Shadow Tales - Die dunkle Seite der Sonne - Isabell May - E-Book

Shadow Tales - Die dunkle Seite der Sonne E-Book

Isabell May

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Beschreibung

Lelani hat es geschafft. Sie konnte ihre Mutter aus dem Gefängnis befreien und zurück in die Tiefen des Gitterwalds fliehen. Nichts ist mehr wie es vorher war. Wieso hat es die Herrscherin von Vael auf Lelani und ihre Mutter abgesehen? Und für wen schlägt Lelanis Herz nun wirklich? Antworten hofft sie bei den Schattenwandlern auf Kuraigan zu finden. Als wäre das nicht schon genug, scheinen sich ihre Mond- und Sonnenmagie immer weiter zu entfachen und drohen, sie von innen heraus zu zerstören ...

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Inhalt

Cover

Über das Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Widmung

Prolog

ERSTER TEIL

Kapitel 1 Pläne

Kapitel 2 Etwas in mir

Kapitel 3 Fünf Lords

Kapitel 4

Kapitel 5 Lorell

Kapitel 6 Klippenriff

Kapitel 7 Das Spiel

Kapitel 8 Von Trugbildern und goldenen Schwalben

ZWEITER TEIL

Kapitel 9 Die Spinne

Kapitel 10 In der Tiefe

Kapitel 11 Gelbe Augen

Kapitel 12 Kein Oben und kein Unten

Kapitel 13 Yamoro

Kapitel 14 Schleichendes Gift

Kapitel 15 Goldjunge

Kapitel 16 Die einzige Hoffnung

Kapitel 17

Kapitel 18 Schatten

Kapitel 19 Schauerbilder

Kapitel 20 Säulen aus Stein

Kapitel 21 Schuld

DRITTER TEIL

Kapitel 22 Ruß und Asche

Kapitel 23 Licht und Schatten

Kapitel 24 Rabenhaar und Silberglanz

Kapitel 25 Königinnen

Kapitel 26 Die schwarze Sonne

Kapitel 27

Kapitel 28 Verrat

Kapitel 29 Das Flüstern der Monde

Danksagung

Über das Buch

LELANI HAT ES GESCHAFFT. Sie konnte ihre Mutter aus dem Gefängnis befreien und zurück in die Tiefen des Gitterwalds fliehen. Nichts ist mehr wie es vorher war. Wieso hat es die Herrscherin von Vael auf Lelani und ihre Mutter abgesehen? Und für wen schlägt Lelanis Herz nun wirklich? Antworten hofft sie bei den Schattenwandlern auf Kuraigan zu finden. Als wäre das nicht schon genug, scheinen sich ihre Mond- und Sonnenmagie immer weiter zu entfachen und drohen, sie von innen heraus zu zerstören ...

Über die Autorin

Isabell May, geboren 1985 in Österreich, studierte Germanistik, Bibliothekswesen und einige Semester Journalismus und PR. Es vergeht kein Tag, an dem sie nicht schreibt: Schon als Kind hat sie begonnen, Kurzgeschichten und ganze Romane zu schreiben. Die SHADOW TALES-Dilogie ist ihr Fantasydebüt bei ONE. Die Autorin lebt in der Nähe von Aachen.

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Annika Grave

Kartenillustrationen: © Markus Weber, Guter Punkt München

Covergestaltung: Sandra Taufer, München

Einbandmotiv: © Pavel Chagochkin / shutterstock; faestock / shutterstock; stifos / shutterstock; Francois Loubser / shutterstock; Suzanne Tucker / shutterstock; Vangelis_Vassalakis / shutterstock; HS_PHOTOGRAPHY / shutterstock; IgorZh / shutterstock; Fiore / shutterstock; Fiore / shutterstock; Zacarias Pereira da Mata / shutterstock; Ersler Dmitry / shutterstock

eBook-Erstellung: 3w+p, Rimpar (www.3wplusp.de)

ISBN 978-3-7325-9476-4

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Für dich. Mögen die fünf Monde Vaels für dich scheinen!

Prolog   

Nur eine Minute trennte meine Schwester und mich voneinander. Eine Minute, die unsere Schicksale in völlig unterschiedliche Bahnen lenkte. Die mich zur Herrscherin über ein ganzes Königreich machte und sie zur ewig Zweiten.

Denke ich an sie, höre ich das Rauschen des Ozeans, der unermüdlich gegen das Schloss auf den Klippen ankämpft, als hätte er vor, es eines Tages zu stürzen und sich einzuverleiben. Das Skallardmeer ist so wild wie Serpias Herz, so zerstörerisch wie ihr Ehrgeiz und so gewaltsam wie ihre Liebe.

Das Licht der fünf Monde fließt durch unsere Adern, und jeder weiß, was das bewirkt: Seine kühle Ruhe geht auf jenen über, der es nutzt. Doch keine Magie auf der Welt konnte Serpia zähmen, denn sie kämpfte ihr Leben lang dagegen an. Manchmal tat sie mir leid: so zerrissen zwischen ihrer eigenen Leidenschaft und der mildernden Ruhe der Monde. Das Mondlicht war ein Teil von ihr, entsprach jedoch nicht ihrer Natur, und so schwankte sie haltlos zwischen diesen beiden Polen.

Ich empfand Mitleid für sie.

Sie beneidete mich.

Doch erst an dem Tag, an dem ich den Thron bestieg, begriff ich, wie tief ihre Verachtung für mich saß.

Es sollte ein großer Tag sein, der bedeutsamste meines Lebens. Voll Stolz setzte Vater das Diadem auf meinen Kopf und erklärte mich zu seiner Nachfolgerin. Ich sei bereit, sagte er, und er würde sich in sein ruhiges Landschloss zurückziehen. Die Mondlords beugten ihre Häupter, und der Applaus des Volks, das sich vor dem Schloss versammelt hatte, übertönte für einen Moment sogar das Tosen des Skallardmeeres. Der Tradition entsprechend wurde ich in weiße Seide und filigranes Silber gehüllt und tauchte in ein von den Monden beschienenes Wasserbecken ein. Als ich auftauchte, spürte ich, dass ich nicht mehr dieselbe war: Ich war Herrscherin über ein ganzes Land, schwer lastete die Verantwortung auf meinen Schultern.

Doch während der gesamten Zeremonie spürte ich Serpias Blick, der mich durchbohren und zerfleischen wollte. Sie wollte an meiner Stelle sein, wollte es besser machen als ich. Die Frage, wie mit Sonnenmagiern zu verfahren sei, entzweite nicht nur das Volk, sondern schließlich auch zwei Schwestern. Zu sanft sei ich, zu lasch im Umgang mit der Gefahr, warf Serpia mir vor. Während ich danach trachtete, Mond- und Sonnenmagier in Einklang leben zu lassen, schwebte ihr eine drastischere Maßnahme vor: das landesweite Verbot der gefährlichen Sonnenmagie und die gnadenlose Verfolgung jener, die mit dieser Gabe geboren wurden.

War es naiv von mir, davon zu träumen, Serpia und ich würden eines Tages zueinanderfinden? Es ist ironisch, dass ich es war, die schlussendlich jede Aussicht auf Versöhnung zunichtemachte und meine Schwester und mich ein für alle Mal entzweite. Der Bruch war nicht zu kitten, mein Verrat an ihr unverzeihlich.

Die Wahrsagerin, die ich zu meinem Vergnügen ins Schloss rufen ließ, sah es voraus – ein mageres Weiblein mit blinden weißen Augen, die sie zu den Monden erhob, während ihre Lippen unentwegt Wortfetzen murmelten. Die Liebe würde mein Verhängnis sein, prophezeite sie. Mit meinen Freundinnen lachte ich über ihre Worte, allzu abgedroschen und platt erschien uns die Weissagung.

Aber der Abend, an dem Lord Rowan Dalon das Schloss erreichte, besiegelte mein Schicksal. Er hatte die Nachfolge seines Vaters als Mondlord angetreten und war zum ersten Mal aus der Provinz Dalon angereist, um an einer Besprechung teilzunehmen. Nie zuvor hatte ich ihn gesehen, doch Serpia kannte ihn, denn er war dazu bestimmt, ihr Gemahl zu werden. Mein Vater hatte noch zu Zeiten seiner Regentschaft diese Heirat in die Wege geleitet. Seine Erstgeborene sollte auf dem Thron sitzen, die Zweitgeborene mit einem der fünf mächtigsten Lords verheiratet werden. Ich hätte erwartet, dass sich Serpia dagegen auflehnte, doch dieses eine Mal fügte sie sich klaglos ihrem Schicksal, und als ich Rowan nun zum ersten Mal sah, verstand ich auch den Grund.

Er hatte eine Ausstrahlung, der man sich nicht entziehen konnte. Sein Blick fing meinen ein, tanzte mit ihm und ließ ihn für den restlichen Abend nicht mehr los. Vom ersten Moment an zog es uns zueinander hin. Wie gern hätte ich mir eingeredet, ich hätte keine Wahl gehabt, hätte mich gar nicht gegen den Sog wehren können! Doch die Wahrheit sah anders aus. Man hatte immer eine Wahl, und ich traf die meine.

Später fing er mich im Säulengang des Schlosses ab. Wir spazierten durch die mondbeschienenen Säulengänge, blickten auf die Stadt hinab, sprachen über die politische Lage des Landes und meine Haltung zur Sonnenmagie, die er unterstützte. Doch jedes Wort war nur dazu da, uns einander näherzubringen. Jeder Blick war eine Versuchung, jede Geste ein heimliches Signal.

