Shadow Park 2 - K.M. Parker - E-Book

Shadow Park 2 E-Book

K.M. Parker

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Beschreibung

Band 2 der Fantasy-Trilogie Nachdem Tonja zur Seelenretterin ausgebildet wurde, haben sich ihre mächtigen Fähigkeiten schnell überall herumgesprochen. Auch in Shadow Park ist man auf sie aufmerksam geworden. Als dann auch noch ein Anführer Shadow Parks eine äußerst bedrohliche Rebellion startet, muss sie handeln und sich erneut mit alten Freunden und Feinden auseinandersetzen. Sie begreift, dass die dortigen Gesetze und Werte viel komplexer sind als angenommen und trifft eine folgenschwere Entscheidung. Doch damit nicht genug. Ein schier übermächtiger Seelenfänger taucht auf und will mit Tonja eine alte Rechnung begleichen. Mehr denn je ist sie auf die Hilfe ihres Katzenbanngeistes Veigur angewiesen, der ihr in den schwierigsten Situationen mit Rat, Trost und Kampfkraft beisteht. Auch ihr Freund Abel ist stets besorgt um sie. Doch bei all den neuen Bedrohungen muss Tonja nicht nur ums Überleben, sondern auch um ihre Liebe kämpfen.

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Erinnerung 1

Erinnerung 2

Erinnerung 3

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

1

Seit mehreren Minuten bestaunte ich die Fensterfront, die direkt aufs offene Meer zeigte. Die Wellen bogen sich in sanften Linien und zogen mich dabei in ihren Bann. Ich spürte eine Ruhe, die ich nicht so schnell erwartet hatte. Das Bett war riesig und bot Platz für eine ganze Familie.

Meine Hand fuhr über den glatten Bezug der Bettdecke, die angenehm kühl war. Gegen eine neue Wohnung wäre an sich ja nichts einzuwenden, aber ein ganzes Haus?

Nachdem ich durch das Transportloch von Rah gegangen war, war ich in der Küche dieses Hauses gelandet. Schon dort wurde mir klar, dass ich mich in einem Anwesen befand, das mich mit seinem Luxus geradezu abstieß. Dass ich nun eine richtige Seelenretterin war, war doch kein Grund mich in Prunk und Glanz zu ersticken.

Der Gedanke, dass Abel hier wohnen würde, passte auch nicht. Sicher würde es ihm auch nicht gefallen. Mum hätte mich für meine undankbare Denkweise gescholten, doch ich konnte nicht anders. Das ganze Haus bestand aus einem riesigen Wohnzimmer mit angrenzendem Esszimmer, zwei Badezimmern, zwei Schlafzimmern, einer Küche und einem Büro mit zwei Schreibtischen. Beim Gedanken an den Mietpreis wurde mir übel und bei der nächsten Gelegenheit würde ich Rah fragen, wer den Seelenrettern dieses Dasein finanziert.

Ich sehnte mich nach dem kleinen, baufälligen Häuschen, das ich einst mit Jim bewohnt hatte. Das Haus hatte perfekt zu mir gepasst, ebenso wie der Mann. Beides war nun unerreichbar. Ich ging wieder zum Fenster. Dass ich direkt am Meer war, gefiel mir allerdings, eindeutig ein Pluspunkt. Ich ging die Treppe runter, ins Esszimmer und schlüpfte durch die Schiebetür, die nach draußen führte. Der Wind strich mir die Haare aus dem Nacken, während ich zum Rand der Klippe ging. Ich drehte mich um und ließ den Blick über die Landschaft gleiten. Weit hinten, nur um Haaresbreite noch zu sehen, stand ein weiteres Gebäude. Um in Erfahrung zu bringen, in welcher Stadt ich mich nun befand, würde ich wohl oder übel ins Auto steigen und eine Rundfahrt starten müssen. Einen fahrbaren Untersatz hatte ich vorm Haus bereits entdeckt, als ich aus dem Bürofenster gesehen hatte. Der Schlüssel hing wie eine Aufforderung an einem Haken neben der Eingangstür, ebenso wie die Haustürschlüssel.

Ich stieg in den dunkelgrünen Wagen ein und fuhr ins Ungewisse. Die Auffahrt führte mich auf eine Straße, die mich nur in eine Richtung ließ. Nach einer Weile erreichte ich einen Wald, der schnell durchquert war. Dahinter zeigte sich mir der Ausblick auf die Stadt, die von nun an unter meinem Schutz stand. Ich hatte mehr ein Dörfchen erwartet, doch tatsächlich war das Ende der sich aneinanderreihenden Häuser von hier oben nicht zu erkennen.

Ich fuhr weiter, ins Stadtinnere, um einkaufen zu gehen. Vielleicht würde ich mir etwas kochen. Es war Ewigkeiten her, dass ich etwas so Normales getan hatte und der Gedanke daran fühlte sich gut an.

Es dauerte nicht lange, bis ich einen Supermarkt fand. Meine Hand glitt in meine hintere Hosentasche und zu meiner Erleichterung war dort immer noch die Bankkarte, die Lo mir mal gegeben hatte. Nur mein Name war darauf zu sehen, neben dem goldglänzenden Chip.

Ich ging in den Laden, um meine Einkäufe zu erledigen. Am Kühlregal stand ein turtelndes Pärchen und blockierte den Weg.

»Nein, kommt gar nicht in Frage. Ich koche heute für uns und du entspannst dich.«

»Aber das ist doch nicht nötig.«

Diese Diskussion ging eine Weile hin und her, bis sie mich bemerkten und endlich den Gang freigaben. Ihre säuselnden Zugeständnisse folgten mir, bis in die Spirituosenabteilung.

»Möchten Sie unsere neue Rotweinsorte probieren?«

Ich wäre vor Schreck fast ins nächste Regal gehüpft und ich war froh, dass meine Eisentiere nicht hervorschossen. Nach den letzten paar Wochen wäre das kein Wunder gewesen. Ich schüttelte wütend den Kopf. »Nein, danke.«

Die Frau strich sich beleidigt die Haare zurück und bedachte mich mit einem Blick, der nichts Gutes über mich verriet. Sie stürzte auf das sich anhimmelnde Pärchen zu, das begeistert nach zwei Rotweingläsern griff und sich einschenken ließ. Ich lief schneller, mit der freudigen Gewissheit, keinen der drei jemals wiederzusehen.

Meine Hände klammerten sich um den Wagengriff, um das Kind, das auf dem Boden saß und eine Tüte Weingummi aß, nicht zu überfahren. Die Mutter warf mir einen warnenden Blick zu. Scheinbar wollte sie den Jungen nicht aus dem Weg räumen, ich ging also ohne Peperoni weiter.

