch“ oder „intersexuell“ genannt, entgegengebracht wird.

Erst wenn Probleme und Konflikte, die einer Beratung oder Behandlung bedürfen, darunter auch solche, die mit der abweichenden Entwicklung unmittelbar zusammenhängen, ganz „normal“ behandelt werden, kann jener Mechanismus entfallen, der Ängste und panische Reaktionen von außen antreibt. Denn wer in einer Therapiegesellschaft nicht nur nicht behandelt wird, sondern als unbehandelbar gilt, ohne ganz normal zu sein, steht mit dem Rücken zur Wand. Wehe ihm, wenn sich die kulturelle Liberalität verflüchtigen sollte. Trotz aller Reserve gegenüber der Therapeutifizierung des Lebens ist nicht zu übersehen, welchen Schutz gegen blinde kollektive Wut und den ordentlichen Willen zur Vernichtung jedenfalls etablierte Psychotherapie zu bieten vermag.

Die Beispiele mögen genügen, um zu illustrieren, dass auch die Therapien einem Wandel unterliegen. Dieser kann allerdings, wenn wir an einige körpermedizinische und suggestiv-anpassende Verfahren denken, in großen Bereichen so langsam oder überhaupt nicht vor sich gehen, dass wir ihn zu unseren Lebzeiten nicht beobachten können. Viele Scheußlichkeiten, wie wir auch noch hören werden, schleppen sich einfach fort, und neue Barbareien kommen natürlich hinzu. Sicher ist nur, dass wir heute einen alten impotenten Mann nicht mehr dadurch heilen dürfen, dass wir ihn zwischen zwei junge Mädchen legen, was ihn nach den Berichten unserer Vorväter, die ja nicht nur verblendet waren, ungemein beleben würde durchs Überspringen unverbrauchter Vitalität.

Grenzen der Psychotherapie

Die Grenzen jeder Psychotherapie liegen in der Kultur, im Therapeuten selbst und in dessen fachlicher Gebundenheit. Dem einen Therapeuten sind eigentlich nur neurotische Symptome geheuer, der andere wagt sich auch an solche der Delinquenz. Dann aber muss er den üblichen Rahmen seiner Profession wenn nicht verlassen, so doch erheblich modifizieren. Entscheidend ist aber nicht, ob der Therapeut verwirrende und ängstigende Störungen zu behandeln wagt, sondern dass er zu reflektieren vermag, für welche Störungen er als Therapeut ungeeignet ist. Eine Ausbildung ist nicht zuletzt dann gelungen, wenn sie dazu geführt hat, diese persönliche Grenze zu erkennen und zu respektieren. Wer so weit gekommen ist, hat es vielleicht auch nicht mehr nötig, auf Vertreter anderer Richtungen herabzuschauen. Er ahnt wenigstens, dass alle mit Wasser kochen und dass das somatoforme Denken nicht nur bei Körpermedizinern zu finden ist. Schließlich gibt es ein borniert psychoformes Denken, das dem somatoformen an Beschränktheit in nichts nachsteht. Starrt das eine Denken nur auf den erektilen, starrt das andere nur auf den seelischen Apparat. Von den kulturellen Umbrüchen wollen beide nichts wissen. Kommt bei dem Therapeuten, dem das psycho- oder somatoforme Denken nicht in Fleisch und Blut übergegangen ist, durch therapeutische oder klinische Erfahrungen, durch Lektüre und Konsilien dann noch ein differenzialtherapeutisches Vermögen hinzu, das zwischen Organo-, Sozio- und Psychotherapie, zwischen Beratung, verhaltenstherapeutischen und psychoanalytischen Verfahren zu unterscheiden vermag, ist viel gewonnen.

Es gibt Ärzte, Psychologen und Vertreter anderer Berufe, die ohne eine psychotherapeutische Ausbildung über eine große Empathie und über eine gewissermaßen naturwüchsige Introspektionsfähigkeit verfügen. Grundsätzlich aber ist auf dem Wahrnehmungstraining der dem Alltagsverstand entzogenen Äußerungen des Unbewussten und damit auf einer psychotherapeutischen Ausbildung zu bestehen, weil Warmherzigkeit allein, vom gesunden Empfinden ganz zu schweigen, im Allgemeinen nicht ausreicht, sobald es um die Unwägbarkeiten im Übertragungs- und Gegenübertragungsgeschehen geht, die sich nun einmal auch dem sozialen Mitgefühl entziehen.

Gegen die allgemeine Sexualnot und gegen die allgemeine Aphanisis des Sexuellen aber, gegen kulturelle Lustlosigkeit und gesellschaftlich produzierte Gewalttätigkeit ist überhaupt kein therapeutisches Kraut gewachsen, ob nun ein auf den Körper oder die Seele gerichtetes. Wer trotzdem glaubt, mit Hilfe von Psychotherapie die Tränen des Eros wegwischen zu können, hängt demselben Größenwahn an wie unsere Erektiologen. Versuchen wir also, der Realität und damit, wie wir gleich hören werden, Anteros zugewandt, immer wieder vom hohen Ross des metaphysisch unzerstreuten Eros herabzusteigen, ohne jenem Zynismus zu erliegen, der sich nicht scheut, Pillen, Prothesen und Pumpen „Liebesmittel“ zu heißen.

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2 Kultureller Wandel der Sexualität

Volkmar Sigusch

Ärzte, Berater und Therapeuten, die das Liebes- und Sexualleben ihrer Patienten kennen, wissen, dass die Wertvorstellungen, Sehnsüchte und Erfahrungen von Generation zu Generation erheblich differieren. Denn das, was wir uns unter Sexualität vorstellen und was wir als sexuell erleben, unterliegt einem ständigen kulturellen Wandel. Deshalb durchzieht auch alle Sexualtheorien der Moderne die Frage, was am Sexus „natürlich“ und was an ihm „kulturell“ sei, eine Frage, die zur Zeit den Streit zwischen Essenzialisten und Konstruktivisten bestimmt. Wenn aber die gesellschaftliche Sexualform permanenten Umkodierungen, Umwertungen und Transformationen unterliegt, ist es nicht nur sexualtheoretisch problematisch, die Sexualität als eine unveränderliche Einheit anzusehen, sondern auch sexualberaterisch und sexualtherapeutisch. Denn tatsächlich versehen die Gesellschaftsindividuen immer wieder das, was unveränderbar schien, mit anderen Bedeutungen.