Er brannte für mich, daraus machte er kein Geheimnis, und – bei allen fünf Monden, wie sehr ich auch für ihn brannte! Ich hätte meine Gefühle bezwingen müssen, meinen Verstand über meine Emotionen stellen sollen. Wie es sich für eine gute Herrscherin ziemte, hätte ich das Wohl aller anderen über mein eigenes stellen müssen. Doch nie zuvor wollte ich etwas so sehr wie ihn, und so schlug ich alle Bedenken in den Wind.

Es ist so viele Jahre her, aber wenn ich heute die Augen schließe, sehe ich ihn noch so deutlich vor mir, als stünde er leibhaftig dort, und ich müsste nur die Hand ausstrecken, um ihn zu berühren: seine hellen Augen, sein bernsteinfarbenes Haar, dieses unbeschwerte Lächeln, das mich jedes Mal mitten ins Herz traf. Jede Minute ohne ihn zog sich endlos in die Länge, und sobald wir einen Moment für uns hatten, warf ich mich in seine Arme, als sei er das einzig Wahrhafte in einer Welt aus bedeutungslosen Illusionen. Die Liebe erschütterte meine Seele in ihren Grundfesten und raubte mir meine sonst so feste Besonnenheit.

Heimlich, wie Verbrecher, trafen wir uns in meinem eigenen Schloss. Gestohlene Augenblicke, jeder von ihnen kostbar wie Gold. Die Verbindung zwischen ihm und meiner Schwester war rein politischer Natur, erzählte er mir. Eine reine Zweckehe, arrangiert von taktierenden Vätern. Doch für Serpia war das anders. Ihr Herz schlug tatsächlich für ihn.

Ich wusste es. Und nicht einmal dieses Wissen hielt mich von Rowan fern. Wir hielten unsere Liebschaft geheim, doch während er auf offiziellen Anlässen an Serpias Seite saß, war sein Blick auf mich gerichtet – ich spürte ihn auf meiner Haut wie eine Liebkosung.

Er hatte ein Geheimnis, das er vor der ganzen Welt bewahrte, sogar vor seiner Verlobten, denn es hätte ihn seine politische Machtposition, seine Heimat, sein Leben gekostet. Doch mir vertraute er es an: In ihm lebte die Kraft der Sonnenmagie. Es gab kein verhängnisvolleres Talent als jenes, in einem Land wie unserem, in dem die Position der Sonnenmagier auf brüchigen, wackeligen Beinen stand und immer wieder Stimmen laut wurden, die nach ihrer Vertreibung verlangten.

Mehr denn je bemühte ich mich darum, das Volk davon zu überzeugen, dass ein friedvolles Miteinander möglich sei. Als High Lady konnte ich Gesetze erlassen, doch ich war keine Diktatorin, die über Leichen ging, um ihre Vorstellungen durchzusetzen. Meine politischen Gegner waren zahlreich: Drei der fünf Mondlords sprachen sich mehr oder minder offen gegen meine liberale Position aus, ganz zu schweigen von meiner eigenen Schwester, die in diesen Fragen meine erbittertste Gegnerin war. Ich wollte sanft und diplomatisch vorgehen und die Sonnenmagier und damit Rowan schützen, ohne das halbe Königreich gegen mich aufzubringen. Aber von dem Zeitpunkt an, da ich um Rowans Geheimnis wusste, setzte ich mich mit aller Macht dafür ein, dass Sonnen- neben Mondmagie geduldet wurde.

Es zog mich zu ihm hin, als sei er einer der Monde und ich das Meer, das den Gezeiten unterworfen war und sich seiner Macht nicht widersetzen konnte. Ich hätte geglaubt, ich könnte nichts und niemanden mehr lieben als ihn. Doch als ich das neue Leben in mir heranwachsen spürte, quoll mein Herz förmlich über. Nie hatte ich eine solche Liebe empfunden und zugleich niemals eine solche Angst. Denn jedermann weiß, dass sich die Gabe zur Magie vererbt. Mondmagierinnen ließen sich selten mit Sonnenmagiern ein, doch in unserem Fall hätte unser ungeborenes Kind beide Veranlagungen in sich tragen können. Was, wenn mein Baby nicht mit dem sanften Licht der Monde, sondern dem hellen Strahlen der Sonne geboren wurde? Ich musste es schützen, musste ihm den Weg bereiten, indem ich für die Gleichstellung der Sonnenmagier sorgte, wenngleich das bedeutete, dass die Unzufriedenheit wuchs und selbst unter meinen engsten Anhängern kritische Stimmen laut wurden. Mein Baby sollte niemals unter seinem Erbe zu leiden haben.

Bisher war es Rowan und mir gelungen, unser Geheimnis zu wahren. Doch die wachsende Rundung meines Bauchs ließ sich bald nicht mehr verbergen. Es dauerte nicht lange, bis Serpia ahnte, was sich hinter ihrem Rücken abgespielt hatte.

Rowan war es schließlich, der ihr reinen Wein einschenkte. Er konnte nicht länger damit leben – mit der Heimlichtuerei, den Lügen, dem Versteckspiel. Er war wohl aufrichtiger als ich und hat ihr alles gebeichtet: unsere Beziehung, meine Schwangerschaft und sogar, dass er sonnenmagische Kräfte besaß.

Ich wusste nicht, welche Erkenntnis sie mehr schockierte: dass ihr Verlobter einer jener Begabten war, gegen die sie so leidenschaftlich ankämpfte, oder dass er eine Affäre mit ihrer eigenen Schwester angefangen hatte. Doch ihr Zorn loderte wie eine vernichtende, verzehrende Flamme. Und ich hatte ihn verdient.

Nie lagen für mich Glück und Angst näher beisammen als in jenen Tagen, als ich Rowan an meiner Seite und unser Baby in meinen Armen hatte. Ein Teil von mir wusste, dass Serpia erst ruhen würde, wenn ihr brennender Hass gelöscht wurde. Sie dürstete nach Rache. Doch nicht einmal ich, die sie so gut kannte, ahnte, wie weit sie dafür gehen würde.

Als der Attentäter in meinen Gemächern auftauchte, hatte ich keinen Zweifel daran, wer ihn geschickt hatte. Und ebenso war mir klar, dass nur jemand von herausragendem Talent bis in die Privaträume der Regentin vordringen konnte: ein Schattengänger. Ich wusste, mein Schicksal war besiegelt, ebenso wie das meiner großen Liebe. Einzig und allein für das Baby wagte ich zu hoffen.

Rowan kämpfte tapfer, er stellte sich schützend vor uns, doch niemand hatte je einen Schattengänger aus Kuraigan besiegt. Er schleuderte dem Meuchelmörder die geballte Macht der Sonnenmagie entgegen. Jetzt noch spüre ich die Hitze auf meiner Haut, wenn ich daran denke, und sehe das gleißende, blendende Licht. Ich sehe die Flammen, die mit gierigen Fingern nach Teppichen, Vorhängen und Möbeln griffen und sich rasant ausbreiteten. Doch dem Schattengänger konnte das Feuer nichts anhaben, es war aussichtslos.

Als Rowan starb, starb auch ein Teil von mir. Einen Moment lang war es eine so entsetzlich verführerische Vorstellung, mich in die Flammen zu werfen, die mein Liebster unserem Feind entgegengeschleudert hatte und die nun in den Gemächern wüteten. Doch ich durfte nicht aufgeben, mein Baby brauchte mich. Meine flehenden Worte erweichten das Herz des Assassinen, und er versprach, meine kleine Tochter zu verschonen.

Felsenfest rechnete ich damit, dass auch ich sterben musste. Doch Serpia hatte für mich wohl anderes im Sinn. Ihr Rachedurst verlangte nach mehr, so viel mehr: nach endlosem Leid.

Die Ketten aus Schwarzsilber, die sie mir anlegte, verkohlten meine Haut und bannten meine magischen Kräfte. Der Turm, in den sie mich sperrte, hatte keine Fenster. Ohne das Mondlicht verkümmerte die Magie in meinem Inneren, und es fühlte sich an, als welkte ein Teil von mir dahin. Diesen Funken in mir sterben zu spüren war schmerzhafter als alle Qualen, die mir das Schwarzsilber je zufügen könnte. Sie war noch da, und ich fühlte sie stetig – doch sie war schwach und beinahe ganz zerstört.

In dieser entsetzlichen Einsamkeit, umgeben von tiefster Dunkelheit und dem Rauschen des Meeres, hatte ich viel zu viel Zeit, um nachzudenken: Über die Dinge, die ich verloren hatte. Über den Verlust meines Liebsten. Über mein Baby, von dem ich keine Ahnung hatte, wo es war und wie es ihm ging. Über meine Schwester und mich. Immer wieder über Serpia und mich.

Ein Teil von mir weigerte sich zu glauben, dass sie zu solchen Dingen fähig war. Ja, sie war seit jeher aufbrausend und wild, doch dass sie den Mann ermorden ließ, den auch sie liebte, überstieg mein Vorstellungsvermögen. Und was für ein Mensch ließ den Mord an einem unschuldigen Baby befehlen? In meinem Inneren breitete sich eine schreckliche Kälte aus, wann immer ich an sie dachte. Ich wusste jetzt, dass ich von ihr keine Gnade zu erwarten hatte. Wie viele Jahre auch verstrichen, ihr Hass auf mich würde niemals vergehen.

