Bloodsong 1. Odines Prophezeiung - Isabell May - E-Book

Bloodsong 1. Odines Prophezeiung E-Book

Isabell May

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Beschreibung

Die gefallene Prinzessin An ihrem 18. Geburtstag ist das unbeschwerte Leben der Prinzessin Odine vorbei: Eine düstere Prophezeiung verstößt sie aus der höfischen Gesellschaft. Das Unheil der "Roten Witwe" verfolgt sie: Jeder, der diesen Orakelspruch empfängt, soll geopfert werden. Auf ihrer Flucht begegnet Odine Dariel, ihrem nervtötenden Reit- und Fechtlehrer. Ausgerechnet er wird ihr unerwarteter Verbündeter. Gemeinsam entkommen sie dem Angriff der Blutjägerin Oona, die von ihrem Ziehvater Marus einen ungewöhnlichen Auftrag erhalten hat: Sie soll ihm die Prinzessin Odine lebendig zurückbringen. Die Flucht führt sie in eine verlassene Hütte im Wald, wo sich Odine und Dariel nicht nur den Angriffen der Blutjägerin, sondern auch ihren eigenen Standesunterschieden und Vorurteilen stellen müssen. Können Odine und Dariel ihre Differenzen überwinden und der Blutjägerin entkommen? Bloodsong - Alles, woran du geglaubt hast, war eine Lüge - Romantasy und Magie: Eine faszinierende Mischung aus Romantik und Fantasy, voller Blutmagie und mitreißendem Abenteuer. - Fesselnd und düster mit einer Prise verbotener Liebe: Der perfekte Lesestoff für Mädchen ab 14 Jahren. - Mit den angesagten Tropes Forbidden Love und Enemies to Lovers: Odine und Dariel überwinden ihre Standesunterschiede und Rivalitäten. - Mitreißend und dramatisch: Auf der Flucht vor den Blutjägern geraten Odine und Dariel in einen unerbittlichen Kampf um Liebe und Überleben.Bloodsong 1. Odines Prophezeiung entführt Mädchen ab 14 Jahren in eine Welt voller Intrigen, Romantik und magischer Abenteuer. Die fesselnde Geschichte einer gefallenen Prinzessin, ihres Fechtlehrers und einer Blutjägerin. Ein spannender Pageturner für Fans der Bücher von Sarah J. Maas und Leigh Bardugo.  

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Über dieses Buch

WENN SICH ALLES, WAS DU GEGLAUBT HAST, ALS LÜGE ERWEIST … WOHIN WIRST DU DICH WENDEN?

 

An ihrem achtzehnten Geburtstag ist das unbeschwerte Leben Prinzessin Odines vorbei. Durch eine düstere Prophezeiung wird sie zur Ausgestoßenen und findet in ihrem nervtötenden Reit- und Fechtlehrer Dariel einen unerwarteten Verbündeten, der ihr zur Flucht verhilft.

Gleichzeitig bekommt die neunzehnjährige Oona einen seltsamen Auftrag. Als Blutjägerin ist es eigentlich ihre Aufgabe, die Bestien zu vernichten, die das Königreich Garas terrorisieren. Doch nun möchte Marus, der Höchste ihres Ordens, dass sie Prinzessin Odine aufspürt und zu ihm bringt.

Können Odine und Dariel ihre Unterschiede überwinden und sich gemeinsam der Blutjägerin stellen?

Teil 1

Kapitel 1

Oona

Die Kraya fixiert mich mit ihrem tiefroten Auge.

Das Blut in meinen Adern singt, sein Rauschen schwillt an, reagiert auf die Nähe der Bestie. Es schreit nach ihr.

Doch ich bleibe ganz ruhig. Stehe mitten auf der Lichtung, die von dunklen Baumriesen wie von düsteren Wächtern umgeben ist.

Wie von selbst findet meine Hand das Kit. Mit einer raschen Bewegung löse ich die Schnürung und wickle das glattschwarze Leder auf, in das die filigranen Nadeln und Klingen eingerollt sind. Silbrig reflektieren sie das Licht des Mondes, der bleich und voll am Nachthimmel steht. Mit großer Sorgfalt wähle ich das richtige Instrument: eine lange Hohlnadel mit feiner Spitze.

Ich weiß, dass ich genug Zeit für dieses Ritual habe. Ich habe meine Gegnerin studiert und kenne sie gut genug, um zu wissen, dass sie mich noch nicht attackieren wird, sondern mich noch eine kleine Weile aus der Ferne beobachtet. Dennoch lasse ich die Bestie während meiner Vorbereitungen nicht aus den Augen, keine Sekunde lang. Trotz aller Studien bleibt sie letztendlich unberechenbar. Jede Unaufmerksamkeit könnte mein Ende bedeuten.

Nur undeutlich kann ich ihre Umrisse zwischen den Bäumen erkennen, doch ihr Unheil verkündend loderndes Auge verrät mir, wo sie ist. Witternd hebt sie den Kopf, atmet gierig meinen Geruch ein. Mein Fleisch ist es, wonach sie sich verzehrt: Menschenfleisch. Doch sie hat nicht begriffen, dass ich kein Mensch bin.

Nicht wirklich.

Nicht ganz.

Den Schmerz nehme ich kaum wahr, es ist nur ein winziges Piksen, mit dem die Nadel die Haut an meiner Fingerspitze durchdringt. Im bleichen Mondlicht wirkt der Blutstropfen, den ich mir entnommen habe, beinahe schwarz. Das Rauschen wird lauter, wie das Summen eines Bienenschwarms dröhnt es von innen gegen meine Ohren.

Augenblicklich wird die Nacht heller, alle Konturen klarer. Einen Blutstropfen habe ich geopfert, doch was ich dafür bekomme, ist so viel mehr: Stärke. Schnelligkeit. Schärfere Sinne. Mein Atem beschleunigt sich, und ich kann nicht anders, als zu grinsen. Der Kampf steht unmittelbar bevor, ich vibriere förmlich vor Anspannung.

Die Nadel passt perfekt in die Vertiefung am Griff meines Neuntöters. Ein Ruck schießt durch die Waffe, als das Blut in die feinen Rillen sickert. Ein leichter, kaum wahrnehmbarer Schimmer geht vom dunklen Metall aus.

Sobald ich am Griff drehe, schnellt eine schmale Dolchklinge hervor. Meine Waffe ist einsatzbereit.

Ich bin bereit.

Und wie auf ein geheimes Kommando hin bricht die Kraya zwischen den Bäumen hervor, wird von den Schatten förmlich ausgespien. Ein fleischgewordener Albtraum aus Zähnen, Klauen und borstigem schwarzem Fell, das in spärlichen Büscheln kaum die bleiche Haut bedeckt. Die sehnigen Muskeln treten deutlich hervor.

Ein runder Kopf thront auf ihren breiten Schultern. Ihr breites Maul verzieht sich zu einer Mischung aus Grinsen und Zähnefletschen, wobei sie viel zu viele Zähne entblößt. Das Grauenhafteste ist das einzelne riesige Auge, das mitten auf ihrer Stirn sitzt und in flammenden Farben leuchtet. Der Blick jagt mir eine Gänsehaut über den Rücken.

