Sharif und der schwarze Beduine - Johanna Bell - E-Book

Sharif und der schwarze Beduine E-Book

Johanna Bell

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Beschreibung

Sharif reitet in das verbotene Tal der Muchal Berge und wird von einem Falken attackiert. Er stürzt von seiner Araberstute und plötzlich steht der schwarze Beduine vor ihm. Sharifs wahre Herkunft hängen mit dieser dunklen Gestalt, der Sonne und einem goldenen Schwert zusammen. Wilde Beduinen, Sandstürme, gierige Insekten und Skorpione wollen ihn vernichten. Aber da gibt es Wundersteine, die leuchten und die Menschen verzaubern. Auch Zulu seine Stute und Kalir flüchten mit ihm durch die Gefahren der Wüste. Doch sie jagen weiter nach dem schwarzen Beduinen und müssen das Geheimnis des goldenen Schwertes lüften. Diese Zauberwaffe kann nicht nur töten, sondern auch etwas völlig anderes. Sharif bekommt die schwierigste Aufgabe des Lebens gestellt. Ob er das wirklich schafft mit Hilfe des Schwerts?

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Seitenzahl: 473

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Johanna Bell schöpft ihre Urteilskraft aus dem Unbewussten. Hier sprudeln meist fantastische Symbole ins Bewusstsein, die einen Konflikt lösen können. Damit ist ihr eine orientalische Abenteuergeschichte gelungen, die den Leser in lebensfeindliche Gegenden und fremde Kulturen führt.

Sharif lebt als Findelkind in einer arabischen Wüstenoase. Eines Tages lockt ihn die Silhouette eines nahe gelegenen Gebirges. Er reitet dort hinein und wird von einem Falken attackiert. Der Junge stürzt vom Pferd und plötzlich steht der schwarze Beduine vor ihm. Sharifs wahre Herkunft hängen mit dieser dunklen Gestalt, der Sonne und einem goldenen Schwert zusammen.

Sharifs Erlebnisse stecken voller Spannung und Erkenntnisse. Sie werden große und kleine Leser an Geist und Seele bereichern.

1. Auflage: 2011

Veröffentlicht als Bedu Taschenbuch, 2001
Alle Rechte vorbehalten, www.Bedu-Verlag.de
Originalcopyright © Johanna Bell 2010
Umschlaggestaltung: Johannes Hench,
www.johannes-hench.de
Printed in Germany
ISBN: 978-3-00-034445-9

In diesen heil`gen Hallen

kennt man die Rache nicht,

und ist ein Mensch gefallen,

kehrt Liebe ihn zur Pflicht.

Dann wandelt er

an Freundes Hand

vergnügt und froh

ins bess`re Land.

In diesen heil`gen Mauern,

wo Mensch den Menschen liebt,

kann kein Verräter lauern,

weil  man dem Feind vergibt.

Sarastro verzeiht der Königin der Nacht

Mein größter Dank gehört:

Rolf Lemke, Lektor aus Bad Dürkheim

und

Johannes Hench, Illustrator aus Bürgstadt

Inhaltsverzeichnis
Erster Teil
Die Muchal-Berge
Eine alte Geschichte wird lebendig
Das Symbol
Die Reise
Die Begegnung
Soraja
Die Überraschung
Die Rückkehr
Lalusha
Sharifs Aufgabe
Der Aufbruch
Zweiter Teil
Kalirs Vergangenheit
Nächtliche Überraschung
Der Überfall
Glück gehabt
Die Flucht
Die Höhle
Ort des Grauens
Ein Wunder
Die Quelle
Die Rückkehr
Ein Rückschlag
Kalirs und Hamids Vergangenheit
Unerwartete Neuigkeiten
Die Wundersteine
Hamids Ende?
Plötzlicher Wandel
Die Befreiung
Dritter Teil
Zurück in die Gegenwart
Die Sprache der Symbole
Ein neuer Tag
Alles bleibt offen
Glossar

Erster Teil

Die Muchal-Berge

Obwohl die Mittagsstunde schon längst vorbei war, stieß die Sonne ihre Strahlen immer noch wie glühende Schwerter hernieder. Die Luft flirrte, als würde der Sand kochen.

Am Rande der Oase, wo ein dichter Grasteppich in die offene Wüste führte, hatte sich Sharif mit einem guten Dutzend Ziegen niedergelassen. Ständig meckerte eine andere. Aber die Tiere schienen glücklich und fraßen gierig die saftigen Grashalme ab. Vater hatte ihn hier her geschickt, weil sonst keiner der Oasenbewohner diesen Platz zum Weiden nutzte.

Vielleicht lag es daran, dass der Ort zu gefährlich war? Wo sich Raubtiere aus den Bergen heranschleichen konnten und ein junges oder krankes Zicklein reißen würden? Sharif hatte seinem Ziehvater versprechen müssen, gut auf die Ziegen aufzupassen und jeden Feind mit seiner Steinschleuder zu verjagen. Das beruhigte den alten hageren Mann ein wenig, denn er wusste, dass niemand so gut traf wie sein Junge.

Sharif saß im Schatten seiner Araberstute. Hin und wieder hob sie ihren zierlichen Kopf, das Maul voller Grünzeug, gleichmäßig darauf kauend. Ihr weißes Fell, das nur von kleinen grauen Tupfen unterbrochen wurde, als hätte man sie mit einer Handvoll Dreck beworfen, schimmerte wie Seide im Licht. Mit halbgeschlossenen Augen döste sie im Fressrausch vor sich hin. Selbst der heiße Wüstenwind, der ihre Mähne aufwirbelte, war ein Genuss für sie.

Sharif hielt einen kräftigen Ast in der Hand, immer bedacht einen Feind abzuwehren oder die Ziegen beim Ausbüchsen zu hindern.

„Alle da!“, brummte er und kaute auf einem Grashalm weiter. Eigentlich fand er Ziegenhüten immer langweilig. Gleichaltrige Jungs gab es in der Oase nicht. Da waren zwar ein paar Mädchen, aber mit denen wusste er nichts anzustellen. Außerdem hatten die ihren Müttern beim Korbflechten zu helfen oder mussten auch Ziegen hüten.

Dennoch schien heute einiges anders. Das Abenteuer, welches auf ihn wartete, lag direkt vor ihm. In der Ferne zeichneten sich schroff die Muchal Berge in den hellblauen Himmel ab. Mit einem flotten Einstundenritt könnte man den Fuß der Berge erreicht haben, schätzte Sharif ein. Noch nie hatte er die sichere Oase verlassen und kein Gefühl für Distanzen entwickelt. Umso mehr reizte ihn jetzt die fremde Kulisse und sein Blick wanderte von Gipfel zu Gipfel.

Plötzlich fokussierte er einen ganz bestimmten Punkt. Das Gebirge öffnete sich mit einem weiten, dunklen Spalt. Vermutlich gelangte man dort in jenes Tal, in das schon viele Menschen hineingegangen waren und nie zurückkehrten. Zumindest wurde es so erzählt.

„Aber warum?“, überlegte Sharif. Manchmal hatte er den Geschichten vom schwarzen Beduinen gelauscht, wenn alle dachten, er würde schlafen. Dieser Beduine verbreitete Angst mit seinem großen schwarzen Hengst und sollte sich dort irgendwo versteckt halten.

Sharif gelang es nicht mehr, den Blick von dem dunklen Fleck abzuwenden. Da stimmte doch was nicht! Aber warum kümmert sich keiner drum? Die Gedanken wühlten ihn dermaßen auf, dass er dabei die Zeit vergaß. Es brach schon die Abenddämmerung ein, als er sich wieder an seine eigentlichen Aufgaben erinnerte.

„Ach je!“ Sharif sprang vor Schreck auf. Mit dem Finger zählte er die Ziegen ab. „Puh, Glück gehabt! Es sind noch alle da!“

Er wollte gerade mit seinen Tieren abziehen, als aus heiterem Himmel ein ungewöhnlich kühler Wind aufbrauste. Gänsehaut zog über seine Arme.

„Was ist das? Hoffentlich kein Sandsturm, oder?“ Er versuchte eine Erklärung am Horizont zu finden. Auch Zulu schaute bewegungslos in die Richtung der Muchal Berge. Und das hatte was zu bedeuten, wenn sie dabei das Fressen vergaß.

Dieser kalte Luftstrom schien direkt aus dem schwarzen Tunnel der Berge zu blasen, als hätte es ein Maul und würde daraus atmen. Der Wind gewann immer mehr an Stärke. Allerlei loses Gehölz und Wurzeln rollten über dem Boden hinweg. Die Grashalme bogen sich ergeben in den Luftmassen. Sand und Staub wirbelte auf. Es begann schon Sharifs Füße zu bedecken. Dabei pfiff der Wind eine Drohung, die einem die Gewissheit gab: „Nimm dich in acht, ich kann noch viel mehr!“

Mittlerweile wirbelte so viel Sand in der Luft, dass Sharif genau hinsehen musste, wo der Weg in die Oase zurückführte. Endlich reagierte er und pfiff einen kurzen hohen Laut. Alle Ziegen erkannten das Zeichen zum Aufbruch. Sie rissen die Köpfe hoch und versammelten sich um ihren Hirten.