Unzählige Male habe ich den Tod herbeigesehnt, damit er meine Erinnerungen auslöscht und meinen Schmerzen ein Ende setzt. Doch Serpia achtete peinlich genau darauf, mich am Leben zu erhalten. Für immer sollte ich in ihrer Gewalt bleiben und leiden müssen.

Diener brachten mir Essen und Wasser, wuschen mich, sorgten dafür, dass ich nicht starb. Doch immer wieder sah Serpia persönlich nach mir. Nicht etwa aus Sorge, natürlich nicht, sondern weil sie es über alle Maßen genoss, mich so zu sehen.

Voll Hohn erzählte sie mir, was sich in Vael getan hatte. Es war ihr gelungen, dem gesamten Königreich eine Lüge aufzutischen: Die Sonnenmagie habe Rowan den Verstand vernebelt und ihn unberechenbar und jähzornig gemacht. Er habe die Kontrolle über sich selbst verloren und mich, seine Herrscherin, angegriffen. Die zerstörerische Macht seiner Magie habe dabei nicht nur mich getötet, sondern den gesamten Westflügel zerstört. Als Mahnmal blieben die ausgebrannten Mauern stehen, um das Volk daran zu erinnern, wie gefährlich und böse Sonnenmagie sei. Mir blieb nichts anderes übrig, als ihren Worten Glauben zu schenken.

Und auch den Bürgern erging es so, nicht zuletzt deshalb, weil die Lords aus Vael Lady Serpias Geschichte unterstützten. Sie standen hinter ihr, als sie meine Nachfolge als High Lady antrat.

Mehr denn je erbebte das Volk nach dem Vorfall vor der ohnehin verrufenen Sonnenmagie. Serpia war es ein Leichtes, sich als trauernde Schwester zu inszenieren, die Furcht und Empörung der Menschen geschickt zu schüren und Sonnenmagie ein für alle Mal verbieten zu lassen. Es gab nichts, was ich tun konnte, um sie daran zu hindern, die Macht an sich zu reißen und das Volk aufzuhetzen.

Die Lichtsäuberung. Ein Wort aus dem Mund meiner Schwester, das mich in meine finstersten Träume verfolgte. Nur jenes Licht, das als klar und rein galt, war nun noch erlaubt. Die heiße, unberechenbare Sonnenmagie musste ausgelöscht werden – das war ihr Plan.

Gnadenlos ließ sie Sonnenmagier verfolgen. Jene, denen die Flucht nicht gelang, wurden grausam hingerichtet. Mondmagie war die einzige, die in Vael noch existierte. Das, wogegen ich zeitlebens angekämpft hatte, war eingetreten, und ich konnte nichts – gar nichts – dagegen unternehmen.

Ich hätte aufgegeben, mein Geist wäre gebrochen, wäre da nicht noch ein letzter verbleibender Lichtblick gewesen. Mein Kind – es lebte! Und mit ihm lebte meine Hoffnung. An ihrem achtzehnten Geburtstag sollte sich das Amulett unter den fünf Monden öffnen und die Magie, die in meiner Tochter schlummerte, freisetzen. Schon bei ihrer Geburt hatte ich es vorbereitet, wohl wissend, dass es nötig sein könnte, ihr Talent zu verbergen.

Ich wusste nicht, wie es ihr erging und was sie mit ihren Kräften anfangen würde. Kümmerte sich jemand um das Mädchen? Trug sie das Amulett noch bei sich, oder war es im Laufe der Jahre verloren gegangen?

Alles, was ich tun konnte, war, in die Dunkelheit zu starren, dem Rauschen des Skallardmeeres zu lauschen, mit den Kelpies zu singen und zu warten – Stunde um Stunde, Tag um Tag, Jahr um Jahr, bis ich jegliches Gefühl für Zeit verlor.

Und dann spürte ich es. Dann fühlte ich, wie sich das Mondsteinamulett öffnete und all die Magie, die ich darin verschlossen hatte, explosionsartig freisetzte. Einer gewaltigen Woge gleich rauschte das Echo der Magie über ganz Vael. Und ich wusste, meine Tochter war bereit, ihr Erbe anzutreten.

ERSTERTEIL   

Kapitel 1Pläne   

Nachdem Lady Ashwind verstummt war, herrschte Schweigen.

Das Feuer malte schemenhafte Bilder und Szenen, die sich in den tanzenden Flammen formten und verschwanden, sobald ich den Blick darauf fokussieren wollte. Es ließ die tiefen Schatten in jeder Ecke und jedem Winkel des Raums zucken, tauchte die Gesichter aller Anwesenden in einen dämonisch roten Schein und glomm als winziges Spiegelbild in ihren Augen.

Die Worte meiner Mutter hallten in mir nach. Versonnen starrte ich in die flackernden Flammen, die mich in ihre und dann in meine eigene Vergangenheit entführten. Die Erinnerungen, die in meinem Kopf aufflammten, waren noch frisch und fühlten sich doch so fern an, als stammten sie aus einem anderen Leben.

Waren all diese Dinge wirklich geschehen? Hatte sich mein Leben tatsächlich so drastisch geändert, oder war es nichts weiter als ein verrückter Traum gewesen? Ich war nicht mehr dieselbe, und die Welt um mich herum war nicht mehr dieselbe, und in manchen Momenten glaubte ich, ich müsste mich nur kräftig kneifen, um in meinem Bett in Aphras Hütte aufzuwachen.

Das Feuer war so anders als das sanfte bleiche Licht der Monde, das durch meine Adern floss, und anders als das Gleißen der Sonne in meinem Herzen. Es zog meinen Blick magisch an, und ich konnte mich in ihm verlieren.

»Lelani.«

Haze berührte mich nicht, doch ich spürte seinen Blick ganz deutlich auf meiner Haut. Als ich mich vom Feuer losriss und in seine dunklen Augen sah, breitete sich eine kribbelnde Gänsehaut auf meinen Armen aus. Ich konnte kaum glauben, dass wir es so weit gebracht hatten, und bei jedem Schritt war er an meiner Seite gewesen. Mein bester Freund. Die zweite Hälfte meiner Seele. Mein ständiger Begleiter.

»Alles in Ordnung?«, fragte er leise.

Ich nickte. In Wirklichkeit war nichts in Ordnung: Die Soldaten der High Lady durchkämmten das Land nach uns, mehr als einmal waren wir nur knapp mit dem Leben davongekommen, und Kyran, für den ich Gefühle entwickelt hatte, die ich selbst nicht begriff, hatte versucht, mich zu töten. Schmerzhaft eng zog sich meine Kehle zusammen, als all diese Erinnerungen und Gedanken wie ein vernichtender Schneesturm durch meinen Kopf wirbelten. Doch in Selbstmitleid zu versinken, half niemandem weiter. Meine einzige Chance bestand darin, gemeinsam mit meinen Verbündeten nach Lösungen zu suchen.

»Die High Lady höchstpersönlich«, sagte Snow in dem Moment, drehte ihren breitkrempigen Hut in den Händen hin und her und schüttelte düster den Kopf. »Mit einer mächtigeren Person hättet ihr euch nicht anlegen können, was? Wie wäre es, wenn ihr beim nächsten Mal jemanden mit eurer Kragenweite gegen euch aufbringt? Ein Schmusekätzchen zum Beispiel?«

Ich verzichtete darauf, ihr ins Gedächtnis zu rufen, dass wir uns ihretwegen einer Blutwölfin gestellt hatten, die alles andere als ein Schmusekätzchen gewesen war. Snow war hart im Nehmen, aber jetzt stand selbst sie unter Schock – und ich konnte es ihr nicht verübeln.

»Keiner von uns hat sich diese Konfrontation ausgesucht. Alles, was uns bleibt, ist, auf die Ungerechtigkeit zu reagieren, die uns entgegenschlagen wird.«

Lady Ashwind saß so aufrecht da, dass sie am rustikalen Eichentisch wie ein Fremdkörper wirkte. Ihre Worte waren ruhig und gemessen. Obwohl sie geschwächt und ausgemergelt war, strahlte sie eine Eleganz und natürliche Autorität aus, die ihrem Umfeld Ehrfurcht einflößte. Die sieben Räuber begegneten ihr mit einem solchen Respekt, als sei sie die Königin höchstpersönlich – und das war auch exakt die Position, die ihr laut Geburtsrecht zustand. Die Position, die ihre Schwester ihr geraubt hatte.

Ich hatte für mich beschlossen, sie vorerst mit ihrem Namen anzusprechen, anstatt sie Mutter zu nennen. So froh ich auch war, sie wieder in meinem Leben zu haben: Sie war doch eine Fremde für mich, und manchmal spürte ich eine seltsame Scheu. Achtzehn Jahre lang hatte ich nur eine Mutter gekannt: Aphra, die Frau, bei der ich aufgewachsen war.