Ich hätte in meinem Zimmer mit Meerblick bleiben und verhungern sollen, stellte ich verbittert fest. Die Stadt bestand aus schönen Häusern und vielen Grünflächen, von den Menschen sollte ich mich jedoch lieber fernhalten. Lo behielt mit seinen Worten recht. Ich konnte für dieses Alltagsleben kein besonderes Verständnis mehr aufbringen. Eine unsichtbare Wand schien mich abzuschirmen und machte mich ungeduldig.

Ich atmete erleichtert aus, als ich wieder im Auto saß. Zurück in meiner neuen Bleibe räumte ich den Einkauf ein und ging in mein Zimmer. Der Hunger war verflogen. Ich legte mich aufs Bett und starrte an die Decke. Als ich die Augen schloss, erschien Erikas Bild in meinem Kopf. Ein unangenehmes Gefühl breitete sich in mir aus. Es war eine Mischung aus Schuld und Neid, quasi ein K.O.-Cocktail. Ich versuchte, ihr Bild wegzuschieben, sie loszuwerden, doch das bereitete mir nur noch mehr Schuldgefühle. Verzweifelt fuhr ich alle meine Seelenrettersinne aus, um eine dunkle Energie in der Umgebung zu finden. Ich wollte arbeiten, nicht rumliegen. Als ich nichts spürte, setzte ich mich enttäuscht auf und betrachtete das Meer. Mittlerweile ging die Sonne unter, der Horizont erstreckte sich vor mir wie ein Postkartenbild. Ob es noch lange dauern würde, bis Abel kommt? Ein Biss auf die Unterlippe holte mich in die Realität zurück. Wahrscheinlich war er furchtbar sauer auf mich, immerhin wurde er wegen mir gezwungen, ein Seelenretter zu werden. Ich fragte mich, warum er mir überhaupt geholfen hatte. Er wusste, dass ich Agnetha war. Ich versuchte, all das wieder zu verdrängen und zu schlafen, doch nach mehreren Stunden Hin- und Herwälzerei hatte ich genug und ging zum riesigen Kleiderschrank im Gästezimmer. Ich fand einen Rock, eine Bluse und Stiefel, die mir gefielen. Wer auch immer diese Garderobe ausgesucht hatte, hatte Geschmack. Ich fand auch Männersachen, die eindeutig für Abel bestimmt waren.

Mein festes Ziel für den nächsten Tag wäre es, eine Apotheke zu finden und Schlaftabletten zu kaufen. Da es schon ziemlich spät war und ich keine mehr bekommen würde, blieb mir nur Plan B. Eine Bar erschien mir genau richtig. Kein enger Kontakt zu Menschen, nur im lauten Stimmengewirr untergehen und sich einen Drink genehmigen – perfekt.

Ich setzte mich ins Auto und fuhr los. Auf meinem Weg zum Supermarkt vorhin, hatte ich ein Lokal gesehen, das mich ansprach. Ich parkte zwei Straßen weiter und ging hinein.

Sofort stand ich in einer Wolke aus Rauch, die sich mit billigem Parfüm und Schweiß vermischte. Der Laden war gut besucht, obwohl es mitten in der Woche war. Die Einrichtung machte einen neuwertigen Eindruck und bestand überwiegend aus Holz. Man fühlte sich an die schwedischen Häuschen mit ihrem gemütlichen Wohlfühlcharme erinnert. Hinten in der Ecke stand eine Gruppe laut grölender Männer, die sich einer Dartscheibe widmeten. Obwohl es an sich schon ziemlich laut war, konnte man sie gut heraushören.

Da alle Tische vergeben waren, setzte ich mich an eine Tresenecke und bestellte mir ein Bier. Hier, in dieser von Lärm erfüllten Umgebung, fühlte ich mich wohler als in dem großen, ruhigen Haus.

Ich beobachtete den Barkeeper eine Weile. Er war klein und dick, aber beweglich wie ein Raubtier. Ständig übergab ihm die Bedienung neue Bestellzettel, die er im Akkord abarbeitete, ohne auch nur das leiseste Anzeichen von Erschöpfung zu zeigen. Die drei Männer, die auf der anderen Tresenseite saßen, beobachteten ihn ebenfalls, als wäre er ein Fernsehbild. Die Speisekarte fiel überraschend üppig aus und ich bestellte mir die Lasagne, die fünfzehn Minuten später vor mir auf dem Tisch abgestellt wurde. Jetzt hatte ich wirklich riesigen Hunger.

Gerade als ich mir die Gabel in den Mund schieben wollte, spürte ich jemanden dicht neben mir. »Hi, ich bin Kurt. Ich möchte dich nicht belästigen, aber ich wollte fragen, ob du was mit mir trinken willst.«

Ich legte die Gabel genervt auf dem Teller ab. Man konnte jawohl sehen, dass ich in Ruhe essen wollte. Er zog einen Barhocker heran und setzte sich neben mich, ohne meine Antwort abzuwarten.

»Das ist sehr nett, aber ich muss ablehnen. Schönen Abend noch.« Ich griff wieder nach der Gabel, um weiterzuessen.

»Hey, Nick, die Dame braucht noch ein Bier.«

Der Barkeeper stellte mir nach wenigen Sekunden einen gefüllten Becher vor die Nase.

»Da ich dir ein Getränk spendiert habe, wäre es höflich, wenn du mir deinen Namen sagst.«

Ich spürte, wie mein Gesicht vor Zorn rot anlief. Anscheinend hatte er eine Schwäche für Eroberungsspielchen, die ich allerdings nicht teilte. Ich musterte ihn kurz, wobei mir auffiel, dass er gar nicht schlecht aussah. Braune Augen, dunkelblonde Haare und ein charmantes Lächeln, das die Situation jedoch nicht retten würde.

»Mein Name wird dir nicht viel nützen, da ich nicht vorhabe dich kennenzulernen.« Ich hatte den Satz übertrieben zickig gesagt und dachte, damit wäre die Sache erledigt.

»Du bist sehr hübsch und es wäre eine Verschwendung dich alleine sitzen zu lassen. Wie wärs, wenn du mit zu mir kommst?«

Die Situation war dermaßen unmöglich, dass ich lachen musste.

»Ist das ein ›Ja‹?«

Bevor ich antworten konnte, ertönte hinter uns eine tiefe Männerstimme, die ich kannte. »Das ist ein ›Nein‹. Aber wenn du so einsam bist, begleite ich dich nach Hause.«

Ich fuhr herum und sah in Liams belustigtes Gesicht. Kurt, mein neuer bester Freund, zuckte beim Anblick seines Körpers zusammen. Er tat mir ein bisschen leid.

»Oh, ich wollte nur …« Er schwieg plötzlich, als würde es ihm die Luft abschnüren. Ohne ein weiteres Wort verschwand er zwischen den Leuten.