Dabei geht es in unserer Kultur seit zwei Jahrhunderten, anders als in anderen Kulturen, vorrangig um das materielle und manifeste und nicht um das immaterielle und spirituelle Befriedigen von Gier und Neugier. Leibhafte Bedürfnisse werden nicht wie in der europäischen Antike und im alten China maßvoll reflektiert begrenzt oder gar wie im alten Indien kunstvoll beseitigt; sie werden vielmehr maß- und kunstlos befriedigt, und zwar im Allgemeinen auf einem niedrigen Ritualitäts- und Reflexivitätsniveau, um nicht zu sagen: auf dem Niveau einer Kulturbeutel-Kultur. Solcherart abgespeist, bleiben Gier und Neugier präsent, können umstandslos jederzeit neu entfacht werden. Darauf aber kommt es in der experimentell-ökonomischen Tausch- und Wissensgesellschaft entscheidend an. Dieser Mechanismus des ebenso selbstsüchtigen wie kurzfristigen Befriedigens scheint das Geheimnis der Dauerhaftigkeit dieser Gesellschaftsformation zu umschließen. Ununterbrochen wird die scheinbar abgeschlossene Sexualform fragmentiert, um ihr neue Begierden und Bedeutungen zuschreiben, neue Bedürfnisse und Wissbarkeiten einpflanzen, neue Praktiken und Dienstleistungen abmarkten zu können.

Neuerdings ist auch die Geschlechtsform in diesen Sog geraten, von der die tonangebende Philosophie jahrhundertelang glaubte, sie sei eine Unio inerta. Als die Sexualform gesellschaftlich fabriziert wurde, erhielt sie zwangsläufig dispositionell eine patriarchale Struktur: in einer Männergesellschaft von Männern für Männer konstruiert und durchgesetzt. Philosophen und Wissenschaftler verwandten im 19. Jahrhundert viel Energie darauf, der Frau katexochen die Dignität eines vernunftbegabten und selbstmächtigen Subjekts und damit einer eigenständigen Geschlechts- und Sexualform abzusprechen, nachdem ihre Vorgänger sie nur als Sinnesund Gemütswesen hatten sehen können. Als ideologische Fluchtpunkte blieben nur die Schöpfungsordnung einerseits und die Naturzwecke der scheinbar Aufgeklärten andererseits. Das heißt, der „Geschlechtssinn“ der Frau war keine Angelegenheit von Individuen; er erfüllte blind den Gattungszweck der Fortpflanzung, ordnete sich der Schöpfung instinktiv und damit transindividuell ein. Beim Lesen dieser andromorphen Literatur fällt einem irgendwann Freuds (1909: 462) aus heutiger Sicht gelungen paradoxe Wendung „organische Verdrängung“ ein, die er zunächst auf die Rückentwicklung des Geruchssinnes und damit der Riechlust beim Menschen angewandt hat: Das sexuell-aggressiv Triebhafte der Frauen wurde so lange und so erfolgreich gesellschaftlich dekonstruiert und wegkodiert, „verdrängt“, bis es schien, es wäre einer „organischen“ Rückbildung erlegen. Alte Sexuologen meinten folglich, den Frauen sei der Geschlechtstrieb „wegerzogen“ worden, und die Frigidität des Weibes wäre so allgemein, dass man sie gar nicht als krankhaft bezeichnen könne. Die „organische Verdrängung“ des „Geschlechtssinnes“ der Frau war jedenfalls stabiler als seelische Verdrängung und instabiler als somatische Involution, wie die sexuellen Revolutionen des 20. Jahrhunderts gezeigt haben, durch die es zunächst zu einer Resexualisierung der Frau als Genus und anschließend zu einer Regenuierung der erstmals eigensinnigen weiblichen Sexualform gekommen ist.

Da der Arzt, Berater und Therapeut bei allen Fragen, die nicht mit Hilfe naturwissenschaftlich begründeter Untersuchungsverfahren zu beantworten sind, auf sich selbst als „Untersuchungsinstrument“ angewiesen ist, sollte er reflektieren, welcher Generation er selbst angehört und welchen Vorstellungen vom gesunden und glücklichen Liebesleben er verpflichtet ist. Die allermeisten Ärztinnen und Ärzte, Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, die heute praktizieren, gehören Generationen an, über die die so genannte sexuelle Revolution in den 1960er und 1970er Jahren hereingebrochen ist. Als sich die Werte und Normen, das Erleben und Verhalten zum Teil drastisch veränderten, befanden sie sich in jenem Alter, in dem noch nicht alle sexuellen Weichen gestellt sind. Sie wurden also, ob sie wollten oder nicht, von der sexuellen Revolution erfasst, selbst die, die sich dagegen stemmten; denn auch der, der gegen den Strom schwimmt, schwimmt im Strom.