Snow hingegen ließ sich von nichts und niemandem beeindrucken. Sie sprang auf und ging mit großen Schritten in der Schankstube auf und ab, während sie nachdachte. Schwer hallten ihre festen Lederstiefel über den Holzdielenboden. Vor Ashwind blieb sie stehen und funkelte aus schwarzen zornigen Augen auf sie herab. »Um ehrlich zu sein, ist mir überhaupt keine Ungerechtigkeit entgegengeschlagen. Nicht vonseiten der High Lady. Das alles hier ist eine Sache, die mich nicht persönlich betrifft. Ich verstecke Euch nur, weil ich Lelani und Haze einen Gefallen schulde. Aber warum sollte ich mich und meine Männer tiefer in eine Angelegenheit hineinziehen lassen, die jeden von uns das Leben kosten könnte? Wieso sollte ich Euch helfen, gegen die mächtigste Person des ganzen Landes vorzugehen?«

Die sieben Räuber tauschten unbehagliche Blicke aus und wirkten in dem Moment eher wie kleine Jungen als wie gestandene Männer. Sie alle waren Snow treu ergeben, doch die Person, mit der ihre Anführerin gerade so respektlos sprach, war nun mal die rechtmäßige Herrscherin Vaels.

Ashwind ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Sie stand nicht auf, um mit Snow auf Augenhöhe zu sein, sondern blickte gelassen zu ihr hoch, und plötzlich schien es mir, als überragte sie die groß gewachsene Räuberin mit ihrer bloßen Haltung.

»Um das Richtige zu tun.« Obwohl ihre Stimme kaum das Heulen des Sturms übertönte, war ich sicher, dass jeder in diesem Raum ihre Worte gehört hatte.

Snow verharrte einen Moment, dann nickte sie knapp und nahm wieder ihren Platz am Tisch ein. »So simpel und auch so wahr. Die Frage ist: Was tun wir?«

Tensin strich rastlos über seinen Bart. Er erinnerte mich sonst immer an einen Schauspieler auf einer Bühne, doch jetzt ließ er alle Masken fallen, und auf seinem Gesicht zeigte sich die blanke Angst. »Was gibt es da zu überlegen? Seid vernünftig! Eure einzige Option ist die Flucht. Alle Soldaten des Königreichs sind auf der Suche nach Euch.«

»Meine Soldaten. Und mein Königreich«, sagte Ashwind ruhig.

Er senkte den Blick, und es kostete ihn sichtlich Mut, ihr zu widersprechen. »Verzeiht, meine High Lady. Aber selbst wenn wir versuchen, Euch zu schützen: Was sind sieben Männer und eine Frau gegen die Armee, die Eurer Schwester zur Verfügung steht? Schlagt Euch bis zur Küste durch! Heuert auf einem Schiff an, sucht Euer Glück in der Ferne. Versucht Euer Glück tief im Süden in Righa oder im fernen Osten in Dornwhire. Jenseits der Grenzen Vaels wartet ein echtes Leben auf Euch.«

»Ein Leben als Feigling, ständig auf der Hut vor den Attentätern meiner Schwester. Ich kenne Serpia. Sie würde niemals ruhen, solange sie wüsste, dass ich noch irgendwo auf dieser Welt am Leben bin. Ich war viel zu lange schwach und feige.« Ashwinds nachthimmelblaue Augen schienen plötzlich hart wie Stahl. »Ich kann mich weder vor meiner angeborenen Pflicht drücken, noch kann ich meine Schwester gewähren lassen und die Sonnenmagier im Stich lassen. Ich habe mich ihrer angenommen. Es gibt Dinge, die ich zu regeln habe, auch wenn sie möglicherweise aussichtslos sind.«

»Dann, meine High Lady«, Tensin starrte auf die Tischplatte hinab, »werdet Ihr sterben oder erneut in Gefangenschaft geraten. Und alle, die Euch folgen.«

Sie blickte in die Runde. »Keinen von euch werde ich zwingen, mich zu unterstützen.«

»Ich bin an deiner Seite.« Ich konnte nicht länger schweigen. Für mich gab es keine andere Wahl.

Seit sich mein Amulett an meinem Geburtstag geöffnet und meine Magie freigesetzt hatte, folgte ich unermüdlich dem Zerren und Ziehen meines Schicksals. Der Ruf der Magie hatte mich zu dem Turm geführt, in dem meine Mutter gefangen gehalten worden war, doch jetzt spürte ich, dass meine Reise noch nicht zu Ende war. Für mich gab es keine Rückkehr in mein beschauliches Leben in dem winzigen Dorf im Nirgendwo, in die vertraute Atmosphäre von Aphras kräuterduftender Hütte, in den Trubel des Marktplatzes, auf sonnige Lichtungen, auf denen Haze und ich stundenlang gelegen und von Abenteuern geträumt hatten.

Damals schien die Zeit stillzustehen, und obwohl ein Teil von mir die Sicherheit und den Frieden genossen hatte, spürte ich doch immer eine Unruhe tief in mir, die mir sagte, dass das noch nicht alles war. Dass mein Leben noch mehr für mich bereithielt. Dieses Kribbeln unter meiner Haut, diese Sehnsucht in meiner Seele hörte auch jetzt nicht auf. Wenn ich die Augen schloss, flüsterte mir mein Herz zu, dass ich nicht anhalten und nicht aufgeben durfte. Ich musste vorangehen, immer weiter vorwärts, um ein Schicksal zu erfüllen, das noch tief im Nebel verborgen lag.

»Meine Kleine.« Ein weicher Ausdruck trat in Ashwinds Augen. »Das Letzte, was ich für dich will, ist, dass du dich in Gefahr bringst. Aber ich fürchte, dafür ist es bereits zu spät. Diese ganze Situation ist inzwischen auch zu deiner Angelegenheit geworden. Du bist die Prinzessin Vaels, meine rechtmäßige Erbin und Serpia somit ein Dorn im Auge. Wenn nicht für mich selbst, dann müsste ich für dich versuchen, meiner Schwester das Handwerk zu legen. Diese Frau darf das Mondsteindiadem nicht tragen, sie gehört nicht auf den Thron.«

Kurz berührten sich unsere Hände auf der Tischplatte, und für einen Moment drang Wärme durch die eisige Angst, die sich schwer auf mich gelegt hatte, seit ich wusste, mit was für einer Gegnerin wir es zu tun hatten. Was die Zukunft auch bringen mochte: Ich hatte meine Mutter gefunden, und allein das war alle Risiken wert, die ich in den vergangenen Wochen auf mich genommen hatte.

Erneut tauschten Haze und ich einen Blick aus, und die Gewissheit, ihn an meiner Seite zu haben, zählte zu den wenigen Dingen, die mir Trost spendeten.

Immer lauter heulte der Sturm, bis er das Knacken der Holzscheite im Feuer übertönte. Er rüttelte an den Fensterläden und pfiff durchs Dachgebälk, als wollte er die Taverne »Zum siebten Hügel« dem Erdboden gleichmachen. Die feinen Härchen auf meinen Unterarmen stellten sich auf.

Trostlosigkeit legte sich über mich wie eine schwere Decke. Wir alle sprachen davon, dass wir etwas unternehmen wollten, doch was sollten wir tun? Etwa ins Schloss spazieren und High Lady Serpia höflich dazu auffordern, den Thron zu räumen? Je länger wir warteten, desto größer wurde die Gefahr, dass die Soldaten der Herrscherin uns entdeckten. Ich wusste nicht, welche Vorstellung mir größere Angst machte: eine lebenslange Gefangenschaft, wie Serpia sie für Ashwind vorgesehen hatte – oder der Tod.

Der Wald, der die Lichtung mit dem Haus wie eine nahezu undurchdringliche Mauer umgab, schien lebendig geworden zu sein. Der Wind trug das Knarren und Krachen der mächtigen Baumstämme und peitschenden Zweige heran – es klang wie die klagenden Schreie eines gigantischen Tieres.

Mit einem lauten Knall flog die Tür auf, so heftig, dass sie gegen die Wand krachte. Mit einem Schrei sprang ich auf und nahm aus den Augenwinkeln wahr, dass die anderen es mir gleichtaten. Eiskalt fuhr der Sturm in die Schankstube, und Regen peitschte mir ins Gesicht. Das Tosen des Unwetters war – nun nicht mehr durch die massive Holztür gedämpft – ohrenbetäubend laut.

Ein Blitz zuckte über den nächtlichen Himmel, zerriss die Schwärze. Er tauchte die gigantischen Bäume des Gitterwaldes, deren Äste im Sturm hin und her peitschten, in grelles Licht – und er offenbarte die Gestalt, die in der offenen Tür stand.

*

Mein Körper setzte sich wie von selbst in Bewegung, ich rannte los.

»Aphra!« Mein Ruf ging in einem Schluchzen unter, dann warf ich mich in ihre Arme.

Der vertraute Duft, der mich umfing, rief Hunderte Erinnerungen wach und brachte mich schlagartig nach Hause. Ich roch frische Kräuter, Erde, Baumrinde und schloss die Augen, während ich ganz tief einatmete. Ich musste nicht zurück in unsere Hütte nahe dem Dorf, um mich zu Hause zu fühlen – meine Heimat war soeben hier angekommen.

»Aphra, was bei allen Monden machst du hier? Wie ... wie bist du hierhergekommen?«, brachte ich erstickt hervor, hielt mich an ihr fest und barg mein Gesicht in ihrem rauen dicken Reiseumhang.

