The Chosen One - Isabell May - E-Book

The Chosen One E-Book

Isabell May

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Beschreibung

Eine zerrüttete Welt, eine allmächtige Regentin und ein rebellisches junges Mädchen.

Die 17-jährige Skadi lebt in einem goldenen Käfig. Sie ist eine Ausersehene - dazu bestimmt, dem Königreich Kinder zu schenken. Als eine Seuche vor vielen Jahren um sich griff, ließ Regentin Maella die Frauen in eine luxuriöse aber stark bewachte Burg bringen, um den Fortbestand des Reiches zu sichern.
Doch Skadi sehnt sich nach Freiheit und will mehr vom Leben. Ihr gelingt die Flucht in eine ihr vollkommen unbekannte Welt. Als sie sich der Gruppe um den freundlichen Finn und den geheimnisvollen Jaro anschließt, merkt sie schnell, dass es dort draußen viel mehr gibt, als sie jemals für möglich gehalten hat. Während Jaro in Skadi ganz neue Gefühle weckt und ihr Herz höherschlagen lässt, entdeckt sie auch, dass in ihr ungeahnte magische Kräfte schlummern. Und die sind im aufkommenden Konflikt von großer Bedeutung ...

Tauche ein in die fesselnde Welt von »The Chosen One« und begleite Skadi auf ihrem gefährlichen Weg, um die Mächte des Bösen zu besiegen. Eine Geschichte voller Spannung, Magie und einer rebellischen Heldin, die bereit ist, alles zu riskieren, um ihre Welt und ihre große Liebe zu retten.

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Inhalt

Cover

Über dieses Buch

Titel

DIE AUSERSEHENE

Prolog: Das Mädchen

Kapitel 1: Spiegelbilder

Kapitel 2: Reptilienaugen

Kapitel 3: Risse an der Decke

Kapitel 4: Katzenprinzessin

Kapitel 5: Zottelfell

Kapitel 6: Der Mops und das Biest

Kapitel 7: Leder und Moos

Kapitel 8: Wilde Muster

Kapitel 9: Der Jagdhund

Kapitel 10: Jaro

Kapitel 11: Ertrinkende

Kapitel 12: Tote Fische

Kapitel 13: Schwarzes Wasser

Kapitel 14: Schuppenhaut

Kapitel 15: Maella

Kapitel 16: Schillernde Schemen

DER AUFSTAND

Prolog

Kapitel 1: Naemi

Kapitel 2: L’Angua

Kapitel 3: Blut

Kapitel 4: Schwerter

Kapitel 5: Schmerz

Kapitel 6: Feinde

Kapitel 7: Freunde

Kapitel 8: Pläne

Kapitel 9: Verbrannte Kräuter

Kapitel 10: Die Klinge im Fleisch

Kapitel 11: Abschied

Kapitel 12: Körper im Wasser

Kapitel 13: Der Turm

Kapitel 14: Die Regentin

Kapitel 15: Feuer und Sturm

Epilog: Der Nachtprinz

Über die Autorin

Weitere Titel der Autorin

Impressum

Über dieses Buch

Eine zerrüttete Welt, eine allmächtige Regentin und ein rebellisches junges Mädchen.

Die 17-jährige Skadi lebt in einem goldenen Käfig. Sie ist eine Ausersehene – dazu bestimmt, dem Königreich Kinder zu schenken. Als eine Seuche vor vielen Jahren um sich griff, ließ Regentin Maella die Frauen in eine luxuriöse aber stark bewachte Burg bringen, um den Fortbestand des Reiches zu sichern.

Doch Skadi sehnt sich nach Freiheit und will mehr vom Leben. Ihr gelingt die Flucht in eine ihr vollkommen unbekannte Welt. Als sie sich der Gruppe um den freundlichen Finn und den geheimnisvollen Jaro anschließt, merkt sie schnell, dass es dort draußen viel mehr gibt, als sie jemals für möglich gehalten hat. Während Jaro in Skadi ganz neue Gefühle weckt und ihr Herz höherschlagen lässt, entdeckt sie auch, dass in ihr ungeahnte magische Kräfte schlummern. Und die sind im aufkommenden Konflikt von großer Bedeutung …

Tauche ein in die fesselnde Welt von »The Chosen One« und begleite Skadi auf ihrem gefährlichen Weg, um die Mächte des Bösen zu besiegen. Eine Geschichte voller Spannung, Magie und einer rebellischen Heldin, die bereit ist, alles zu riskieren, um ihre Welt und ihre große Liebe zu retten.

ISABELL MAY

Ein Young-Adult-Fantasyroman voller Magie,Geheimnisse und großer Gefühle

DIE AUSERSEHENE

Prolog: Das Mädchen

Sie wusste, dass sie noch hinter ihr her waren, obwohl sie sie nicht sehen konnte. Die Straße hinter ihr war leer, doch sie fühlte, dass die Männer nicht weit entfernt sein konnten. Trotzdem musste sie stehen bleiben – nur ganz kurz, um zu verschnaufen. Keuchend stolperte sie gegen die Tür eines Hauses und stützte sich am Türrahmen ab.

Sie machte sich nicht die Mühe anzuklopfen. Niemand würde ihr öffnen. Niemand in diesem Teil der Stadt wollte Ärger – und ein Mädchen, das von Gardisten durch die Straßen gejagt wurde, bedeutete definitiv Ärger.

Ihre Beine zitterten. Sie hätte alles dafür gegeben, sich kurz setzen zu können, doch sie konnte sich keine Rast erlauben. Sie würden gleich da sein.

Sie biss die Zähne zusammen und rannte weiter.

»Bleib lieber stehen, Mädchen«, knurrte eine tiefe Stimme hinter ihr.

Sie warf einen schnellen Blick über die Schulter. Der Mann, der gerade um die Ecke kam, war der, der die Tür ihres Elternhauses aufgetreten hatte, nachdem ihre Eltern sich aus Angst geweigert hatten zu öffnen. Auch den Mann, der hinter ihm war, erkannte sie: Der hatte ihrer Mutter ein Schwert an die Kehle gehalten, während er nach ihr gefragt hatte.

»Was hat sie denn getan? Was hat sie angestellt?«, hatte ihre Mutter immer wieder gerufen.

Sie hatte nichts angestellt – diesmal nicht. Sie hatte dem Bäcker kein Brot aus dem Ofen geklaut, nicht mit ihren Freunden im Lagerhaus gespielt und war nicht bei der alten Witwe im Reichenviertel eingebrochen, um sie zu erschrecken. Nichts, das erklärte, warum Gardisten in ihr Haus kamen und nach ihr verlangten.

Wenn es denn überhaupt Gardisten waren: Sie waren ähnlich gekleidet wie die Männer, die vor der Burg patrouillierten, aber dunkler und irgendwie zweckmäßiger – als verbrächten sie mehr Zeit draußen in den Wäldern als in der Stadt. An der Brust trug jeder von ihnen ein zweites Wappen zusätzlich zu dem der Regentin: Es war aus Silber gearbeitet und zeigte Pfeil und Bogen.

Sie wunderte sich, auf was für unwichtige Details sie in einer solchen Situation geachtet hatte. Als spielte es irgendeine Rolle, was für ein Wappen die Männer trugen. Alles, was nun zählte, war, zu entkommen.

Sie hatte die Szene an der Haustür von ihrem Dachbodenzimmer aus beobachtet – aber nur bis die Männer begonnen hatten, die Leiter hinaufzuklettern. Dann war sie durch eine Luke geschlüpft und gerannt, was das Zeug hielt.

Die Straßen waren gespenstisch leer. Der Selbsterhaltungstrieb brachte die Leute dazu, in ihren Häusern zu verschwinden und die Fensterläden zu verschließen, sobald etwas Ungewöhnliches geschah.

Sie musste irgendwohin, wo mehr Menschen waren: auf den großen Markt.

Die schweren Schritte hinter ihr kamen näher und näher. Sie musste schneller rennen, noch schneller. Ihre Füße schienen kaum mehr den Boden zu berühren. Jeden anderen hätte sie im Labyrinth der Gassen längst abgehängt, doch nicht diese Verfolger.

Ihr Atem ging rau und pfeifend. Sie zwang sich, durch die Nase zu atmen statt durch den Mund. Sie durfte kein Seitenstechen bekommen.

Die Tränen, die nicht aufhören wollten zu fließen, vernebelten ihr die Sicht. Wütend wischte sie sich mit der Hand über die Augen. Tränen würden sie nicht retten. Aber die Menschen am Markt konnten das vielleicht tun.

Nicht weit entfernt wurde die Straße, durch die sie hetzte, breiter. Sonnenlicht fiel zwischen den Gebäuden hindurch. Die Häuser wurden größer, sauberer und schöner.

Es war nicht mehr weit. Sie verstärkte ihre Anstrengungen noch. Dann hatte sie es geschafft: Mit einem erleichterten Schrei stolperte sie auf den Marktplatz.

Doch sofort erkannte sie ihren Fehler: Die Menschen wichen erschrocken vor ihr zurück.

Ein Mädchen in schmuddeliger Jungenkleidung mit nackten Füßen, verfolgt von den Männern der Regentin: Sie mussten sie für eine Verbrecherin halten, die zu Recht gejagt wurde. Wieder schrie sie auf, diesmal frustriert. Niemand hier würde ihr helfen. Sie sah es an den verschlossenen Mienen der Leute.

Ein paar Männer, vielleicht Händler, machten Anstalten, sich ihr in den Weg zu stellen. Sie waren unsicher, ihr Versuch war halbherzig. Es war ein Leichtes, ihnen auszuweichen.