„Nichts wie weg!“ Er schwang sich auf Zulus Rücken, nahm die Zügel auf und drückte dem Pferd die Fersen in den Bauch. Zulu sprang sogleich nach vorn. Die Ziegen folgten ihnen mit Angst im Nacken. So etwas hatten sie auch noch nie erlebt.  Der kalte Wind peitschte den Flüchtenden Sand um die Ohren. Sharif musste die Augen zusammenkneifen und überließ der Stute den Weg. Sie brauchte nur wenige Galoppsprünge, um in den Palmenhain einzutauchen. Dort wurde der Wind wie mit einer vorgehaltenen Hand abgewehrt, und der lästige Sand vor den Augen ebbte schlagartig ab. Während Sharif das Tempo drosselte, drehte er sich nach den Ziegen um. Vater wäre sehr ärgerlich, wenn nur einem seiner Tiere etwas zustoßen würde. Aber alles schien in Ordnung zu sein.

„Geschafft Zulu!“ Er klopfte ihren Hals. Auch den restlichen Weg zum Stall überließ er ihr. Seine Gedanken trieben sich sowieso nur im Muchalgebirge herum.

„Wo steckt Sharif nur?“

„Hach, du hättest den Jungen nicht an den sonderbaren Ort schicken sollen! Warum habe ich das nur zugelassen!“, keifte seine Frau zurück. Energisch zog sie ihr großes Kopftuch in Position, um dann den Hirsebrei auf eine flache runde Holzschale zu schöpfen.

„Mach mir jetzt bloß keine Vorwürfe, Weib! Er ist nicht einmal unser eigenes Kind!“

  „Was soll das denn heißen? Hätte ich ihn vor zehn Jahren einfach den Krokodilen zum Fraß überlassen sollen? Das ist doch die Höhe!“ Sie schnappte nach Luft. „Wenn ich ihn nicht aus seinem Körbchen gerissen hätte, dann hättest bestimmt du es getan! Er ist jetzt u n s e r Sohn. Irgendjemand hatte ihn mit Absicht an diesem einsamen Wassertümpel ausgesetzt. Die Krokodile sollten ihn verschlingen!“

„Ja, ja, und beinahe wärst du selbst in ihrem Verdauungskanal gelandet. Ich werde den Anblick nie vergessen, wie das Reptil mit nur einem Bissen den leeren Strohkorb zerfetzt hatte! Das hätte auch dein Arm sein können!“ Nicht nur die Nerven des alten Mannes waren recht ausgelutscht. Das arbeitsreiche und bescheidene Leben hatte auch an seinem Körper gezehrt. Sein Dishdash schlackerte an dem hageren Leib.

Nervös ging er vor der Feuerstelle auf und ab. Er machte sich Sorgen um Sharif, denn er liebte den Jungen genauso sehr wie seine Frau. Die unbekannte Herkunft des Jungen war völlig bedeutungslos. Das wurde ihm jetzt wieder klar. In all den Jahren hatte sich kein Mensch nach Sharif erkundigt. Es blieb ein Rätsel, wer den  Jungen zurück gelassen hatte und wer seine wahren Eltern waren. Aber da gab es eine verborgene Besonderheit. Weder Sharif noch sonst jemand wusste, dass er ein Zeichen hinter seinem linken Ohrläppchen trug. Die kleine Tätowierung zeigte das Bild einer Sonne und einem darüber liegenden Schwert.

Seine Frau seufzte demonstrativ. Immer wenn ihr Gatte angespannt war, fing er zu mosern an.

„Jetzt setzt dich, oder suche nach ihm! Aber hör mit dem Hin und Hergelaufe auf!“ Der Mann gehorchte und blieb abrupt stehen. Dann zupfte er nachdenklich an seinem grauen Bart, deren Form er sich wohl von den Ziegen abgeschaut hatte. „Du hast ausnahmsweise recht!“ Sie verdrehte die Augen. „Ich werde nach ihm sehen! Aber wehe, er hat nur Blödsinn angestellt. Dann...!“

„Wir fangen schon mal mit dem Essen an!“ Mittlerweile hatte sich ihre leibliche Tochter Jawa neben die Mutter gesetzt. Sie war nur ein Jahr jünger als Sharif und im Gegensatz zur Mutter steckte sie in einem bunten Hemd und einer Hose. Als Kind konnte sie ihre dicken schwarzen Haare ohne Kopfbedeckung tragen. Den geflochtenen Zopf warf sie nach hinten auf den Rücken und beobachtete die kleine Streiterei ihrer Eltern.

„Aber da, seht doch!“ Jawa sprang auf und deutete auf den Weg, der in den Palmenhain führte. Alle folgten ihrem Wink. Die Schimmelstute gewann mit jedem Galoppsprung an Größe und preschte wie ein weißer Fremdkörper durch den grünen Tunnel heran. Kurz vor dem Platz der Hütte zügelte Sharif das Pferd und trabte an seiner Familie vorbei.

„Ich bin gleich da!“

Im Schlepptau begrüßten die durcheinander laufenden Ziegen ihren alten Herrn und das vertraute Zuhause. Ihr Gemecker klang, als seinen sie eine fröhliche Kinderschar. 

Während draußen in der offenen Wüste zwischen den Dünen die Sonne als rot glühende Kugel unterging, stieg im Gesicht des alten Mannes die Sonne auf. All sein Ärger war verflogen. Mit schnellen Schritten heftete er sich an die Bande. Die Stallungen befanden sich nur wenige Meter hinter der Hütte. Dazwischen wuchs eine Reihe  stacheliger Had- und Dornsträucher.

„Du kommst spät!“ Die Begrüßung barg Vorwurf und Erleichterung. Der Vater gestikulierte mit den Händen und blickte kurz in den Himmel. Vermutlich schickte er ein Dankeschön an den Allmächtigen.

„Der Weideplatz war so gut, dass die Ziegen einfach nicht genug kriegen konnten!“, stammelte Sharif. Dabei raufte er sich die Haare. Eigentlich versuchte er ein ganz anderes Phänomen zu ergründen.

„Oho, tatsächlich! Ihre Bäuche sind prall und rund!“ Die Stimme des Vaters sang vor Freude. Die Ziegen genossen das Streicheln seiner Hände, als könnten sie ihr Bauchweh lindern. Mit einem kurzen Nicken war Sharif von seinen heutigen Aufgaben entlassen.

„Puh!“, entwich es ihm. Schnell führte er Zulu an ihren Platz und nahm Zaumzeug und Decke von ihr ab. Dabei flüsterte er zu ihr. „Ich  möchte wissen, wie es in dem Tal der Muchal Berge ausschaut! Du auch?“ Zulus Ohren drehten sich vor und zurück, als lauschten sie seinen Worten. Und meistens konnte die schlaue Stute ihm auch folgen, schließlich war sie mit ihm groß geworden.

Als Fohlen steckte sie einmal mit ihren langen Beinen in einem Schlammloch fest und drohte langsam zu versinken. Sharif entdeckte sie als erster und rief nach seinem Vater und Onkel. Weil diese auch nicht recht wussten, was sie tun sollten, schmiss sich Sharif mit einem Bauchplatscher in den Schlamm. Dann packte er Zulu am Kopf und hielt ihre Nüstern überm Dreck. Nun steckte Sharif selbst in Gefahr und die Männer waren gezwungen zu handeln. Sie bildeten eine Menschenkette, einer hielt den anderen fest und der letzte zog sie aus dem tödlichen Morast. Seitdem blieben der Junge und die Stute unzertrennlich.

„Abgemacht! Morgen, noch ganz früh, reiten wir dort hin!“ Mit einem Klaps auf ihren Hals verabschiedete er sich. Frohgelaunt hüpfte Sharif die wenigen Schritte nach Hause. 

Täglich legten Schweiß und Wind seine dichten, schwarzen Haare in ein neues Durcheinander. Auch die Leinenhose und sein knielanges Hemd waren schmutzig. Die Mutter verzog das Gesicht.

„Also gut, heute kannst du erst essen und dich anschließend waschen!“ 

„Danke! Ich sterbe gleich vor Hunger!“ Sharif setzte sich neben Jawa und griff mit der bloßen Hand in die runde Holzschale, in der ein warmer Hirsebrei duftete. Es machte ihm Spaß, mit den Fingern die Hirse in Klumpen zu formen und in den Mund zu schieben.