»Komm doch.« Der Wind trägt mein Flüstern weit. »Komm und versuch dein Glück.«

Und das tut sie. Mit gewaltigen Sprüngen setzt sie auf mich zu. In ihren Bewegungen und ihrer Statur ähnelt sie einem der hageren Affen, die in den Tiefen der dunklen Tannenwälder hausen, schießt es mir durch den Kopf – mit ihren langen Armen und der gebeugten Körperhaltung. Doch die langen, gifttriefenden Klauen und Zähne, der Blick und ihre Blutgier lassen gar keinen Zweifel daran: Das ist kein Tier. Die Kraya ist etwas völlig anderes. Eine Bestie.

Reglos wie eine Statue stehe ich da, bis sie ganz nah bei mir ist. So nah, dass mir ihr übler Geruch in die Nase steigt. Sie kann ihr Glück kaum fassen, weil ihr vermeintliches Opfer es ihr so leicht macht. Die Mundwinkel ziehen sich noch weiter in die Breite, beinahe bis zu den Ohren – zu einem grausamen, mordlüsternen Grinsen.

Im letzten Moment lasse ich mich fallen, drehe mich geschickt, stütze mich mit einer Hand auf dem Boden auf und ramme mit der anderen den Neuntöter empor. Die Kraya setzte gerade zum tödlichen Sprung an und segelt über mich hinweg. Der Dolch dringt mit Leichtigkeit durch ihre Haut und hinterlässt einen langen Schnitt seitlich an ihrem Bauch.

Sie kreischt auf, mehr aus Überraschung als vor Schmerz. Hat sie je erlebt, dass ein Mensch, den sie als Beute im Blick hatte, ihr etwas entgegensetzte? Wurde sie je von einer Waffe verletzt? Vermutlich nicht. Aber eine Blutjägerin ist kein normaler Mensch, und ein frisch geschliffener, durch freiwillig geopfertes Blut verstärkter Neuntöter durchdringt selbst dicke, ledrige Bestienhaut.

Ein paar Schritte von mir entfernt kommt sie zum Stehen. Wir starren einander an. Gier und Hunger schreien mir aus ihrem Blick entgegen. Meine Hand schließt sich fester um den Metallgriff des Neuntöters.

Noch eine Drehung am Griff, und der komplexe Mechanismus im Inneren der Waffe setzt sich mit einem Klacken und Rattern in Bewegung. Der Dolch verschwindet, stattdessen schnellt eine Schwertklinge hervor. Ich brauche eine größere Reichweite.

Diesmal warte ich nicht auf ihren Angriff. Ein Schrei bricht aus mir hervor und macht meiner Anspannung Luft. Mein Arm zuckt nach vorn, das Schwert beschreibt einen silbrigen Bogen und schnellt auf die Kraya zu.

Alles scheint gleichzeitig zu geschehen. Sie macht einen Satz zur Seite, doch noch während sie sich in Sicherheit bringt, schlägt sie nach mir.

Sie ist unglaublich schnell. Das Blutopfer hat meine Reflexe verbessert, aber sie reichen nicht aus. Die Wucht, mit der ihr Arm gegen meine Brust prallt, treibt mir die Luft aus der Lunge. Tränen schießen mir in die Augen, und einen Moment lang kann ich nicht atmen. Verschwommen sehe ich den nächsten Schlag auf mich zukommen.

Das Gift! Die Krallen der Krayas bringen den Tod, ich darf mich nicht kratzen lassen. Alle wissen, dass eine Kratz- oder Bisswunde einem ausgewachsenen Mann nach einer Stunde den Tod bringt, einem Pferd nach einem halben Tag. Einer jungen Frau? Mit Sicherheit schneller, als mir lieb ist.

Keuchend werfe ich mich zur Seite. Bei der ruckartigen Bewegung schießt ein greller Schmerz durch meinen Brustkorb.

Die Krallen streifen meine Schulter – gleiten aber an meinem Rüststück aus Rostkrabbenpanzer ab, das meine Schultern und Oberarme schützend umschließt. Die knöchernen Platten sind hart genug, um der Bestienattacke zu widerstehen. Gleichzeitig federt das Moos, das die Lichtung bedeckt, meinen Sturz ab.

Der Geruch feuchter Erde in meiner Nase.

Das Klimpern, mit dem mir der Anhänger vors Gesicht rutscht: die Glasphiole, die ich an einem eisenbeschlagenen Lederband um den Hals trage.

Gestochen scharfe Eindrücke, die ich nur einen Herzschlag lang wahrnehme.

Kaum dass ich den Boden berühre, bin ich auch schon wieder auf den Beinen, federe hoch, springe nach hinten und fixiere die Kraya.

Niemals unvorsichtig werden, habe ich Marus’ ruhige Stimme im Ohr. Ganz gleich, wie viele Bestien du schon erlegt hast, es wird nie zur Routine.

Einer Urgewalt gleich fällt sie über mich her. Krallen blitzen im Mondlicht auf. Zähne schlagen direkt vor meinem Gesicht zusammen. Mein blasses Antlitz spiegelt sich im Blutrot ihres Auges.

Ich weiche aus, springe zurück, ducke mich haarscharf unter ihren Angriffen hindurch. Frustriert heult sie auf. Sie will fressen, will die Zähne in mein Fleisch graben, statt mich quer über die Lichtung zu verfolgen. Sie reißt die langen Arme hoch, lässt sie auf mich niederrasen. Und diesmal ist es nicht nur Geschicklichkeit, sondern pures Glück, dass ich nicht getroffen werde.

Ich stoße mich vom Boden ab, bringe mich mit einem verzweifelten Hechtsprung in Sicherheit. Verliere das Gleichgewicht und lande auf den Knien, statt sofort wieder auf die Füße zu kommen.

Jeder meiner Atemzüge ist ein Keuchen. Ich brauche mehr: mehr Stärke, mehr Geschwindigkeit. Und um mehr zu bekommen, muss ich mehr geben.

Keine Zeit, das Nadelkit hervorzuholen. Blitzschnell fahre ich mit der Hand über die scharfe Schwertschneide. Mein dickflüssiges Blut glitzert schwarzrot im Mondlicht, fließt zäh über die Klinge. Der Neuntöter scheint es regelrecht zu trinken, und das Metall schimmert sofort intensiver.

Frischer Sauerstoff strömt in meine Lunge. Ich spüre die Kraft, die in mir anschwillt. Mein Herz pocht schneller. Ich springe aus meiner knienden Position auf die Bestie zu wie eine angreifende Schlange. Sie faucht, als das Schwert ihren Arm streift.

Schlag um Schlag, Schritt für Schritt treibe ich sie vor mir her. Ihr Blick verändert sich. Sie ist überrascht, vielleicht beunruhigt. Doch ihre Gier überwiegt.

Sie täuscht von rechts an, wirft sich dann unvermittelt nach links, segelt mit einem Brüllen von der Seite auf mich zu – rasant, doch dank meines Blutopfers scheint alles verlangsamt abzulaufen, als würde sich die Welt um mich herum durch zähen Honig bewegen. Blanke Zähne und gifttriefende Klauen nähern sich meinem Gesicht.

Unzählige Male habe ich für solche Situationen trainiert. Unzählige Male haben meine Muskeln diese Bewegungen durchgeführt – nicht nur im Training, sondern auch in etlichen Kämpfen.

Ich bin vorbereitet.