»Du hast ihm Angst gemacht, fürchte ich.«

»Gut, das war mein Ziel.«

Kaum hatte Liam sich neben mich gesetzt, schob der Barkeeper ihm ein Bier zu.

»Was machst du hier?« Ich drehte meinen Kopf ein wenig und meine Augen suchten Katrin. Es wäre ein Leichtes gewesen, sie hinter seinem breiten Kreuz zu übersehen.

»Sie ist nicht hier. Im Moment hilft sie einem Seelenretterneuling beim Training.«

Er klang verbittert, also fragte ich lieber nicht weiter nach. »Verstehe. Hört sich nach Arbeit an.«

»Mhm.«

Gleichzeitig erhoben wir die Becher. Eine Weile saßen wir ruhig da und beobachteten das Geschehen, während ich mir die Lasagne in den Mund schob. Ich hatte nicht erwartet, dass seine Nähe so angenehm sein würde, doch es fühlte sich an, als säße ich neben einem alten Freund.

»Ich war heute schon mal bei dir zu Hause, aber du warst nicht da. Als ich dich später wieder nicht angetroffen hab, bin ich deiner Energie hierher gefolgt.«

»Ich hab ein bisschen die Gegend erkundet, war einkaufen und so. Was wolltest du denn?«

Er lehnte den Arm auf den Tresen und drehte den Oberkörper in meine Richtung. »Rah hat gesagt, du hast die Prüfung bestanden und jetzt brauchst du jemanden, der dich trainiert und dir deine Kräfte zeigt.«

Das hatte ich völlig vergessen, doch ich hatte auch nicht damit gerechnet, dass sie damit meinte, dass SOFORT jemand kommen würde. »Ja, das stimmt. Ich kann ehrlich gesagt keine Veränderung feststellen.«

Er nickte leicht. »Das kriegen wir schon hin, keine Sorge.«

»Danke. Ich würde Lo fragen, aber der ist ja nicht mehr da.«

Ich wusste nicht, warum ich das gesagt hatte. Ich wollte nicht an meinen Mentor denken, es machte mich traurig.

Ich drehte den Becher in meinen Händen und seufzte.

»Ich kann mir vorstellen, wie du dich fühlst. Rah hat uns alles erzählt. Auch von Agnetha.«

»Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich lieber über was anderes reden.«

Erstaunt sah ich, dass er lächelte. »Ich bin froh, dass du das sagst. Solche Gespräche liegen mir nicht besonders.«

Ich konnte nicht verhindern, dass sich auch auf meinem Gesicht ein Grinsen ausbreitete. »Sag mir lieber, wie ich an eine normale Wohnung komme. Der Palast, in dem ich leben soll, macht mir Angst.«

»Da kann ich dir leider nicht weiterhelfen, aber ich kann dich gut verstehen. Da ich auf einer Farm aufgewachsen bin, wäre so etwas für mich ein Albtraum.«

»Ein Stallbursche?«

Er lachte. »So ähnlich. Bei uns musste jeder mithelfen. Ich hatte zwei Brüder, aber die haben mehr Unsinn gemacht, als alles andere.«

»Hört sich nach Spaß an.«

»Meistens schon. Es sei denn, unser Vater hat uns erwischt und durchs Maisfeld gejagt.«

Die Vorstellung brachte mich zum Lachen. Ich konnte ihn geradezu vor mir sehen. Der blonde Junge mit dem frechen Gesicht und den aufgeschlagenen Knien, wie er seine Brüder hinter sich her zieht.

Helen und ich hatten auch eine schöne Kindheit, was jedoch eher unseren Großeltern zu verdanken war. Mum und Dad mussten viel arbeiten und früher war ich deshalb oft sauer auf sie. Irgendwann kam ich natürlich in das Alter, das es mir erlaubt hat, dankbar für all das zu sein, was sie uns dadurch ermöglicht haben.

Ich sah Liam an, der wieder in Gedanken vertieft war. Ich wollte mehr über ihn wissen, entschied mich aber, ihn nicht danach zu fragen. Alte Wunden sollten nicht aufgerissen werden, zu diesem Schluss war ich als Seelenretterin schnell gekommen. Bis jetzt hatte mir die Wahrheit nichts als Scherereien gebracht.

Mir fiel etwas anderes ein. »Sag mal, wenn ein Seelenfänger jemanden absorbiert hat, gibt es eine Möglichkeit das rückgängig zu machen?«

Es war geradezu scheußlich, dass mir Curtis erst jetzt, hier in dieser Bar, in den Sinn kam. Es war so viel passiert, dass ich einfach keine Zeit hatte, mir darüber den Kopf zu zerbrechen. Mein bester Freund wäre enttäuscht von mir, zurecht.

Liam drehte wieder seinen Kopf in meine Richtung und musterte mich. Es sah so aus, als wäre er nicht sicher, wie viel er mir von dem was er weiß anvertrauen kann. »Ich will gar nicht wissen, um was es geht. Mit solchen Fragen ziehst du den Ärger geradezu an, also lass es lieber.« Seine Augen wurden kalt, seine Körperhaltung abweisend, doch er wusste etwas.

»Ich will ihn retten. Es geht um meinen besten Freund. Was würdest du an meiner Stelle machen?«

Natürlich war die Antwort darauf sonnenklar. Niemand der einen halbwegs anständigen Charakter hat, würde so etwas schweigend hinnehmen und die Sache auf sich beruhen lassen.

»Bevor du mit dem Kopf durch die Wand rennst, trainieren wir erstmal. Danach können wir nochmal darüber reden.«

Als er meinen misstrauischen Blick sah, sagte er: »Ich verspreche es.«

Ich glaubte ihm. Seine Augen fixierten mich und zeigten mir kein Anzeichen von Falschheit, also ließ ich das Thema fallen. Irgendwann würde ich stark genug sein, um es mit dem Eismädchen aufzunehmen und meinen Freund zu retten.

Ich beobachtete, wie der dicke Barkeeper in Turbogeschwindigkeit ein paar Gläser spülte und nebenbei das Bier zapfte. Es war, als würde man einem Kraken bei der Arbeit zusehen. Die Bar hatte sich mittlerweile etwas geleert, die laute Männergruppe war verschwunden.

»Können wir denn morgen mit dem Training anfangen?«

»Nicht, wenn wir noch mehr trinken.« Er schob sein Bier weg und legte mir kurz seine Hand auf die Schulter, bevor er sich vom Hocker erhob. »Also, um acht Uhr bin ich da, dann gehen wir in deine Trainingszone.«

Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr, dessen Stundenzeiger warnend auf die Drei zeigte. »Ich hoffe, du meinst acht Uhr abends.«

Er machte ein amüsiertes Gesicht, als er nach seiner Jacke griff. »Bis nachher.«

Ich sah zu, wie zwei Männer aus dem Weg sprangen, als er an ihnen vorbei zur Tür ging. Ich bezahlte und machte mich auf den Weg zu dem großen Haus, um wenigstens ein bisschen Schlaf zu bekommen.