Die sexuelle Revolution

Im 20. Jahrhundert erfolgte der Strukturwandel der Sexualität zumeist langsam und leise, manchmal aber auch schnell und laut. Die Älteren werden noch das Getöse erinnern, mit dem die Inthronisation des Königs Sex zur Zeit der vorletzten einschneidenden Transformation einherging, die allgemein „sexuelle Revolution“ genannt wird. Einige charakteristische Ereignisse der späten 1960er und frühen 1970er Jahre sind, fokussiert auf Westdeutschland, schnell genannt: Die Studenten-, die Frauen- und die Homosexuellenbewegung erzeugten kulturelle und psychosoziale Erschütterungen, die im letzten Jahrhundert ihresgleichen suchen. Sexografie und Pornografie wurden breit kommerzialisiert. In den Massenmedien probten diverse Sexualia den Aufstand, bis sie ihre Stupidität nicht mehr verbergen konnten. In den Schulen wurde mit behördlich geregeltem Sexualkundeunterricht versucht, nach dem Beichtstuhl, den Gesetzbüchern und den Krankheitslehren der Vergangenheit einen verständnisvollen Zeigestock gegen den Sexualtrieb ins Feld zu führen. Dazu passte das zunehmende Technologisieren und Medizinalisieren der reproduktiven Sphäre ebenso wie das theoretisch grundsätzliche, praktisch aber nur partielle Trennen von Recht und Moral. Der Staat zog sich aus einigen Bereichen des individuellen Lebens zurück, sodass das Sexual-, Ehe- und Kontrazeptionsverhalten partiell entkriminalisiert wurde. Jugendliche und junge Erwachsene forcierten ihr heterosexuelles Verhalten kollektiv, blieben aber mehrheitlich am Ehe- und Treuemodell ihrer Eltern orientiert, das sie diversifizierten. Besonders einschneidend war die allgemeine Resexualisierung der Frau als Genus. Sie war jetzt orgasmuspflichtig, nachdem ihr bis in die 30er Jahre des letzten Jahrhunderts hinein mit phylogenetischen und physiologischen Scheinargumenten abgesprochen worden war, überhaupt ein sexuelles Wesen sui generis zu sein. Hinzu kam die warenästhetische und damit kommerzielle Indienstnahme nicht nur des weiblichen, sondern auch des männlichen Körpers, der jetzt mit mehr als durchschnittlich zwei anterotischen Unterhosen aus weißem Baumwollripp drapiert werden sollte. Sexualwissenschaft wurde erstmalig zum etatisierten Universitätsfach, und Sexualmediziner versuchten, psychosomatisches und psychosoziales Gedankengut in die Körpermedizin hineinzuschmuggeln (vgl. dazu im Einzelnen Kap. 29). Erinnert sei schließlich an die enorme Psychologisierung des heterosexuellen Paares, das, in eine „Beziehungskiste“ eingesperrt, ununterbrochen in sich hineinlauschen und sein Befinden zu Protokoll geben sollte, bis sich die erschöpften Partner wieder in sich zurückzogen und die Stunde des schwarzen Feminismus, des Allerweltstherapismus, der Männergruppen, überhaupt der Selbsthilfegruppenbewegungsgesamttreffen gekommen war, die bereits jenen selbst regulierten Selfsex ankündigte, von dem erst später die Rede sein wird.

Diesen Veränderungen war im Verlauf der 1960er Jahre ein Hinterfragen der traditionellen Ehemoral und ein Demaskieren der glücklichen Familie als Brutstätte von Unfreiheit und Unglück vorausgegangen. Beseitigt wurden damals Zustände, die uns heute nur noch als vorsintflutlich erscheinen, beispielsweise der Kuppelei-Paragraph, der es einem unverheirateten jungen Paar nur mit Tricks und unter Gefahren erlaubte, in einer Wohnung zusammenzuleben. Solche Rechtsnormen wurden von der veränderten Realität hinweggefegt; um andere wie den Abtreibungsparagraphen wird dagegen nach wie vor gerungen. Von einschneidender Bedeutung war die Möglichkeit der oralen Kontrazeption mit Hormonpräparaten. Die erste „Antibaby-Pille“ kam 1960 unter dem Handelsnamen „Enovid“ in den USA auf den Markt. Immer wieder ist die These aufgestellt worden, ohne die „Pille“ hätte es keine sexuelle Liberalisierung gegeben. Ich denke, diese These ist zu eindimensional. Moderne Gesellschaften sind viel zu komplex und kulturelle Prozesse viel zu different bestimmt, als dass eine Errungenschaft wie die hormonellen Kontrazeptiva allein eine Transformation der Sexualität bewirken könnte. Ob die letzte sexuelle Revolution ohne sie anders verlaufen wäre, können wir nicht wissen. Sicher aber ist, dass die „Antibaby-Pille“ eine Frucht der sich entfaltenden Wissensgesellschaft ist, einer Gesellschaft, die einerseits Leben ermöglicht und erleichtert, andererseits tot stellt und vernichtet. Auf den Markt kam sie nicht, weil Konzerne die Menschheit beschenken wollten, sondern weil sie sich des Profits sicher waren. Getestet worden ist sie an etwa eintausend puertoricanischen Frauen (Kunz 1989). Sie waren arm und uninformiert genug, um als duldsame „Versuchskaninchen“ dienen zu können. Hätte diese Produktion des Wissens nicht in einer Kultur des Patriarchalismus stattgefunden, wäre mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die technische Reproduktionsregelung entweder dem Mann oder beiden Geschlechtern aufgebürdet worden. So aber wurde die „Pille“ scheinbar selbstverständlich „für“ die Frau entdeckt. Carl Djerassi (1999: 2 f), der „Vater der Pille“, der im wissenschaftlichen wie im industriellen Betrieb zu Hause ist, gibt unumwunden zu Protokoll: „Die Wissenschaft jedenfalls könnte die Pille für den Mann ohne weiteres entwickeln.“ Auch sei ein Impfstoff wissenschaftlich greifbar, mit dem die Fruchtbarkeit ohne weitere Pillen oder Spritzen sicher reguliert werden könnte. „Trotzdem“, sagt Djerassi, „wird es noch sehr lange dauern, weil die Industrie daran kein Interesse haben kann. Ob man einmal im Jahr einen Impfstoff verkauft oder täglich eine Pille, das ist ein Unterschied.“