Die Kraya kreischt markerschütternd auf, als das Schwert in ihr Fleisch dringt. Ich habe den Neuntöter zwischen uns gebracht und meinen Oberkörper gleichzeitig zurückgebeugt. In rasender Wut schnappt sie nach mir, kommt aber nicht an mich heran. Ich rieche den muffigen Gestank ihres Atems und ihres Fells.

Ich muss es zu Ende bringen. Dazu bin ich hier. Ich setze ihr einen Fuß auf die Brust, zerre das Schwert mit einem kräftigen Ruck aus der Wunde.

Eine weitere Drehung am Griff meiner Waffe. Ein weiteres hartes, metallisches Klacken. Die Sensenklinge, die aus dem Griff hervorschießt, sirrt leise, als sie die Nachtluft durchschneidet.

Meine Muskeln spannen sich an. Ich stoße mich ab, springe aus dem Stand hoch, schwinge die Sense. Die gebogene Klinge saust durch die Luft und trifft ihr Ziel.

Einen Augenblick lang scheint die Zeit stillzustehen. Die Kraya erstarrt. Ihr Auge wird matt, blickt ins Leere. Mit einem Seufzen, das beinahe menschlich klingt, sinkt sie in sich zusammen.

* * *

Schwer atmend stehe ich über meiner Beute. Eine tiefe Stille hat sich wie eine Decke über die Lichtung gesenkt und hüllt sie ein. Der laue Nachtwind streichelt meine Haut.

Die Schnittwunde an meiner Hand pocht und fühlt sich heiß an. Bei jedem Atemzug schießt ein Stich durch meinen Brustkorb. Doch die Blessuren sind nicht der Rede wert, sie werden schnell verheilen. So viel schneller als bei den meisten Menschen.

Die Verletzungen, die meine Gegnerin erlitten hat, werden hingegen nicht heilen. Blut färbt ihr schütteres Fell an Hals, Brust und Bauch dunkel und lässt es nass glänzen. Das hungrige Lodern in ihrem Auge ist erloschen. Nun starrt sie bloß noch ins Leere, in eine andere Welt, ins Nichts.

Und einen winzigen Moment gestatte ich mir, in mich hineinzuhorchen, mich zu fragen, was das gerade mit mir gemacht hat. Spüre ich Triumph? Erleichterung? Einen Hauch von Trauer um meine tapfere Gegnerin?

Nein. Nichts davon. Nichts regt sich in mir, nur das dumpfe Pochen meines Herzens nehme ich wahr.

Es musste getan werden, und ich habe es geschafft. So einfach ist das.

Meine Hand schließt sich um die Glasphiole, die um meinen Hals baumelt und in der sich ein kleines Büschel schwarzer, borstiger Haare befindet. Seit es mir ausgehändigt wurde, hat es mich geleitet und mir wie ein Kompass den Weg zu meinem Ziel gezeigt. Je näher ich der Kraya kam, desto heißer hat sich das Glas der Phiole angefühlt. Jetzt aber ist es eiskalt, die Wärme des magischen Artefakts ist erloschen, ebenso wie das Leben der Kraya. Der Auftrag ist erfüllt.

Die Kraft, die mir die Blutmagie verliehen hat, ebbt ab. Die Nacht wird dunkler, die Konturen weicher. Die Bäume, die die Lichtung einrahmen und an denen ich gerade noch jedes Detail wahrgenommen habe, verschwimmen mit dem nächtlichen Himmel und verlieren sich schwarz vor dem tiefen Dunkelblau. Und ganz langsam, allmählich, kehren zaghafte Waldgeräusche zurück: der Schrei eines Käuzchens, ein Rascheln im Unterholz, sachtes Flügelschlagen. Die Tiere, die wegen der Nähe der wilden Kraya atemlos und angsterstarrt verharrt haben oder geflohen waren, wagen sich wieder aus ihren Verstecken. Während unseres Kampfes war der Wald kurzzeitig wie leer gefegt, jetzt ist die Gefahr vorbei, und die ganze Tierwelt atmet auf.

Drei Dinge eigne ich mir von jeder Beute an, die ich erlegt habe. Wieder kommt mein Kit zum Einsatz. Geradezu feierlich entrolle ich das weiche Leder, ziehe eine Hohlnadel und ein Skalpell hervor. Das Blut, das ich der Bestie entnehme, muss ich Marus mitbringen. Es verleiht uns Blutjägerinnen und Blutjägern Stärke.

Das Zweite, was ich der Kraya entreiße, ist ein Zahn: ein Beweis dafür, dass ich den Auftrag erfolgreich abgeschlossen habe. Der Dorfvorsteher, der die Jägergilde beauftragt hat, muss mit eigenen Augen sehen und begreifen, dass die Bevölkerung nicht mehr in ständiger Furcht vor der Bestie leben muss, die die Gegend terrorisiert hat.

Das Dritte, was ich an mich nehme, ist für mich allein bestimmt. Eine Trophäe. Um die Bestie nicht zu vergessen, die durch meine Hand ihr Leben verloren hat. Etwas, was ich bei mir trage, was ein Teil meiner Rüstung wird oder was ich als Waffe nutzen kann.

So wie die rotbraunen Panzerplatten der Rostkrabbe, die Fischerboote nahe der Küste versenkt und badende Kinder verschleppt hat. Nun umschließen sie meine Schultern und schützen mich wie eine zweite Haut.

Oder wie die Knochenschale, die ich aus dem Schädel eines Mantikors gefertigt habe. Wie das nachtschwarze Feuerkatzenleder, aus dem meine eng anliegende Hose besteht. Und die dunkel schimmernden Schuppen, die meine Korsage verstärken.

Mit ruhigen Handgriffen schneide ich der Kraya eine ihrer langen, scharfen Krallen mitsamt der Giftdrüse ab. Der Tag, an dem ich sie einsetzen kann, wird bestimmt kommen.

Ich halte mein Gesicht in den Nachtwind, atme den Duft des umliegenden Waldes ein und schließe für einen Moment die Augen. Mein rasender Puls beruhigt sich. Ich ziehe mir die Kapuze meines Umhangs über den Kopf, um meine flammend roten Locken zu verbergen. Der Umhang ist schwarz, wie beinahe all meine Kleidungsstücke, damit ich zu meiner bevorzugten Jagdzeit besser mit meiner Umgebung verschmelze.

Bevor ich mich auf den Rückweg zur Festung begebe, schaue ich die leblose Kraya ein letztes Mal an und streiche über ihr Gesicht, um das jetzt mattrote, glanzlose Auge zu schließen. Sogar nun, da sie mit verdrehten Gliedern auf dem Moos liegt, wirkt sie gigantisch.

Sie war eine Bestie. Zu gefährlich, um weiterzuleben – aber wie schon so oft frage ich mich, ob ich mich wirklich so stark von ihr unterscheide.

Kapitel 2

Odine

Kandierte Pfirsiche aus dem Süden Garas. Zuckermandeln. Der Veilchensirup, nach dem die Damen bei Hof momentan so verrückt sind … Das Öl, mit dem ich mich hinter den Ohren und an den Handgelenken betupfe, lässt mich wie eine Dessertkreation duften. Wäre ich gerade nicht so nervös, würde mir bestimmt der Magen knurren.