Sie stieß sich vom Boden ab und sprang über einen Stand mit Früchten hinweg. Er war hoch, und trotzdem hätte sie es geschafft – unter normalen Umständen. Doch nicht nachdem sie verzweifelt durch die halbe Stadt gesprintet war. Der Sprung fiel eine Winzigkeit zu kurz aus, und sie streifte die obersten Früchte. Polternd rollten Äpfel und Nektarinen auf die Steinplatten, die den Boden bedeckten.

Sie strauchelte nur kurz, dann hetzte sie weiter, um die nächste Ecke – und prallte fast gegen Gardisten. Einen entsetzlichen Moment lang dachte sie, es wären ihre Verfolger, die irgendwie an ihr vorbeigekommen waren. Sie warf sich auf den Boden, schlitterte zwischen ihnen hindurch – und fand sich in himmelblauer Seide wieder.

Überrascht schnappte sie nach Luft, überwältigt von der kühlen Glätte des luxuriösen Gewebes. Gemeinsam mit der jungen Frau, in deren Seidenkleid sie gelandet war, stürzte sie zu Boden.

Eine Ausersehene. Sie erkannte es auf den ersten Blick: blaue Seide, so kostbar, dass die meisten Menschen ein Leben lang auf ein solches Kleid sparen müssten; langes Haar, fast bis zum Boden; filigraner Goldschmuck um Arme und Hals. Diese Frau lebte in einer völlig anderen Welt.

Die Blaugewandete war jung, fast noch ein Mädchen – kaum älter als sie selbst. Gebannt starrten sie einander an, einen Herzschlag lang.

Dann wurden aus den überraschten Rufen der Leute ringsumher Schmerzensschreie: Ihre Verfolger bahnten sich rücksichtslos einen Weg durch die Menge.

Sofort war sie auf den Beinen und schnellte los. Die Leibgarde der Ausersehenen war zu beschäftigt damit, ihrer Schutzbefohlenen hochzuhelfen, um das zerzauste Mädchen aufzuhalten, das quer über den Marktplatz rannte und dann wieder ins Gewirr aus Straßen und Gassen eintauchte.

Als sie weiterlief, brannten ihre Wangen vor Scham. Sie hatte vor kaum etwas Respekt, doch eine Ausersehene umzurennen – das war schlimm. Wenn ihre Mutter davon erfuhr, würde sie entsetzlich wütend sein. Auf Ausersehene musste man gut achtgeben – sie waren das höchste Gut der Gesellschaft, das wusste jeder.

Sie verdrängte den Gedanken. Wenn sie ihre Mutter je wiedersah, würde sie die Standpauke gerne in Kauf nehmen, doch dazu musste sie erst entkommen.

Die Männer ließen sich nicht abschütteln. Unaufhaltsam kamen sie näher. Sie merkte, dass sie nicht mehr lange durchhalten würde. Ihre Lunge brannte bei jedem Atemzug wie Feuer, und sie hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Ihre Beine gaben immer wieder nach, sodass sie stolperte und fast hinfiel. Sie brauchte ein Versteck.

Der alte Speicher kam ihr in den Sinn. Die Tür war nie abgesperrt, weil es dort nichts zu holen gab. Die Verschläge und großen Holzkisten darin waren seit vielen Jahren leer. Das Haus sollte abgerissen werden, doch noch stand es – und es war nicht weit entfernt. Mit letzter Kraft schleppte sie sich weiter.

Als sie den Speicher erreichte, gelang es ihr kaum, die Tür aufzuschieben. Sie stieß einen kraftlosen Fluch aus, warf sich dagegen und taumelte in das schattige Innere des Gebäudes.

Gehetzt sah sie sich nach einem Versteck um. Ein gutes Stück über ihrem Kopf verliefen breite, massive Querbalken. Wenn sie dort hinaufgelangen könnte …

Sie konnte.

Sie wusste nicht, wie ihr geschundener Körper es fertigbrachte, doch sie kletterte über Kisten und Balken empor, bis sie unter dem Dach kauerte. Wie eine Katze spähte sie nach unten.

Es dauerte nicht lange, bis die Tür wieder aufschwang. Die Männer betraten den Speicher. Sie entdeckten sie sofort. Sie verschwendeten gar keine Zeit damit, am Boden nach ihr zu suchen. Sobald sie im Gebäude waren, sahen sie hoch und blickten ihr direkt in die Augen. In diesem Moment wurde ihr klar, dass sie verloren hatte: Sie konnte ihnen nicht entkommen.

Einer von ihnen, der ganz eindeutig der Anführer war, obwohl seine Kleidung sich nicht von der der anderen unterschied, kam näher. Er musste nicht wie sie mühsam klettern: Er sprang einfach aus dem Stand nach oben und zog sich mit Leichtigkeit auf den Balken hoch, auf dem sie saß.

Wimmernd huschte sie auf allen vieren weiter. Am Ende des Balkens war eine Lücke zwischen den Holzbrettern der Wand, gerade breit genug für sie. Sie presste sich hindurch, ohne darauf zu achten, dass das raue Holz ihr die Haut aufschürfte, und zog sich aufs Dach.

Die grelle Sonne blendete sie. Kaum eine Armlänge von ihr entfernt ging es tief hinab, viel zu tief. Sie hatte nicht geahnt, dass das Haus so hoch war. Zitternd kauerte sie am abschüssigen Dach und hielt sich mit schweißnassen Händen fest.

Sie hörte nicht, wie er über den Balken näher kam – aber sie fühlte seine Anwesenheit. Der Spalt zwischen den Brettern war nicht breit genug für ihn, doch er steckte den Kopf hindurch.

Sie schnappte nach Luft.

Er war jung – und schön, so wunderschön. Darauf war sie nicht vorbereitet gewesen. Seine Gesichtszüge waren ebenmäßiger als die jedes anderen Menschen, den sie je gesehen hatte. Goldene Locken fielen seidig bis auf seine Schultern. Die großen, sanften Augen blickten ihr freundlich entgegen.

»Lauf nicht weg«, sagte er und streckte die Hand nach ihr aus. »Komm zu mir.«

Einen Augenblick lang wollte sie genau das tun. Konnte ein Mensch, der so aussah, zu Bösem fähig sein? Ihre Lippen erwiderten sein Lächeln, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte. Sie wollte zu ihm zurückklettern, seine Hand nehmen und sich in seine Arme ziehen lassen. Sie wollte wissen, wie sich seine perfekt geschwungenen Lippen auf ihren anfühlten …

Entsetzt keuchte sie. Diese Gefühle waren ihr völlig fremd. Seine Schönheit war es, die sie dazu brachte, so zu empfinden, doch sie durfte sich nicht täuschen lassen.

Ihr Instinkt warnte sie vor ihm – dieser Instinkt, der über den der meisten Menschen hinausging und den sie so oft verflucht hatte, weil er selbst ihrer Familie und ihren Freunden unheimlich war. Er sagte ihr, dass sich unter der anmutigen Fassade ein Monster verbarg.

Sie wollte fragen, warum er ihr folgte – warum er und seine Männer sie durch die Stadt gehetzt hatten. Doch sie war zu erschöpft. Ihr Mund weigerte sich, die Wörter auszusprechen, die sie dachte.

Eigentlich spielte es keine Rolle, was sie von ihr wollten – wichtig war nur, dass sie sie nicht erwischen durften.

Er begann, die Bretter um die Öffnung herum wegzubrechen. Bald würde er hindurchpassen. Ein letztes Mal sah sie sich um. Es gab keinen Ausweg mehr.

Sie wollte, dass das Letzte, was sie sah, etwas Schönes sei. Nicht die falsche, böse Schönheit des Mannes, der sie gleich erreicht haben würde. Etwas Gutes, Reines, Schönes.

Die Burg ragte weit über die Dächer der Stadt hinaus. Sie hielt den Blick fest auf die weißen Mauern und den Turm der Regentin gerichtet, als sie sprang.

Während sie fiel – diesen winzigen Moment lang – hatte sie das Gefühl, gerade noch entronnen zu sein. Das Gefühl, dass der Tod weniger schlimm sein würde als das, was sonst auf sie gewartet hätte.

Der harte Aufprall löschte ihr Leben aus, doch er löschte nicht das erleichterte Lächeln von ihrem Gesicht.

Kapitel 1: Spiegelbilder

Skadi hatte die Augen geschlossen. So konnte sie den Duft intensiver wahrnehmen: frisches Obst, Gewürze, Frühlingsblumen. Für sie roch es nach purem Leben.

Sie kam so selten aus der Burg heraus, dass jeder Ausflug ein kleines Abenteuer war.

Die Frühlingssonne wärmte ihre Haut, und eine sanfte Brise spielte mit ihrem Kleid, zupfte an den seidenen Röcken und ließ den hauchfeinen Stoff leise rascheln.

Minutenlang stand sie einfach so da, dann gewann ihre Abenteuerlust die Überhand. Sie wollte etwas erleben.

Sie schlug die Augen auf, blinzelte in die Sonne und sah sich um. Der Markt war gut besucht. Massen von Händlern und Kunden drängten sich auf dem Platz, redeten wild gestikulierend durcheinander und feilschten unerbittlich um die Waren.

Skadi ging von Stand zu Stand, ließ sich einfach treiben. Sie musste nicht befürchten, angerempelt zu werden. Niemand würde ihr zu nah kommen.