Wie nicht anders zu erwarten, hatte die Einführung der „Antibaby-Pille“ zwiespältige Auswirkungen. Einerseits ermöglichte es die „Pille“ Frauen zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte, ungewollte Schwangerschaften mit einer bis dahin unerreichten Sicherheit zu verhindern, sodass entsprechende Ängste und damit auch Sexualängste kollektiv gedämpft wurden. Gleichzeitig aber wurden gerade junge Frauen mit Hilfe dieser technischen Innovation einem neuen Zwang zur Ungezwungenheit ausgesetzt. Damals durchdröhnte die Parole „Genuss ohne Reue“ den letzten Winkel der westlichen Kultur, eine Parole, die ohne Umstände von der Werbung für Filterzigaretten entlehnt werden konnte. Daran ist zu erkennen, dass ein technisches Mittel nicht darüber entscheidet, ob sich Menschen von Zwängen befreien. Als solches ist es blind, kann nur so viel Freiheit ermöglichen, wie es eine Gesellschaft gestattet. Folglich waren die Auswirkungen im Iran anders als in den USA und in der DDR anders als in der BRD. Immer aber tobten sich an der „Pille“ die jeweils herrschenden Weltanschauungen aus und versuchten, sie in Dienst zu nehmen. Sind Zwänge und Gewalt, Ungleichheit und Unfreiheit für eine Gesellschaft konstitutiv, werden auch die Auswirkungen technischer Mittel davon gezeichnet sein. Ist das Sexuelle generell mit Angst und Schuld legiert, wird es auch der Gebrauch der hormonellen Kontrazeptiva sein. In armen Ländern werden sie nach wie vor aus bevölkerungs- und wirtschaftspolitischem Kalkül eingesetzt. Bei uns wurden sie zu einem gewaltigen Geschäft, weil die Kirchen nicht mehr den Ton angaben und die politischen Machtkonstellationen es zuließen. Denn unter den Bedingungen des Kalten Krieges und der Pax atomica, soi-disant, „mussten“ keine Menschen für den nächsten heißen Krieg produziert werden. Entscheidend war aber wohl, dass gesellschaftliche und kulturelle Prozesse bereits seit Generationen auf eine Trennung der Sphäre der Reproduktion von der der Sexualität hinausliefen.

Die neosexuelle Revolution

In den Jahrzehnten nach der sexuellen Revolution erfolgte in den reichen Ländern des Westens eine Transformation der Sexualität, die eher leise und langsam verlief, wenn von einigen öffentlichen Debatten und Skandalen abgesehen wird. Ihre symbolischen und realen Auswirkungen sind aber möglicherweise einschneidender als die der sexuellen Revolution der späten 1960er und frühen 1970er Jahre. Die enorme Transformation und Umwertung der sexuellen Sphäre, die seit den 1980er und 1990er Jahren erfolgt, nenne ich die neosexuelle Revolution (Sigusch 1996, 1998a, 1998b). Würden die Reformationen und Transformationen, die um 1910 herum erfolgten, als erste sexuelle Revolution des 20. Jahrhunderts bezeichnet werden und die um 1970 herum als zweite, könnte auch von der dritten sexuellen Revolution gesprochen werden.

Durch die neosexuelle oder dritte sexuelle Revolution wird die alte Sexualität auseinander gelegt und neu zusammengesetzt. Dadurch treten Dimensionen, Intimbeziehungen und Sexualfragmente hervor, die bisher keinen Namen hatten oder gar nicht existierten. Die Vorsilbe neo scheint mir besonders geeignet zu sein, weil sie sowohl die schöpferische und neuartige wie die rückwärtsgewandte und totstellende Seite eines Vorganges assoziieren lässt: Neocortex, Neophyth, Neorama, Neologismus, Neoplasma, Neokolonialismus, Neoliberalismus usw. Von Revolution spreche ich, weil wir inzwischen wissen, dass Umwälzungen dramatisch oder undramatisch, schlagartig oder schleichend verlaufen können und dass sie nicht unbedingt in ein Reich der Freiheit führen. Vor allem aber habe ich diese Bezeichnung gewählt, weil die mit der Revolte von 1967/68 verbundene sexuelle Revolution, ein realer Mythos unserer jüngeren Geschichte, zwangsläufig als Maß genommen wird, sobald Umbrüche der Sexualkultur beschrieben werden.

In psychoanalytischen Zusammenhängen muss schließlich noch auf eine wesentliche Differenz im Wortgebrauch hingewiesen werden: Während ich die Ausdrücke neosexuell und Neosexualität in soziologischer Hinsicht benutze, verwendet sie Joyce McDougall (1982) seit dem Beginn der 1980er Jahre in Auseinandersetzung mit dem problematischen Begriff der Perversion in klinisch-therapeutischer Hinsicht, um den „innovativen Charakter und die Besetzungsintensität erotischer Inventionen hervorzuheben“, wobei sie das Konzept der „Neorealitäten“ aufgriff, „die sich manche Borderlinepatienten in dem illusionären oder gar wahnhaften Versuch schaffen, mit ihren ebenso schmerzhaften wie unüberwindlichen seelischen Konflikten fertig zu werden“ (McDougall 1997: 249).