Sie wirkte so schmal und hager, doch der Eindruck täuschte. Meine Ziehmutter war zäh und drahtig. Ich hatte gesehen, wie sie einem flinken Eichhörnchen gleich auf die höchsten Bäume kletterte, um Misteln zu ernten, und im Morgengrauen gefühlte Ewigkeiten in unbequemen Positionen verharrte, um ihren Körper zu dehnen und geschmeidig zu halten, wie sie sagte. Jetzt umfassten mich ihre schmalen Arme so fest, als wollte sie mich erdrücken, und plötzlich hatte ich das seltsame Gefühl, nach einem endlosen Fall aufgefangen zu werden.

Ihre rauen Finger zerzausten mein Haar. »Mein Stern«, murmelte sie. »Rabe ist zu mir gekommen. Hat mich gefunden. Bin aufgebrochen, sofort, zu dir.«

Entsetzt und ungläubig schüttelte ich den Kopf. Ja, Snow hatte einen Raben geschickt, um meine Ziehmutter zu verständigen, doch wenngleich ich versucht hatte, das Tier mit der Magie der Monde zu leiten, waren wir unsicher gewesen, ob es den Weg zu ihrer kleinen Hütte finden würde. Und natürlich hätte ich nie im Leben gewollt, dass sie sich allein auf den Weg machte.

In der kleinen Schriftrolle hatte eine Warnung gestanden: Auch sie war möglicherweise nicht mehr sicher, denn Serpia hatte die magische Entladung wahrgenommen und geortet, als sich mein Amulett an meinem Geburtstag öffnete. Das hatte ich von Kyran erfahren – die High Lady hatte ihn mit einem Trupp ausgeschickt, um die Quelle der Entladung zu suchen: mich und mein Amulett. Serpia musste mittlerweile zumindest ungefähr wissen, wo ich aufgewachsen war. Gewiss hatte sie längst eins und eins zusammengezählt – und wenn sie auf Aphra stieß, würde sie vor nichts zurückschrecken, um an mich heranzukommen.

Doch plötzlich war sie hier, und ich hatte keine Ahnung, wie sie den weiten gefährlichen Weg bewältigt hatte. Zwischen der Taverne und meinem Heimatdorf lagen nicht nur mehrere Tagesritte, sondern auch der gefährliche Gitterwald, in dem man allzu leicht nicht nur die Orientierung, sondern auch das Leben lassen konnte. Dass Soldaten im gesamten Reich nach uns und gewiss auch nach ihr suchten, machte die Reise nicht weniger gefährlich.

Aphras Kichern klang wie ein Bach, der über Kiesel plätscherte. »Mein Stern, du unterschätzt mich. Wer kümmert sich um die alte Frau auf dem Eselkarren? Niemand. Niemand hat hingeschaut. Durch Straßensperren geschlüpft. Kein Mensch da, der die alte Frau anschaut«, sagte sie, als hätte sie meine Gedanken gelesen.

»Aber der Wald ... die Gefahren«, protestierte ich schwach. »Und wie bist du so schnell hierhergekommen? Wir sind doch selbst kaum eine Woche hier! Du musst sofort aufgebrochen sein, als der Rabe dich erreicht hat. Und dann warst du mit deinem Eselkarren so schnell wie ein Reiter auf einem guten Pferd? Wie ist das möglich?«

Sie löste ihre Umarmung und machte eine wegwerfende Geste. »Man muss die Natur kennen. Natur verstehen, nach ihren Regeln spielen. Und dann, dann tut sie einem kein Leid an.«

Und ich glaubte ihr. Ich dachte daran, wie sie mithilfe ihrer Sonnenmagie Pflanzen zum Wachsen gebracht hatte, und konnte mir auf einmal gut vorstellen, dass die dornenbewehrten Ranken und Äste des Gitterwaldes wie von selbst den Weg für sie freigegeben hatten und dass die wilden Tiere sie gefahrlos passieren ließen.

Sie trat einen Schritt weiter in den Raum hinein. Der Sturm ließ die Tür noch immer haltlos hin und her schlagen, und eilig schloss ich sie hinter ihr. Aphras katzenhaft gelbe Augen wurden schmal, als sie den Blick durch den Raum schweifen ließ. Dann grinste sie breit und ging auf Snow zu.

»Rob! Groß geworden. Kein kleines Kind mehr.« Sie musste sich strecken, um Snows raspelkurzes Haar zu zerzausen.

»Ihr kennt euch«, stellte ich verdattert fest, aber dann wurde mir auch schon klar, dass das gar nicht verwunderlich war: Als kleines Mädchen hatte Snow einst in unserem Dorf gelebt.

Als die Anspannung von ihr abfiel, warf Snow den Kopf in den Nacken und lachte. »Wenn das nicht die alte Aphra ist. Du musst verrückt sein, allein den weiten Weg auf dich zu nehmen. Aber das würde die Leute im Dorf wenig wundern, nicht wahr? Die verrückte alte Aphra – das habe ich manches Mal hinter vorgehaltener Hand munkeln gehört.«

Aphras Grinsen wurde noch breiter. »Und das verrückte Mädchen namens Rob mit ihren kohlenschwarzen Augen, das sie nicht sein wollte. Mädchen, das sich die Haare kurz schnitt und Hosen trug.«

»Ich nenne mich nicht mehr Rob, ich laufe nicht mehr vor meinem echten Namen davon.« Snow zuckte mit den Schultern. »Ich fürchte, mittlerweile helfe ich anderen Leuten beim Weglaufen. Beispielsweise vor der High Lady höchstpersönlich.«

Aphras Miene ließ keine Rückschlüsse darauf zu, wie verwirrt sie von Snows Worten sein musste. Doch als ihr Blick an Ashwind hängen blieb, weiteten sich ihre Augen.

»Meine High Lady.« Sie neigte den Kopf. Ich hatte keine Ahnung, woher sie wusste, dass diese abgemagerte Frau mit der Ausstrahlung einer Königin tatsächlich unsere Herrscherin war, doch es schien ihr auf den ersten Blick klar. Längst hatte ich aufgehört, mich darüber zu wundern, wie oft Aphra Dinge wusste, die sie eigentlich nicht wissen konnte.

Ganz automatisch übernahm Ashwind die Kontrolle. Sie trat auf Aphra zu und lächelte. »Sie müssen die Frau sein, die mein Kind großgezogen hat. Ich stehe auf ewig in Ihrer Schuld.«

Sie reichten sich die Hände, und ich hatte den Eindruck, dass sich zwischen ihnen eine Art wortloser Dialog abspielte. Dann deutete Ashwind einladend auf den Tisch. »Setzen wir uns. Aphra, Sie brennen bestimmt darauf zu erfahren, was Lelani erlebt hat. Ich denke, es gibt vieles zu berichten.«

*

So saßen sie sich also gegenüber, meine beiden Mütter: die Frau, die mich geboren hatte, und jene, die mich großgezogen hatte. Snows Bande hatte sich zurückgezogen, und ich wollte gar nicht wissen, ob die Männer nur in der Taverne zu tun hatten oder auf Raubzug waren. Nur Snow selbst war hier bei uns und natürlich Haze, der mir kaum von der Seite wich.

Aphra drückte meine Hand ganz fest, als ich von den Abenteuern erzählte, die Haze und ich erlebt hatten. Ihr Blick huschte zu Snow, als ich Milja erwähnte: Snows Schwester, die mit einem Wolfsfluch belegt worden war und deren einziger Ausweg aus ihrem traurigen Schicksal in einem selbst gewählten Tod bestanden hatte. Meine Kehle wurde bei diesen Worten eng. Miljas traurigen Wunsch zu erfüllen war wohl das Schwerste gewesen, was ich je in meinem Leben tun musste.

Ich erzählte davon, wie wir Ashwind aus dem fensterlosen Turm befreiten, in den Serpia sie gesperrt hatte, und von dem Wächterwesen, das wir dafür besiegen mussten. Und dann waren wir wieder an dem Punkt, um den wir seit Tagen kreisten, ohne weiterzukommen: Wir mussten handeln, doch jede mögliche Handlung schien aussichtslos. Wir waren machtlos.

»Serpia wird mir nicht geben, was mir zusteht. Ich muss es mir nehmen«, stellte Ashwind schlicht fest.

»Und wie?«, fragte ich kopfschüttelnd. »Mit Waffengewalt? Wir paar Leute gegen alle Soldaten im Schloss? Sollen wir ihr das Diadem entreißen und dir auf den Kopf setzen, und damit ist alles erledigt?«

Pochende Kopfschmerzen kündigten sich hinter meiner Stirn an. Das alles war zu viel. Wir hatten bereits mehr vollbracht, als ich für möglich gehalten hätte, aber an dieser Stelle versagte auch meine Vorstellungskraft. Aufzugeben kam nicht infrage, aber blind und ohne klares Ziel weiterzumachen, schien auch keine Option zu sein. Das alles wuchs mir über den Kopf.