Das lag nicht nur an den vier Gardisten, die ihr auf Schritt und Tritt folgten. Es lag vor allem daran, dass sie etwas Besonderes war. Anders als die anderen. Keine von ihnen.

Fast sehnsüchtig beobachtete sie die umherwuselnden Menschen. Manchmal wünschte sie sich, sie könnte einfach aus der Burg spazieren – ohne Leibwache – und sich unter sie mischen. Und die Stadt war nicht das Einzige, was sie sehen wollte. Sie würde am Stadttor nicht haltmachen, sondern hindurchgehen und dann einfach immer weiter geradeaus.

Kurz überlegte sie, ob sie noch auffallen würde, wenn sie sich gewöhnlichere Kleidung beschaffte. Forschend betrachtete sie, was die anderen Leute trugen: hauptsächlich gedeckte und dunkle Farbtöne; grobe, robuste Stoffe. Im Alltag war das praktischer, hatte Ragnar ihr erklärt.

Praktisch mussten Skadis Kleider nicht sein, und so leuchteten sie in sanftem Himmelblau, der Farbe der Ausersehenen, die die Pflicht und Ehre der Mutterschaft noch nicht übernommen hatten. Unzählige Lagen der zarten, fast durchscheinenden Seidentücher umschmeichelten angenehm kühlend ihre schmale Figur.

Wenn sie ihr Gewand nur gegen ein schlichtes Leinenkleid austauschen könnte …

Doch diese Gedanken waren dumm. Eine Ausersehene zu sein war keine Bürde. Es war etwas Wunderbares. Warum also sollte sie davon träumen, etwas anderes zu sein?

Ein Korb mit goldgelben Äpfeln zog ihre Aufmerksamkeit auf sich und lenkte sie von den Grübeleien ab. Zielstrebig steuerte sie darauf zu, nahm sich einen Apfel, roch daran und biss genussvoll von der reifen Frucht ab.

Warum nur schmeckte hier draußen alles so viel frischer, so viel echter?

Einer der Gardisten, die sie begleiteten, warf der Obsthändlerin eine Münze zu. Geld – das hatte sie ganz vergessen. Entschuldigend hob sie die Schultern, obwohl niemand ihr einen Vorwurf machte. Sie verließ die Innere Burg zu selten, um mit den Gepflogenheiten außerhalb vertraut zu sein, und nichts anderes wurde von jemandem ihrer Stellung erwartet.

Irgendwo, ein Stück entfernt, wurden empörte Rufe laut. Sie reckte den Hals, um etwas zu erkennen, doch die vielen Menschen versperrten ihr die Sicht. Mit gerunzelter Stirn verlagerte sie ihr Gewicht von einem Fuß auf den anderen und streckte sich, so hoch sie konnte – vergeblich.

Gerade wollte sie einen ihrer Gardisten fragen, was los sei – da prallte plötzlich etwas gegen sie und riss sie von den Füßen. Von der Wucht des Aufpralls blieb ihr kurz die Luft weg – schmerzhaft knallte sie auf den Boden.

Verdattert setzte sie sich auf. Vor ihr, keine Armlänge entfernt, saß ein Junge in schmutziger Kleidung – nein, ein Mädchen mit kurzem, struppigem Haar – und starrte sie verwirrt an. Und nicht nur verwirrt – noch etwas anderes las Skadi im Blick des Mädchens: Angst. Todesangst. Skadi schnappte nach Luft. Unwillkürlich streckte sie die Hand nach dem Gesicht des Mädchens aus, bis sie es fast berührte.

Nur für einen Moment begegneten sich ihre Blicke. Dann schnellte das Mädchen hoch und rannte weiter.

Verstört sah Skadi ihm hinterher. Sie merkte kaum, wie die Gardisten sie behutsam hochzogen.

»Seid Ihr in Ordnung?«, fragte einer von ihnen fast scheu.

Sie wagten es kaum, sie zu berühren, um festzustellen, ob sie verletzt war.

»Alles in Ordnung«, sagte Skadi und strich sich geistesabwesend über die aufgeschürften Ellenbogen. »Was war denn da bloß los?«

»Eine kleine Verbrecherin auf der Flucht«, sagte der Gardist achselzuckend. »Vermutlich eine Diebin.«

»Was für eine Strafe erwartet Diebe?«

»Das hängt von der Schwere des Diebstahls ab.«

»Aber doch nicht … der Tod?«

Entsetzt sah der Gardist sie an. »Natürlich nicht, das wäre doch nicht angemessen. Schon gar nicht für ein Kind. Vermutlich kommt sie für ein paar Tage in den Kerker, um ihr eine Lektion zu erteilen.«

Ein paar Tage im Kerker – das stellte Skadi sich schrecklich vor. Selbst sie fand es manchmal beklemmend, die Innere Burg nicht einfach jederzeit verlassen zu können, obwohl sie dort jeden erdenklichen Komfort genoss und ausreichend Platz hatte. Wie es jemandem in einer kleinen Kerkerzelle gehen musste, wollte sie sich nicht einmal ausmalen. Und doch erklärte das nicht die Panik des Mädchens – oder doch? Es fiel ihr so schwer, sich in normale Menschen hineinzuversetzen. Was wusste sie schon vom Leben außerhalb der Burg? Vom richtigen Leben?

»Ich will nicht drängen«, sagte der Gardist höflich und riss sie damit aus ihren Gedanken, »doch es ist nicht ungefährlich hier draußen. Ragnar hat uns angewiesen, Euch so rasch wie möglich zu Eurem Ziel und wieder nach Hause zu eskortieren.«

Skadi seufzte. Nahezu alles schien für Ausersehene gefährlich zu sein, und sie hatte es aufgegeben nachzufragen, worin genau diese ominösen Gefahren lagen. Unzählige Antworten hatte sie darauf bisher erhalten, und keine hatte sie zufriedengestellt. Das Schlimmste, was ihr je widerfahren war, waren ihre gerade aufgeschürften Ellenbogen. Doch der Mann tat nur seine Pflicht, und ihn durch eine Weigerung in Schwierigkeiten zu bringen wäre ihm gegenüber nicht fair gewesen. Also nickte sie. »In Ordnung. Gehen wir.«

Erleichtert gruppierten sich die Gardisten um sie, und so zogen sie gemeinsam weiter in die Stadt. Skadi genoss den zweifelhaften Ruf, ihren Leibwächtern gerne Probleme zu bereiten, indem sie kleine Ausflüge auf eigene Faust unternahm – zu ausgeprägt war ihr Drang, den starren, schützenden Fesseln zumindest gelegentlich für einen Moment zu entfliehen.

Doch heute hatte sie etwas Wichtiges vor, etwas, worauf sie sich freute und vor dem ihr zugleich graute. Zum ersten Mal seit Wochen würde sie ihre beste Freundin sehen – und der Zustand, in dem sie Lynn vorfinden würde, machte ihr Angst.

Immer tiefer gelangten sie ins Innere der Stadt, immer enger und dunkler wurden die verwinkelten Gassen. Vor einem Haus blieben die Gardisten schließlich stehen.

»Das ist es«, sagte einer.

»Ja, das muss es wohl sein«, erwiderte Skadi, nur halb überzeugt. Zweifelnd betrachtete sie das schmale Haus, das sich zwischen die Nachbargebäude zu ducken schien. Die Fassade war grau und bröckelte ab, die Fenster kaum mehr als winzige Scharten, die nur wenig Licht ins Innere lassen konnten. Es roch nach altem Fisch und Unrat.

Konnte Lynn hier tatsächlich wohnen? Lynn, die immer so elegant und gepflegt war? Wenn diese schäbige Hütte wirklich ihr neues Zuhause war – und Skadi hatte ernsthafte Zweifel daran –, dann war sie gewiss von Reue und Heimweh gebeutelt.

Zögernd klopfte Skadi an die morsche, verzogene Holztür. Erst geschah nichts. Gerade als sie die Hand wieder erhob, schwang die Tür leise knarrend auf, und eine hochgewachsene schwarzhaarige Frau streckte vorsichtig den Kopf heraus.

Skadis Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Dieser allererste Eindruck bewies schon, dass Lynn nicht mehr dieselbe war. Sie war kultiviert und schön gewesen, manchmal forsch, immer selbstbewusst – doch nie vorsichtig.

Lynns Blick war ängstlich, unter ihren Augen lagen tiefe Schatten. Ihr Haar, ehemals bodenlang und schimmernd wie Ebenholz und Lynns ganzer Stolz, reichte ihr nun kaum mehr bis ans Kinn und wirkte ungekämmt. Das Auffälligste jedoch war das Brandmal: Ein durchgestrichenes M – wie Mutter – prangte auf ihrer Stirn, rot und entzündet. Fast beschämt verbarg Lynn es hinter ihren Haaren. Dann sah sie Skadi an, und ein schwaches Lächeln erhellte ihr Gesicht. »Komm rein«, murmelte sie leise.

Zwei der Gardisten positionierten sich mit strengem Blick vor dem Haus, die anderen beiden folgten den beiden jungen Frauen hinein.

Es dauerte einen Moment, bis Skadis Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Wie erwartet ließen die schmalen Fensteröffnungen kaum Licht herein. Staub flirrte in den dünnen Lichtstrahlen, die das Dunkel durchschnitten. Sie kniff die Augen zusammen – und erschrak. Entsetzt nahm sie die fremde Welt wahr. Wie klein und beengt alles war, wie düster und schäbig! Nie hatte sie ein solches Haus betreten.