Die hohe symbolische Bedeutung, die die Sexualität zuletzt am Ende der 1960er und am Beginn der 1970er Jahre hatte, wurde in den 1980er und 1990er Jahren durch die neosexuelle Revolution wieder reduziert. Vor drei Jahrzehnten hatte ein Verheißungs-Diskurs alle Gesellschaftsmitglieder mehr oder weniger erfasst. Damals wurde die Sexualität mit einer solchen Mächtigkeit ausgestattet, dass einige Theoretiker davon überzeugt waren, durch ihre Entfesselung die ganze unfreie Gesellschaft stürzen zu können. Andere verklärten die Sexualität zur menschlichen Glücksmöglichkeit katexochen. Generell sollte sie so früh, so oft und so intensiv wie nur möglich praktiziert werden. Monogamie und Reproduktion, Virginität und Treue, Abstinenz und Askese waren Auswurf oder Inbegriff der zu bekämpfenden Repression. Dass mit der „Emanzipation“ neue und alte Zwänge und Ängste einhergingen, wollten die Propagandisten nicht wahrhaben. Heute ist Sexualität nicht mehr die große Metapher der Lust und des Glücks. Sie wird nicht mehr so stark überschätzt, ist eher eine allgemeine Selbstverständlichkeit wie Egoismus oder Mobilität. Während die alte Sexualität positiv mystifiziert wurde als Medium der Befreiung, als Rausch und Ekstase, wird die neue negativ mystifiziert als Quelle und Tatort von Unfreiheit, Ungleichheit der Geschlechter, Gewalt, Missbrauch und tödlicher Infektion. Während für die „Paläosexualität“ Trieb, Orgasmus und die Liebe des heterosexuellen Paares kennzeichnend waren, bestehen die „Neosexualitäten“ vor allem aus Geschlechterdifferenz, Selbstliebe, Thrills und Prothetisierungen.

Einflussreiche Geister hatten einst den Eros als orgastisch, heteropotent und revolutionär (Reich 1936), als heilig und transgressiv (Bataille 1957) oder, eher bescheiden, als aufgeklärt und wohltuend (Comfort 1963) beschworen. Doch der Schatten des Eros heißt in unserer Kultur Anteros. Den Alten war er nicht nur der Bruder des Eros und der Gott der Gegenliebe, sondern auch der rächende Genius verschmähter Liebe. Der schöne Knabe Meles zwang Timagoras, den Fremdling, zum Beweis seiner Liebe von der Akropolis zu springen. Nachdem es Timagoras getan hatte, sprang Meles aus Reue hinterher. So töteten sich beide. Seither herrschen Eros und Anteros über Bruchstücke. Die Bruchstücke, die uns heute als diskursive Figuren beschäftigen, sind zum Beispiel: die zuviel oder zuwenig, also immer falsch liebende Mutter; der physisch oder psychisch abwesende Vater; das sexuell missbrauchte Kind; der sexistische, gewalttätige Mann; der eiserne, männliche Mann; die amphiphile Frau mit dem erotischen Kontinuum; der medial fabrizierte Sexsüchtige; der Kinder und Frauen armer Länder benutzende Sextourist; der elektronisch zerstreute Perverse; der Single; der medizinisch reparierte Impotente; der operativ beruhigte Geschlechtszweifler; der Gender Blender diesseits der Chirurgie; der gewissenhaft HIV-Prävention betreibende Schwule; das kirchlich gesegnete und staatlich registrierte gleichgeschlechtliche Paar; der in sich selbst Verliebte; die Fakesexerin; der futuristische Cybersexer, vor allem aber das historisch und sozial asymmetrische, kulturell dissoziierte, politisch verunsicherte, emotional misstrauische, philosophisch aporetische heterosexuelle Paar. Wahrlich ein posthegelianischer Aufklärungs-Trupp modernisierter Repräsentanten des Anteros, der als ein ebenso gequältes wie quälendes Diskurs-Personal zur Zeit die Bühne des Eros bevölkert.

Aus der Vielzahl der miteinander vernetzten Prozesse, die die neosexuelle Revolution ausmachen und Neosexualitäten hervorbringen, greife ich drei heraus (vgl. Sigusch 1998a, 2005α, 2005b): die Dissoziation der sexuellen Sphäre, die Dispersion der sexuellen Fragmente und die Diversifikation der Beziehungsformen. Dabei möchte ich nicht in das Wehgeschrei mancher Sexualforscher einstimmen, die ihre neuesten empirischen Resultate beleidigt unter der Überschrift „Abschied von der sexuellen Revolution“ präsentieren. Offenbar benehmen sich die Gesellschaftsindividuen nicht so, wie es sich diese Forscher erträumt haben. Mir ist dieses Klagen zu sentimental, zu sehr nach rückwärts gewandt, weil es noch immer die sexuelle Revolution der 1960er Jahre glorifiziert, obgleich wir inzwischen wissen, wie sehr auch sie von Doppelmoral und Sexismus, von Ängsten und Schuldgefühlen zersetzt war. Vor allem aber wird das Neue übersehen, das trotz aller Vermarktung und Banalisierung beweist: Die Wunde des sexuell und geschlechtlich Möglichen blutet noch.

Ich halte also auch nichts von den sexuologischen Thesen, die kulturpessimistisch das Verschwinden des sexuellen Begehrens oder den „Tod der Leidenschaft“ verkünden, weil nach breit angelegten empirischen Erhebungen, die in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts in reichen westlichen Ländern durchgeführt worden sind (vgl. insbesondere Johnson et al. 1994, Laumann et al. 1994, Spira et al. 1993), etwa 80 % der Männer und beinahe 90 % der Frauen im Jahr vor der jeweiligen Studie keinen oder nur einen Sexualpartner hatten und weil etwa die Hälfte aller Befragten seltener als einmal pro Woche Geschlechtsverkehr hatte (vgl. dazu Kap. 10). Meine Frage ist vielmehr, wie Begehren und Leidenschaft umkodiert und wohin sie verschoben werden: in sexuelle Selbstbezüglichkeit zum Beispiel, in aggressive Aktionen, in nonsexuelle Thrills, in öffentliche sexuelle Inszenierungen und heimliche Süchtigkeiten dank Internet und Cyberspace. Es geht mir also nicht um Partnerwechsel und Koitusfrequenzen im alten sexuologischen Sinn, sondern um Transformationen des Sexuellen, die etwas wirklich Neues andeuten und damit auch von therapeutischer Bedeutung sind. Wenn ich solche Veränderungen betone, habe ich immer jene essenzialistischen Psychoanalytiker vorm Auge, die noch heute beinahe alles für bare Münze nehmen, was ihr Meister vor einhundert Jahren zur Zeit der damaligen Umbrüche notiert hatte, als vollzöge sich das Liebes- und Geschlechtsleben nach Naturgesetzen, als seien die damaligen Verhältnisse von Mann-Frau, Vater-Mutter-Kind oder Heterosexualität-Homosexualität-Perversion für die Ewigkeit gemacht worden. Diese Psychoanalytiker sind verliebt in ursprüngliche Strukturen, universelle Achsen, unstillbare Konflikte, überhaupt alles Ewigliche. Ihr Motto lautet: Es war schon immer so: „ein Mann und eine Frau“ und so weiter und so fort. Dabei leben einige heilige Wesen der Psychoanalyse längst in Intermundien wie Epikurs Götter – weil die Menschen ihrer nicht mehr bedürfen.