Meine Füße, die in Seidenschuhen mit kleinen Absätzen stecken, scheinen den weißen Marmorboden kaum zu berühren. Ich schwebe förmlich durch den Ballsaal, will alles gleichzeitig sehen, überall gleichzeitig sein. Mein fliederfarbenes Kleid raschelt bei jedem Schritt, der weit schwingende Rock wippt, und das silberbestickte Korsett zaubert mir eine Wespentaille. Wie voluminöse Wolken umschmeicheln die hauchfeinen Ärmel meine Schultern.

Mein Blick fällt in einen der goldgerahmten Spiegel, die zwischen der Seidentapete und den Gemälden an den Wänden angebracht ist. Die Zofe, die mir heute geschickt wurde, versteht ihr Handwerk: Kunstvoll geflochtene, schmale Zöpfe sind zu einem Kranz um meinen Kopf gelegt und mit lila Blumen geschmückt. Der Rest meiner Haare fließt in sanften Wellen goldblond bis zu meiner Taille. Ich blicke in meine eigenen Augen – glänzend und erwartungsvoll geweitet. Die Aufregung zaubert eine sanfte Röte auf meine Wangen.

Wie lange habe ich auf diesen Tag gewartet? Es fühlt sich an, als wäre mein ganzes Leben auf dieses eine Ereignis zugesteuert. Auf diesen einen, rauschenden Ball am Königshof. Die größte Veranstaltung, die ich je besucht habe und auf der ich in die Gesellschaft eingeführt werde, weil ich nun kein Kind mehr bin.

Das Bild im Spiegel verändert sich, es verrutscht um eine Winzigkeit, als verschöbe sich die Wirklichkeit. Immer noch sind es meine Gesichtszüge, mein spitzes Kinn, meine Lippen, meine dunklen Augen, die mir entgegengeworfen werden. Und doch ist auf einmal etwas anders als zuvor. Da liegt etwas in meinem Blick, das gerade noch nicht da war – etwas Fremdes. Eine Fremde, die nur so aussieht wie ich, schaut mir aus meinen Augen entgegen.

Doch ganz fremd ist sie mir nicht, und sie macht mir auch keine Angst. Seit meiner Kindheit ist sie mir vertraut, wenngleich sie noch nie ein Wort an mich gerichtet hat.

»Mädchen«, flüstere ich dem Spiegel zu und lächle.

Das Mädchen, anders habe ich sie nie genannt, einen anderen Namen hat sie nicht.

Seit ich denken kann, ist sie da. Manchmal blickt sie mir aus dem Spiegel oder aus glatten Wasseroberflächen entgegen, oder sie besucht mich in meinen Träumen. Meine imaginäre Freundin, so haben meine Zofen, meine Eltern und Geschwister sie genannt. Bis ich irgendwann aufgehört habe, sie zu erwähnen, weil mir aufgefallen ist, dass mein Umfeld die Geschichten von ihr nach einer Weile seltsam oder beunruhigend fand.

Sie redet nie. Oft erwidert sie mein Lächeln, manchmal winkt sie mir sogar zu, jetzt aber wirkt sie besorgt. Ernst schaut sie mich an, ihre braunen Augen sind verdunkelt.

Ich zwinkere ihr unbeschwert zu, dann wende ich mich mit einem Schulterzucken ab. Jetzt gibt es andere Dinge, mit denen ich mich beschäftigen muss. Es ist der Abend, dem ich so lange entgegengefiebert habe. Über den ich nächtelang voll Aufregung mit Freundinnen getuschelt habe und den ich jetzt aus vollen Zügen genießen will.

Tanzpaare wirbeln durch den Raum und sind dabei herausgeputzt wie Paradiesvögel, schillern in allen Nuancen des Regenbogens. Mein Herz hüpft in meiner Brust, als wolle es einen eigenen Tanz aufführen, und schon gleich werde ich mich in diesen Reigen einreihen und mich von der Musik mitreißen lassen. Doch noch zögere ich den Moment hinaus, genieße die prickelnde Vorfreude.

Die üppigen Perlen und Edelsteine, die an Hälsen, Armen und Ohren der Damen glitzern, fangen das Licht der unzähligen Kerzen ein. Taft und Seide, kostbarer Brokat und schwerer Samt glänzen um die Wette.

Die Musiker auf der Bühne tragen Weiß und Gold. Die Melodien, die sie spinnen, sind so mitreißend, dass ich kaum stillhalten kann. Während sie ihren Saiteninstrumenten herzergreifend schöne Klänge entlocken, tobt hinter den Bleiglasfenstern ein Unwetter, das uns hier drin nichts anhaben kann.

»Na, Schwesterherz? Was dir der Spiegel wohl zeigen wird? Bist du schon gespannt?« Nerina hakt sich bei mir unter. Ihre Locken sind sorgfältig auf dem Kopf aufgetürmt und mit unzähligen juwelengeschmückten Nadeln in Form gehalten.

Wie auf ein gemeinsames Kommando hin schauen wir zum Spiegel. Nicht zu einem der vielen verzierten, die an den Wänden hängen und den Raum um ein Vielfaches größer wirken lassen. Sondern zu dem klobigen, eckigen Spiegel, der das Herzstück des Ballsaals bildet und den vorhin zehn Männer hereintragen mussten. Noch ist er mit dunklen Tüchern verhüllt – bis zum Höhepunkt des Abends: dem Wahrspruch.

Eine prickelnde Gänsehaut bildet sich auf meinen Armen. Um Mitternacht wird der Spiegel enthüllt. Die weise Frau wird allen Mädchen, die in diesem Jahr achtzehn Jahre alt geworden sind und auf dem Ball in die Gesellschaft eingeführt werden, mithilfe des Spiegelglases die Zukunft vorhersagen. So will es die Tradition.

Ich grinse, um die atemlose Spannung abzuschütteln, die mich befallen hat. »Hauptsache, ich bekomme nicht den gleichen Schicksalsspruch wie du. Mit allem anderen kann ich leben.«

Nerina zieht eine leidende Grimasse. Meine Schwester ist gerade mal ein Jahr älter als ich und hatte dementsprechend letztes Jahr ihren großen Auftritt auf dem Ball. Ich war mit meinen siebzehn Jahren damals zu jung, um dabei zu sein, doch sie hat mir alles so lebhaft geschildert, dass ich es förmlich vor meinen eigenen Augen gesehen habe. Sowohl ihre Vorfreude konnte ich mir gut vorstellen als auch ihr fassungsloses Gesicht, als ihr der Spiegel nicht etwa eine Heirat mit einem schönen Mann oder ein Leben in ewig währendem Reichtum prophezeite, sondern üppigen Kindersegen: Vier Söhne und vier Töchter soll sie gebären.

»Das hat noch Zeit«, beschließt sie jetzt energisch. »Viel, viel Zeit. Niemand sagt, dass sich ein Wahrspruch innerhalb der nächsten Jahre bewahrheiten muss.«

Ich nicke. »Stimmt. Das Thema kannst du immer noch in Angriff nehmen, wenn du ein achtzigjähriges Weiblein bist.«

Sie kneift mich in den Arm. »Biest. Jetzt lachst du noch, aber wenn dir der Spiegel dein Gesicht mit Pockennarben zeigt, fließen bittere Tränen.«

»Prinzessin Odine.« Ein junger Mann in elegantem azurblauem Dreiteiler verneigt sich anmutig vor mir. »Darf ich um diesen Tanz bitten?«

»Prinz Leander Hohenfels. Gute Partie, ehrwürdige Familie, weitläufige Ländereien«, raunt Nerina mir zu, bevor ich meine Hand in seine lege, mich mitreißen lasse und meine Schwester aus dem Blick verliere.