„Hm, schön scharf!“, lobte er seine Mutter. Sie dankte es mit einem Lächeln. Dabei bröselten ihr ein paar haften gebliebene Hirsekörner von den Lippen. Sharif war schnell satt und blieb still, obwohl er innerlich erregt war. Gerne hätte er von dem seltsamen kühlen Wind erzählt. Aber er fühlte, dass der Zeitpunkt ungünstig lag. 

Sharifs Gemüt fand auch während der Nacht keine Ruhe, so sehr nagte die Neugierde an seinem Schlaf. Was er wohl am nächsten Tag entdecken würde? Natürlich hatte er auch dieses Vorhaben geheim gehalten. Man hätte es ihm eh nur verboten.  

Als der erste Vogel sein Morgengesang trällerte, glaubte Sharif, der richtige Zeitpunkt sei gekommen. Alle um ihn herum schliefen noch. Es war gar nicht so einfach, sich zwischen den gedrängten Leibern der Schlafenden  durchzumogeln. Vorsichtig schlich er zur Öffnung der Lehmhütte. Als er den schweren Vorhang hinter sich wieder zuzog, hielt er inne und lauschte. Nein, niemand rief nach ihm. Gut - und wie gut erst die frische Luft war! Hm! Sharif war zufrieden und hellwach. Jetzt eilte über den sandigen Platz zwischen Lehmhütte und Stallungen. Das Feuer am Kochplatz war schon längst erloschen. Nur der Geruch von kalter Asche stieg ihm in die Nase.

Nach wenigen Schritten hatte er den offenen Stall der Tiere erreicht.  Kopf an Kopf oder Kopf an Hintern lagen oder standen die Ziegen unter einer Überdachung. Dazwischen ragten ein paar Schafe hervor. Zulu teilte ihr Reich mit zwei Eseln, die auf dem Boden kauerten. Sie hatte ihren Freund gehört, noch bevor er die Bildfläche betrat und bog den Hals nach ihm. Mit einem leisen Wiehern begrüßte sie ihn. Was so viel hieß wie: „Da bist du ja endlich!“ Sie stand immer für ein Abenteuer parat. Sharif klopfte ein paar Mal auf ihre Schulter. Eine Ziege hatte was zu meckern.

„Psst!“, befahl er. Damit sie ihn nicht verraten würden, schmiss er den Viechern eine ordentliche Portion Dattelkerne hin. „Gebt bloß Ruhe! Fresst lieber!“ Und so geschah es auch. Dann wählte er ein schlichtes Zaumzeug und eine bunt bestickte Decke für den Ritt. Die Sonne verbarg sich noch hinter den Bergen, und die Nachtluft sorgte für eine angenehme Frische.

Die Oase erwachte wie in einem großen Vogelkäfig. Unglaublich, was die Vögel sich morgens schon alles zu erzählen hatten, wunderte sich Sharif. Jetzt aber los – es drängte ihn!

Er nahm denselben Weg wie gestern und ließ Zulu freien Lauf. Das dumpfe Geklapper ihrer Hufe wurde bald von dem sandigen Boden geschluckt. Zulus lange, dicke Mähne hüpfte im Wind und Sharif liebte es, wenn die vielen Haare seine Nase dabei kitzelten. Recht bald passierten sie die gestrige Weidestelle. Sharif ritt geradewegs drüber hinweg und suchte den Eingang der Berge. Dieser lag gestern noch zum Greifen nah. Doch jetzt konnte er ihn nicht finden, da das Gebirge wie ein dunkler schlafender Riese vor ihm lag. Egal, einfach drauf zu reiten!

Sehr bald schon musste er feststellen, dass sie eine gehörige Anzahl von Sanddünen zu überqueren hatten, die als große Wellen vor ihnen ruhten und ein Kräfte zehrendes Auf- und Absteigen forderten. Es heißt nicht umsonst, in der Wüste könne man in einem Meer ohne Wasser untergehen! Aber die Vollblutstute war zäh und ausdauernd.

Die alte Sage trifft wohl zu, dass der Allmächtige nur aus einer Handvoll Wüstenwind das Araberpferd geschaffen hat! Ohne zu ermüden, nahm Zulu eine Düne nach der anderen. Je mehr sich die beiden dem Ziel näherten, desto größer und gespenstischer wirkten die kargen und spitzen Berge. Sharif fühlte, dass er in eine andere Welt ritt. Mit dem Höherwachsen der Berge nahm auch seine Neugierde zu. Ohne zu zögern, galoppierte er auf den dunklen Koloss zu. Irgendwo würde er das Tal schon finden. Sie mussten jetzt nur noch eine flache Ebene überqueren. 

Auf den letzten Kilometern dorthin begegneten sie einer Herde wildlebender Kamele. Sie lagen in einer Gruppe zusammen und schauten verwundert auf. In aller Frühe schon so viel Hektik, das forderte kritische Blicke heraus. Mit einem Brummen des Unverständnisses folgten ihnen ihre Köpfe.

„Oh nein! Da ist ja Osram, das wilde Rennkamel. Hoffentlich hat er uns nicht bemerkt!“ Sharif duckte sich und gab Zulu Schenkeldruck. Wie fatal! Denn Osram war das schnellste Rennkamel weit und breit. Viele Scheichs wollten es schon einfangen und in ihren Rennstall aufnehmen, aber Osram lief jedem davon. Natürlich hatte Osram die beiden vorbeiflitzen sehen und empfand dies als Herausforderung für ein Wettrennen. Es dauerte auch nicht lange, da zog Osram mit lang gestrecktem Hals an Zulu vorbei.

„Nicht jetzt, verschwinde!“, rief Sharif ihm nach. Noch auffälliger konnten die beiden sich dem geheimnisvollen Tal wirklich nicht nähern. „Herrje!“ Er zügelte die Stute, um dem ungewollten Rennen ein Ende zu machen. Als Osram der Abstand groß genug schien, wendete er und trabte mit hoch erhobenem Kopf, als sei er eine Giraffe, an den beiden vorbei. Zulu tänzelte ärgerlich herum. Sie legte die Ohren an und schlug nach ihm aus. Kamele konnte sie nicht ausstehen und schon gar nicht dieses hier. Sharif hatte Mühe, das Gleichgewicht zu halten.

„Hach Zulu! Bleib ruhig! Du weißt doch, dass du viel schöner und klüger bist! Jetzt komm, wir haben keine Zeit für solche Spielchen!“ Sharif wurde unruhig, denn der Weg erwies sich viel länger als gedacht. Osram verschwand endlich und die Stute galoppierte gleichmäßig weiter.  

Der Tag rückte heran. Die Morgensonne färbte bereits die Bergspitzen in ein kräftiges Rot und würde sie bald zum Glühen bringen. Sharif ritt schon eine ganze Weile am Fuß der Berge entlang, bis ein großer Spalt den Einlass ins Gebirge anbot.

„Hier ist es ja endlich!“ Sharif ließ Zulu in Trab fallen und bog ab. Ein schotterartiger Weg wollte sie in die Berge führen und schlängelte sich aufwärts. Alles hatte die Farbe von einem Einheitsgrau. Nur der Blick nach oben schenkte einen hellblauen Himmel, und die frische Nachtluft lag noch unangetastet im schattigen Tal.

Bald sah Zulu ein, dass es klüger war, langsamer zu gehen, denn der steinige Weg machte es schwierig, mit ihren kleinen Hufen sicheren Halt zu finden. Sharif blickte um sich,  unschlüssig, was er hier eigentlich suchte. Trotzdem trieb er die Stute vorwärts. Sie drangen immer tiefer in das Tal ein. Der unliebsame Weg wurde enger und ging in ein starkes Gefälle über. Zulu kam nur noch langsam voran. Jetzt fiel mehr Licht ins Tal, was aber die Umgebung auch nicht freundlicher aussehen ließ.

„Irgendwas ist hier faul!“, bemerkte der Junge instinktiv. Die meisten Menschen glauben, die Wüste sei tot. Aber das ist ein Irrtum. Man muss nur genau hinschauen und hinhören. Doch selbst Sharif konnte nicht das geringste Lebenszeichen erkennen. Es schienen weder Pflanzen noch Tiere zu existieren, nur eine unheimliche Stille. Außer Stein und Geröll konnte er nichts finden. Nicht mal einen Schwarzkäfer, die in Massen sonst überall herum krabbelten.

„Und wovon sollte dieser kalte Wind herrühren? Versteh ich nicht!“ Sharif sprach zu seiner Stute. Diese prustete Rotz aus den Nüstern und blieb einfach stehen. Sie mochte nicht mehr. Erst die Begegnung mit dem Kamel und jetzt sollte sie hier noch herumstolpern! Sharif spürte ihren Missmut, und auch ihm verging die Abenteuerlust. Es machte keinen Sinn, weiter zu reiten. Schade, er hatte mehr erwartet. Enttäuscht überlegte er kurz und wollte dem Pferd schon das Zeichen zur Wendung geben, als ein schriller Laut die Luft zerriss! Es tat richtig weh in den Ohren.