Aber Ashwind ließ sich nicht beirren. »Das Fest der schwarzen Sonne«, sagte sie ruhig. »Es wird gefeiert, wenn Monde und Sonne aufeinandertreffen. Wenn sich Umbra, der größte Mond, als dunkle Scheibe vor die Sonne schiebt und die anderen Monde ihn in perfekter Symmetrie wie die Schwingen eines Drachen flankieren. So viele Menschen aus dem Königreich werden an jenem Tag in die Hauptstadt Navalona strömen, der Rede der High Lady lauschen und sich das Spektakel ansehen: Feuerspucker, flirrende Lichter vor dem verdunkelten Himmel, Tanz und Musik. Jeder, der für das Reich von Bedeutung ist, und jeder, der die Reise auf sich nehmen kann, wird da sein, bis die Stadt aus allen Nähten platzt. Und dieser Tag steht bald bevor.«

In Haze‘ Augen glomm ein Licht auf, interessiert beugte er sich vor. »Und diese Aufmerksamkeit nutzen wir«, stellte er fest. »Wenn all diese Menschen die wahre Herrscherin sehen, kommt High Lady Serpia nicht länger mit ihren Lügen durch. Dann wird bekannt, dass sie keinen Anspruch auf den Thron hat.«

Ashwind nickte. »Und da sind noch die Mondlords. Sie sind verpflichtet, der Herrscherin Vaels zu dienen. Ich kenne sie von damals – sie müssen mich erkennen, sobald sie mich sehen! Wenn sie begreifen, dass ich ihre High Lady bin, werden sie sich auf meine Seite schlagen. Zumindest hoffe ich das aus ganzem Herzen.«

Snow kickte übellaunig gegen ein Tischbein. Ihr Stiefel hinterließ einen Matschfleck auf dem Holz. »Niemand kann einfach so ins Schloss spazieren. Geschweige denn so nah an die High Lady herankommen, dass er ihr gefährlich werden kann.«

»Einer kann es. Einer konnte es.« Die Kaminflammen schienen im Bernsteinbraun und Katzengelb von Aphras Augen zu tanzen.

Ashwind begriff sofort. »Der Schattengänger«, flüsterte sie.

Meine Augen weiteten sich. »Der Mann, der meinen Vater ermordet und meine Mutter gefangen genommen hat, um sie an die High Lady auszuliefern? Er ist ein Assassine! Ein Mann ohne Gewissen.«

»Und doch ist er der Mann, der dich verschont hat.« Aphras Blick bohrte sich in meinen. »Der Mann, der den letzten Befehl nicht ausgeführt hat. Der das Baby nicht getötet hat. Der es in Sicherheit gebracht hat.«

Haze runzelte die Stirn. »Und nichtsdestotrotz ein Attentäter. Und vergesst nicht, dass es hier so gut wie keine Schattengänger gibt. Sie leben auf Kuraigan. Bestimmt ist auch der Mann, der auf Serpias Geheiß gehandelt hat, mittlerweile wieder dorthin zurückgekehrt. Wie sollten wir ihn jemals finden?«

Kuraigan. Ein Wort, das in meinen Ohren exotisch klang. Ein anderer Kontinent, so fremdartig, dass ich mir nicht ausmalen konnte, wie es dort aussah – von Vael getrennt durch das endlos weite Skallardmeer, in dem es vor gefährlichen Wasserwesen nur so wimmelte.

In Aphras Augen glomm ein Licht auf. Sie holte etwas aus ihrer Tasche und warf es einfach vor uns auf den Tisch, wo es ein paar Mal um die eigene Achse kreiselte und schließlich liegen blieb. Mir entfuhr ein leiser Pfiff, als ich erkannte, worum es sich handelte: ein breiter silberner Ring mit einem großen schwarzen Stein. Instinktiv schnellte meine Hand nach vorne, und ich war die Erste, die das Schmuckstück zu fassen bekam. Neugierig drehte ich es in den Händen hin und her und begutachtete es.

Die silbrige Außenseite war ganz glatt geschliffen, doch ins Innere des Ringbandes waren Schriftzeichen graviert, die ich nicht entziffern konnte. Meine Fingerspitze glitt ebenso wie mein Blick über die filigrane Inschrift.

Der Stein war beinahe so groß wie mein Daumennagel, völlig glatt, rund und tiefschwarz. Er glich keinem der Mineralien, die ich aus Aphras Sammlung kannte. Ein wenig ähnelte er Obsidian, doch etwas war anders. Ich wusste zunächst nicht was, doch dann betrachtete ich das Schmuckstück genauer.

Er schien jegliches Licht in der Umgebung einzusaugen und zu absorbieren. Während sich mein Blick in ihm verlor, wurde mir bewusst, dass es Schatten gab, die viel tiefer waren, als ich bisher angenommen hatte. Diese Finsternis schien materiell zu sein, sich zu bewegen, sogar zu leben. Je länger ich den Stein anstarrte, desto mehr hatte ich das Gefühl, dass sich etwas unsagbar Dunkles unter der glatten, eiskalten Oberfläche bewegte. Etwas, das zurückstarrte.

Haze beugte sich zu mir, und seine Hand legte sich um meine, die noch immer den Ring hielt. Seine Stirn berührte meine beinahe, als er das mysteriöse Schmuckstück ebenfalls ansah. Ich spürte seinen warmen Atem, die Hitze seiner Hand und ein paar seiner Haare, die meine Stirn kitzelten.

»Wie seltsam«, murmelte er.

Aphra räusperte sich. Jetzt erst bemerkte ich, dass ich den Atem angehalten hatte. Rasch legte ich den Ring zurück auf den Tisch, sodass die anderen ihn sich ansehen konnten, atmete tief durch und sah meine Ziehmutter fragend an.

»Der Mann«, beantwortete sie meine unausgesprochene Frage. »Hat ihn mir gegeben. Hat ihn mir anvertraut. Der Mann aus den Schatten, der dich zu mir brachte.«

Ashwind griff nach dem Ring. Das Schwarz des Steins spiegelte sich im klaren Blau ihrer Augen und ließ sie noch dunkler wirken. »Ich weiß, was das ist«, sagte sie leise. »Ein Schattenring. Ich habe früher viel über Kuraigan gelesen. Ein solcher Ring ... Er ist eine Fessel, die jene bindet, die gegen die Gesetze verstoßen haben. Er macht sie zu Sklaven, bis sie die Schuld getilgt haben, die sie auf sich geladen haben.«

Snow schnaubte. »Nicht nur ein Attentäter, sondern auch in seinem eigenen Land verstoßen. Hinreißend. Und was genau wollen wir nun von ihm?«

Auf einmal erfasste mich eine fiebrige Aufregung. »Er kann uns helfen. Er hat bewiesen, dass er ins Schloss gelangen kann. Sogar in die privatesten Gemächer, die am besten bewacht werden. Warum sollte er es nicht erneut schaffen?« Diese schwache Hoffnung war so viel mehr als alles, was wir in den letzten Tagen gehabt hatten.

Haze zögerte keine Sekunde. »Ich werde ihn finden. Ganz gleich, wie. Ich werde den Ozean überqueren, nach Kuraigan reisen und diesen Mann finden.« Seine braunen Augen funkelten unternehmungslustig, und als ich ihn so sah, traute ich ihm einfach alles zu, obwohl sein Vorhaben unmöglich klang.

Die Reise über das Skallardmeer galt als lebensgefährlich, kaum jemand wagte es, sie anzutreten. Kuraigan war mehr als ein Land, es war ein gesamter Kontinent, und wie sollte Haze unter all diesen Menschen jenen geheimnisvollen Mann finden, der einst durch die Schatten von Navalonas Schloss gewandelt war? Der einzige Hinweis, den wir hatten, war ein mysteriöser Ring mit einer Inschrift, die wir nicht entziffern konnten.

Doch wenn es jemand schaffen konnte, dann er: dieser Junge, den ich mein Leben lang kannte und der zum Mann geworden war, beinahe ohne dass ich es gemerkt hatte. Haze mit seinen starken Händen, die jagen und kämpfen, doch auch zärtlich sein konnten. Haze mit der lodernden Glut im Blick, mit dem widerspenstigen schwarzen Haar und den breiten Schultern, die manchmal die Last der Welt zu tragen schienen. Ein warmes Pochen breitete sich in meinem Herzen und meinem Bauch aus, und ich zweifelte nicht daran, dass er alles vollbringen konnte, was er sich in seinen Sturkopf setzte.

Aber er würde nicht alleine gehen, um nichts in der Welt wollte ich mir dieses Abenteuer entgehen lassen. Die letzten Wochen hatten mich verändert – ich war nicht mehr das naive, weltfremde Dorfmädchen. In meinem Herzen spürte ich Mut und ein Selbstbewusstsein, das ich früher nicht gekannt hatte. Ich hatte das Gefühl, alles schaffen zu können. Ein grimmiges Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus.

Das sehnsüchtige Feuer, das mich mein Leben lang angetrieben hatte und das in letzter Zeit durch Erschöpfung und Hoffnungslosigkeit gedämpft worden war, loderte wieder auf. Endlich gab es wieder eine Perspektive, einen Weg, der sich vor mir auftat. Und auch wenn dieser Weg schmal und verwinkelt war und vielleicht ins Nichts führen würde, war ich fest entschlossen, ihm zu folgen.

»Wann brechen wir auf?«

Ashwind sog scharf die Luft ein. »Nicht du, Lelani! Du hast dich öfter als genug in höchste Gefahr gebracht. Ich werde mein Kind nicht meine Kämpfe ausfechten lassen. Wenn jemand nach Kuraigan reist, bin ich das.«

Sie sagte das mit aller Entschlossenheit, doch ich war weder blind noch naiv. Ihre aufrechte Haltung konnte einen beinahe vergessen lassen, wie es um ihre Gesundheit bestellt war – aber nur fast. Man merkte ihr kaum an, wie lange sie sich in Gefangenschaft befunden hatte – gefesselt mit schwarzsilbernen Ketten, zur Regungslosigkeit verdammt, abgeschnitten von der Welt und jeglichem Licht. Es grenzte an ein Wunder, dass sie sich überhaupt noch bewegen konnte und ihre Muskeln nicht vollends verkümmert waren. In manch kurzen Momenten, wenn sie sich unbeobachtet fühlte, zeichnete sich der Schmerz auf ihrem Gesicht ab, den ihr jede Bewegung bereitete. Sie musste sich erholen. Dringend.