Die Klänge der Violinen und Klarinetten, Harfen und Lauten ziehen mich in ihren Bann. Ich spüre den Seidenstoff, aus dem das Jackett des Prinzen gefertigt ist, unter meinen Fingern und rieche sein Parfum, das meinem ähnelt: süß, fruchtig und so üppig, dass mir beinahe schwindelig wird.

Prinz Leander hat ein umwerfendes Lächeln und ist ein hervorragender Tänzer. Gekonnt führt er mich durch die kompliziertesten Tanzfiguren. Ich folge möglichst grazil den Kreuzschritten, drehe mich um die eigene Achse, hebe und senke die Arme, wann immer der Takt der Musik es vorgibt. Jeden der Tänze, die bei Hofe üblich sind, beherrsche ich im Schlaf, und jeder Schritt ist mir in Fleisch und Blut übergegangen. Es ist ein essenzieller Teil der höfischen Bildung, die jedem Mädchen aus hohen Kreisen zuteilwird.

Immer schneller spielen die Musiker, immer schneller drehen wir uns im Walzer über die Tanzfläche, bis alles vor meinem Blick verschwimmt – die anderen Tanzpaare ebenso wie das große, dunkle Rechteck des verhüllten Spiegels. Nerina tanzt derweil mit ihrem Verlobten. Natürlich handelt es sich um eine arrangierte Ehe, doch meine Schwester hat es gut getroffen und hegt tatsächlich Gefühle für den Prinzen, mit dessen Familie die Verbindung geschmiedet wurde.

Meine großen Brüder stehen etwas abseits und unterhalten sich lachend mit anderen jungen Adligen.

Meine Eltern sitzen an der langen Tafel mit all den anderen Fürsten und Fürstinnen, Grafen und Gräfinnen, die das Geschehen im Ballsaal aufmerksam verfolgen und in Gespräche vertieft sind, statt selbst am Tanz teilzunehmen. An diesem Tisch werden vermutlich gerade Bündnisse geschlossen, Vereinbarungen getroffen, Intrigen geschmiedet. Verbündete werden verraten, es wird um Macht und Einfluss gefeilscht. Diese hochherrschaftlichen Damen und Herren sind eine Meute von Hyänen, jederzeit bereit, ihrem Nächsten, den sie gerade mit schönen Worten umgarnen, ein Messer in den Rücken zu stoßen, nur um die Grenzen ihres eigenen Einflussbereichs um ein paar Meilen zu verschieben.

Und in der Mitte der Tafel das Königspaar, beide silberhaarig und hochgewachsen. Hoheitsvoll und milde lächeln sie, doch hinter diesem Lächeln verbirgt sich eine Härte, die nötig ist, um sich innerhalb Garas in einer solchen Machtposition zu halten. Die Wachen, die sich hinter König Arren und Königin Megwar platziert haben, halten sich zwar diskret im Hintergrund, stehen da jedoch nicht ohne Grund. Ihre bloße Präsenz macht klar, dass sie jederzeit bereit sind, ein Attentat abzuwehren, wenn es nötig sein sollte.

Auf rauschenden Festen wie diesem kommt die hohe Gesellschaft Garas zusammen, alle scheinen einander wohlgesonnen zu sein, doch das täuscht. Unser Zwergkontinent ist ein Flickenteppich aus kleinen Königreichen, Fürstentümern, Grafschaften, die einander permanent bekriegen und stets um die Oberhand ringen. Morgen schon kann es sein, dass einer dieser feinen Herren oder eine der eleganten Damen die eigenen Soldaten gegen jene der benachbarten Grafschaft in die Schlacht schickt. Wo heute höfliche Konversation betrieben wird, kann morgen Blut fließen. Wer das Spiel nicht mitspielt, wird von ihm verschlungen.

Aber darüber muss ich mir nicht den Kopf zerbrechen. Als jüngste Tochter an einem Fürstenhof werde ich nie diejenige sein, die die Fäden zieht. Meine einzigen Aufgaben bestehen darin, pflichtbewusst zu meinen Unterrichtsstunden zu erscheinen, die mich zu einer formvollendeten, heiratsfähigen Lady machen sollen – um schlussendlich eine Partie zu machen, die meinem Elternhaus nutzt.

An der Hand von Prinz Leander wirble ich durch den Raum. Mein weit schwingender Rock bauscht sich um meine Beine und fliegt, als ich mich drehe. Der kostbare Familienschmuck an meinem Hals klimpert. Ein Lachen bahnt sich den Weg aus meiner Kehle. Wie herrlich das alles ist! Nicht zu vergleichen mit den kleinen Tanzbällen, die meine Eltern manchmal bei uns auf dem Hof abhalten, um die langen, harten Winter zu versüßen.

Im Schwung schnappe ich mir eines der Gläser mit Perlwein, die auf Tabletts umhergetragen werden, löse mich von Leander und fertige ihn mit einem strahlenden Lächeln ab. Wunderbar süß prickelt das Getränk in meinem Mund, verschafft mir aber nicht die Abkühlung, die ich mir erhofft habe. Meine Wangen fühlen sich warm an.

»Prinzessin Odine. Wie reizend, Eure Bekanntschaft zu machen. Ich muss gestehen, ich habe dem Tag Eures ersten Balls entgegengefiebert. Man hört viel über Eure Schönheit, und keines der Worte war eine Übertreibung«, schmeichelt ein weiterer Adelssohn, kniet nieder und bittet galant um den nächsten Tanz. Tief schaut er mir in die Augen. Nur zu gern lege ich meine Hand in seine.

Noch rasanter spielt die Musik. Ich spüre das Pochen meines Pulses in meiner Kehle. Der Raum scheint sich um mich zu drehen wie ein einziges großartiges Karussell voller Attraktionen, Glitzer und Glanz. Ich bin trunken, trunken vor Glück.

Viel zu schnell verfliegt die Zeit, die Stunden erscheinen mir wie ein Augenblick, der mit einem Wimpernschlag vorüber ist. Das Schlagen des Gongs bringt mich zur Besinnung, schwankend und lächelnd halte ich inne. Die Musiker lassen ihre Instrumente sinken.

Königin Megwar erhebt sich. Zu ihrer Linken und Rechten stehen Wächter. Ihre klare Stimme ist nicht laut, trägt aber weit in dem Raum, in dem von einem Augenblick auf den anderen völlige Stille herrscht.

»Es ist an der Zeit«, sagt sie. »Zeit, zu hören, welche Zukunft den jungen Damen und welche Zukunft Gara damit beschieden ist.«

* * *

Wir wissen, was zu tun ist. Jede von uns hat sehnsüchtig auf diesen Moment gewartet und ihn wieder und wieder im Kopf durchgespielt. Das ist der eigentliche Grund, warum wir an den Königshof eingeladen wurden. Aus allen umliegenden Grafschaften und Fürstentümern Garas sind wir angereist, um hier, am Regierungssitz, unser Schicksal zu erfahren.

Mit gemessenen Schritten gehe ich mit den anderen Mädchen nach vorn, die im Laufe des Jahres seit dem letzten Ball die Volljährigkeit erlangt haben. Vor dem Spiegel stellen wir uns auf. Das Herz schlägt mir bis zum Hals, verstohlen wische ich mir die verschwitzten Hände am Seidenrock ab.