Der Schreck schoss den beiden dermaßen in die Glieder, dass sie wie angekettet stehen blieben. Noch einmal ertönte dieser Schrei, jedoch viel näher und Sharif griff geschwind nach der Steinschleuder, die in seinem Gürtel steckte. Jetzt konnte er den Laut zuordnen. Es kam aus der Luft. Es war ein Vogel, ein Falke!

Der Junge suchte den Himmel ab, konnte aber in der zunehmenden Helligkeit nichts orten. Ein drittes Mal stieß der Falke seinen Warnschrei aus, und kurz darauf spürte Sharif einen beißenden Schmerz auf seinem Kopf. Er konnte es kaum glauben. Dieser Falke hatte ihn tatsächlich angegriffen und mit seinen scharfen  Krallen einige Haarbüschel ausgerissen, und das im Fluge!

„He, was soll das!“, rief er entrüstet. Seine Kopfhaut brannte vor Schmerz. Vorsichtig tastete er danach, schnellte aber sofort mit dem Finger zurück, als die Berührung alles verschlimmerte.

„Seit wann jagen Falken Menschen?“ Sharif war verwirrt. Egal, warum und ausgerechnet hier? Er musste handeln, sich wehren und schoss mit einem Stein nach ihm, blind vor Zorn. So oder so, hätte er  ihn nie getroffen, denn in der Luft ist ein Falke unbesiegbar.

„Ich kann ihn nicht sehen!“ Hektisch rotierte sein Kopf herum. Zulus Ohren kreisten nervös. Sie ahnte nichts Gutes. Ein tiefes Höhö Höhö Höhö verriet ihre Anspannung. Da ertönte auch schon der nächste Angriffsschrei und dieser klang gefährlich nahe.

Jetzt bekam Zulu den spitzen kleinen Schnabel des Falken zu spüren, denn der Falke hatte es auf ihr Hinterteil abgesehen. Bevor die Stute es bemerken konnte, war er auf ihrer ungeschützten Kruppe gelandet und hackte mehrmals durch das Fell in den Muskel hinein. Das saß wie Messerstiche!

Aus dem Stand heraus machte das verstörte Pferd einen riesigen Satz nach vorn und galoppierte vor Schreck den Berg hinauf. Darauf war Sharif nicht gefasst. Vergeblich versuchte er, sich an der Mähne fest zu halten. Stattdessen rutschte er ihren Rücken entlang, drehte ungewollt einen Salto und schlug mit gestrecktem Rückgrat auf den Boden. Klatsch, da lag er nun. Sharif war schon oft vom Pferd gestürzt, aber noch nie so unglücklich gelandet.

Zuerst durchzuckte ihn ein Schmerz, der ihm den Atem raubte. Dann schnappte er nach Luft und mit dem nächsten Lidschlag spürte und hörte er gar nichts mehr. Der Junge hatte das Bewusstsein verloren.

Währenddessen erklomm Zulu den steinigen Berghang wie eine Gämse und entwickelte in ihrer Panik unglaubliche Kletterfähigkeiten. Der stechende Schmerz jagte sie den Berg hinauf. Geröll und Steine purzelten dabei ins Tal hinab. Es sah fast so aus, als ob sie in einer selbst ausgelösten Gerölllawine mit nach unten gerissen werden würde. Aber sie war immer ein Sprung schneller. Zulu hatte Glück und erreichte bald ein kleines Plateau. Hier machte die Stute halt. Ihre Nüstern waren gebläht und der Atem ging stoßweise, während der Schweiß in grauen Bahnen durch ihr Fell rann.

Vor Sharifs Augen war es immer noch schwarz, aber er konnte ganz genau Zulu wiehern hören. Er schlug die Augen auf und sah in den hellen Himmel. „ZULU!“, schrie es in seinem Kopf, sie ist in Gefahr! Fühlte er noch Schmerzen? Wenn ja, dann nahm er sie nicht zur Kenntnis. Es galt nun einzig allein, der Stute zu folgen. Sharif rappelte sich auf und stand schnell auf den Füßen. Er schaute, aus welcher Richtung das Wiehern her drang.

„Ah, da oben bist du! Warte ich komme!“ Sie stand als weißer Fleck etwa 100 Meter über ihm. Mit gestrecktem Hals trompetete Zulu ihre Laute ins Tal. Sharif rannte los. Nach wenigen Schritten war er gezwungen, auf allen Vieren zu krabbeln. Der Hang war zu steil. Er kam nicht so schnell voran, wie es Zulu gelungen war. Immer wieder rutschte er mit den losen Steinen ein Stückchen talwärts. Zulu feuerte ihn mit den höchsten Tönen an. Sharif blickte zu ihr auf und hatte das Gefühl, kaum vom Fleck zu kommen.

„Das kann doch nicht sein!“ Er biss auf die Zähne und mühte sich weiter ab. Da erschien das nächste Übel. Schnell duckte der Junge den Kopf, als der Falke mit einem Schrei über ihn hinweg schoss. Sharif konnte sogar die Zugluft spüren. Der Vogel drehte und kam erneut im Tiefflug angesaust. Immer und immer wieder. Sharif hing schutzlos am Geröllhang, aber der Falke griff ihn nicht mehr an. Es schien eher so, als wollte er ihn vorantreiben. Manchmal schlug Sharif nach dem Falken, wie nach einem lästigen Insekt. Natürlich konnte er ihn nicht treffen.

„Hau bloß ab!“, zischte er, mehr Puste blieb ihm nicht übrig.  Gleich hatte er es geschafft. Zulus Anblick schenkte ihm die restliche Kraft und er zog sich aufs Plateau. Hier blieb er erst mal liegen und japste nach Luft. Zulu schnupperte sogleich an ihm. Sharif stöhnte vor Erschöpfung, wusste aber, dass er sich hier nicht ausruhen durfte. Er setzte sich auf und wischte mit dem Hemdsärmel Staub und Schweiß von der Stirn. Plötzlich machte sein Herz einen Satz vor Freude: Hinter ihnen bot sich eine Öffnung im Felsen an.

„Zulu, komm!“ Noch schwach auf den Beinen, stolperte er die wenigen Schritte dort hin. Zulu folgte brav, und beide verschwanden in einer kleinen Höhle. Geschafft! Hier waren sie vorerst sicher. Sharif lehnte sich an den warmen Körper seiner Stute, grub sein Gesicht in ihre Mähne und fand ein wenig Entspannung.

„Wie gut, dass ich dich hab!“ Er klopfte den muskulösen Hals und ließ wieder von ihr ab. „Lass mal sehen, ob bei dir alles in Ordnung ist.“ Im Halbdunkel ging er um die Stute und untersuchte sie nach Verletzungen.

„Ho ho, Zulu, jetzt ist alles gut!“, versuchte er das Pferd ruhig zu halten. Schnell entdeckte er einen roten Punkt auf Zulus Hinterteil, aus der eine feine Blutspur floss. Sonst schien sie unversehrt. „Na schön!“ Die Erleichterung darüber verjagte den Schrecken, aber ließ stattdessen Zorn aufsteigen. Er streichelte Zulu noch einmal, kraulte ihr den Hals und ließ sie in der Ecke stehen. Dann kroch er  zum Höhlenausgang zurück. Von hier aus hatte er einen sehr guten Rundumblick ins Tal.

Vor ihm erstreckte sich ein Geröllhang, der unten an einem schmalen Weg endete und auf der anderen Seite wieder aufstieg. Sharif blickte nach links, woher er gekommen war, dann nach rechts, dem Weg in die Berge folgend. Nichts regte sich.

„Du kleiner Bastard!“, schimpfte Sharif. „He, zeig dich doch, wenn du den Mut hast!“, rief er ins Tal hinab. „Das war gemein! Und das kriegst du zurück! Warte es nur ab!“ Er wühlte in den Steinen und fand gleich ein scharfkantiges Exemplar. Diesen legte er in den Riemen seiner Steinschleuder, spannte sie und hielt den Stein fest zwischen Daumen und Zeigefinger.

„Ich habe jede Menge Zeit!“, sprach er zu sich selbst. Allerdings blieb ihm auch  nichts anderes übrig, als geduldig auf der Lauer zu liegen. Alles blieb wie ausgestorben. Keine Bewegung, kein Geräusch. Sharif hörte einzig seinen Atem, doch dieser war nicht sonderlich beruhigend.