Als sie Lynn schließlich an einem schiefen Tisch, dessen weißer Lack fast vollständig abgeblättert war, gegenübersaß, hatte sie endlich Zeit, die ehemalige Ausersehene genauer zu betrachten. Der schmutzige Leinenrock und die zerschlissene Bluse konnten nicht verbergen, dass sie immer noch eine Schönheit war: schlank, geschmeidig, mit rabenschwarzem Haar und grünen Katzenaugen. Feine Linien um die Augen verrieten das Leid, das Lynn in den letzten Wochen durchgemacht hatte. Doch etwas konnte Skadi sich nicht erklären: den wilden Triumph in ihrem Blick, verborgen hinter Schmerz und Trauer – und den harten, rebellischen Zug um ihren Mund.

»Na, hast du mich genug angestarrt? Gefunden, was du gesucht hast?« Lynns ironische Stimme riss Skadi aus ihren Gedanken.

»Tut mir leid«, sagte sie. »Ich wollte dich nicht anstarren. Es ist nur … Lynn! War es das wirklich wert?« Die Worte waren ausgesprochen, bevor Skadi darüber nachdenken konnte. Erschrocken schlug sie sich die Hand vor den Mund.

Lynn lachte rau. »Ob es das wert war? Du hast ja keine Ahnung.« Mit einer herrischen Geste scheuchte sie die Gardisten hinaus. Diese zögerten kurz und zogen sich dann vor die Zimmertür zurück.

Verschwörerisch lehnte Lynn sich vor. Skadi tat es ihr gleich. Wie Spiegelbilder saßen sie da, beide in der gleichen Haltung und doch so gegensätzlich, wie zwei Frauen nur sein konnten: wie in einem Zerrspiegel, der nur dazu da war, um den Kontrast zwischen ihnen ins Unermessliche zu steigern. Ihr Aussehen – Lynns schwarzes, struppiges Haar und Skadis bodenlanges, golden schimmerndes; Lynns grobe Kleidung und Skadis Seidenkleid; der Ruß auf Lynns Haut im Vergleich zu Skadis hellem, sauberem Gesicht – wurde dabei zur Nebensache gegenüber dem, was in ihnen vorging und deutlich in ihren Augen zu lesen war.

Skadi war es, die zuerst den Blick abwandte.

»Ich habe verloren, was mir das Wichtigste war«, wisperte Lynn kaum hörbar und dennoch eindringlich. »Sie haben mir Raud genommen. Aber ich bin frei. Zum ersten Mal in meinem Leben.«

Frei. Skadi lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Zweifelnd ließ sie den Blick über die Wände streifen, von denen der Putz bröckelte, und über die Wasserflecken, die sich an der Decke bildeten. Freiheit? Ihr schien eher, als hätte Lynn den Komfort und Luxus der Inneren Burg mit der geringen Freiheit, die diese bieten mochte, gegen ein Verlies getauscht. Als sie wieder zu Lynn sah, lag tiefes Mitleid in ihrem Blick.

Die seufzte. »Lass nur, Kleines. Es ist besser, wenn du es nicht verstehst.«

»Was …« Skadi zögerte mit ihrer Frage. Sie wollte ihrer Freundin nicht noch mehr Schmerz zufügen. Unsicher biss sie sich auf die Unterlippe.

Doch Lynn erriet, was Skadi wissen wollte: »Was mit Raud passiert ist? Ich weiß es nicht. Sie haben ihn geholt. Aus dem Haus gezerrt haben sie ihn, gefesselt und geknebelt, auf einen Wagen verfrachtet. Ich wollte ihm helfen, aber sie haben mich einfach festgehalten. Ich war so machtlos …« Ihre Stimme, die immer lauter geworden war, brach ab. Hilflos legte Skadi ihre Hand auf Lynns.

»Wohin haben sie ihn gebracht?«, flüsterte Skadi.

Lynn schüttelte nur traurig den Kopf: Sie wusste es nicht.

Dann fuhr sie leise fort: »Manchmal wünsche ich mir, wir hätten uns nie getroffen. Oder … Ja, oder wir hätten uns einfach nie erwischen lassen. Vielleicht ist mir jemand gefolgt, als ich aus dem Schloss geschlichen bin, um zu ihm zu kommen. Vielleicht war ich zu ungeschickt, vielleicht war es einfach zu riskant. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn wir uns in unser Schicksal gefügt hätten. Ich trage die Schuld daran, was mit ihm geschehen ist. Aber ich weiß …« Wieder glomm Stärke in ihrem Blick auf. »Ich weiß, was Raud sagen würde. Ich sollte keine Sekunde von dem, was wir gemeinsam hatten, bereuen.«

Minutenlang war es still, dann zwang Lynn sich zu einem Lächeln. »Lass uns von etwas anderem sprechen, Skadi. Was geschehen ist, ist geschehen. Du musst dir keine Sorgen um mich machen – ich komme klar. Erzähl mir lieber von dir: Deine erste Vereinigung steht an, nicht wahr?«

Die Vereinigung! Es fiel Skadi schwer, nicht über das ganze Gesicht zu strahlen.

»Du musst deine Freude nicht verstecken«, sagte Lynn zwinkernd. »Ich weiß noch, wie aufgeregt ich damals war.«

Dankbar lächelte Skadi. »In drei Tagen ist es schon so weit.«

Eigentlich war der Termin schon vor einem Jahr, für ihren sechzehnten Geburtstag, angesetzt gewesen, doch sie war krank geworden. Fast drei Wochen lang hatte Fieber sie ans Bett gefesselt, sodass beschlossen worden war, die Vereinigung zu verschieben. Doch ein halbes Jahr später hatte sie eine starke Erkältung.

Nun, an ihrem siebzehnten Geburtstag, würde es endlich geschehen.

Stolz zog sie ein rundes, goldenes Amulett aus der Tasche und klappte es auf.

»Sieh nur«, sagte sie, ohne ihre Aufregung verbergen zu können. »Darian heißt er, Lord Darian. Vor fast einer Woche habe ich sein Bild bekommen. Ich wollte es dir am liebsten sofort zeigen, aber …«

Sie brach ab und betrachtete das Bild eingehend, obwohl sie es bestimmt bereits hundert Mal angesehen und sich jedes Detail des Porträts eingeprägt hatte.

Ein warmes Gefühl von Stolz und Vorfreude durchströmte sie. Die erste Vereinigung mit einem Mann war das Ereignis, dem alle jungen Ausersehenen entgegenfieberten: der Tag, an dem sie ihr Schicksal erfüllen und das tun konnten, wofür sie auf der Welt waren. Und mit Lord Darian hatte sie das große Los gezogen: Mit jeder Faser sehnte sie sich danach, ihn zu sehen.

Einen Blick hatte sie bereits erhaschen können, vor Jahren schon. Er war in der Inneren Burg gewesen – nicht um sie zu treffen, sie war damals noch zu jung gewesen. Eine andere Ausersehene war damals die Glückliche. Am frühen Abend, vor dem Dinner, war er durch den Garten geschlendert und hatte sie nicht gesehen: ein junges Mädchen, das in den Ästen eines Baumes über seinem Kopf saß und ihn mit großen Augen beobachtete. So edel hatte er ausgesehen, so wunderschön, dass sie unwillkürlich geseufzt hatte.

Das hatte er gehört und sie erblickt. Seine blauen Augen hatten ihre gefunden, und sie war verschämt errötet. Selbst jetzt, als sie sich daran erinnerte, brannten ihre Wangen heiß vor Scham darüber, was er über sie gedacht haben musste. Ganz plötzlich hatte sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben gewünscht, feiner, eleganter, kultivierter zu sein – eine richtige Dame. Zu deutlich war ihr bewusst gewesen, wie sie ausgesehen haben musste: ein junges Ding, mehr Wildkatze als Mädchen, das Seidenkleid zerrissen, das lange Haar voller Blätter.

Doch selbst wenn er den Anblick grässlich gefunden hatte, war er zu wohlerzogen gewesen, um es sich anmerken zu lassen. Galant hatte er sich vor ihr verbeugt, eine Rose gepflückt und ihr die Blume heraufgereicht.

»Ich freue mich darauf, dich eines Tages wiederzusehen«, hatte er gesagt, mit einer wunderbar weichen Stimme, und war gegangen.

Sie hatte ihm noch lange hinterhergestarrt. Beim Dinner hatte sie kaum einen Bissen herunterbekommen. Die ganze Zeit über hatte sie heimlich zu dem Tisch gespäht, an dem die Ausersehenen, die sich am selben Abend noch mit einem Mann vereinigen würden, mit ihren Herren saßen. Sie hätte alles dafür gegeben, mit der schönen Ausersehenen im roten Kleid, die an seiner Seite war, zu tauschen.

Ob er sich an sie erinnerte? Vermutlich nicht. Skadi seufzte. Sie hingegen hatte oft an ihn gedacht. Und als sie erfahren hatte, dass er ihr Erster sein würde, war sie durch die ganze Innere Burg getanzt.

Neugierig griff Lynn nach dem kleinen Bild.

»Mal sehen, ob du Glück hast«, sagte sie – und klappte den Mund abrupt zu, als sie das Porträt sah.

Bildete Skadi es sich nur ein, oder huschte ein Schatten über Lynns Gesicht? Aufmerksam forschend beobachtete sie ihre Freundin, doch die wirkte wieder so, als könnte sie kein Wässerchen trüben.

Konnte Lord Darian ihr missfallen? Unmöglich, völlig ausgeschlossen. Ein Mann wie er musste einfach jeder Frau gefallen.