Die Menge teilt sich, als die weise Frau den Ballsaal betritt und nach vorn kommt. Ich weiß nicht, was ich erwartet habe – vielleicht weiße Haare und ein runzliges Gesicht? Wallende Gewänder und klimpernde Armreifen? Auf den ersten Blick ist sie unscheinbar, eine schlanke, fast hagere Frau ungefähr im Alter meiner Mutter. Doch im Gegensatz zu dieser unternimmt sie nichts, um die Fältchen um ihren Mund und die Augen zu kaschieren. Ihr Kleid ist einfach und schmucklos und erinnert in dem tristen Grau an die Aufmachung einer Gouvernante. Zwei Wächter machen Anstalten, sie nach vorn zu geleiten, doch mit einer ungeduldigen Geste verscheucht sie die beiden Männer.

Ich halte den Atem an und merke, dass alle ringsumher es mir gleichtun, als die weise Frau das Tuch packt und den Spiegel mit einem einzigen, kräftigen Ruck enthüllt. Im ersten Moment unterscheidet er sich optisch kaum von einem normalen Alltagsgegenstand, ist schlicht und hat keine Verzierungen. Ein Rahmen aus dunklem Holz fasst das rechteckige Glas ein, in dem ich jetzt die staunenden Gesichter der Ballgesellschaft sehe. Doch als die Frau die Oberfläche beinahe zärtlich berührt, findet eine unheimliche Wandlung mit dem Gegenstand statt: Was gerade noch starr war, scheint auf einmal flüssig zu werden und sich zu bewegen. Der Spiegel verdunkelt sich, gleicht auf einmal schwarzem Wasser, das stetig durch den Rahmen fließt. Ein Raunen geht durch die Menge.

Von außen peitscht der Wind Regen gegen die Fenster. Bisher haben Musik, Stimmen und Gelächter den Lärm des Gewitters beinahe vollständig übertönt, doch nun, da die Klänge verstummt sind, kann man es nicht mehr überhören. Der Wind heult wie ein wildes Tier. Oder eher wie eine der grauenhaften Bestien, die sich da draußen tummeln. Kurz frage ich mich tatsächlich, ob dort gerade eine dieser Kreaturen umherschleicht, auf der Suche nach einem hilflosen Menschen, den sie töten und fressen kann.

Die Vorstellung jagt mir einen Schauer über den Rücken, doch es ist eher ein wohliges Gruseln. Denn auch bei Unwetter und Sturm sind wir hier drinnen im Schloss geschützt. All die Ballgäste werden die Nacht hinter den hohen Mauern verbringen und erst am nächsten Tag, wenn die Sonne scheint und die Gefahr kleiner ist, in ihre gepanzerten Kutschen steigen und auf direktem Wege zu ihren eigenen Schlössern, Burgen oder Gutshäusern fahren. Zu jeder Zeit werden sie dabei von bewaffneten Leibgardisten begleitet werden. Und am Ziel angekommen, werden sie sich auch dort hinter Mauern verschanzen.

Der stechende Blick der weisen Frau mustert mich und die anderen Achtzehnjährigen. Lilian neben mir zittert. Ich kenne sie schon lange und möchte wetten, dass sie nervös ist, statt sich auf ihren Wahrspruch zu freuen. Aber was könnte es Aufregenderes geben? Ich kann es kaum erwarten, an die Reihe zu kommen.

»Du. Eredyn. Komm nach vorn.« Ohne sich mit Floskeln aufzuhalten, deutet die Frau mit ihrem dünnen Finger auf ein Mädchen, das ich noch nie gesehen habe. Vielleicht eine Adlige aus den äußeren Provinzen nahe der Küste.

Hat jemand die weise Frau zuvor darüber aufgeklärt, wer von uns welchen Namen trägt? Es hätte mich nicht gewundert, wenn sie einfach so gewusst hätte, wer wir sind. Schon ihre Augen verraten ihre Außergewöhnlichkeit. Gelb und habichtartig sind sie, Augen, aus denen sie aufmerksam jede von uns mustert und mit denen sie jetzt Eredyn fixiert.

Hocherhobenen Hauptes und mit durchgedrücktem Rücken tritt das Mädchen nach vorn. Die Anspannung ist ihr anzumerken. Der straffe Flechtzopf fällt ihr schwarz glänzend und mit Perlen geschmückt über den Rücken. Das waldgrüne Samtkleid betont ihre schlanke Statur. Ihre Hände zittern, aber in ihren Augen liegt ein erwartungsvoller Glanz, als sie sich vor den Spiegel stellt. Ich sehe sie von hinten, doch als die weise Frau den Spiegelrahmen kurz berührt, wird das Bild wieder klar, und wir alle sehen die Reflexion von Eredyns blassem, schönem Gesicht im Glas.

Die Frau murmelt ein Wort, das so fremdartig klingt, dass ich es mir weder merken noch es aussprechen könnte. Im Spiegel ist immer noch Eredyn zu sehen, doch der Rest des Raumes verblasst und macht einem anderen Bild Platz: Endlos weite Wiesen erstrecken sich bis zum Horizont, Gräser und Wildblumen wiegen sich sachte im Wind, und Pfirsichbäume stehen in voller Blüte. In der Ferne sind vereinzelt Berge mit markant geformten Gipfeln zu sehen, die ich von Bildern und Landkarten kenne, die mir einer meiner Lehrmeister in unserer Bibliothek gezeigt hat.

»Dein Weg führt dich in den Süden«, spricht die weise Frau aus, was im Spiegel zu sehen ist.

Tosender Applaus folgt auf ihre Worte.

Detaillierter ist Eredyns Wahrspruch nicht. Nun kann sie sich den Kopf darüber zerbrechen, wann und auf welche Weise sie im milden Süden Garas landen wird. Wird eine Heirat sie dorthin führen? Oder erwartet sie ein ganz anderes Schicksal? Als Eredyn nun zurückkommt und sich wieder zwischen uns einreiht, sind ihre Wangen sanft gerötet.

»Siehst du? Alles nicht schlimm«, flüstere ich der nervösen Lilian aufmunternd zu.

Diese bringt ein schwaches Lächeln zustande und wirkt nicht mehr so verzagt.

»Odine.« Als ich meinen Namen aus dem Mund der weisen Frau höre, zucke ich zusammen. Jetzt spüre ich sie auch, die Aufregung, die Nervosität. Tief atme ich ein und aus, als ich mich mit wackeligen Knien vor den Spiegel stelle. Mein Herz donnert wie wild in meiner Brust.

Er ist da. Der große Moment ist gekommen. Ich bin an der Reihe.

* * *

Ich sehe mich selbst, mein fliederfarbenes Kleid, die Goldwellen meiner Haare bis zu meinen Hüften. Die Neugier im Braun meiner Augen. Die Ballgesellschaft hinter mir, dann die anderen Mädchen, weiter hinten meine Eltern, Nerina, das Königspaar.

Was ist mir vorbestimmt? Großes? Schönes? Tief in mir weiß ich, dass mir der Spiegel etwas Aufregenderes prophezeien wird als Nerina mit ihrem Kindersegen. Oder will ich das nur glauben?