Plötzlich flatterte etwas vor seiner Nase. Sharif riss die Augen auf. Völlig überraschend landete der Falke in der Nähe des Höhleneingangs. Etwa einen Steinwurf entfernt hockte er da und beäugte seine Umgebung. Obwohl Falken ein ausgezeichnetes Sehvermögen besitzen, konnte er den Jungen in der Dunkelheit des Höhleneingangs nicht erkennen. Jetzt lag die Gunst auf Sharifs Seite. Besser hätte sich der Vogel zum Abschuss nicht präsentieren können. Sharif nutzte die Gelegenheit, diesem abnormen Falken eine Lektion zu erteilen. Er spannte  den Riemen noch stärker an und zielte ruhig und konzentriert. Dann ließ er den Riemen los. Der Stein traf den Falken so heftig, dass dieser umgerissen wurde. Reglos blieb er auf dem Rücken liegen.

„Juchu! Habe ich dich erwischt!“ Sharif sprang auf und hüpfte auf der Stelle. Dann wandte er sich seiner Stute zu und triumphierte: „Den nehmen wir mit nach Hause! Vater wird mir sonst nicht glauben!“ Zulu blieb immer noch wie eine gemeißelte Statue stehen. Sie schien zu ahnen, dass noch etwas folgen würde. Gerade wollte Sharif nach dem Falken sehen, als Donnerschläge vom anderen Ende des Tals aufbrausten. Erschrocken zog er sich wieder in die Höhle zurück.

„Was ist denn jetzt schon wieder los? Hier gehen aber seltsame Dinge vor sich!“ Die Neugierde trieb ihn, nachzusehen. Vorsichtig auf dem Bauch liegend, robbte er wieder zum Höhlenausgang. Dann blickte Sharif ins Tal hinunter. Das Donnern und Krachen glich einem Gewitter, was jedoch sehr selten in der Wüste vorkam. Sharif fühlte den Erdboden leicht beben. So etwas kannte er nicht einmal von Erzählungen. Mit nur einem Herzschlag war sein Körper voller Angst vergiftet und verspannte seine Muskeln. Aber es sollte noch unheimlicher werden.

  Zuerst stieß sein Blick auf eine dunkle Wolke, die in das Tal vom Berginnern kommend, hineinströmte. Dieses fremde Ding schürte seine Furcht noch mehr an. Er wagte nicht mal einen Lidschlag, denn da gab es noch mehr zu entdecken. Im Schatten der Wolke und unten im Tal sprengte an vorderster Front ein riesiges Tier alles zur Seite! Steine spritzten wie Matsch auf. Eiseskälte durchströmte den kleinen Jungen, als ihm klar wurde, wer da durchs Tal preschte.

„Der schwarze Beduine!“, hämmerte es in seinem Kopf. Aber dessen ebenso schwarzer Hengst schien im Moment viel gefährlicher zu sein. Das Tier besaß Hufe, so groß wie Sharifs Kopf. Endlich löste sich der Junge aus der Starre und rutschte langsam in die Höhle zurück.

„Oh Zulu, was wird jetzt nur geschehen? Da unten reitet der große Schwarze! Ich glaube, er ist kein so freundlicher Mann! Aber vielleicht findet er uns gar nicht. Wenn wir ganz still bleiben? Also, psst!“ Die Stute rührte sich nicht. Schließlich war ihr das Donnern und Beben unter den Hufen auch nicht geheuer. 

Mit einem Mal brach das Donnergetöse ab. Das weckte Sharifs Neugierde. Wieder robbte er auf dem Bauch liegend zum Höhlenausgang. Ganz vorsichtig spitzte er nach unten. Der schwarze Beduine stand jetzt unterhalb seines Verstecks. Aber irgendwie war der Tag dunkler geworden. Der Junge blickte nach oben. Und tatsächlich, diese seltsame Wolke, aus der ein lautes Summen ertönte, schwebte über Sharifs Versteck. Genaues konnte er nicht erkennen. Dieses Fremdartige im dämmrigen Licht jagte ihm noch mehr Angst ein. Es wurde feucht zwischen seinen Beinen. „Oh!“, entwich es ihm. Er petzte die Beine zusammen, als könnte dies weiteres verhindern. Dann fokussierte er den Beduinen. Dessen Hengst tänzelte nervös auf der Stelle, und weißer Schaum tropfte aus seinem Maul. Sharifs Blicke hafteten an dem Reiter. Er war mit einem langen grauen Tuch umwickelt, nur für die Augen blieb ein Schlitz offen. Eigentlich nichts Ungewöhnliches für einen Beduinen. Der Fremde blickte suchend um sich. Und Sharif grübelte natürlich, nach was er wohl suche!

„Doch nicht nach mir, oder? Er kennt mich ja nicht einmal! Und woher weiß er, dass ich in dieses Tal geritten bin? Ach, Blödsinn!“ Wenn er nicht von den schrecklichen Geschichten des schwarzen Beduinen gewusst hätte, wäre er jetzt einfach aufgestanden und hätte dem da unten einen Gruß zugerufen und gefragt, was diese komische Wolke da sei. Aber so! Sharif wusste keinen Rat. Sein Herz pochte. Er hatte Angst und fühlte sich hilflos.

Plötzlich stach der suchende Blick des Beduinen exakt in seine Richtung und Sharif glaubte, entdeckt worden zu sein. Vor Schreck wandte er sein Gesicht ab.

„Oh, nein! Er hat mich bestimmt gesehen und kommt gleich!“ Seine Finger gruben sich tief in die Kieselsteine, und die Harnblase gab erneut nach. Ihm kam nicht einmal der Gedanke zur Flucht. Wie auch, er wäre ihm ja direkt in die Arme gelaufen. Stattdessen wartete er auf einen festen Griff im Nacken. Sharif bibberte.

„Wäre ich doch bloß nicht hier her geritten!“, tadelte er sich im Stillen. Aber es geschah nicht, was er befürchtet hatte. Verdutzt blickte Sharif auf und traute sich, erneut ins Tal zu sehen.

Der schwarze Beduine stand immer noch am selben Fleck. Der riesige Hengst jedoch verlor die Geduld und bäumte sich auf. Was für ein Kraftprotz, staunte Sharif. Dabei fiel das dunkle Gewand des Beduinen nach hinten und Sharif wurde nun Zeuge eines außergewöhnlichen Zaubers: Es kam ein funkelndes Schwert zum Vorschein. Es war von ganz besonderem Wert, was der Junge zu diesem Zeitpunkt nicht wissen konnte. Die bunten Edelsteine, die das Schwert zierten, strahlten selbst im schummrigen Licht. Sharifs Augen weiteten sich. Die Angst verflog sogar für einige Momente, so sehr faszinierte ihn der völlig unerwartete Glanz. Es erinnerte ihn an seinen geliebten See mitten in der Oase, auf dessen Oberfläche die Sonne Perlen formte, die so intensiv glitzerten, dass sie einen fast schon blendeten. 

„Bah!“, entwich es dem Jungen.

Der Hengst beruhigte sich wieder und trat auf allen vier Beinen. Dann scharrte er abwechselnd mit den Vorderhufen. Der Beduine saß fest im Sattel und ließ sich von der Eigenwilligkeit seines Pferdes nicht beirren. In dieser Pose fiel sein Umhang wieder zurück über das leuchtende Schwert und verbarg es wie einen Schatz. Sharif hoffte es noch mal sehen zu können und streckte den Hals. Aber der Beduine setzte zum Rückzug an. Er wendete das Pferd und ließ es losgaloppieren. Endlich konnte der Hengst seiner Spannung freien Lauf lassen und schoss nach vorne. So schnell wie er gekommen war, ritt er wieder in die Berge zurück und sollte dort irgendwo verschwunden bleiben. Die dunkle Wolke folgte ihm im selben Tempo wie ein großer Schirm. Für einige Momente hallte das Donnern der Galoppsprünge nach. Als sich der aufgewirbelte Staub langsam legte, kehrte auch die Stille wieder ein. Die Sonne füllte das Tal jetzt vollends aus und es machte den Eindruck, als wäre überhaupt nichts Besonderes geschehen. Sharif wagte sich immer noch nicht zu bewegen. Das eben Erlebte hielt ihn starr, wie elektrisiert. Erst als er einen vertrauten warmen Atem im Nacken spürte, löste er sich. Zulu war an ihn herangetreten und gab ihm zu verstehen, dass die Luft jetzt rein sei. Er stand auf und umarmte Zulus Hals. Als er ihre Wärme spürte, fiel auch der restliche Schrecken von ihm ab.

„Puh! Da haben wir noch mal Glück gehabt! Am besten wir hauen ganz schnell ab, bevor der Beduine zurückkommt.“ Zulu nickte mit dem Kopf – jawohl, nichts wie weg! Ihre Geste hätte auch jeder Nichtpferdekenner verstanden. Die beiden stolperten aus dem Dunkel der Höhle hinaus in den hellen Tag. In dem Moment, als Sharif sich aufs Pferd schwingen wollte, hörte er ein schwaches Piepen.