Im Gegensatz zu diesen Universalpsychologen eines verwehenden Zeitalters geht es mir um soziologisch zu interpretierende Strukturveränderungen der allgemeinen Sexualform, die selbst dann, wenn sie wesentlich und auf einige menschliche Sicht sogar irreversibel zu sein scheinen, nicht den Schluss gestatten, alle Menschen seien jetzt „neosexuell“ strukturiert und reagierten so. Das kann und soll vor allem aus zwei Gründen nicht insinuiert werden, auch wenn mein Zungenschlag aus Gründen der Plastizität zugegebenerweise gelegentlich so klingt. Zum einen sind, von theoretischen Überlegungen abgesehen, die Referenzgruppen nicht die 50- bis 70-Jährigen (wie z. B. in der Viagra-Debatte), sondern die heutige Jugend; und es sind auch nicht die Arbeitslosen in den östlichen Plattenbausiedlungen, sondern die sozial und ökonomisch Affluenten in den großen Städten. Zum anderen gab und gibt es gleichzeitig sehr differente Zeit- resp. Strukturschichten der Sexualität. Zur Zeit sind vor allem drei Strukturschichten der allgemeinen Sexualform bedeutsam, die sich kombinieren und einander überlappen können: (1) die Schicht, die für die erste sexuelle Revolution charakteristisch ist; (2) die Schicht, die für die zweite oder sozialliberale Revolution typisch ist, und (3) die Schicht, die zur dritten oder neosexuellen Revolution gehört. Diese Zeit- resp. Strukturschichten können zwar im Allgemeinen den Generationen zugeordnet werden, nicht aber im Individuellen. So kann sich eine Frau, die von den Auswirkungen der ersten sexuellen Revolution dispositionell-diskursiv geprägt worden ist, am ehesten wie eine Frau am Übergang von der zweiten zur dritten sexuellen Revolution verhalten haben. Und ein junger Mann, der zur Zeit der neosexuellen Revolution aufgewachsen ist, kann (beinahe) so fühlen und handeln, als hätte es die dritte Revolution nicht gegeben. Weil das so ist, kommen Psychoanalytiker trotz gewaltiger Umbrüche anhand einzelner Analysen weiterhin zu dem Schluss, im Grunde habe sich gar nichts geändert (vgl. dazu auch Clement 1993, Dannecker 2001, Strauß 1999 sowie Richter-Appelt in Kap. 12 in diesem Buch).

Die Dissoziation der sexuellen Sphäre

Nach der Trennung einer heute immer noch ganz selbstverständlich sexuell genannten Sphäre von einer logischerweise nunmehr nichtsexuellen oder unlogischerweise nur noch „erotischen“, die bereits vor Jahrhunderten erfolgte und mit der historischen Geburt unserer Sexualität zusammenfällt, wurde die noch durch und durch instabile gesellschaftliche Sexualform sogleich mit jenem Seziermesser zerlegt, das die Wunde des Möglichen nach den Regeln des Experiments gesetzt hatte und folglich dem Sektionsmesser analog ist. Eine „unausgleichbare Differenz“ (Freud 1912: 91) nach der anderen wurde aufgedeckt oder postuliert, bis die noch bleiche und brüchige Sexualität als jener dissoziierte Scherbenhaufen erkannt wurde, aus dem die Form als ein schönes und beglückendes Kunstwerk scheinbar per Assoziation gegossen worden war: infantile versus reife Sexualität, perverse versus normale Sexualität, Sinnlichkeit versus Zärtlichkeit, Venerie versus Gesundheit, Prostitution versus Monogamie usw. Von großen sozialen Bewegungen wurde in diesem Prozess die Trennung der sexuellen von der reproduktiven Sphäre gefordert und mit Hilfe technologischer Innovationen immer exzessiver durchexerziert. Sie erfolgte schließlich so gründlich, dass wir in den 1960er Jahren annahmen, die Sphären hätten überhaupt nichts miteinander zu tun. Im Sog dieser Dissoziation präsentierten beispielsweise Masters und Johnson (1966) Sexualphysiologie statt der vordem dominierenden Reproduktionsphysiologie, und wir assistierten ihnen aufund angeregt dabei. Die Herausnahme der reproduktiven aus der sexuellen Sphäre stellt so etwas wie die zweite historische Geburt unserer Sexualität dar, und das bedeutet: Konstruktion einer scheinbar eigentlichen, „reinen“ Sexualität.