2

Als der Wecker um sieben Uhr klingelte, wäre ich gern nochmal gestorben. Obwohl ich nur ein paar Bier getrunken hatte, arbeitete in meinem Kopf ein ganzes Sägewerk. Ich drehte mich um und schlief wieder ein. Nachdem das schrille Klingeln mich zum dritten Mal aus dem Schlaf geboxt hatte, schleppte ich meinen Körper unter die Dusche. Ich ging zum großen Kleiderschrank und entschied mich für eine Jogginghose, ein Shirt und Turnschuhe. Wahrscheinlich würde ich beim Training sowieso alle zwei Minuten im Staub landen. Gegen Liam hätte ich keine Chance.

Ich setzte mich mit einer Tasse Kaffee aufs Bett und beobachtete den Sonnenaufgang. Ich sehnte mich danach, Abel zu sehen. Es kam mir vor, als wäre es Ewigkeiten her, dass wir zusammen in der Endloswelt waren. In seiner Nähe fühlte ich mich sicher. Er hatte auch eine andere Seite, das wusste ich jetzt. Doch wer hatte die nicht? Er würde niemals erfahren, dass ich ihm in der Vergangenheit begegnet war. Ganz zu schweigen von Erika.

Ich schreckte hoch, als es an der Tür klingelte. Viertel vor acht – überpünktlich. Während ich die Tür öffnete, sagte ich: »Du nimmst es aber genau mit der Z…«

Ich verstummte sofort, als vor mir nicht Liam, sondern ein fremder Mann stand.

»Guten Morgen, Miss, ich weiß, es ist eine unangemessene Zeit, aber ich müsste dringend mal ihr Telefon benutzen.«

Er trug einen schwarzen Anzug mit einer auffallenden, roten Krawatte. Ich schätzte sein Alter auf Mitte vierzig, obwohl ich eindeutig sehen konnte, dass er gut trainiert war. Sein Gesichtsausdruck war freundlich, fast schon herzlich.

Ich hatte diesen Mann noch nie zuvor gesehen, doch ich mochte ihn nicht. Der Drang ihn wegzuschicken war überwältigend.

»Tut mir sehr leid, aber ich bin erst eingezogen und habe meinen Telefonanschluss noch nicht angemeldet. Sie werden zum nächsten Haus gehen müssen.«

Ich wollte die Tür mit einem Ruck zuschlagen, doch er stellte seinen Fuß dazwischen. »Miss Cone, richtig?«

Ich machte langsam ein paar Schritte zurück, während er über die Türschwelle ging und ohne Scham das Haus betrat.

»Tonja Eleanor Cone.« Das war keine Frage, sondern eine Feststellung. Meine Sinne hatten mich nicht getäuscht, ich war im Begriff in Schwierigkeiten zu geraten.

»Was wollen Sie?«

»Bitte begleiten Sie uns, Miss Cone. Unser Meister wünscht eine Audienz.«

Ich folgte seinem Blick, der an mir vorbeiführte und erschrak. Hinter mir stand noch so ein merkwürdiger Kerl, auch in einem schwarzen Anzug und mit roter Krawatte. Er musste die Hintertür aufgebrochen haben.

»Verschwindet aus meinem Haus.«

Ich spürte die aufsteigende Hitze in meiner Brust. Die Linie floss durch meinen Körper, durch die Arme und trat an meinen Handballen aus. Ich hatte meine Eisenfreunde erwartet, doch was sich nun schützend vor mir aufstellte, waren zwei Monster. Sie waren immer noch schlangenartig, aber größer. Ihre Haut war nicht mehr glatt, sondern wie ein dicker, steiniger Panzer. Die murmelartigen Augen wirkten ausdrucksstark und noch einschüchternder. Ich machte vor Überraschung einen Satz zurück und brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass sie wirklich zu mir gehörten.

»Bitte, das ist doch nicht nötig. Wir haben den ausdrücklichen Befehl, keine Gewalt anzuwenden.«

Ich glaubte ihm kein Wort. Sein Partner versuchte weiterhin, sich von hinten an mich heranzuschleichen. Eines meiner Monster fixierte ihn und stieß einen tiefen, grollenden Ton aus. Er stoppte.

»Wer ist euer Meister und was will er von mir?«

Der Mann vor mir wurde langsam ungeduldig. Sein Plan beinhaltete wohl nicht, dass geredet und weitere Zeit verschwendet wird. »Clay«, stieß er hervor.

»Kenn ich nicht. Wenn er was von mir will, kann er gern persönlich herkommen.«

Beide Männer sahen mich empört an. Ihre Augen weiteten sich und für einen Moment hatte ich Angst, sie würden aus ihren Höhlen rollen.

Im Haus zu kämpfen wäre unpraktisch für meine Freunde, ich musste versuchen, die Fremden nach draußen zu locken. Die Anspannung war fast greifbar. Ich beobachtete, wie sie einen stummen Dialog mit den Augen führten. So langsam reichte es mir. Auf keinen Fall würde ich mich entführen lassen! Ich wollte mich nicht mit Zwillingsvertretern prügeln, sondern mit Liam trainieren.

Ich nutzte die Gelegenheit, um anzugreifen, ein Kampf war sowieso unvermeidbar. Meine Tiere kickten sie durch die Luft wie Spielzeug. Ich hechtete zur Hintertür und gelangte ins Freie, dort wartete ich. Es dauerte nur wenige Sekunden, dann waren sie wieder da. Sofort starteten sie einen Gegenangriff. Immer wenn meine Tiere sie verletzten, trat an den Wunden der Männer kein Blut aus, sondern Sand.

Was waren sie nur für Kreaturen? Sie schienen unverwundbar zu sein, abgesehen davon, dass sie wohl keinen Schmerz spürten. Die beiden abzuwehren war kein Problem, doch ewig würde ich das nicht durchhalten.

»Tonja, geh zur Seite!«

Ich sah überrascht zum Haus, Liam rannte auf uns zu.

Er packte meine Angreifer an den Armen und zog sie zum Rand der Klippe. So sehr sie sich auch wehrten, er war zu stark. Am Abhang angekommen versetzte er ihnen einen heftigen Tritt, sodass sie in die Tiefe stürzten.

»Alles in Ordnung?« Mit schnellen Schritten war er an meiner Seite.