Es sind lediglich ein paar Augenblicke, bis sich die Reflexion verändert, doch mir erscheint es wie eine Ewigkeit, weil ich so begierig darauf bin.

Weiße Blumen erscheinen in meinem Haar, so täuschend echt, dass ich unwillkürlich an meinen Kopf fasse, obwohl ich weiß, dass sie in Wirklichkeit nicht da sind. Mein Spiegelbild trägt ein prachtvolles weißes Kleid, über und über bestickt mit Perlen.

Ich will jauchzen, tanzen! Nur, weil ich in wichtiger Gesellschaft bin, reiße ich mich zusammen.

Ein Brautkleid! Das schönste, das ich je sah. Eine märchenhafte Zukunft steht mir bevor, ich weiß es genau.

Die weise Frau öffnet den Mund, um etwas zu sagen.

Und in dem Moment ändert sich alles.

* * *

Rot.

Ein tiefroter Fleck entsteht auf dem schneeweißen Kleid, genau da, wo sich mein Herz befindet. Mein Spiegelbild reißt die Augen auf und öffnet den Mund zu einem stummen Schrei, während ich selbst vor Schreck erstarre.

Mehr Rot.

Der Fleck wird größer, breitet sich aus. Frisst das unschuldige Weiß. Erreicht die Ärmel, den Rock. Kriecht bedrohlich langsam über den ganzen Spitzenstoff, bis mein Spiegelbild in einem blutroten Kleid dasteht.

Die Blumen im Haar welken und fallen zu Boden. Doch sie landen nicht auf Marmor, sondern in einer roten Lache, die sich um die Füße meiner Reflexion ausgebreitet hat. Tropfen für Tropfen fällt weiteres Rot zu Boden, dick und zähflüssig, quillt über den Saum des Kleides und vereint sich mit dem See aus Blut, in dem das Mädchen im Spiegel steht und dessen Pegel immer höher steigt.

Ein Wimmern bricht aus meiner Kehle hervor und hallt unnatürlich laut durch die unheimliche Stille, die sich über den Saal gelegt hat. Niemand spricht ein Wort, niemand scheint zu atmen. Nur der Sturm heult, heult so laut und zornig, als wollte er das ganze Schloss niederreißen.

Ich weiß, was das Bild bedeutet, auch wenn mein Verstand sich weigern will, es zu realisieren. Jeder kennt und fürchtet diese Prophezeiung, doch nicht in meinen schlimmsten Albträumen hätte ich für möglich gehalten, dass mich dieser Wahrspruch treffen könnte. Nicht mich. Niemanden, den ich kenne.

Alle Blicke sind auf mich gerichtet. Ich taumle einen Schritt rückwärts, reiße mich vom Spiegel los und schaue mit aufgerissenen Augen um mich. Jeder einzelne Mensch im ganzen Ballsaal starrt mich an. Die Zeit scheint stillzustehen, niemand bewegt sich. Niemand außer mir.

»Die Rote Witwe.« Unnatürlich laut hallt die Stimme der weisen Frau durch den Saal, hallt von den Wänden und dem Marmorboden wider.

Als wäre es nötig, das auszusprechen.

Als wüssten nicht alle hier Anwesenden, was das bedeutet: Ich bin verdammt. Und jeder in meinem Umfeld dazu.

Ich kann den Moment, in dem die Stimmung umschlägt, förmlich mit Händen greifen. Den Augenblick, in dem sich etwas in den Blicken verändert.

Der Wahrspruch der Roten Witwe bringt nicht nur Unheil über mich. Sondern über all jene, die mit mir zu tun haben.

Verzweifelt schaue ich zu meiner Familie. Sie werden trotz allem zu mir stehen, oder etwa nicht?

Meine Mutter hat sich beide Hände auf den Mund gepresst, ihre Augen sind weit aufgerissen. Als ich einen Schritt auf sie zutaumle, weicht sie zurück, obwohl uns noch viele Meter trennen und sie fast am anderen Ende des Raums steht.

Mein Vater fasst sich an die Brust und wendet den Blick ab.

Meinen großen Brüdern steht grimmiger Zorn in die Gesichter geschrieben. Und auf einmal begreife ich: Keiner von ihnen wird seine glänzende Zukunft für mich aufgeben. Für die kleine, verdammte Schwester, für die ohnehin jede Hilfe zu spät kommt, nachdem ihr das Bild der Roten Witwe erschienen ist. Keiner von ihnen wird sich freiwillig von mir in den Abgrund reißen lassen.

Nerina wendet den Blick ab. Und ich weiß von einer Sekunde auf die andere, dass ich allein bin.

Königin Megwar richtet den Zeigefinger auf mich, wie auf ein ekelhaftes Insekt.

Doch König Arren ist es, der mit seinen Worten mein Schicksal besiegelt. Während des bisherigen Fests hat er einen behäbigen, fast schläfrigen Eindruck gemacht und seiner Gattin das Rampenlicht überlassen, aber jetzt donnert seine Stimme durch den Saal: »Ergreift sie!«

Sämtliche Wachen im Raum greifen nach ihren Waffen – sogar die Leibgardisten meiner Eltern, die mit uns angereist sind, um unsere körperliche Unversehrtheit sicherzustellen. Das metallische Klirren geht mir durch Mark und Bein.

Ein letztes Mal schaue ich meine Familie an, drehe mich um die eigene Achse, sehe in all die abweisenden Gesichter. Werfe einen Blick auf den Traum, den ich achtzehn Jahre gelebt habe. Sehe meine Zukunft bersten, zersplittern und in tausend kleine Scherben zerspringen.

Die Wachen bewegen sich auf mich zu – bereit, mich zu ergreifen und mit Waffengewalt gegen mich vorzugehen. Plötzlich bin ich die größte Gefahr, die sich in diesem Schloss befindet. Der Tod ist mir sicher, wenn sie mich erwischen. Niemand, nicht einmal meine Familie, wird mich schützen.

Ich fahre herum, raffe den fliederfarbenen Seidenrock hoch. Und renne. Meine filigranen Absätze klappern über den rutschigen Marmor, die wolkigen Ärmel flattern. Ich renne um mein Leben, während der wilde Sturm um das Schloss heult.

Kapitel 3

Oona

Das Feuer verschlingt das Holz, lässt es in flammenden Farben glühen, es knistern und knacken. Ich spüre die Gluthitze auf meiner Haut.

Schatten lecken über kalte Steine, huschen über das Mauerwerk. Die Festung ist alt, viel älter als ich oder als irgendeine andere Blutjägerin, ein anderer Blutjäger, die sich heute hier versammelt haben. Im Hintergrund wütet das Meer, das niemals zur Ruhe kommt. Immer schon hatte ich das Gefühl, es wolle die Burg von der Klippe reißen, auf der sie thront.

Alle sind heute hier, in unserem Zuhause. Morgen kann das schon wieder anders sein, da wir uns vielleicht in alle Himmelsrichtungen zerstreuen, dorthin, wo man unsere besonderen Fähigkeiten braucht. Dorthin, wo Bestien Menschen tyrannisieren und man nach jenen ruft, mit denen man sonst nichts zu tun haben will: uns. Morgen werden viele von uns ausziehen, um zu jagen.

Doch heute Nacht sind wir hier, sitzen um das Feuer im Innenhof, unterhalten uns leise oder starren schweigend in die Flammen.