Das Letzte, was Ashwind jetzt brauchte, war eine aufopfernde Reise – und das, was Vael brauchte, war seine rechtmäßige Herrscherin auf dem Thron. Der Gedanke daran, was für eine skrupellose grausame Frau das Land regierte, jagte mir einen weiteren Schauer über den Rücken. Und all die Jahre hatte ich nichts davon geahnt!

»Ich gehe. Ich werde nach Kuraigan reisen, und ich werde diesen Schattengänger finden. Und dann werden wir ins Schloss gelangen und erobern, was dir genommen wurde«, sagte ich entschieden und wusste dabei mit absoluter Sicherheit, dass ich mich durch kein Argument von meinem Plan abbringen lassen würde.

Kapitel 2Etwas in mir   

Der Gedanke an Kyran krallte sich in meinem Kopf fest, kroch mir unter die Haut, lag wie Nebel in der Luft. Ich versuchte ihn zu verdrängen, während wir Pläne schmiedeten und die Details unserer riskanten, vielleicht sogar wahnsinnigen Reise besprachen, doch mir war überdeutlich bewusst, wie nah er mir war.

Dieser Verräter.

Der Mann, der wie aus dem Nichts in meinem Leben aufgetaucht war, ungefragt unser Begleiter wurde und mir enger ans Herz gewachsen war, als ich mir selbst eingestehen wollte.

Ich hatte ihm vertraut, hatte seine Gesellschaft genossen, und irgendwann im Verlaufe unserer gemeinsamen Reise hatte ich begonnen, ihn wirklich gernzuhaben. Ein Kribbeln breitete sich in meinem Bauch aus, als ich daran dachte, wie sich seine Lippen auf meinen anfühlten, und ich konnte überhaupt nichts dagegen tun, dass mein Körper so auf diese Erinnerung reagierte. Ganz von selbst wurde meine Atmung flacher, und ich ballte die Hände zu Fäusten.

Er hatte sich in mein Herz gestohlen – und dann versucht, es mit dem Schwert zu durchbohren. Ein Befehl der High Lady hatte ausgereicht, und Kyran hatte sich gegen mich gestellt. Nach wie vor wusste ich nicht genau, wie sie miteinander in Kontakt gestanden hatten und wie exakt der Befehl gelautet hatte, doch eines wusste ich: Kyran hatte mich angegriffen und Haze verletzt.

Seit wir wieder bei Snow waren und uns hier versteckt hielten, hatten Kyran und ich kaum ein Wort miteinander gewechselt. Er weigerte sich, offen zu sprechen, und ich konnte es kaum ertragen, ihn zu sehen. Doch jetzt gab es etwas, das ich ihm mitteilen musste, und so lief ich die Treppe hoch ins Obergeschoss. Ich nahm immer zwei Stufen gleichzeitig, doch dann wurden meine Schritte immer langsamer.

Zu meiner Rechten befanden sich die Türen zu den Gästezimmern, die jetzt aber alle leer standen. Alle, bis auf eines.

Ohnehin verirrten sich selten Reisende in die Taverne inmitten des Gitterwalds, die in erster Linie ein tarnender Unterschlupf für Snows Räuberbande war. Jetzt hatte Snow das Wirtshaus gesperrt – angeblich wegen Umbauarbeiten, in Wirklichkeit jedoch, damit wir ungestört waren. Snow, ihre sieben Männer, Haze, Ashwind und ich hatten unsere Zimmer noch ein Stockwerk höher.

Auf der linken Seite des Flurs standen die Fensterläden zur Lichtung offen. Das Unwetter hatte sich gelegt, aber die Luft roch regenschwer, nach nassem Moos und Holz. Es herrschte noch tiefe Nacht, doch die dunklen Wolken hatten sich verzogen und gaben den Blick auf die fünf Monde frei, die als schmale Sicheln am Himmel standen. Bleich und kühl fiel ihr Licht zu den Fenstern herein.

Unwillkürlich blieb ich stehen und atmete tiefer ein. Wie jede Nacht schienen die Himmelskörper wortlos zu mir zu flüstern. Ich spürte ihren sanften Schein auf meiner Haut und fühlte, wie die Magie in meinen Adern darauf reagierte. Ein sachtes Kribbeln breitete sich in meinem ganzen Körper aus.

Ich war so gebannt, dass ich im ersten Augenblick gar nicht bemerkte, dass ich nicht allein auf dem Flur war. Eine schmale Silhouette zeichnete sich vor dem Mondlicht ab. Meine Mutter, die sich vorhin schon zurückgezogen hatte, stand an einem der Fenster, starr wie eine Marmorstatue, und blickte hinaus. Das Mondlicht tauchte ihre zarten Gesichtszüge in seinen bleichen Schein und verlieh den weit geöffneten Augen einen silbrigen Glanz. Einem rabenschwarzen Wasserfall gleich fielen die langen Haare über ihre Schultern und den Rücken.

Haze hatte mich früher oft damit aufgezogen, dass ich angeblich zu den Monden hochstarrte wie ein liebeskranker Wolf. Jetzt wusste ich, was er damit gemeint hatte. Mein bester Freund hatte mich deswegen manchmal ausgelacht, doch bei meiner Mutter hatte der Anblick nichts Albernes an sich. Sie war eins mit dem Nachthimmel und sah beinahe aus wie gemalt.

»Ashwind.«

Wenn es sie verletzte, dass ich sie nicht Mutter nannte, obwohl ich das im Turm getan hatte, ließ sie es sich nicht anmerken. Ihre Miene ließ keine Regung erkennen.

»Ich kann es kaum mehr spüren«, flüsterte sie, ohne sich zu mir umzudrehen. Ihr Blick war nach wir vor empor zum Himmel gerichtet. »Das Licht der Monde. Meine Magie ... die lange Zeit, in der ich vom Licht abgeschnitten war, hat sie verkümmern lassen. Leute wie du und ich, wir brauchen das Licht der Monde wie die Luft zum Atmen. Wird es uns vorenthalten, beginnt die Kraft in unseren Adern zu verdorren. Sie ist noch da, aber schwach wie ein Echo.«

Obwohl ich das noch nie selbst erlebt hatte, konnte ich mir vorstellen, was sie meinte. Ganz deutlich fühlte ich, wie mein Körper das Licht aufsog und meine magischen Kräften danach verlangten.

»Du wirst dich erholen. Deine Magie wird zurückkehren, ganz bestimmt«, erwiderte ich leise und meinte es auch so. Nicht nur die körperlichen, sondern auch die magischen Kräfte meiner Mutter hatten gelitten. So wie ihre Muskeln Zeit brauchten, um sich zu regenerieren, so würde auch ihre Mondkraft heilen.

Statt einer Antwort streckte sie eine Hand hinaus ins Freie. Der weite Ärmel ihres Kleides rutschte ihr bis zur Schulter, die weiße Haut ihres Arms war ganz in Mondlicht gebadet. Sie drehte die Handfläche nach oben, und der bleiche Schein verdichtete sich in ihr zu einer Kugel. Aus Licht wurde Materie: ein leuchtender Ball, in dessen Inneren flirrende Funken tanzten und den Ashwind sachte festhielt. In ihrer Geste steckte eine Sehnsucht, die mein Herz berührte. Dann löste sich die Form zwischen ihren Fingern wieder auf, und wie Schnee schwebten die Lichtfunken zu Boden. Ein tiefes Seufzen entrang sich ihrer Kehle.

»Vielleicht. Hoffentlich. Aber es stimmt: Im Moment bin ich nutzlos«, brachte sie bitter hervor. »Jeder einzelne Schritt ist eine Qual, meine Kräfte sind verkümmert. Die weite Reise nach Kuraigan? Undenkbar.«

»Na und? Du musst diese Reise nicht auf dich nehmen!«, rief ich aus. »Haze und ich haben so viel miteinander erreicht, wir werden auch das schaffen. Du kannst dich auf mich verlassen. Wir werden diesen Mann finden und mit ihm nach Vael zurückkehren.«

Jetzt erst wandte sie sich mir zu. Ihre Augen schimmerten feucht. »Ich habe dich schon einmal verloren und erst achtzehn Jahre später wiedergefunden. Schon einmal musste ich dich gehen lassen. Die Vorstellung, dass du dieses Mal vielleicht nicht zurückkommst ...« Ihre Stimme versagte.

Meine Kehle wurde eng, und meine Augen brannten. Wir hatten nie die Gelegenheit gehabt, uns als Mutter und Tochter kennenzulernen, und nun waren uns nur wenige Tage vergönnt, bevor wir uns wieder trennen mussten. Doch eines Tages würde die Zeit kommen, um uns aneinander anzunähern. Dessen war ich mir sicher.

«Ich komme zurück, versprochen.« Ich versuchte zuversichtlich zu klingen, doch meine Stimme zitterte.