»Ein sehr gut aussehender Mann«, bestätigte Lynn, als hätte sie ihre Gedanken gelesen.

»Hattest du … Wurde er dir schon einmal zugewiesen?«, fragte Skadi beunruhigt. »Ich weiß, dass er schon mindestens einmal in der Burg war, aber ich dachte, du wärst noch nie mit ihm zusammen gewesen.«

»Oh nein. Wenn ein solch hübscher Knabe bei mir gewesen wäre, würde ich mich gewiss daran erinnern.« Sie lachte leise, mit einem Hauch ihrer alten Unbeschwertheit in der Stimme.

Skadi lachte mit, doch ein Hauch von Beunruhigung blieb – auch als Lynn sie über neuen Klatsch aus der Burg ausfragte. Viel gab es nicht zu erzählen – dort passierte wenig, und das Wenige, was passierte, war so belanglos, dass Skadi mit dem Bericht rasch fertig war.

Dann erzählte Lynn: von ihrem neuen Leben – den Schwierigkeiten, mit denen sie nun tagtäglich kämpfen musste. Von den anderen Stadtbewohnern wurde sie gemieden. Das Brandmal verriet jedem sofort, dass sie ihre vorbestimmte Aufgabe zum Wohle der Gesellschaft nicht erfüllte. Beschimpfungen wie »Verräterin« wurden gezischt, wenn sie jemandem begegnete. Skadis Herz war schwer, als sie das hörte, doch Lynn wirkte erstaunlich gefasst. Sie schien sich mit ihrem Schicksal abgefunden zu haben.

»Das Leben hält nichts mehr für mich bereit. Nichts«, sagte sie, doch es klang mehr nach einer Feststellung als nach einer Klage. Und dann schüttelte sie energisch den Kopf und lächelte: »Du kannst mir nicht weismachen, dass dir nicht noch unzählige andere Fragen auf der Zunge brennen. Gerade dir – immerhin hat es dich von allen Ausersehenen, die ich kenne, immer am meisten aus der Burg hinausgezogen.«

Natürlich hatte sie unzählige Fragen, die sie nur noch nicht gestellt hatte, weil sie ihr viel zu banal und unwichtig erschienen waren. Nun aber folgte sie Lynns Aufforderung bereitwillig: »Wie ist es, in so einem Haus zu wohnen – mit so wenig Platz, meine ich? Kannst du schon kochen? Wie geht das? Hast du schon einmal Geld ausgegeben? Musst du jetzt etwa auch selber putzen?«

Lynn lachte und gab Auskunft, so gut sie konnte. Die Schilderungen des normalen Lebens außerhalb der Burg faszinierten Skadi so, dass sie gar nicht merkte, wie die Zeit verflog.

Helle Glockenschläge unterbrachen schließlich ihr Gespräch: Von der Burg wurde die Abendstunde eingeläutet. Skadi ging zu einem der kleinen Fenster und stellte fest, dass man die Burg sogar von hier aus sehen konnte: eine hohe Festung, trutzig, doch anmutig mit vielen schlanken Türmen, die sich in den Abendhimmel reckten und deren blütenweiße Marmorsteine im Licht der untergehenden Sonne rot glühten – das Herz der Stadt und zugleich das Herz des gesamten Reichs.

Es gab die Äußere Burg, in der die hohen Damen und Herren lebten, die Lords und Ladys, die sich darin vom gemeinen Volk abschotten wollten. Und die Innere Burg, von noch dickeren Mauern umgeben, in der die Ausersehenen in Prunk lebten und ihrer bedeutsamen Aufgabe nachkamen. Im Zentrum befand sich ein Turm, der die im Abendlicht rosa und orange leuchtenden Wolken fast zu berühren schien: der Regierungsturm, den die Regentin niemals verließ und den nur ihre engsten Vertrauten, die wichtigsten und einflussreichsten Männer und Frauen des Landes, betreten durften. Das Zentrum der Macht.

Zwischen diesen drei Teilen befand sich jeweils ein Gang, in dem Gardisten Tag und Nacht patrouillierten – mit lückenloser Aufmerksamkeit, wie Skadi leidvoll erfahren musste, als sie einmal versucht hatte, sich auf einen Ball in der Äußeren Burg zu stehlen.

Lynn trat hinter sie. »Ich fürchte, du musst gleich wieder los«, sagte sie leise. Und tatsächlich klopfte in diesem Moment einer der Gardisten an die Tür.

Skadi umarmte Lynn. »Ich komme wieder, sobald ich kann.«

»Aber ja! Und nun geh schon. Auch wenn ich nicht mehr in der Burg lebe – die Regeln kenne ich immer noch. Dass Ausersehene die Nacht in der Inneren Burg verbringen müssen, habe ich nicht vergessen.«

Und ich werde es nie vergessen, denn genau das ist mir zum Verhängnis geworden, sagte ihr Blick.

Als Skadi das ärmliche Haus verließ – einen dicken Umhang zum Schutz vor den kühlen Abendstunden um sich geschlungen –, schien es ihr, als blickte Lynn ihr besorgt hinterher. Doch auch diesmal war der Schatten schnell wieder aus ihrem Gesicht verschwunden, und sie winkte lächelnd.

Skadi beschloss, sich nicht den Kopf darüber zu zerbrechen. Warum sollte Lynn sich Sorgen um sie machen? Ihr ging es großartig, sie konnte nun in die Sicherheit der Inneren Burg zurückkehren, sich auf seidene Bettlaken und parfümierte Kissen freuen – und auf ihre Vereinigung mit dem jungen Lord, auf die sie nun nur noch wenige Tage warten musste. Der Schatten, den sie in Lynns Gesicht wahrgenommen hatte, musste andere Gründe haben. Mitleid schnürte Skadi die Kehle zu. Aus der Burg verstoßen zu werden, in Armut zu leben, mit einem Brandmal im Gesicht – das war die höchste Strafe für eine Ausersehene. Und doch schien das, worunter Lynn am meisten litt, nicht die Enge ihrer düsteren, kleinen Behausung zu sein, und auch nicht die Verachtung der Städter, die sie mieden – sondern die Trennung von Raud.

Immer noch fiel es Skadi schwer zu begreifen, was Lynn getan hatte. Statt sich in ihre Pflichten zu fügen, folgsam in der Burg zu wohnen und sich nach Plan mit ausgewählten Männern zu vereinen – alles, um dem höchsten Ziel zu dienen: Kinder in die Welt zu setzen –, war sie ihrem Herzen gefolgt und hatte sich auf Raud eingelassen. Den vierschrötigen, fröhlichen Raud mit den breiten Schultern und den starken Händen, der täglich seinen Dienst in der Schmiede verrichtete. Raud, von dem Lynn ihr eines Nachts flüsternd und unter dem Siegel der Verschwiegenheit erzählt hatte und der sich so stark von den eleganten Lords unterschied, die Lynn regelmäßig zugewiesen wurden.

Dass eine Ausersehene sich einem gewöhnlichen Bürger hingab, konnte keinesfalls geduldet werden. Lynn hatte um das Risiko gewusst, das sie einging, und trotzdem war sie erschüttert und von Schmerz zerrissen gewesen, als die Gardisten sie in Rauds Armen erwischt hatten. Sie hatten sie in die Burg zurückgeschleppt, und dort war das Urteil verkündet worden: All ihre Privilegien wurden ihr entzogen. Nie wieder durfte Lynn die Burg betreten, als Ausgestoßene musste sie in der Stadt leben, verachtet von den anderen Bürgern. Und die Strafe, die Raud getroffen hatte, musste noch ungleich härter gewesen sein. Er war verschwunden wie alle, die sich jemals unerlaubt mit einer Ausersehenen eingelassen hatten – und wie überhaupt so viele, die gegen das Gesetz verstießen, wenn man den Gesprächen der Zofen glaubte, die Skadi belauscht hatte. Sich am kostbarsten Gut des Landes zu vergreifen war ein schweres Verbrechen – ein unverzeihliches Verbrechen.

Kapitel 2: Reptilienaugen

In Gedanken versunken folgte Skadi den Gardisten zur Burg. Die Sonne ging zu dieser Zeit des Jahres schnell unter. Wie eine glühende Blutorange versank sie hinter dem Horizont, nahm ihre warm leuchtenden Strahlen mit und ließ die Welt düster und kühl zurück. Fröstelnd zog Skadi sich die Kapuze des Umhangs über den Kopf.

Als sie den Marktplatz erreichten, packten die Händler gerade ihre letzten Waren zusammen. Bedauernd sah Skadi glänzende Äpfel in Jutesäcken und Holzkisten verschwinden. In der Burg fehlte es ihr an nichts – wann immer sie den Wunsch nach frischem Obst verspürte, wurde er erfüllt. Doch nichts war vergleichbar mit einem simplen Apfel, der hier draußen verspeist wurde – in Freiheit.

Energisch schüttelte sie den Kopf über ihre dummen Gedanken. Was hatte Lynn denn von der Freiheit, die sie sich genommen hatte? Und doch hielt sich der Begriff hartnäckig wie mit Widerhaken in einem Winkel ihres Bewusstseins fest.

Vor der Taverne am Marktplatz, dem »Güldenen Krug«, wurde eine Fackel entzündet und verwandelte das Wirtshaus in einen anziehenden Zufluchtsort vor der schnell hereinbrechenden Nacht. Wie Motten zum Licht schwärmten Arbeiter, Handwerker und Händler, die ihr Tageswerk verrichtet hatten, in den Wirtsraum. Wann immer die Tür sich öffnete, um neue Besucher zu verschlucken, konnte Skadi einen Blick auf grob gezimmerte Tische und lange Holzbänke erhaschen, an denen breitschultrige, bärtige Männer Platz nahmen und gut gelaunt ihr erstes Bier des Abends bestellten.