»Ja, alles okay. Was waren das für Typen? Und sind sie …«

»Etwas, was nie richtig gelebt hat, kann auch nicht sterben.«

Als ich ihn fragend ansah, sagte er: »Komm, lass uns reingehen.«

Ich verspürte den starken Drang, zur Klippe zu gehen und mich zu vergewissern, dass die Typen nicht wiederkommen. Doch Liam war schon auf dem Weg zum Haus, also folgte ich ihm. Im Wohnzimmer angekommen, drehte er sich mit ernster Miene in meine Richtung und überlegte. Ich wartete einen Moment, doch als er nichts sagte, bekam ich langsam Angst.

»Würdest du mir bitte sagen, was hier los ist? Wer waren die Männer?«

Er achtete nicht auf meine Frage. »Was haben sie zu dir gesagt?«

Ich starrte ihn an. »Naja, irgendwas von einer Audienz.«

»Mehr nicht?«

»Ihr Anführer heißt Clay. Das wars. Die waren nicht sehr gesprächig.«

Mitten im Raum erschien eine Tür.

»Warte mal, wo willst du hin? Ich will wissen, was hier los ist.«

Liam ging mit großen Schritten durch den Raum. Ich rannte an ihm vorbei und stellte mich vor die Tür.

»Ich muss zu Katrin. Ich komme später wieder. Du bist erstmal in Sicherheit, okay? Vertrau mir bitte.« Er schob mich sanft, aber bestimmt beiseite.

Selbst wenn ich mich dagegen gewehrt hätte, hätte es nichts gebracht. Die Tür verschwand, nachdem er hindurchgegangen war. Warum wollte er jetzt unbedingt zu Katrin? Ich blieb ratlos zurück und begann, mir den Schaden am Haus anzusehen. Sessel und Sofa waren schnell wieder aufgestellt, doch die Wand im Hausflur war beschädigt. Ich stand eine Weile da und starrte auf den langen Riss.

Was zum Teufel sollte ich jetzt machen? Einfach abwarten und Löcher in die Luft starren? Ich konzentrierte mich und versuchte, Liams Energie zu orten, doch es gelang mir nicht. Diese Fähigkeit zu erlernen, setzte ich von nun an ganz oben auf meine Prioritätenliste. Meine Wut auf Lo kam zurück. Hätte er mich nicht hängen lassen, würde ich wahrscheinlich nicht jedes Mal dumm dastehen, wenn etwas geschieht. Es wäre seine Pflicht gewesen, mich besser vorzubereiten.

Ich ließ die Tür zu meiner Trainingszone erscheinen und betrat im nächsten Moment die grüne Wiese. Die Sonne strahlte auf mich hinunter, während zufriedene Vögel durch die Bäume hüpften. Ich setzte mich auf den Boden und atmete erstmal durch. Meine beiden Freunde kamen, obwohl ich sie nicht bewusst gerufen hatte. Ihr Anblick war für mich noch immer gewöhnungsbedürftig. »Ich hab nicht erwartet, dass ihr so anders werdet, wenn ich die Prüfung bestehe.«

Einer der beiden kam näher und senkte den Kopf, damit ich ihn berühren konnte. Es war, als wolle er mir sagen, ich müsse mich nicht fürchten.

»Keine Sorge, wir sind Freunde.«

Der andere schob seinen Kopf unter meine freie Hand.

»Sieht so aus, als wenn eine Menge Arbeit auf uns zukommt. Ich hoffe, Liam ist bald zurück.«

Die beiden ließen ein zustimmendes, tiefes Grummen hören. Wir begannen zu trainieren und ich begriff schnell, dass sie an Stärke gewonnen, jedoch an Schnelligkeit eingebüßt hatten. Ich war mittlerweile perfekt auf das alte Tempo eingespielt, es würde einige Übungsstunden erfordern, uns wieder richtig aufeinander abzustimmen.

Da es in meiner Trainingszone immer hell und sonnig war, wusste ich nicht, wie lange wir schon dort waren. Erst als ich völlig kraftlos und verschwitzt war, machte ich mich auf den Rückweg.

Ich fragte mich, was passieren würde, wenn ich einfach in der Zone bleiben und nie zurückgehen würde. Der Ort war eine große Verlockung, wenn einen sonst nichts weiter als Probleme erwarteten. Wahrscheinlich würde Rah erscheinen, in ihrer weißen Robe und mit dem undurchdringlichen Lächeln auf den Lippen.

Ich ließ mühelos die Tür erscheinen, die mich in das Wohnzimmer des Hauses führte. Dort angekommen lief ich zum Kühlschrank, um mir ein Wasser zu holen.

Während ich die Flasche ansetzte, sah ich, dass eine leere Brottüte auf der Küchentheke lag. Nach dem Aufstehen hatte ich einen Kaffee getrunken, aber nichts gegessen. Sofort schalteten sich alle meine Seelenrettersinne ein. Mit leisen Schritten ging ich ins angrenzende Wohnzimmer. Ich dachte an die Anzugmänner, doch die würden sich wahrscheinlich keine Stulle schmieren, während sie warten. Ich ging am Sofa vorbei und als ich mich umdrehte, stellte ich verblüfft fest, dass ein Junge darauf lag und tief und fest schlief. Ich starrte ihn an, während ich überlegte, wie ich vorgehen soll. Er sah nicht älter aus als sechzehn, fast noch ein Kind. Er musste verdammt fertig sein, wenn er einschlafen konnte, obwohl er in einer fremden Umgebung war. Ein gefährlicher Angreifer sah normalerweise anders aus, aber nachdem die Anzugmänner mir heute schon einen Besuch abgestattet hatten, würde ich kein Risiko eingehen.

Ich baute mich vor ihm auf und rief eines meiner Steintiere. »Hey, wach auf!«

Er drehte sich müde ein wenig hin und her und es dauerte ein paar Sekunden, bis er seine Lage begriff. Er sagte kein Wort, bis er sich endlich aufsetzte und mich musterte. »Du bist Tonja? Irgendwie hab ich was anderes erwartet.«

Ich verschränkte wütend die Arme. »Sag mal, hast du sie noch alle, du Bengel? Was machst du hier? Du sagst mir sofort, wer du bist und wo du wohnst.«

Er rieb sich verlegen den Nacken und starrte auf den Boden. »Ist ja gut, ich entschuldige mich. Mein Name ist Silver und ich bin hier, weil ich deine Hilfe brauche.«

Als ich ihn misstrauisch ansah, fügte er hinzu: »Ich bin ein Seelenretter.«

Seufzend sank ich in den Sessel. Eigentlich hatte ich an seiner Energie schon erkannt, dass er zu uns gehörte, doch dass ein mir unbekannter Seelenretter einfach so hier auftauchte, verhieß nichts Gutes. Ich hatte einfach gehofft, mich zu irren. Ein stinknormaler Einbrecher wäre mir sehr viel lieber gewesen.