Lautlos trat Ashwind näher an mich heran. Ihre Finger waren kalt wie der Nachtwind, als sie mein Gesicht vorsichtig in beide Hände nahm und mir einen Kuss auf die Stirn gab. Schweigend verharrten wir so, ich mit geschlossenen Augen, sie mit ihren Lippen hauchzart auf meiner Haut. Ich wünschte, ich könnte die Zeit anhalten, doch schon ließ mich meine Mutter wieder los und trat einen Schritt zurück.

»Du weißt, wer er ist?«, wechselte sie so abrupt das Thema, dass ich kurz den Anschluss verlor.

Ich begriff, von wem sie sprach. Mein Blick huschte zu der Tür am Ende des Gangs, hinter der wir Kyran gefangen hielten. Seit Tagen hatte ich den Raum nicht betreten, Snow und die sieben Räuber kümmerten sich um unseren Gefangenen und versorgten ihn mit Essen und Trinken.

»Kyran? Ein Adliger. Ein Getreuer der High Lady, der ihr loyal ergeben ist und Aufträge für sie ausführt. Ein ... ein Mistkerl, der vor nichts zurückschreckt«, antwortete ich zögerlich.

»Das mag sein. Aber ist dir bewusst, wer er ist?«

Irritiert runzelte ich die Stirn und schüttelte den Kopf. »Was meinst du? Weißt du es etwa? Aber ... du kannst ihn doch nicht kennen! Er muss damals, als du noch im Schloss gelebt hast und all diese Dinge geschehen sind, noch ein kleines Kind gewesen sein. Er ist doch gerade mal ein paar Jahre älter als ich.«

Der Nachtwind, der zum Fenster hereinfuhr, setzte Ashwinds Rabenhaar in Bewegung. Als hätte es ein Eigenleben entwickelt, tanzte es um ihr schmales filigranes Gesicht. Die einzelne weißblonde Strähne glänzte wie Silber.

»Ich bin ihm nie begegnet, und doch kenne ich ihn. Er ist seiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Zu Lebzeiten galt sie als die schönste Frau in ganz Vael – Lady Rosebud mit dem goldenen Haar und den turmalingrünen Augen. Ihr Mann ist einer der fünf Mondlords, und wie Serpia mir berichtet hat, ist er nach meinem angeblichen Tod zu ihrem engsten Ratgeber aufgestiegen. Kyran ist der Sohn des einflussreichsten Lords in ganz Vael.«

*

Es dauerte einen Moment, bis sich meine Augen ans Halbdunkel in Kyrans Zimmer, das – wenn ich ehrlich war – eher Kyrans Zelle war, gewöhnt hatten. Das Erste, was ich sah, war ein zartrosa Funke, der hochstob, durch den Raum taumelte wie ein betrunkener Schmetterling und durch eine Ritze zwischen den Fensterläden nach draußen in die Nacht verschwand.

»Jinx«, murmelte ich enttäuscht.

Die kleine Pixie schien die Seiten gewechselt zu haben. Seit unserer halsbrecherischen Flucht vor den Schergen der High Lady bekam ich sie kaum noch zu Gesicht, schien aber plötzlich Kyrans Nähe zu suchen. Dabei hatte sie ihn anfangs nicht mal leiden können.

»Eifersüchtig? Das Flattervieh und ich sind Freunde geworden.«

Kyran saß auf seinem schmalen Bett, lehnte mit dem Rücken an der Wand und blickte mir entgegen. Seine stechenden grünen Augen funkelten aus dem Halbdunkel.

Ich zog eine verächtliche Miene. »Vielleicht hat sie sich ein Beispiel an dir genommen und ist zur Verräterin geworden.«

Die Wahrheit war, dass ich der Zwergfee eigentlich nichts vorwerfen konnte. Dass sie sich uns überhaupt angeschlossen hatte, war mehr als ungewöhnlich – nie zuvor hatte ich gehört, dass sich Pixies mit Menschen anfreundeten. Normalerweise machten sie sich höchstens einen Spaß daraus, Wanderer in die Irre zu leiten, und verschwanden danach so schnell, wie sie aufgetaucht waren. Sie waren als unberechenbare kleine Wesen bekannt, die sich einzig und allein um ihr eigenes Vergnügen kümmerten. Somit hatte Jinx, wie ich sie getauft hatte, eigentlich schon viel mehr getan, als ich je von einer Pixie erwartet hätte: Sie hatte uns begleitet, durch den nächtlichen Gitterwald zu Snows Taverne geführt und mir sogar geholfen, als ich in den verhängnisvollen Bann der Kelpies geraten war.

Und trotzdem kränkte es mich, dass sie sich nun ausgerechnet mit dem Kerl anfreundete, der mich verraten und angegriffen hatte. Vielleicht war das ja der Grund, warum sie ihn mochte: Er war so wankelmütig und flatterhaft wie eine Pixie. In einem Moment zog er einen ganz in seinen Bann, im nächsten Augenblick stürzte er denjenigen in den Untergang.

»Verräter? Meine Loyalität galt der High Lady. Ich musste ihren Befehl ausführen.«

In hilfloser Wut ballte ich die Hände zu Fäusten. »Ich habe dir vertraut! Beim Schatten der Monde, Kyran –bedeutet dir das gar nichts?«, fauchte ich. »Wenn es nach Haze gegangen wäre, hätten wir uns von Anfang an von dir ferngehalten!«

»Dann hättest du mal besser auf Haze gehört, nicht wahr?« Ungerührt hielt er meinem zornigen Blick stand.

Ein bitterer Geschmack breitete sich in meinem Mund aus. Nur mühsam konnte ich mich beherrschen und ruhig bleiben. Ich verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte mich von innen an die geschlossene Tür.

»Ja, das hätte ich. Spätestens, als mir klar wurde, dass du Geheimnisse hütest, hätte ich aufhören müssen, dir zu vertrauen. Du stammst aus einer bekannten Familie, nicht wahr? Lord Heathorn Umbra. Lady Rosebud Umbra. Und – Kyran Umbra«, zählte ich auf.

Das schwache Licht reichte nicht aus, um von seinem Gesicht abzulesen, ob er überrascht darüber war, dass ich es herausgefunden hatte. Wenngleich ich in einem entlegenen Dorf aufgewachsen war, war ich nicht völlig weltfremd und wusste genug über Vael und den Königshof, um zu begreifen, dass ihn das zu einer wichtigen Persönlichkeit machte. Er war nicht nur irgendein Edelmann, sondern entstammte dem höchsten Adel. Nun wunderte mich auch nicht mehr, dass er mir einmal erzählt hatte, er verkehre bei Hofe und sei der High Lady selbst begegnet. Er war kein austauschbarer Gefolgsmann, sondern wurde höchstwahrscheinlich mit den wichtigsten Aufgaben betraut. Er genoss das Vertrauen der Regentin.

»Und nun? Was werdet ihr mit dieser Erkenntnis anfangen?« Seine Stimme offenbarte, was sein Gesicht nicht verriet: Er versuchte sich nichts anmerken zu lassen – und doch war da ein Anflug von Anspannung in seinem Tonfall. »Mich als Geisel und Druckmittel benutzen? Da muss ich euch enttäuschen: Ashwind und dich in ihre Finger zu bekommen, ist High Lady Serpia wichtiger als mein Leben. Meinem Vater übrigens auch, also rechne nicht damit, dass er sich für mich einsetzt. Oder geht es dir um Rache? Willst du mir heimzahlen, dass ich dich angegriffen habe? Was habt ihr für mich vorgesehen – den Tod? Snow ist ja alles andere als zimperlich, und du hast mittlerweile auch bewiesen, dass du nicht das zarte Blümchen bist, für das man dich auf den ersten Blick hält.«

Ich ließ ihn reden und amüsierte mich insgeheim darüber, dass er immer nervöser klang. Er versuchte so zu tun, als betrachtete er wie üblich alles als großen Scherz, aber die Tage in Gefangenschaft schienen an seinen Nerven genagt zu haben. Hier in diesem abgedunkelten Zimmer hatte er viel Zeit gehabt, darüber nachzudenken, was ihm blühen mochte.

»Nichts dergleichen«, sagte ich schließlich. »Wir unternehmen eine Reise.«

»Eine ... Reise.«

Meine Augen hatten sich an das wenige Licht gewöhnt. Der Mondschein, der durch die Ritzen der Fensterläden fiel, reichte aus, um seine gerunzelte Stirn und eine hochgezogene Augenbraue zu erkennen.

Als er sich bewegte, fiel mir die Eisenkette auf, die mit einem schweren Ring um seinen Knöchel befestigt und deren anderes Ende am massiven Bettpfosten befestigt war. Kyran hatte genug Bewegungsfreiheit, um ein paar Schritte durch den Raum zu gehen, kam aber nicht bis ans Fenster oder an die Tür, an der ich noch immer mit verschränkten Armen stand. Das leise metallische Rasseln, das bei jeder seiner Bewegungen ertönte, ließ mich zusammenzucken. Es erinnerte mich an meine Mutter, die für viele Jahre so hatte leiden müssen. Kyran musste dieses Schicksal erst seit wenigen Tagen ertragen, dennoch fühlte ich mich plötzlich schlecht. Es widerstrebte mir, jemandem die Freiheit zu rauben, doch uns blieb nichts anderes übrig. Hätten wir Kyran freigelassen, hätte er schnurstracks zur High Lady laufen und uns verraten können.