Sie stellte fest, dass sie stehen geblieben war, ohne es zu merken, und sehnsüchtig die ausgelassene Stimmung beobachtete. Für sie war es undenkbar, einen solchen Ort aufzusuchen. Ob es wohl Spaß machte? Die Männer schienen sich zu amüsieren.

Außen an der Tavernenmauer, kaum erleuchtet vom flackernden Licht der Fackel, lehnte ein Paar in inniger Umarmung an der Wand. Diskret wollte Skadi den Blick abwenden und weitergehen, doch etwas fesselte ihre Aufmerksamkeit. Sie kniff die Augen zusammen, um mehr erkennen zu können. Die Frau trug ein Mieder mit vulgär tiefem Ausschnitt, sie war gewiss eine Dirne. Doch was Skadi noch mehr auffiel, war der Mann: In kostbare Gewänder aus grünem Samt war er gekleidet, die seine schlanke Silhouette vorteilhaft betonten. Einige Strähnen des glänzenden schwarzen Haares hatten sich aus dem Zopf gelöst, fielen ihm ins Gesicht und verdeckten es teils, doch als die Frau sie zärtlich beiseitestrich, musste Skadi einen Aufschrei unterdrücken: Der Mann, der da an der Ecke eine Frau küsste, war der, dessen Antlitz sie seit Tagen auf einem Bild angeschmachtet hatte – Lord Darian. Das Medaillon hing plötzlich schwer wie ein Felsbrocken um ihren Hals.

Der junge Lord drückte die Dirne an die Mauer, mit einer Hand zog er spielerisch an der Schnürung des Mieders und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Sie kicherte, nahm seine Hand und zog ihn mit sich in die Schatten hinter der Taverne.

Skadis Puls raste. Schnell warf sie einen Blick auf die Gardisten, die offensichtlich vom Geschehen nichts mitbekommen hatten und ungeduldig darauf warteten, dass sie weiterging.

Nun, diesen Gefallen konnte sie ihnen nicht tun. Ihr Herz schlug rasend schnell, und es sagte ihr mit unbeirrbarer Sicherheit, dass sie in dieser Nacht keinen Schlaf finden würde, wenn sie jetzt einfach in die Burg zurückkehrte. Sie musste einfach wissen, ob hinter der Taverne das vor sich ging, was sie dachte – obwohl ein Teil von ihr sicher war, dass es besser wäre, nicht zu genau Bescheid zu wissen.

Ohne Vorwarnung schnellte sie los, in eine beliebige Gasse. Ein Aufschrei ertönte, und sie hörte, wie auch die Gardisten sich in Bewegung setzten. Das Getrampel der schweren Stiefel folgte ihr, während sie rannte, über kleine Mauern sprang und immer wieder in neue Gassen und Straßen abbog, um ihre Verfolger zu verwirren. Der Wind pfiff ihr um die Nase, ihre Füße in den leichten Schuhen flogen über die Pflastersteine, und kurz verspürte sie das vage Gefühl von Freiheit, das sie in der Vergangenheit immer wieder dazu verleitet hatte davonzulaufen. Doch dann rief sie sich selbst zur Ordnung: Diesmal war es kein Spaß. Diesmal konnte sie nicht riskieren, geschnappt zu werden. Sie musste rennen – nein, fliegen –, als hinge ihr Leben davon ab. Und tatsächlich schien das, was davon abhing, in dem Moment gar nicht so viel weniger wichtig zu sein als ihr Leben: ihr Seelenheil. Es durfte eigentlich keine Rolle spielen, was er tat, und doch musste sie einfach wissen, ob es Lord Darian war.

Atemlos ließ sie sich in einen Winkel zwischen zwei Häusern fallen und lauschte: Die Schritte und Rufe entfernten sich. Sie hatte es wieder geschafft.

Lautlos schlich sie zurück zum Marktplatz. Den Umhang zog sie enger um die Schultern und die Kapuze tiefer ins Gesicht, doch sie machte sich nichts vor: Sollten die Wächter sie erblicken, würden sie sie auf der Stelle erkennen.

Je näher sie dem Wirtshaus kam, desto weniger schienen ihre Beine weitergehen zu wollen. Sie wurde langsamer und langsamer. Als sie die Taverne erreichte, zögerte sie kurz, stützte sich an der Wand ab, dort, wo er gestanden hatte, und atmete tief durch. Dann setzte sie ihren Weg entschlossen fort.

Sie schlich um die Taverne herum, wohin Lord Darian verschwunden war. Eng an die Mauer gedrückt, stahl sie sich durch die Schatten. Da, eine schmale Tür, durch die ein schwacher Lichtschein fiel. Ihre Hände zitterten, als sie sich langsam an der Wand entlang darauf zuschob und hineinlugte.

Gleich darauf fand sie sich auf dem Boden sitzend wieder. Ihre Knie gaben einfach unter ihr nach, und sie verlor mit einem Mal alle Kraft. Die rauen Mauersteine bohrten sich schmerzhaft in ihren Rücken, als sie dasaß, beide Hände fest auf den Mund gepresst, die Augen weit aufgerissen. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Erst als sie sicher war, dass sie nicht aufschreien und sich dadurch verraten würde, nahm sie die Hände ganz langsam vom Mund.

Hastig griff sie nach dem Medaillon. Fast entglitt es ihren zitternden Fingern, die plötzlich so kalt waren, dass sie kaum Gefühl darin hatte. Es kostete sie mehrere Versuche und einen abgebrochenen Fingernagel, den Verschluss zu öffnen, und einen weiteren Augenblick unsicheren Zögerns, bis sie einen Blick wagte. Angespannt betrachtete sie das Bild im spärlichen Licht und drehte es hin und her.

Kein Zweifel, es war Lord Darian! Sie konnte das Bild noch so lange ansehen und noch so verzweifelt versuchen, einen Unterschied zwischen dem Mann hinter der Tür und dem Porträt zu finden … Es war Lord Darian, der in der kleinen Vorratskammer wie ein Tier über der Dirne kniete, die auf einem Haufen von Mehlsäcken lag. Ihr Mieder war gelockert, und ihre weichen Brüste wogten, als sie den Lord mit einem tiefen Gurren an sich zog. Skadis Wimmern war ein leises Echo des fast animalischen Lautes.

Grob drückte der Lord die Frau auf die Mehlsäcke und schob ihren Rock hoch. Ihr Gesicht verzog sich unwillig. »Nicht so forsch, mein Lord«, versuchte sie ihn abzuwehren – erst spielerisch, dann zunehmend verzweifelt. Unbeirrt fuhr er fort.

Mit aufgerissenen Augen starrte Skadi die beiden an, unfähig, einzugreifen, um Hilfe zu rufen oder sich abzuwenden. Sie war wie gelähmt und dazu verdammt, das Schauspiel zu beobachten, das sich unwiderruflich in ihre Netzhäute einzubrennen schien.

Sein Haar war nun offen und fiel ihm ins Gesicht – in dieses makellose Gesicht mit der eleganten Nase, den geschwungenen Lippen und den blauen Augen. Den wundervollen Augen, die immer leicht gelangweilt blickten, selbst jetzt: leidenschaftslos wie die Augen der Eidechsen, die sich manchmal an den Mauern der Burg sonnten. Dieses Gesicht, das ihr doch gerade noch als der Inbegriff von Vollkommenheit erschienen war und das sie nun abstieß.

Nach einer gefühlten Ewigkeit ließ der Lord von der Frau ab und warf ihr, während sie schniefend ihre Kleider zusammenraffte, eine Handvoll Münzen vor die Füße.

Es war vorbei, und endlich fiel die Starre von Skadi ab. Wie betäubt stand sie auf und taumelte zurück zum Platz, einem Gardisten direkt in die Arme. »Ich hab sie«, rief er und hielt sie schnell fest, damit sie nicht wieder flüchten konnte. Nicht dass sie das vorgehabt hätte – sie hatte erfahren, was sie wissen wollte. Und noch viel mehr, was sie nicht wissen wollte.

Auf dem weiteren Rückweg nahmen die Gardisten sie in die Mitte und achteten darauf, dass sie keine Anstalten machte, wieder fortzulaufen. Doch Skadi nahm das kaum wahr. Ihr Gesicht brannte wie Feuer, obwohl der Wind kühl war. Sie versuchte zu lächeln und hatte keine Ahnung, ob es gelang.

Als sie am ersten Tor ankamen – dem zweiflügligen aus Marmor, das so groß und schwer war, dass es nur vier starke Männer mithilfe einer Winde öffnen konnten –, wiesen ihre Begleiter sich aus, während sie unbeteiligt danebenstand. Auch das zweite Tor – das elfenbeinverzierte, dessen glatte Oberfläche das Licht der Fackeln so reflektierte, als leuchtete es selbst, und das zur Inneren Burg führte – passierte Skadi wie in Trance.

Erst als sie die Eingangshalle betrat, wie gewohnt die Schuhe auszog und den kühlen, glatten Marmorboden unter den bloßen Sohlen fühlte, kam sie zu sich.

»Ich danke Euch für die Begleitung«, sagte sie knapp und ließ die Gardisten einfach stehen. Sie eilte durch die Flure, über dicke, kostbare Teppiche in leuchtenden Farben, in denen ihre Füße fast bis zum Knöchel versanken, vorbei an kunstvoll gefertigten Statuen und Büsten, in ihr Zimmer, das größer war als Lynns ganzes Haus und vermutlich das Nachbarhaus dazu.