»Okay, dann erzähl mir, was los ist.« Ich würde mir seine Geschichte anhören, dann könnte ich immer noch entscheiden, was zu tun ist. Ich hatte ihn noch nie gesehen und auch seinen Namen noch nie von Lo, Liam oder Katrin gehört. Ich würde also vorsichtig und aufmerksam bleiben.

»Ähm, also, es geht um einen Seelenretter, der George heißt.«

Ich nickte kurz.

»Vor ein paar Tagen ist er nach Shadow Park gegangen. Es gibt einen Kerl, der dort im Moment ziemlich viel Ärger macht und der sollte von ihm zurechtgewiesen werden. Das Problem ist, dass George verschwunden ist, er kam einfach nicht zurück.«

»Schön und gut, aber Katrin und Liam haben die Sache bestimmt im Griff. Warum redest du nicht mit den beiden?«

Er überlegte kurz und biss nervös auf seine Unterlippe.

Ich rückte ungeduldig nach vorn. »Der Typ, der Ärger macht, heißt nicht zufällig Clay?«

Er nickte. Ich hatte es mir gedacht. Seine Handlanger waren durch Katrins Schutzschild gekommen, also musste er wirklich stark sein.

»Du bist ihm begegnet?«

»Nur seinen Männern. Was sind das für Dinger?«

»Er befehligt seine Tonsoldaten. Er fertigt die Körper aus Schlamm, Erde und Sand an und füllt sie mit Seelen.«

»Mit Seelen?«

»Ja, das Beherrschen von Schlamm und Lehm ist seine Gabe. Er zerstört den Körper seines Opfers, setzt die Seele in den Tonkrieger ein und hält sie darin fest. So hat er sich mittlerweile eine Armee aufgestellt.«

Ich erhob mich. »Okay, wir suchen Katrin und Liam und fragen sie, was wir tun können. Wo ist Silvia? Mir wurde gesagt, dass sie und George ein Team seien.«

Silver sah wieder aus, als fühle er sich äußerst unwohl in seiner Haut. »Man hat uns verboten herzukommen. Sie weiß nicht, dass ich hier bin, sonst hätte sie drauf bestanden mitzukommen. Ich will aber nicht, dass sie Ärger bekommt.«

Der Junge hatte eine offensichtliche Schwäche für die taffe Seelenretterin. Ich begann, ihn sympathisch zu finden.

»Darf ich auch erfahren, wer euch das verbietet und warum?«

Er schwieg und meine Geduld neigte sich dem Ende zu. »Herrgott nochmal, jetzt ist es eh zu spät, um es sich anders zu überlegen. Sag mir einfach alles und ich werde dir helfen.«

»Ehrlich?« Seine Augen funkelten mich hoffnungsvoll an. Scheinbar hatte er nicht damit gerechnet, dass ich hilfsbereit sein würde. Ich fragte mich, ob es Gerüchte über mich gab, von denen ich wissen sollte.

»Ich verspreche es. Also?«

»Die Nachricht, dass Agnetha wieder da ist, hat sich inzwischen nicht nur unter den Seelenrettern, sondern auch in Shadow Park verbreitet. Clay war auf der Suche nach ihr, aber im Moment ist sie unauffindbar. Er glaubt, er könnte sie überreden, sich mit ihm zu verbünden und gegen uns zu kämpfen. Leider hat sich auch herumgesprochen, dass du Agnethas Wiedergeburt bist.«

Er machte eine kurze Pause und atmete tief ein. »Was du nicht erfahren solltest ist, dass viele Bewohner Shadow Parks es auf dich abgesehen haben. Du sollst aus allem rausgehalten werden, zu deiner Sicherheit.«

Meine Hände krallten sich in die Sessellehnen. Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen. Dass dieser Verrückte sich auflehnte, war also mir zu verdanken? Und dass einige Bewohner Shadow Parks mich wollten, konnte nur eines bedeuten – sie hatten mich als Agnethas Schwachpunkt erkannt. Würden sie mich in die Finger bekommen, hätten sie ein Druckmittel. Wenn sie lebte, lebte ich und andersherum genauso. Wir waren verbunden, im Leben, wie im Tod. So ein verdammter Mist! Es ging hierbei nicht allein um meine Sicherheit, sondern um alle Seelenretter.

»Ist alles okay? Du bist total blass.«

Ich hatte den Jungen fast vergessen. »Weißt du, wo Katrin und Liam im Moment sind? Wir müssen sofort zu ihnen.«

»Das weiß ich schon, aber das wird uns nicht weiterhelfen.« Er zuckte ein wenig zusammen, als ich ihn fixierte.

»Was soll das wieder heißen? Lass dir bitte nicht alles aus der Nase ziehen, ich bin ein wenig angespannt, okay?«

Er hob die Hände, als wolle er mich abwehren. »Okay, okay, die beiden sind bei der Mauer und versuchen Clay aufzuhalten.«

»Und das sagst du erst jetzt? Wir müssen ihnen helfen, und zwar sofort.«

Er erkannte, dass ich keine Widerrede dulden würde, denn er sprang auf wie ein Klappmesser und trottete auf mich zu – kluger Junge. Ich hatte vorher noch nie eine Tür nach Shadow Park erscheinen lassen und war mir nicht sicher, ob es funktionieren würde. Ich konzentrierte meine Energie und schon stand sie mitten im Raum, worüber ich wirklich erleichtert war. Ich wollte mich schließlich nicht vor dem Jungen blamieren, der sowieso schon kein Vertrauen in meine Fähigkeiten hatte.

»Du bleibst hinter mir und hältst dich zurück, falls was passiert. Nachher bin ich noch dafür verantwortlich, dass einer unserer Azubis getötet wurde. Das kann ich im Moment wirklich nicht gebrauchen.«

Sein Gesicht nahm einen beleidigten Ausdruck an. »Das ist ja wohl ein Scherz. Abgesehen davon, bin ich ein vollausgebildeter Seelenretter. Es ist Jahrzehnte her, dass ich die Prüfung bestanden hab.«

Die Situation war unangenehm. Aufgrund seines Alters hatte ich ihn nicht so erfahren eingeschätzt. Noch etwas, was ich unbedingt noch lernen sollte – die Menschen nicht nach dem Äußeren beurteilen. So ein Fehler könnte mich bei der falschen Person das Leben kosten. Meine Gedanken erschienen mir selbst langsam paranoid, aber Vorsicht war schon immer besser als Nachsicht.

»Entschuldige, du bist noch so jung. Was hast du eigentlich für eine Gabe?«

Er ging ein paar Schritte zurück. »Ich war jung, als ich starb.« Er kniete sich hin und legte eine Hand auf den Boden. Eine helle, glitzernde Spur breitete sich aus. Zuerst dachte ich, es wäre Eis, doch es gab niemals dieselbe Kraft zweimal und ich kannte ja das Eismädchen.