„Ach, dich hätte ich beinahe vergessen!“ Er ließ Zulu stehen und suchte nach dem Falken. Nach wenigen Schritten hatte er den Vogel gefunden und kniete sich vor ihn nieder. Er spürte nicht einmal die spitzen Steine, die sich in seine Haut gruben.

„Du lebst ja noch!“ Überrascht musterte er den Falken, der wie eine tote Henne auf dem Rücken lag. Sein Piepen wurde heftiger, als sei es ein Hilfeschrei. Sharif wusste im Moment nicht, was er tun sollte und glotzte den Falken einfach nur an.

Dieser erwachte aus seiner Starre und versuchte sich zu drehen. Dabei stellte er den linken Flügel etwas auf, ganz sachte, dann immer weiter bis er auf den Bauch rollte. Jetzt blieb der Vogel eine Weile hocken, als müsste er den Schmerz erst mal verdauen. Dann stellte er sich auf die Beine und streckte den linken Flügel. Sharif glaubte schon, er würde gleich davon fliegen, aber der andere Flügel schien nicht in Ordnung zu sein. Wie angewachsen blieb er am Körper des Falken haften. Blut klebte an seinem Gefieder. Der Vogel piepte aufgeregt und hüpfte hilflos vor Sharif umher.

„Oje, wenn er nicht mehr fliegen kann, dann ist das sein Tod! Entweder wird er verhungern, oder ein Schakal frisst ihn!“, überlegte Sharif. Ihm tat es unsagbar leid, dass er diesen Greifvogel verletzt hatte, wo er doch mit allen Tieren eine innige Freundschaft pflegte. Aber wie sollte er auch ahnen, was der Angriff zu bedeuten hatte?

„Jetzt verstehe ich!“, stieß er aus. „Ohne dich wären wir direkt in die Arme des Beduinen gelaufen! Du hast uns vermutlich das Leben gerettet!“ Der Falke hatte sein Hüpfen eingestellt und hörte dem Jungen zu. Sein Kopf wechselte ruckartig in verschiedene Richtungen. „Weißt du was? Wir nehmen dich mit und pflegen dich gesund! Was hälst du davon Zulu?“ Aber er drehte sich nicht einmal zu ihr um. Sharif war viel zu aufgeregt.

„Hoffentlich hackst du nicht in meine Finger!“ Langsam und ganz behutsam legte er seine Hände wie Schaufeln um den Vogel und hob ihn auf. Der Falke ließ dies bereitwillig zu. Jetzt erst bemerkte Sharif, dass der Vogel einen kleinen goldenen Ring um einen Fuß trug.

„Nanu, du musst wohl jemandem gehören! Das schauen wir uns zu Hause genauer an. Aber jetzt sollten wir wirklich schnellstens fort! Wer weiß, wie viel Zeit uns zur Flucht noch bleibt!“ 

Der Abstieg ins Tal erwies sich viel beschwerlicher als der rasante Aufstieg. Sie rutschten und stolperten mehr als sie gingen. Sharif sorgte sich um Zulus zierliche Beine, die im losen Geröll keinen festen Halt fanden. Er selbst hatte Mühe, das Gleichgewicht auf dem Pferderücken zu halten. Mit viel Geschick bewältigte die Stute diese Wegstrecke und fand endlich sicheren Halt unten im Tal.

Sharif überließ ihr das Tempo und freie Zügel. Am gleichmäßigen Gang erkannte er, dass sie nicht zu Schaden gekommen war. Als der Weg sich besserte und sie sich dem Ausgang des Tals näherten, legte Zulu an Geschwindigkeit zu. Sharif drehte sich ein paar Mal um. Nein, verfolgt wurden sie nicht.

Mit Leichtigkeit überquerte die Stute auch diesmal die Sanddünen. Sharif fühlte sich jetzt sicher und gerettet. Immer wenn er mit Zulu galoppierte, der heiße Wüstenwind ihm durchs Haar fuhr und an seinem Hemd rüttelte, spürte er die Weite der Freiheit. Hin und wieder schaute er nach dem Falken, den er sachte an seine Brust drückte.

„Hoffentlich überlebt er! Vater weiß bestimmt, was in so einem Fall zu tun ist!“

Zwischen der letzten Düne und der Oase erstreckte sich eine flache Ebene. „Gleich sind wir da! Ich sehe schon die ersten Palmen!“, rief er seiner Stute zu, als wüsste sie es nicht besser, wohin sie die ganze Zeit lief. Plötzlich bemerkte Sharif einen Reiter, der ihnen entgegenkam. Für einen kurzen Moment dachte Sharif an den schwarzen Beduinen. Aber schnell verschwand der Schreckensgedanke, denn der Junge erkannte die vertraute Person.

„Vater! Vater, wir kommen! Hier sind wir!“ Zulu raste direkt auf die Person zu.

„Oh, dem Himmel sei Dank! Mein Sohn ist wieder Heim gekehrt!“ Der alte Mann jubelte und ließ seinen Esel so schnell laufen, wie ein Esel nur laufen kann. Zulu machte kurz vor dem Grautier eine Vollbremsung und begrüßte diesen mit einer ordentlichen Salve aus Sand. Dann standen die beiden Nüstern an Nüstern und beschnupperten sich. Sharif hob sein rechtes Bein über Zulus Hals und sprang auf den Boden. Sein Vater kam mit offenen Armen auf ihn zu und schloss ihn darin ein. 

„Vorsicht Vater, nicht so fest!“ Sharif versuchte, sich aus dem herzlichen Griff zu lösen. „Ich halte nämlich einen Falken in den Händen. Er ist verletzt! Sieh mal!“

Der Mann ließ den Jungen los, trat einen Schritt zurück und schaute nach dem Mitbringsel. Sharif streckte seine Arme aus und hielt ihm den Vogel entgegen. Beide beäugten sich. Sharifs Vater wusste nicht, was er davon halten sollte.

„Wo warst du überhaupt? Und wo hast du den Falken her? Die fallen nicht einfach vom Himmel!“ Trotz der Wiedersehensfreude lag eine Spur Gereiztheit in seiner Stimme. Sharif wollte schon  mit seinen Erlebnissen loslegen, aber der Vater winkte ab.

„Ach, nicht jetzt! Gehen wir besser nach Hause. Deine Mutter wird weinen vor Freude. Sie hat sich nämlich große Sorgen gemacht!“

„Ja - aber das wollte ich nicht!“ Sharif überfiel ein schlechtes Gewissen.

„Nun gut, du bist ja wieder da, und das ist das Allerwichtigste! Komm, ich helfe dir aufs Pferd und wir reiten in die Oase!“ Sharif nickte.

Auch der Vater machte sich insgeheim Vorwürfe. Er hatte seinen Sohn am Rande der Oase die Ziegen weiden lassen, obwohl er von der magischen Anziehungskraft der Muchal Berge wusste, an dieses Phänomen aber nicht mehr geglaubt hatte. Umso größer war jetzt der Schrecken!  Sein kleiner Sohn schien dort gewesen zu sein und ist als einzig lebender Mensch wieder herausgekommen, und obendrein mit einem Falken!

Eine alte Geschichte wird lebendig

Das ganze Dorf staunte und freute sich über Sharifs Rückkehr. Als er mit seinem Vater durch die Oase ritt, jubelten ihm die Menschen wie einem Helden zu. Mütter nahmen ihre Kinder auf den Arm, winkten und lachten. Auch die Männer ließen die Arbeit ruhen und nickten ihm anerkennend zu.

Überrascht fragte sich Sharif: „Warum tun die das? War der schwarze Beduine vielleicht schon hier und hat erzählt, dass er mich nicht finden konnte? Das wäre aber ein blödes Versteckspiel!“ Sharif trieb seine Stute an. Er wollte nur schnell nach Hause, seinen Durst löschen und ganz viel essen.

Endlich erreichten sie die Stallungen und der Trubel verschwand hinter einer dichten Buschreihe. Sharif rutschte erschöpft vom Pferd.

„Geh in die Hütte! Ich kümmere mich um Zulu und den kleinen Falken.“

„Oh ja? Das wäre prima!“ Sharif setzte den Greifvogel in die von Furchen durchzogenen Hände des alten Mannes. Dieser wusste, was zu tun war. „Vielen Dank Vater!“ Demütig blickte er ihm in die Augen.

Dann sauste er um die Ecke und trat in die Hütte ein. Sharifs Mutter blickte erschrocken von ihren Stickereien auf. Dann brachte sie vor lauter Freudentränen kein normales Wort hervor. Man hörte einzig einen lauten Aufschrei. Sie umarmte Sharif, der völlig in ihrem Umhang unterging. Als sie sich wieder beruhigt hatte setzte sie ihm Fladenbrot und Ziegenkäse vor. Doch Sharif schlief bereits beim Essen ein. Sein Kopf nickte nach vorne und sein Oberkörper fiel langsam zur Seite. Die Mutter fing ihn gerade noch auf und legte ihn auf seine Matte. Dort ließ sie ihn schlafen, solange er wollte.