Die nunmehr isolierte Sphäre der Reproduktion wurde nach und nach mit enormen Auswirkungen selbst fragmentiert (vgl. z. B. Duden 1987). Die alten, früher als unhintergehbar angesehenen Naturzwänge, die Fortpflanzungs-, Generationen- und Geschlechterschranken wurden und werden weiterhin step by step überwunden. Auch dadurch werden „Leben“ und „Tod“ ständig umkodiert, unterliegen Metamorphosen – ein genereller Prozess, der mir für die westlichen Gesellschaften charakteristisch zu sein scheint. Welche materiellen Transgressionen zu den bisherigen Resultaten dieser Metamorphosen gehören, habe ich bei einer anderen Gelegenheit angedeutet (Sigusch 1997, 2006). Dem Fetus, früher ein unselbstständiges Anhängsel des weiblichen Körpers, wird mittlerweile ein Eigenleben zugeschrieben. Nach der historischen Geburt der Kindheit und der Jugendzeit erleben wir jetzt die historische Geburt der „Fetuszeit“. Die Vorgänge der Reproduktion einschließlich der Embryonalentwicklung sind prinzipiell aus dem weiblichen Körper herausverlagert. Die Technik des Klonens lässt erstmalig menschliche „Parthenogenese“ als möglich erscheinen, eine „Selbstzeugung“, an der die Theoretiker der Autopoiesis ihre helle Freude haben dürften. Dieser technologische „Quantensprung“ bedeutet, dass die Fortpflanzung nicht nur unsexuell, sondern auch ungeschlechtlich erfolgen kann. Die Geschlechter werden dadurch auf eine neue Weise prinzipiell getrennt: Frauen und Männer sind biotisch nicht mehr unverrückbar aufeinander angewiesen und existenziell nicht mehr unverrückbar aufeinander verwiesen.

In den 1970er und vor allem 1980er Jahren folgte auf die historisch weit zurückreichende Trennung der reproduktiven von der sexuellen Sphäre eine neuartige Dissoziation der sexuellen von der geschlechtlichen Sphäre, die zu einer neuerlichen Genuierung der weiblichen (und damit auch der männlichen) Sexualität und zu einer grundsätzlichen Problematisierung des Mann-Frau-Verhältnisses führte, verbunden mit einer Dekonstruktion andromorpher Blicke und Begriffe bis hinein in Logik und Mathematik (Irigaray 1984). Angestoßen vom politischen und wissenschaftlichen Feminismus, wurden auch in Sexualwissenschaft und Psychoanalyse die alten Sexualverhältnisse zunehmend zum Geschlechterverhältnis umgeschrieben. Der Springpunkt war jetzt für viele nicht mehr der Sexualtrieb mit seinem „Schicksal“, sondern das Geschlecht mit seiner „Differenz“. Folglich konnten viele Sexualität ohne Trieb denken, nicht aber ohne Geschlecht. „Gender Studies“, die nach wie vor wie Pilze aus dem Diskurs-Boden schießen, drängten selbst in Frankfurt am Main und New York City die psychoanalytische Trieblehre in den Hintergrund. Sogar Perversionen, einst der Inbegriff des sexuell Triebhaften, wurden zu einer Geschlechtsidentitätsstörung entsexualisiert. Das zeichnete sich bereits Mitte der 1970er Jahre bei Stoller (1975) ab. Heute gibt es „weibliche Perversionen“ in vielfältiger Form, auch ohne sexuelle Manifestationen (vgl. Becker 2002, Kaplan 1991, Welldon 1988/2003).

Der feministische Gender-Diskurs hat interessanterweise in einer sexuologischen Differenzierung seine (übersehenen) Wurzeln, eine Differenzierung, die im Wesentlichen klinisch motiviert war und bereits in den 1950er und 1960er Jahren vor allem von Intersexualismusforschern vorgenommen worden ist (Comfort 1963, Green u. Money 1960, Money 1955). Unterschieden wurde in dieser Debatte das Körpergeschlecht („sex“) vom Geschlechtsrollenverhalten („gender role“) und dieses von der Geschlechtsidentität („gender identity“), Dimensionen der Geschlechtlichkeit, die vordem unhinterfragt zusammenfielen. Zu den Resultaten gehört, dass heute ein ehemaliger Mann, im Betroffenen-Jargon ein Bio-Mann, als Frau, im Szene-Jargon als Neo-Frau, eine ehemalige Frau als Mann heiraten kann, und zwar lege artis. Es wird also versucht, diese Trennung wieder rechtlich und sozial durch Inversion ungeschehen zu machen, weil sie kulturell ans Existenzielle geht. Um so bemühter sind Naturforscher und Mediziner, nicht nur die sexuelle Orientierung, sondern auch die Geschlechtsidentität an Gene und Genprodukte, Hirnstrukturen und Hormonbilanzen zu binden (z. B. Hamer et al. 1993, LeVay 1991, Zhou et al. 1995): eine Suche, die nicht enden kann, weil sie dem somatoformen Ursprungsdenken äquivok ist. Angesichts der Verwirrungen, die mit der philosophischen Erkenntnis einhergehen, dass ihrer Wirkmächtigkeit nach die zweite Natur die erste ist, könnte Verständnis für das Bemühen der Somatologen aufgebracht werden, wieder einen scheinbar fassbaren und Sicherheit gewährenden Boden unter den Füßen zurückzugewinnen.