Sie warf sich aufs Bett, schloss die Augen und atmete tief durch, bis sie sich wieder mehr wie sie selbst fühlte. Minutenlang lag sie nur da und ließ den Satin ihre heißen Wangen kühlen. Dann rollte sie sich auf den Rücken. Bis zur Decke ihres Gemachs erstreckte sich der Prunk, der jeden Winkel der Inneren Burg beherrschte. Zierliche Malereien ahmten über ihr den Sommerhimmel nach: sanftes Hellblau, durchsetzt von zarten Schäfchenwolken. Ein Schwarm gezeichneter Vögel erhob sich aus einer Ecke, für immer gefangen in der Position, die der Künstler ihm zugedacht hatte. Sie hatte ihn so oft gesehen, dass sie ihn selbst nachts, wenn es stockdunkel war, so klar und deutlich vor ihrem inneren Auge hatte, als wäre es Tag.

Alles in diesem Raum hatte sie unzählige Male gesehen; solange sie sich zurückerinnern konnte, hatte sich nichts verändert. Jedes Detail war wie immer: Schränke und Kisten aus hell schimmerndem Holz, geschmückt mit goldverzierten Schnitzereien; das riesige Bett, in dem sie sich manchmal, wenn sie nachts aus Albträumen erwachte, so unendlich verloren fühlte; die luftigen Vorhänge, die im gleichen Himmelblau leuchteten wie ihre unzähligen kostbaren Kleider.

Nur etwas war neu. Wie ein Fremdkörper, der nicht hierhergehörte, hing ein prachtvolles rotes Kleid außen an der Tür des Kleiderschranks.

Sie stand auf und näherte sich ihm langsam. Es war bloß ein Kleid, und doch erschien es ihr bedrohlich. Sie verscheuchte den Gedanken: Es war doch nur hier, um ihre Vorfreude auf die Vereinigung zu steigern.

Sie ließ den Samt durch ihre Finger gleiten, hielt ihn an die Wange. Es war ein wundervolles Kleid, mit goldbestickten, langen Ärmeln und einem filigranen Gürtel mit einer Rubinschließe.

An dem Abend, an dem es so weit war – ja, dann würde sie es tragen dürfen. Und dazu viele andere neue Kleider, alle in flammendem Rot und noch kostbarer als die blauen, die sie bisher getragen hatte. Jeder würde sehen können, dass sie zu denen gehörte, die neues Leben hervorbrachten. Dass sie sich mit einem der für sie bestimmten Männer vereint hatte und vielleicht sogar sein Kind in sich trug. Tränen traten ihr in die Augen.

Plötzlich ertrug sie den Anblick des Kleides nicht mehr und schleuderte es zu Boden. Wie eine Pfütze frisch vergossenen Blutes lag es da, eine stumme Drohung. Schaudernd wandte sie sich ab.

Leise klopfte es an der Tür, kaum hörbar, und trotzdem zuckte sie zusammen.

»Komm herein«, sagte sie und blinzelte die Tränen weg. Schon am Klopfen – dezent, aber bestimmt – erkannte sie, dass es Suhi war. Und tatsächlich, wie ein Schatten huschte das junge Mädchen durch die Tür, knickste anmutig und holte die silberne Haarbürste vom Frisiertisch. Skadi nahm auf dem bequem gepolsterten Stuhl vor dem großen Spiegel Platz, und die Zofe begann mit geübten, vorsichtigen Handgriffen, ihr langes, lichtblondes Haar zu entwirren.

»Nun? Wollt Ihr mir erzählen, wie Euer Ausflug war?« Wie immer war Suhis Stimme kaum mehr als ein Wispern, aber Skadi hörte die Sehnsucht heraus. Die Zofen, die sich um Frisuren, Kosmetik und Garderobe der Ausersehenen kümmerten, verließen die Innere Burg noch seltener – viele verbrachten ihr gesamtes Leben hier, ohne einen einzigen Ausflug in die Stadt.

Und so erzählte Skadi: vom Wind und der Sonne auf ihrer Haut, von den fremdartigen Gerüchen und dem Trubel auf dem Markt, vom Zwitschern der Vögel und dem Kläffen der Hunde. Sie erzählte, wie die Gegend düsterer und schäbiger geworden war, je weiter sie sich Lynns Haus genähert hatten. Dann seufzte sie und verstummte, und Suhi drängte sie nicht, weiterzusprechen.

Mit regelmäßigen Strichen glitt die Bürste leise knisternd durch ihr seidiges Haar, und mit jedem Knötchen, das sich löste, beruhigten sich ihre aufgewühlten Gefühle ein wenig mehr. Dankend nickte sie Suhi zu, als diese die Bürste beiseitelegte und wieder anmutig knickste.

»Benötigt Ihr noch etwas? Soll ich Euch ein Bad einlassen?«

Skadi schüttelte den Kopf. Sie wollte nur noch allein gelassen werden. Suhi zog sich zurück, um anderen Ausersehenen zu Diensten zu sein.

»Es spielt doch keine Rolle«, sagte Skadi laut, als sie wieder allein war, und erschrak vor ihrer eigenen Stimme, die durch den großen Raum hallte. »Ich soll doch nur sein Kind empfangen. Nicht seine Frau werden. Was geht es mich an, was er vor und nach unserer Begegnung treibt?«

Es war die Wahrheit, das wusste sie: eine Wahrheit, die sie nie zuvor in ihrem Leben angezweifelt hatte. Warum hörten sich die Worte dann in ihren Ohren falsch an?

Seufzend ließ sie sich wieder aufs Bett fallen und versuchte, den Gedanken an den kalten, gelangweilten Blick des Lords zu vertreiben. Wieder nahm sie das Medaillon und sah sich sein Bild an, doch solange sie es auch betrachtete – es gelang ihr nicht, die Schönheit wiederzufinden, die sie darin gesehen hatte. Alles, was sie sah, war der emotionslose Blick aus seinen Reptilienaugen.

Als die Tür erneut aufschwang, stellte sie sich schlafend. Sie schloss die Augen und versuchte, ruhig zu atmen. Sie wollte nicht sprechen, mit niemandem. Wer auch immer sie störte – wenn er sah, dass sie schlief, würde er hoffentlich gehen.

Schwere Stiefel durchquerten den Raum, dann quietschte der Sessel neben dem Bett, als der Eindringling Platz nahm. Als ihr klar wurde, dass er geduldig darauf wartete, dass sie ihr Schauspiel beendete, zog sie unwillig die Nase kraus und blickte im nächsten Moment in Ragnars leuchtend blaue, von Lachfältchen umgebene Augen. Der Hauptmann der Garde grinste auf sie herab. »Na, schon wach?«

Sie schnitt eine Grimasse.

»Lass das besser sein, sonst vergisst du am Ende, wieder ein normales Gesicht aufzusetzen, und erschreckst dich beim Blick in den Spiegel zu Tode.«

Die wenigen Worte reichten aus, um sie ein wenig aufzumuntern – zumindest genug für ein schwaches Lächeln.

Mit gespielter Strenge musterte er sie. »Mir wurde zugetragen, dass du wieder einmal auf eigene Faust die Stadt unsicher gemacht hast.«

Leugnen konnte Skadi es nicht, also nickte sie widerstrebend. »Kann man so sagen«, murmelte sie.

»War der Ausflug nicht nach deinem Geschmack? Deine Laune ist geradezu furchteinflößend.«

Dass irgendetwas dem breitschultrigen Hünen mit dem langen blonden Zopf, dem verwegenen Dreitagebart und den blitzenden blauen Augen Furcht einflößte, konnte Skadi sich beim besten Willen nicht vorstellen, doch diesmal war ihr nicht danach, auf seine Scherze einzugehen.

»Der Ausflug war ganz und gar nicht nach meinem Geschmack«, bestätigte sie, »aber nun bin ich ja wieder hier.« Demonstrativ wandte sie sich ab, fest entschlossen, das Thema auf sich beruhen zu lassen.

Zu ihrer Überraschung bohrte er nicht nach. Als sie ihn wieder anschaute, merkte sie, dass sein Blick ernster geworden war und die sonst immer lächelnden Augen sie besorgt ansahen.

»Es liegt an der bevorstehenden Vereinigung, nicht wahr?«

Überrascht blinzelte sie. »Woher …«

»Skadi, du bist nicht die erste Ausersehene, die nervös ist, bevor sie auf ihren ersten Partner trifft. Genau genommen wärst du die Erste, die das ganz locker hinnimmt. Das ist ganz normal. Es ist ein Fremder, dem du dich hingeben musst – daran ändert auch das Porträt nichts, das sie dir gegeben haben.«

Ihre Hände verkrampften sich. Sie wünschte, Lord Darian wäre ihr tatsächlich so völlig fremd, wie Ragnar dachte. Wenn sie nichts über ihn wüsste – ihn nie zuvor gesehen hätte, zumindest nicht in einer solch unsagbaren Situation –, könnte sie der Vereinigung unvoreingenommener entgegensehen. Ohne Angst.

Sanft drückte Ragnar ihre Schulter. Dann stand er auf und trat ans Fenster. Als er fortfuhr, murmelte er so leise, dass sie nicht sicher war, ob sie ihn richtig verstand: »Es ist einfach nicht richtig, was sie von euch verlangen. Dieses System ist … falsch.«

Schockiert sah sie ihn an. Das konnte er nicht ernst meinen. Niemand kritisierte das System, denn das bedeutete eine Kritik an der Regentin. Und wie konnte jemand die Frau kritisieren, die ihrer aller Retterin war? Die alles tat, damit ihr geliebtes Volk fortbestehen konnte?