   Sharif träumte alles Erlebte in wirren Zusammenhängen. Der Beduine erschien aus dem Nichts. Aber diesmal fegte er auf dem Rennkamel Osram durch die Wüste. Auch der Falke trieb sein Unwesen. Der Vogel stieß ständig mit seinem spitzen Schnabel in Osrams Hinterteil. Das sah vielleicht lustig aus! Osram fegte noch schneller als der Wind über den Wüstensand. Und der Beduine versuchte mit dem strahlenden Schwert den Vogel fortzujagen, aber vergebens. Der Traum endete, als der Beduine mit Osram in einer dunklen Wolke verschwand und der Falke darüber schwebte.

„Uuha!“ Sharif gähnte laut und reckte sich ausgiebig. Dann rieb er seine Augen und blickte in das freundliche Gesicht seiner Mutter.

„Willst du was trinken?“, fragte sie und reichte ihm einen Becher Wasser. Mit einem Zug trank er alles aus. Der dreckige Hemdsärmel musste wie immer zum Mundabwischen herhalten.

„Ha, gut! Kann ich nach Zulu und dem Falken sehen?“ Hellwach sprang er auf die Beine.

„Ja, geh nur!“ Die Mutter stimmte zu, obwohl ihr viele Fragen auf den Lippen brannten. Geduld war einer ihrer stärksten Tugenden. Sie wusste, dass sich bald alles klären würde.

Draußen über der Feuerstelle hing ein großer Topf, in dem eine Fleischsuppe vor sich hin blubberte. Der heiße Dampf verbreitete einen würzigen Duft. Sharif freute sich schon aufs Essen, als er daran vorbeilief. Mit wenigen Schritten erreichte er die Stallungen. Ziegen und Schafe unterhielten sich angeregt in ihrer eigenen Sprache. Einige blickten nach Sharif und wandten sich sogleich dem Gemecker und Fressen  wieder zu. Zulu teilte ihr Reich mit einer Horde Eseln und wurde als Stärkste respektiert. Sharifs Vater tränkte gerade die Tiere und schüttete reichlich Raufutter in einem weiten Bogen aus. Als Zulu Sharif bemerkte, trabte sie freudig auf ihn zu. Der Junge klopfte ihren Hals und kraulte sie hinter den Ohren. Aber seine Gedanken waren woanders.

„Wo ist der Falke?“, wollte er wissen.

„Ach, da bist du ja! Ich habe dich gar nicht bemerkt. Ähm, der Falke hat vermutlich einen gebrochenen Flügel. Ich musste diesen schienen und einwickeln. Es ist ganz erstaunlich, denn er nahm es ohne Gegenwehr an, so als kenne er die Menschenhand. Doch es wird dauern, bis er wieder fliegen kann..., wenn überhaupt! Du findest ihn in der Futterkammer. Er sitzt auf einem Balken. Abhauen kann er ja nicht!“

„Vielen Dank! Und, ist dir sonst noch was aufgefallen?“

„Du meinst den goldenen Ring um seinen Fuß, nicht wahr?“

„Ja! Was bedeutet das?“

„Nun ich habe mir das genauer angesehen. Auf dem Ring ist ein Symbol eingraviert. Eine Sonne und ein Schwert, sehr klein, aber gut zu erkennen. Ich glaube es ist ein sehr wertvoller Ring. Wenn wir ihn auf dem Markt verkaufen würden, könnten wir eine lange Zeit gut davon leben. Keine Angst, natürlich tun wir das nicht!“ Der grauhaarige Mann raschelte weiter mit dem Futter, während die Ziegen um ihn herum hüpften.

„Ja, und weiter! Was hat das zu bedeuten? Gehört er denn jemandem?“, fragte Sharif ungeduldig.

„Also jetzt mal langsam! Eigentlich sollte ich hier Fragen stellen, was passiert ist und warum du fort geritten bist!“ Sein Vater hielt mit der Arbeit inne und blickte ihn ernst an.

„Ja, natürlich!“, gab Sharif kleinlaut zurück.

„Nun gut, alles zu seiner Zeit! Zuerst versorgen wir die Tiere und  gehen anschließend nach Hause! Dann wirst du uns alles erzählen!“ Wortlos half Sharif seinem Vater den Mist aufzulesen, fort zutragen und die Ziegen zu melken, bis dieser ihn an die Schulter fasste und ihm zunickte.

„Ich glaube, das Abendessen ist fertig! Es riecht schon sehr gut, nicht wahr?“ Sharif musste schlucken.

Die Dunkelheit trat wie mit einem großen Handstrich über die Oase ein. Die Verwandtschaft saß wie üblich um das Feuer. Es wärmte ihre Wangen und in den Augen spiegelten sich die Flammen. Die Menschen waren von der harten Feldarbeit erschöpft. Im Licht und Schattenspiel des Feuers wirkten ihre Gesichter noch schmaler und eingefallen. Jeder löffelte gierig die Fleischsuppe aus einer Holzschale. Für die meisten war dies der schönste Moment des Tages. Währenddessen wanderte ein großes Fladenbrot durch die Runde. Wer wollte, riss sich ein Stück davon ab. Sharif spürte die Blicke der anderen, ohne dabei aufzusehen.

„Sie platzen gleich vor Neugierde!“, da war er sich ganz sicher und schmunzelte in sich hinein. Es klang fast schon feierlich, als der Vater das Wort an Sharif weiter gab.

„So mein Junge, jetzt wollen wir alle wissen, wo du warst und was du erlebt hast! Aber erzähle nur die Wahrheit!“ Mit einem Schluckauf stellte er seine Suppenschale ab. Alle starrten Sharif an. Selbst wenn ein Hase aus dem Suppentopf gesprungen wäre, hätte es niemand bemerkt.

Der Junge begann zu erzählen, genauso wie es sich zugetragen hatte. Die Zuhörer wollten jedes Detail wissen. Schließlich gab es selten so gute Unterhaltung. Ohne eine Miene zu verziehen, hörten die Versammelten und andere Neugierige, die sich heran geschlichen hatten, Sharifs Geschichte an. Seine Mutter, die Tanten und Schwester Java warfen hin und wieder die Hände in die Höhe, wenn es gefährlich wurde. Sie riefen „großer Allah!“ und schnappten nach Luft. Als er geendet hatte, folgte ein langes Schweigen. Sharif wagte nichts zu fragen und wartete ab. Er ahnte, dass er bald etwas Besonderes erfahren würde. Zum Erstaunen aller brach seine Mutter das Schweigen.

„Am nächsten Neumond kommt Danka, unsere Großmutter. Sie weiß vielleicht, was das Zeichen mit der Sonne und dem Schwert bedeutet. Sie kennt noch die alten Familien und deren Zeichen.“ Alle Umsitzenden nickten wohl wissend und Gebrummel stieg auf.  Sharifs Augen leuchteten.

„Natürlich – Danka! Sie weiß immer Rat!“, überlegte er. Man durfte gespannt sein. Sharifs Vater legte seinen Arm auf dessen Schulter.

„Komm, lass uns nach dem Rechten sehen, bevor wir schlafen!“

„Ja, ist gut!“ Beide erhoben sich und traten in die Dunkelheit. Die Frauen schauten ihnen nach und wussten, dass sie jetzt von internen Männergesprächen ausgeschlossen wurden. Also rückten sie näher zusammen und erzählten sich Sharifs Erlebnisse aus ihrem Blickwinkel. Dabei gewannen die Versionen immer mehr an Dramatik. Am Ende sollte Sharif sogar mit dem schwarzen Beduinen gekämpft und ihn verletzt haben. Erst dann sei ihm die Flucht gelungen. 

   Während die Weiber Sharifs Geschichte wie ein erlegtes Tier auseinander nahmen, versuchte der Vater bei der Wahrheit zu bleiben. Die beiden schritten nebeneinander auf einem sandigen Pfad entlang. Überall brannten Fackeln, auch um wilde Tiere abzuschrecken. Die Nacht brachte einen Temperatursturz. Aber Sharif merkte vor lauter Aufregung nichts davon. Endlich brach der Vater das Schweigen.

„Pass gut auf Sharif, was ich dir jetzt erzählen werde! Es gleicht einem Wunder, dass du aus diesem Tal wieder lebend heraus gekommen bist!“ Er machte eine kurze Pause, und es schien als hätte er den Schock noch nicht überwunden.

„Du musst wissen, dass vor vielen Jahren aus dem Muchal Gebirge eine kräftige Quelle entsprungen ist. Diese machte das  Tal sehr fruchtbar. Viele Menschen, Pflanzen und Tiere lebten dort. Völlig anders wie du es gesehen hast. Es war damals eine glückliche Zeit. Doch eines Tages geschah etwas  Seltsames, was bis heute ein Rätsel blieb!“ Die beiden machten halt, denn der sandige Weg endete am Seeufer.