»Ich werd nicht umsonst Silver genannt.«

Das ganze Zimmer glänzte mittlerweile.

»Du kannst alles in Silber verwandeln, das ist ja der Wahnsinn.«

Langsam bekamen Zimmer und Möbel die Farben zurück, seine Hand sog alles wieder ein.

»Und wenn du jemanden darin einschließt, stirbt er dann?«

»Wenn es kurz ist nicht.« Als er fertig war, erhob er sich wieder.

»Ich nehme an, meine Kräfte muss ich dir nicht zeigen. Sieht so aus, als wüssten alle über mich Bescheid.«

Er zuckte die Schultern, ging zur Tür und öffnete sie, ohne ein weiteres Wort zu verlieren.

Ich folgte ihm und stand im nächsten Moment in einem stürmischen Regenschauer. Silver ergriff meine Hand und zog mich mit sich.

Wir liefen eine ganze Weile gegen den prasselnden Regen an, der sich auf der Haut anfühlte, wie spitze Nadeln. Nach meinem Aufenthalt in der Endloswelt war ich gegen jegliche Wetterkapriolen zum Glück abgehärtet. Silver hingegen wurde langsamer, sodass ich die Führung übernahm und ihn hinter mir herschliff, wie eine Puppe. Endlich stieß ich mit dem Fuß gegen die Mauer Shadow Parks. Der Sturm verzog sich sofort, als hätte ich mit der Berührung einen Schalter betätigt.

Der Junge stand hinter mir und schnappte keuchend nach Luft. Er entzog mir seine Hand, während seine Wangen einen leicht rötlichen Ton annahmen. »Ich wollte dich nur nicht verlieren, deshalb hab ich deine Hand genommen.«

Ich musste lächeln. »Schade, dabei hab ich mir wirklich Hoffnungen gemacht.«

Er schnappte hörbar nach Luft, sein Gesicht färbte sich jedoch dunkelrot, als er endlich begriff, dass ich nur einen Witz gemacht hatte.

»Weißt du, was das für eine Energie ist?« Ich zeigte auf den wabernden Streifen, der vor der Mauer zu sehen war und nach links und rechts weiterlief.

»Komm mit.«

Ich folgte ihm. Der Energiestreifen endete nicht, vermutlich umrahmte er die gesamte Stadt. Nach einer Weile schlugen meine Seelenrettersinne Alarm.

»Wir sind gleich da.«

Nach wenigen Sekunden sah ich, was er gemeint hatte. Ein Energieball schwebte in der Luft und in ihm erkannte ich Katrin. »Was ist das? Was macht sie?«

Er wollte weitergehen, doch ich hielt ihn am Ellenbogen fest. Diese geballte Kraft war verdammt stark und vielleicht sogar für uns gefährlich. Katrins Augen waren geschlossen und ich war mir nicht sicher, ob sie sich nur konzentrierte oder schlief.

»Sie erhält den Schutz um die Mauer, mit all der Kraft, die sie aufbringen kann. Liam beschützt sie.«

Ich hatte ihn noch gar nicht bemerkt. Auch er war von seiner gesammelten Energie umgeben, die auf Katrin zufloss und sie ebenfalls umhüllte.

»So stark ist dieser Clay? Sie müssen ihn beide abwehren?«

Silver sah traurig aus. »Ja, das ist er. George besitzt die Feuergabe, etwas, was seine Tonsoldaten leicht zerstören kann, doch er hat es auch nicht geschafft ihn zu stoppen. George ist nicht zurückgekommen, vielleicht ist seine Seele jetzt auch in einem dieser Tondinger eingesperrt.«

Der Gedanke, dass dieser kräftige Seelenretter ein Gefangener ist, war absurd. Doch diese Vermutung war immer noch besser, als seinen Tod zu prophezeien.

»Warum versammeln sich die anderen Seelenretter nicht? Und was ist mit Rah? Das kann sie nicht ignorieren.«

Silver hob wortlos den Arm und zeigte in die Ferne. Ich musste mich konzentrieren, erfasste dann jedoch jede Menge andere Energien.

»Viele unserer Mitstreiter haben sich um die Mauer herum postiert und helfen, sie zu schützen. Der Rest von uns, der noch übrig ist, muss in der Menschenwelt bleiben, um dort für Ordnung zu sorgen und das Gleichgewicht zu wahren.«

Diese Information machte mich fassungslos. »Du willst mir jetzt nicht wirklich sagen, dass wir so ziemlich die Einzigen sind, die in der Sache noch etwas unternehmen können?«

Am liebsten hätte ich dem Wutanfall, der mich langsam überkam, nachgegeben und ihn angeschrien. Die Lage war so verdammt ernst und keiner hatte mich darüber informiert.

»Ihr seid nicht die Einzigen. Wenn ihr was unternehmt, bin ich dabei.«

Ich kannte diese Stimme. Silver sah auf einmal glücklich aus, wie der Hund, dem man einen Knochen vor die Nase hält.

»Silvia, da bist du ja. Ich hab schon befürchtet, dass du allein losgezogen bist.« Er rannte ihr entgegen. Der Junge war wirklich ein offenes Buch.

Sie grinste ihn cool an und ließ sich kurz umarmen. Danach fixierte sie mich, mit grimmigem Gesichtsausdruck. »Ich heiße Silvia und Clay hält meinen Mentor gefangen, da bin ich mir sicher. Wäre Silver nicht zu dir gegangen, hätte ich es früher oder später getan – Verbot hin oder her.«

Es war seltsam, dass sie mich nicht erkannte, doch Rio hatte ganze Arbeit geleistet, als er ihr Gedächtnis löschte, um mich zu schützen.

Ich nickte langsam. Dass ihr Mentor ihr sehr wichtig war, wusste ich. Mit einem kurzen Gedanken ließ ich eine Tür erscheinen.

»Wo willst du hin?«, rief sie panisch.

Ich lief in Richtung Tür, bis sie an meinem Arm zog. »Wir müssen irgendwie in die Stadt kommen. Aber die Energien der Seelenretter lassen niemanden raus oder rein. Wir brauchen deine Kräfte, Tonja.«

Ich stoppte. Wieder spürte ich die Wut. »Und du hast dir gedacht, ich müsste das schaffen, weil ich Agnetha bin? Ich fürchte, ich muss dich enttäuschen. Ich bin ich und niemand sonst.« Ich konnte nicht verhindern, dass meine Worte laut und grob durch die Luft hallten.