Doch der Boden schwankt im Augenblick nicht nur theoretisch fundamental. Längst sind jene Transsexuellen, die die überkommene, mühsam errichtete Ordnung der beiden großen Geschlechter ratifizierten, flankiert von Menschengruppen, die sich jenseits von Medizin und Psychotherapie organisieren und der alten Ordnung zu entziehen suchen. Einige wissen nicht, wes Geschlechts sie sind oder wollen unentschieden „in between“ verharren; etliche, die Transgenderisten oder Gender Blenders genannt werden und Intergeschlechtliche genannt werden könnten, entnehmen dem Geschlechterrepertoire das, was ihnen gefällt oder andere irritiert; immer mehr sind überzeugt, die Sensationen beider Geschlechter erleben zu können; andere schließlich, die Intersexuellen, melden sich zum ersten Mal als solche und als besondere Gruppe zu Wort (Garrels 1998, vgl. auch Richter-Appelt in Kap. 18), natürlich auch im Internet (z. B. Intersex Society of North America 1997 ff: http://www.isna.org). Sie verfassen Pamphlete, gründen Organisationen, besetzen Fachkongresse, befragen den Gesetzgeber, machen Torturen öffentlich, mit denen sie die Medizin, oft die ganze Kindheit und Jugendzeit hindurch, einem und nur einem Geschlecht zuordnen will, und plädieren dafür, die Geschlechtszugehörigkeit nicht durch frühzeitige körperliche Eingriffe und psychosoziale Weichenstellungen professionell festlegen zu wollen, sondern der Entscheidung der Betroffenen im Erwachsenenalter zu überlassen. Während die genannten Brüche nur relativ wenige Menschen beschäftigen, faszinieren oder zerreißen, hat die gegenwärtige Trennung der geschlechtlichen von der sexuellen Sphäre eine neuartige, als historisch überfällig angesehene Dissoziation der sexuellen Sphäre selbst zur Folge, die die beiden Hauptgeschlechter insgesamt betrifft. Denn es gibt jetzt nicht nur eine Sexualität, sondern zunächst einmal die männliche und die weibliche, die nicht mehr das Negativ der männlichen ist.

Bis in die 1970er Jahre hinein lag bei uns Geschlechtlichkeit in Gestalt von Geschlechtskunde und ähnlichen Abscheulichkeiten nur den scheinbar Ewiggestrigen am Sexus-sequior-Herzen: ein mystisch-metaphysischer Topf, in dem der Smer brodelte, den namentlich die hohe deutsche Philosophie sezerniert hatte. Im Verlauf der neosexuellen Revolution wurde die Geschlechtlichkeit für die einen auf eine andere Weise unhintergehbar, während sie andere als transitorisch ansehen. Für die Theoretikerinnen, die im Sex-and-gender-Diskurs den Ton angaben, waren schließlich beide, Sex und Gender, durch und durch kulturell konstruiert, bar jeder Natur und folglich hintergehbar und veränderbar. Dadurch wurde, vor allem im US-amerikanischen Kontext, die Debatte fundamentalistisch, und die Theoriebildung wurde dadurch kompliziert, dass Frauen, die weder weiß noch mittelständisch sind oder sich nicht als heterosexuell bezeichnen, auf ihren anderen Lebenswirklichkeiten bestanden. Denn tatsächlich werden Großkategorien wie Gender oder Frausein durch fundierende Differenzen, die mit der ethnischen Herkunft, mit der sozialen Klasse oder der sexuellen Präferenz zusammenhängen, epistemologisch wie politisch grundsätzlich in Frage gestellt. Letzter Stand des Geschlechter- und Geschlechts-Diskurses ist (vgl. Butler 1993, 1997, zur Kritik Nussbaum 1999), dass auch Gender „besiegt“ ist, indem das kulturelle Bigenus und der somatische Dimorphismus, also das Binäre, theoretisch per Dekonstruktion und politisch per Subversion aufgelöst werden (sollen) mit dem Ziel der Selbstermächtigung. Diese ist – um Kants (1784) berühmte Antwort auf die Frage, was Aufklärung sei, zu paraphrasieren – der Ausgang der Frauen aus ihrer selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seiner weiblichen Geschlechtlichkeit ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbst verschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel der Differenz, sondern an der Entschließung und des Mutes liegt, sich ihrer ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich subversiv deiner eigenen Differenz zu bedienen! ist also der Wahlspruch des letzten (meta-physischen) Feminismus. Herauskommen soll so etwas wie Selfsex und Selfgender, selbstmächtig selbst produziert und selbst reguliert. Die Ziele des klassischen (physisch-politischen) Feminismus, nämlich Respekt und Gleichberechtigung, und die Einsichten des unmittelbar vorausgegangenen (differenztheoretischen) Feminismus, nämlich Geschlechter als transsubjektive Diskurseffekte zu begreifen, lässt der gegenwärtig Furore machende Feminismus idealistisch mit einem atemberaubenden Optimismus hinter sich. Die Materialität der Gesellschaftsformation und die Materialität der Diskurse scheint der subversive Wille zur Selbstermächtigung außer Kraft setzen zu können.

Eine weitere Dissoziation der 1980er und 1990er Jahre betrifft die Separation der Sphäre des sexuellen Erlebens von der Sphäre der körperlichen Reaktion. Indem Mediziner eine Erektion des Penis mechanisch, medikamentös oder chirurgisch herstellen (vgl. dazu die Kap. 15 und 16), trennen sie Verlangen, Erektion und Potenz auf künstliche Weise voneinander. Ein Mann kann dann ohne gespürtes Verlangen und oft auch ohne jene psychophysischen Sensationen, die dem sexuellen Erleben bisher eigen zu sein schienen, „sexuell funktionieren“ und den Geschlechtsakt als das praktizieren, was er in unserer Kultur einer wesentlichen Tendenz nach immer war: Vollzug. Der Traum der Mediziner von der perfekten Prothetisierung der sexuellen Funktionen, deren Verkörperungen den Körper zur Leiche machen, also auch Entkörperungen sind, korrespondiert mit dem allgemeinen Traum von der Prävention des Somatischen und der Überwindung des Körpers, von der Entleiblichung des Sexus und des Genus. Momentaner medialer Höhepunkt dieses Traums und zugleich seine Erweiterung ist das Versprechen, die alte, zur Impotenz führende Legierung von Sexualität und Angst durch die Einnahme einer Droge namens Viagra biochemisch zu überlisten.

Jenseits der Medizin sind die Prozesse der Dissoziation von seelisch-sozialem Erleben und körperlicher Reaktion entweder leicht zu erkennen oder überhaupt noch nicht einzuschätzen. Auf der Hand liegt die Struktur von Telefon-Sex, so genannten TV-Partner-Treffs, von sexuell tingiertem Faken und dem, was man E-Sex