»Die Regentin ordnet nur an, was nötig ist«, sagte sie im Brustton der Überzeugung. »Das System ist das einzig mögliche.«

»Ja. Natürlich.« Ragnar blickte aus dem Fenster. »Die Krankheit.«

Skadi nickte. Es musste entsetzlich gewesen sein, so entsetzlich, dass man auch heute noch – Jahrhunderte nachdem all das geschehen war – die Stimme senkte, wenn man darüber sprach.

Die Krankheit hatte viele Opfer gefordert. Erwachsene erkrankten und starben kurz darauf. Kinder wurden mit Missbildungen geboren und selten älter als wenige Wochen oder Monate. Ganze Landstriche waren entvölkert worden. Am schnellsten hatte sich die Seuche dort verbreitet, wo viele Menschen zusammengelebt hatten: In vielen Städten und Dörfern hatte es innerhalb weniger Wochen keine einzige lebende Seele mehr gegeben. Man hatte aufgehört, die Toten zu begraben. Leichen hatten an den Wegesrändern gelegen und waren Wölfen und streunenden Hunden zum Opfer gefallen.

Die Regentin selbst war durch das Land gezogen, ohne Angst davor, angesteckt zu werden. Mit ihren eigenen Händen hatte sie den Heilern dabei geholfen, sich um die Kranken und Leidenden zu kümmern.

Und tatsächlich hatte das Sterben irgendwann ein Ende gefunden. Doch als alles überstanden schien, als die Kranken gesundeten und niemand mehr erkrankte, kam der nächste Schock: Fast alle Frauen waren unfruchtbar geworden. Es wurden keine Kinder mehr geboren, und das Reich schien dem Untergang geweiht.

Nur der Regentin war es zu verdanken, dass das Volk nicht ausstarb: Mühsam suchte sie jene Frauen und Mädchen, die von der Unfruchtbarkeit verschont geblieben waren. Ihre Körper waren wertvoller als alles andere, sie waren die kostbarsten Schätze des Landes, unendlich viel mehr wert als Gold und Edelsteine. Also wurden sie in die Burgen gebracht, die die Regentin über das ganze Land verteilt errichten ließ. Dort führten sie hinter dicken, hohen Mauern ein behütetes Leben im Luxus und taten, wozu nur sie in der Lage waren: Sie wurden schwanger und gebaren Kinder. Um dem Volk Nachkommen zu schenken, warteten sie fügsam darauf, dass ihnen passende Männer zugeteilt wurden, denen sie sich hingaben. Wann immer sie ein Kind geboren hatten, fand es bald darauf ein Zuhause bei einer adeligen oder bürgerlichen Familie, die sich darum beworben hatte. Und der Ausersehenen wurde nach einer kurzen Erholungspause der nächste Mann zugeführt.

Skadi hatte ihr ganzes Leben in der Burg verbracht. Als sie ein Kleinkind gewesen war, war bei einer der regelmäßig stattfindenden Untersuchungen festgestellt worden, dass das Schicksal sie zur Mutterschaft ausersehen hatte. Seither lebte sie in einem goldenen Käfig, ständig unter Aufsicht, damit ihr kostbarer Körper unversehrt blieb.

Manchmal beneidete sie die Männer – jene mit besonders gutem Erbgut, die den Ausersehenen zugewiesen wurden. Auf sie musste nicht so gut achtgegeben werden, und so lebten sie frei und höchst angesehen in der Äußeren Burg oder auf ihren Landsitzen, taten, wonach ihnen war, und kamen nur zu den festgelegten Terminen regelmäßig in die Innere Burg.

So ging das seit Hunderten von Jahren. Seit Anbeginn dieser Zeit hatte die Regentin gelebt. Sie war kein Mensch wie Skadi und Ragnar – nein, sie war viel mehr. Sie wurde als Göttin verehrt, als strenge, aber wohlwollende Herrscherin über alles. Vor unendlich vielen Jahren war sie gekommen, um den Menschen Heilung zu bringen und ihnen Schutz und Führung zu gewähren.

Das Leben als Ausersehene war alles, was Skadi kannte. Aus Erzählungen wusste sie jedoch, dass früher, vor langer, langer Zeit, jede Frau mit jedem beliebigen Mann Kinder bekommen konnte, völlig willkürlich.

Überhaupt mussten es seltsame Zeiten gewesen sein, wild und unkontrolliert. Manche sprachen sogar davon, dass es Magie gegeben hatte, so wie in den Kindergeschichten, die Ragnar ihr einst erzählt hatte. Mächtige Magier sollten über das Reich geherrscht haben, doch ob sie das glauben sollte, wusste Skadi nicht.

In jedem Falle musste man froh sein, dass diese Zeiten vorbei waren, denn die alten Geschichten sparten nicht mit schauerlichen Details über die Gefahren, die an jeder Ecke gelauert hatten, und die grausamen Magier, die ihre Macht missbraucht hatten, um Menschen zum Spaß zu quälen.

»Wir haben Glück, dass die Regentin sich so gut um das Volk kümmert, nicht wahr?«, erkundigte sie sich – etwas unsicher, weil sein Verhalten sie irritierte.

»Hm. Sicherlich.«

»Ragnar? Jenseits der Landesgrenzen … Ist es dort wie bei uns? Gibt es auch dort Ausersehene?«

»Wer weiß das schon? Ich war nie in der Ferne, ebenso wenig wie jeder andere hier. Die Grenzen sind geschlossen. Die Bergpässe werden streng bewacht, an den Küsten gibt es kaum mehr Häfen, und die paar Boote, die dort liegen, werden nur für die Fischerei benutzt. Weißt du, die meisten interessiert nicht, was jenseits der Grenzen liegt. Sie sind zufrieden mit dem, was sie hier haben.«

»Es gibt doch auch keinen Grund, warum wir uns für mehr interessieren sollten, nicht wahr? Wir haben hier doch alles, was wir brauchen. Und es hat doch auch einen guten Grund, warum man nicht in andere Länder reisen darf. Niemand soll Krankheiten aus fernen Ländern einschleppen, damit nie wieder so etwas geschieht wie damals.«

Sie hatte nie an alldem gezweifelt. Warum klang es dann plötzlich falsch? Lag es nur an Ragnars Worten? An der Unzufriedenheit, die in seiner Stimme gelegen hatte? Oder hatte nur der Anblick des Lords sie so durcheinandergebracht?

Sie seufzte, und er lächelte aufmunternd. »Tut mir leid. Sieht so aus, als hätte ich deine Laune nicht gerade verbessert. Zerbrich dir nicht den Kopf darüber. Du bist ein wichtiger Teil der Gesellschaft und hast hier alles, was du brauchst, und noch viel mehr.«

Nachdem Ragnar gegangen war, stellte sie sich ans Fenster – dorthin, wo der Hauptmann gerade noch gestanden hatte – und sah hinaus. Das Mondlicht schien sanft auf die dunklen Dächer der Hauptstadt Archa, die sich weit in alle Richtungen erstreckte. Sie hielt nach Lynns Haus Ausschau, gab aber schnell auf. Irgendwo ganz weit hinten musste es sein, dort, wo die Häuser niedriger wurden und die schmalen Straßen nur an einigen wenigen Stellen von Fackeln erleuchtet waren. Sie schüttelte sich beim Gedanken an den Gestank, der dort in der Luft gelegen hatte. Sie hatte nicht gewusst, dass es hier Leute gab, die so ärmlich lebten. Archa war eine wohlhabende Stadt, die reichste und prunkvollste des Landes. Auch wenn Skadi nicht viel gesehen hatte, wusste sie, wie gut es den Menschen hier ging. Kunst und Wissenschaft blühten, das Gesundheitssystem war gut ausgebaut, so gut wie jeder hatte Arbeit und ein Dach über dem Kopf. Selbst ein unterirdisches Netz von Wasseradern gab es, das die Bewohner mit frischem, sauberem Trinkwasser versorgte. Es war gut, hier zu leben, und niemandem ging es besser als den Ausersehenen.

Ihr Blick folgte dem dunklen Liniengewirr der Straßen bis zur Stadtmauer. Hoch und düster ragte sie empor und trennte die Stadt von dem, was außerhalb lag.

Skadi kniff die Augen zusammen. Im Mondlicht konnte sie die Landschaft nur erahnen, doch sie hatte so oft aus dem Fenster gesehen, dass sie genau wusste, wie es dort draußen aussah. Saftig grüne Wiesen bedeckten sanfte Hügel, unterbrochen von Äckern, die sich im Sommer und Herbst golden färben würden. Dahinter lagen tiefe, dunkle Wälder, die in der Nacht nichts weiter als pechschwarze Flächen waren. Noch weiter weg, am Horizont, bildeten im Norden die Berge gewaltige Ketten. Und im Osten – weit weg – lag das Meer: ein riesiges Gewässer, hatte Ragnar erzählt – so groß, dass man das andere Ende nicht sehen konnte.

Mit einem Mal wurde ihr bewusst, dass sie von alldem nie mehr sehen würde als das, was ein Blick aus der Ferne ihr offenbarte. Plötzlich bekam sie kaum noch Luft. Die Wände schienen näher zu kommen und sie erdrücken zu wollen. Sie keuchte.