Sie sah mich ungerührt an. »Du bist nicht sie, aber du hast einen Teil ihrer Kraft bekommen, als ihr euch getrennt habt. Außerdem weiß ich, dass wir uns auf dich verlassen können.«

Ich schloss einen Moment die Augen und versuchte, mich zu beruhigen. Silvia wollte George retten und es war nur logisch, dass sie meine Hilfe wollte, wenn diese Gerüchte kursierten.

»Hör mal, ich hab jetzt etwas mehr Power, weil ich die Prüfung bestanden hab. Agnethas Kräfte werden mithilfe eines Banngeistes zurückgehalten, weil sie mich sonst zerstören. Ich kann sie nicht kontrollieren.«

Silvia kniff die Augen zusammen, ihr Kiefer war angespannt. »Falsch, du willst es nicht. Aber wenn du es zulässt, wird es gehen.«

Ich starrte sie an. Dann drehte ich mich wieder zur Tür. »Ich werde mich mit Rah treffen, sie muss etwas unternehmen. Mit zwei Kindern nach Shadow Park zu gehen ist Selbstmord, und zwar für uns alle. Ich kann nicht euer Leben aufs Spiel setzen.«

Ich spürte sie dicht hinter mir. »Du meinst, du willst nicht DEIN Leben für UNS aufs Spiel setzen. Rah kann dir nicht helfen, verdammte Scheiße! Das Weiße Gericht beobachtet und fällt Entscheidungen. Hast du dich nie gefragt, warum von ihnen niemand im großen Krieg gekämpft hat? Weil sie es nicht können. Zu kämpfen und sich einzumischen ist ihnen streng verboten. Sie sind Beobachter, Prüfer, Richter, mehr nicht.«

Ich konnte das nicht begreifen. Jedes Mal, wenn ich Rah getroffen hatte, strahlte mir ihre große Macht geradezu entgegen. Und sie durfte diese Energie nicht verwenden?

Silvia kam wieder zu Atem, sie hatte mir jedes Wort ins Ohr gebrüllt, so laut sie konnte.

Silver trat an ihre Seite. Er hatte es bis jetzt nicht gewagt, sich einzumischen. »Rah hat die Seelenretter vor die Mauer gerufen. Aber mehr ist ihr nicht möglich. Wahrscheinlich hofft sie, dass Clay aufgibt, wenn er nichts erreicht. Aber seine Macht wird immer größer. Du kannst es spüren, wenn du dich darauf konzentrierst.«

Ich tat es, streckte meine Sinne aus, tastete umher, bis ich an etwas Dunkles, Pulsierendes stieß. Diese Kraft strahlte tatsächlich kein Halten aus. Immer wieder prallte sie wie eine gewaltige Welle von innen gegen die Mauer.

»Du hast recht. Er wird nicht nachgeben.«

Silvia sah mich hoffnungsvoll an. »Dann hilfst du uns?«

Ich lief näher an die Mauer und blieb dicht davor stehen. Was hatte ich für eine Wahl? Ich musste etwas unternehmen.

»Ihr bleibt hier, ich geh allein.«

Sofort protestierten die beiden.

»Keine Widerrede! Ich kann euch nicht beschützen.«

»Vergiss es. Ich muss George finden, also komm ich mit. Du wirst uns brauchen, Tonja.«

Da ich keine Lust hatte weiter zu diskutieren, zuckte ich schließlich die Schultern. »Wir bleiben aber dicht zusammen. Keine Alleingänge.«

Die beiden sahen mich erwartungsvoll an.

Ich räusperte mich und stemmte die Hände in die Hüfte. »Lasst mich einen Moment überlegen. Wir müssen eigentlich nur die Energieverbindung für einen Moment kappen, um durchzukommen. Am schnellsten wären wir, wenn wir mit Katrin reden könnten und sie uns durchlassen würde.«

»Keine Chance, sie ist in einer Art Trance.« Silvia trommelte ungeduldig mit den Fingern gegen ihr Bein. »Ich habs dir schon erklärt. Du musst deine Kräfte einsetzen, damit wir reinkommen.«

Ich setzte mich im Schneidersitz auf den Boden, um nachzudenken und nicht nervös hin und her zu tigern. Ich sollte Agnethas Macht benutzen, doch wie? »Ich weiß ehrlich gesagt nicht genau, was ich tun muss und es wäre schön, wenn ihr mich nicht so anstarren würdet.«

Die beiden wechselten einen kurzen Blick und setzten sich dann auch auf den Boden. Ich tat das Einzige, was Lo mir jemals wirklich eingebläut hatte – ich konzentrierte meine Energie. Mein Banngeist war das Geschöpf, das die schier unendliche Kraft zurückdrängte, also versuchte ich, mit ihm Kontakt aufzunehmen. Ich war diesem Wesen schon einmal begegnet, also musste es auch ein zweites Mal möglich sein. Ich saß schon eine ganze Weile so da und war dem Schlaf näher als dem Wachzustand, als mein Rücken plötzlich schmerzte. Dort wo Ink mich tätowiert hatte, breitete sich ein unangenehm brennendes Gefühl aus. Ich spürte jeden Millimeter der Farbe auf meiner Haut und es wurde immer schlimmer. Ich versuchte, mich weiterhin zu konzentrieren. Der Schmerz durchfuhr meinen ganzen Körper wie ein Blitzschlag. Ich hörte verschwommen, wie Silvia und Silver meinen Namen riefen, dann wurde alles dunkel.

3

Meine Kehle fühlte sich trocken an, als hätte ich endlos geschrien. Ich lag ausgebreitet auf dem Boden und starrte in den blauen Himmel. Sich aufzusetzen erforderte Anstrengung, denn mein Körper fühlte sich seltsam fremd an. Es dauerte einen Augenblick, bis das, was meine Augen sahen, in mein Gehirn vordrang. Ich stand vor dem Haus, das einmal mir gehört hatte. Es fühlte sich an, als wäre ich nie weg gewesen. Gleich würde Jim die Haustür öffnen und mich mit einem Lächeln empfangen. Vielleicht wäre auch Helen da. Doch sie würden mich nicht erkennen. Nicht mein Inneres und nicht mein Äußeres. Dafür hatte ich mich zu sehr verändert. Die anfängliche Euphorie verschwand und wich dem unbehaglichen Gefühl des Verlusts.

Ich lief die Straße hoch, um von diesem Ort wegzukommen. Erst als ich am nächsten Haus vorbeikam, begriff ich, dass auch dieses aussah wie mein Zuhause. Es gab keine Möglichkeit zu entkommen. Jetzt hatte ich wenigstens die Gewissheit, dass ich in der Welt des Banngeistes war, denn mit der Wirklichkeit hatte das nichts mehr zu tun. Und es erklärte auch, warum keine Menschenseele zu Fuß oder in einem Auto zu sehen war. Doch wo könnte ich ihn finden? Sollte das hier wieder eine Prüfung werden?