Gira stochert in der Glut und legt Holz nach. Für einen Moment sieht es fast so aus, als entwickelte das Feuer ein Eigenleben und wollte nach ihr greifen und sie hineinziehen in das wirbelnde Rot, Orange und Gelb. Wulstige Narben ziehen sich quer über ihr hartes, sonnengegerbtes Gesicht und verschwinden im zotteligen Haar, in das sie wilde Zöpfe geflochten hat.

Ich habe nie gefragt, woher die Narben stammen, dabei kenne ich Gira schon fast mein ganzes Leben lang. Ich habe schon Seite an Seite mit ihr gekämpft, trotzdem stehen wir uns nicht sonderlich nah.

So ist es mit uns allen. Wir leben gemeinsam in dieser Festung, jagen gemeinsam, nehmen unsere Mahlzeiten gemeinsam ein. Aber eine Familie sind wir nicht. Im Grunde genommen steht mir niemand besonders nahe.

Niemand außer Marus.

Im Gegensatz zu uns anderen sitzt er nicht einfach auf einem der Baumstämme, die hier im Innenhof im Kreis ums Feuer gelegt wurden. Er ist auf weiche Seidenkissen gebettet. Damit will er uns nicht etwa vorhalten, er wäre als unser Oberhaupt etwas Besseres. Nein, seine körperliche Konstitution erfordert es.

Als hätte er meine Gedanken gehört, wendet er mir den Kopf zu. Seine Augen sind von einem so hellen Lila, dass sie je nach Licht beinahe durchscheinend wirken und einen rosafarbenen Schimmer zu haben scheinen. Er zieht die Mundwinkel zu einem sanften Lächeln hoch. Im Feuerschein schimmern seine weißblonden Locken rötlich. Sein jugendliches Gesicht lässt keine Rückschlüsse auf sein Alter zu, es ist glatt und faltenlos. Genauso sah er auch damals aus, vor über zehn Jahren, als er mich in die Festung geholt und zur Jägerin gemacht hat. Während ich von einem kleinen Mädchen zur jungen Frau geworden bin, ist er äußerlich um keinen einzigen Tag gealtert.

»Wir reden nachher.« Obwohl er leise redet, trägt der Wind seine Worte klar und deutlich an meine Ohren.

Ich nicke nur. Vielleicht ein neuer Auftrag für mich. Eine weitere Bestie, auf die ich angesetzt werde. Was es auch ist, ich werde es erledigen. Was er auch will, ich werde ihn nicht enttäuschen.

Lautes Lachen dringt durch die einträchtige Stille, hallt von den Mauern wider und zerstört die Harmonie. Das muss Xaron sein. Mit ein paar anderen Jägern kommt er durch das Tor, schwenkt einen Trinkschlauch in der Hand und gibt gerade eine Geschichte zum Besten, die von den anderen begeistert aufgesogen wird. Sie alle tragen Kleidung, wie sie bei unsereins üblich ist: schwarz, schattengrau und tiefbraun, um während unserer bevorzugten Jagdzeit mit der Umgebung zu verschmelzen. Verstärktes Leder, um uns zu schützen und gleichzeitig beweglich zu sein. Keiner von uns trägt schwere Metallrüstungen. Den unverzichtbaren Neuntöter haben wir stets um die Hüfte oder den Rücken geschnallt. Ohne ihn fühlen wir uns nackt.

Xaron ist der Jüngste in der Gruppe, was nicht weiter erstaunlich ist, da es keine anderen Blutjägerinnen oder Blutjäger gibt, die jünger sind als er und ich. Und doch hängen diese gestandenen Männer und Frauen an seinen Lippen.

Wie immer prahlt er mit seinen Abenteuern, wie immer will er im Mittelpunkt stehen, und wie immer benimmt er sich unverzeihlich daneben. Er weiß nicht, wo sein Platz ist.

Vielleicht könnte man sein Talent, sich immer ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu drängen, als Charisma bezeichnen. Ich nenne es Großkotzigkeit.

Ich kneife die Augen zu Schlitzen zusammen, meine Stimme hallt wie ein Peitschenschlag durch die Nachtluft: »Ihr seid zu spät.«

Und natürlich antwortet er mir, nicht einer seiner Bewunderer. Sein Lachen treibt mich zur Weißglut. »Oho, die Musterschülerin hat etwas an uns auszusetzen. Ich bitte untertänigst um Verzeihung.« Das rabenschwarze Haar fällt ihm ins Gesicht, als er sich übertrieben tief und gestenreich vor mir verbeugt. Zwischen den Strähnen hindurch blitzen mich seine tiefblauen Augen abfällig an.

Er will mich reizen, und mich nervt selbst, wie gut ihm das gelingt. Meine Hände ballen sich zu Fäusten, ich beiße die Zähne zusammen und will hochfahren, doch ein Blick von Marus lässt mich innehalten. Zähneknirschend sinke ich zurück und starre demonstrativ an Xaron vorbei.

»Nun sind wir komplett.« Marus ist wie immer milde gestimmt und lässt sich keinen Ärger über die Störenfriede anmerken. »Es ist an der Zeit, das Geschenk zu zelebrieren.«

Der Ärmel seines dunklen Seidenhemdes rutscht leicht zurück und entblößt ein zerbrechlich schmales Handgelenk, als er Bjorn einen Wink gibt. Der springt augenblicklich auf und bringt unserem Oberhaupt den Kelch. Die tiefrote Flüssigkeit darin ist nicht nur Wein. Das süffige Getränk ist versetzt mit dem Inhalt der Phiole, den ich von meinem letzten Einsatz mitgebracht habe: dem Blut der Kraya.

Alle Gespräche verstummen. Sogar Xaron hält seine vorlaute Klappe, lässt sich am Feuer nieder und wartet gebannt.

Feierlich hält Marus den Kelch empor. »Oona gebührt die Ehre des ersten Schlucks, denn durch ihre Hand verlor die Kraya ihr Leben.«

Im ersten Moment schmecke ich nur das üppige, liebliche Aroma des Weins. Dann spüre ich das Brennen. Ich schließe die Augen, lege den Kopf in den Nacken und behalte die Flüssigkeit für einen Moment im Mund. Die vertraute metallische Note setzt sich durch, und ich fühle, dass etwas aus dem Blut auf mich übergeht und durch meinen Körper kriecht: etwas von der Kraft der Kraya. Es ist ein berauschendes Gefühl. Ich spüre, dass ich resistenter gegen Gift geworden bin. Es ist das letzte Geschenk meiner Gegnerin.

Jede Bestie, die durch die Hand einer Jägerin oder eines Jägers stirbt, macht uns stärker. Verleiht uns mehr Kraft oder Geschicklichkeit, bessere Reflexe oder Abwehrkräfte, lässt uns schneller rennen oder höher springen, besser sehen oder hören. Ein winziger Teil der besonderen Fähigkeiten, die die Bestie ausgemacht haben, geht auf uns über.

Ich gebe den Kelch an Marus zurück. Es bereitet ihm sichtlich Mühe, sich so weit aus seinen Kissen aufzurichten, dass er ebenfalls davon trinken kann. Ein leises Seufzen kommt über seine Lippen, als er einen Schluck nimmt. Der Wind jagt schwarze Wolken über den Himmel und schiebt sie vor den runden Mond, sodass nur noch das Feuer Licht spendet und Muster auf Marus’ jungenhaftes Gesicht malt.