„Komm lass uns hinsetzten!“, schlug der Vater vor und Sharif gehorchte. Der klare Sternenhimmel spiegelte seine unzähligen Lichter im Wasser wider. Doch Sharif sah von all dem nichts und hörte gebannt seinem Vater zu.

„Stell dir vor, am hellen Tag zog ein schwarzer Schleier am Himmel auf. So wie du es auch beschrieben hast. Dieses unheimliche Ding ließ keinen Sonnenstrahl durch, was auch weiter nicht schlimm gewesen wäre. Aber die riesige Wolke thronte eine ewige Zeit über dem Tal. Ohne Licht starben alle Pflanzen. Die Tiere hatten nichts zu fressen und die Menschen mussten den dunklen Ort verlassen. Niemand wusste, woraus die Wolke bestand und woher sie kam. Mit Pfeilen ließ sie sich auch nicht vertreiben. Am Ende glaubte jeder an einen bösen Zauber. Die Menschen flohen noch bevor alles Leben im Wasser starb. Die Fische, die Frösche, die gesamte Unterwasserwelt verendete. Der Fluss versiegte zu stinkenden Schlammlöchern und vertrocknete letztendlich.“ Der Vater hielt eine kurze Denkpause und drückte Sharif näher an sich, denn es wurde merklich kühler.

„Nach einiger Zeit entschlossen sich junge und mutige Männer, diesen Ort nochmals zu erkunden. Eine Gruppe aus etwa zehn tapferen Reitern brach morgens auf und wollte gegen Mittag wieder zurück sein. Bis zum Abend erschienen sie nicht, auch die Nacht nicht. Die Gemeinschaft unserer Oase befand sich in Aufruhr und musste handeln. So geschah es, dass am nächsten Morgen nochmals junge Männer den Spuren ihrer Brüder und Väter folgten. Ich hatte damals eine Verletzung und konnte nicht mitreiten!“ Sharif sollte nicht denken er sei ein Feigling gewesen.

„Diesmal wartete ein Teil am Eingang des Tals, während der andere vorsichtig hineinritt.“ Sharif wagte sich kaum zu rühren. Gespannt lauschte er den Worten seines Vaters. Dieser blickte in den See und fuhr fort.

„Nach kurzer Zeit kam im rasenden Galopp einer aus der Truppe zurückgeprescht. Es war Mushraf, der sich mit letzter Kraft auf seinem Pferd hielt. Die wartenden Männer stoppten seinen Hengst und Mushraf fiel wie ein Sack zu Boden. Es blieben ihm nur noch wenige Atemzüge bis zum Tod, so erzählt man sich. Mushraf zeigte keine Verletzungen, bis auf seine Augen! Die hatten sich vollkommen schwarz verfärbt.“ Sharif verstand nicht ganz.

„Wie? Hatte er denn keine Augen mehr?“

„Doch, mein Sohn! Aber vollkommen schwarz.“

„Und weiter, was war mit ihm geschehen?“

„Was sich wirklich in dem Tal abgespielt hatte in dem du auch warst, weiß keiner. Er hinterließ nur diese Worte: Es ist der Beduine, ich habe ihn gesehen und dann auf einmal nichts mehr! Rettet euch! Verschwindet von hier, schnell!“

Sharif erstarrte. Er selbst war dem Beduinen vor kurzem begegnet und noch am Leben. Jetzt wurde ihm klar, an welch einem dünnen Faden sein Leben gehangen hatte.

„Ach deshalb jubelten mir die Menschen zu?“ Er schaute seinen Vater fragend an. Dieser nickte mehrmals.

„Ja, du bist für sie ein Held geworden! Für mich natürlich auch, aber mach so etwas nie mehr wieder, ja?“

„Hm, hm!“ Der alte Mann kratzte sich an der Stirn.

Das Symbol

Die nächsten Tage vergingen im gewohnten Alltag. Zumindest machte es so den Anschein. Nur für Sharif änderte sich alles. Das lag daran, dass ihm die Dorfbewohner mit viel Respekt, aber auch Unsicherheit begegneten. Überall, wo er auftauchte, verstummten die Menschen, musterten ihn und tuschelten dann hinter seinem Rücken. Er war für sie unheimlich geworden, weder Freund noch Feind. Keiner wusste so recht mit ihm umzugehen.

Sharif fühlte sich ausgeschlossen und litt darunter. Er besaß eh keine Freunde in seinem Alter, und die Mädchen blieben lieber unter sich. Alle hatten ihn zum Sonderling gemacht, und er konnte nichts dagegen tun. Jeden Tag, wenn die Dämmerung einbrach und er mit Zulu seinen gewohnten Ausritt unternahm, vergaß er für eine Weile seine Traurigkeit. Die Stute war ihm das Liebste auf der ganzen Welt. Trotz allem hatte er etwas ganz wertvolles dazu gewonnen, einen außergewöhnlichen Freund, der ihn von tristen Gedanken abhielt – der Falke! Das Durchfüttern des Falken wurde zu einer ausfüllenden Aufgabe. Sharif versuchte den Speisezettel eines Raubvogels so abwechslungsreich wie möglich zu gestalten. Meistens fing er Wüstenmäuse oder Vipern. Zulu stand dann immer gelangweilt, weit genug von einem Mäuseloch weg und hatte zu warten. Das passte ihr gar nicht. Lieber hätte sie Kamele gejagt und diese von Falken piesacken lassen. Ha, das wäre doch was Vernünftiges! Aber wer wusste schon von den geheimen Wünschen einer Arabervollblutstute! Stattdessen ging es auf  Schlangenjagd und davor graute es ihr am meisten. Erst wenn Sharif die Schlange tot vor ihren Augen hielt, anschließend das Reptil in einem Leinenbeutel zuschnürte, ließ sie ihn aufsteigen. Sharif kostete das Erlegen der Tiere viel Überwindung. Aber er war es dem Falken schuldig.

Der Falke saß auf dem Balken und begrüßte Sharif mit heftigen Piepen. Der Vogel begann einen Freudentanz, zwei Hüpfer nach rechts, zwei Hüpfer nach links.

„He, man könnte meinen, du bist am verhungern!“ Sharif öffnete den Beutel und zog die Schlange heraus. Wie ein Seil hing sie an seiner Hand herunter. Dann stellte er sich auf die Zehenspitzen und schlug das Reptil über den Balken. Der Falke stürzte sich augenblicklich auf die frische Beute. Sharif beobachtete ihn beim Fressen, wenn er mit seinem gebogenen Schnabel in das Fleisch stieß und kleine Fetzen herausriss.

„Wann können wir Aras den Verband  abnehmen?“, wollte Sharif von seinem Vater wissen, der plötzlich neben ihm stand.

„Ah, einen schönen Namen hast du für ihn ausgesucht! Aber schau genau hin, wie unruhig er die Flügel bewegt! Das ist ein gutes Zeichen, er will bald wieder fliegen. Hm, ich denke, wir können  den Verband sehr bald lösen!“ Der Mann zupfte nachdenklich an seinem Bart.

„Morgen vielleicht?“

„Gut, probieren wir es einfach.“

„Aras! Hast du gehört? Morgen ist dein Tag!“ Sharif schaute abwechselnd den Falken, dann seinen Vater an. Er war sich sicher, dass der Falke es schaffen würde.

Sharif lag schon Stunden vor dem Morgengrauen wach. Aber er wollte sich kein zweites Mal aus der Hütte schleichen und drehte sich unruhig von einer Seite auf die andere. Endlich - als erste rieb sich seine Mutter den Schlaf aus den Augen. Sie gähnte leise, setzte sich auf und richtete ihren Umhang zurecht. Dann verließ sie kaum hörbar die kleine Zeribar und schnappte eine Kalibasse, um Wasser zu holen. Sharif wartete so lange, bis der würzige Duft von Tee hereindrang. Jetzt sprang er auf und überlegte kurz, wie er seinen Vater von null auf hundert bringen könnte. Vielleicht sollte er Aras holen, der ihn am Ohr wach zupfen würde. Sharif seufzte. „Das ist vielleicht doch keine so gute Idee. Besser abwarten!“, entschied er, und ließ ihn zufrieden. Dann schlüpfte er nach draußen. Seine Mutter saß am dampfenden Kessel und schöpfte Tee in einen Becher. Sie blickte ihn freundlich an.

„Na Sharif! Schon munter?“ Ohne eine Antwort abzuwarten sprach sie weiter: „Ich weiß, das wird ein aufregender Tag für dich. Aber trink und iss erst in Ruhe. Vater wird dir mit dem Falken helfen!“ Sie reichte ihm in ihren kleinen Händen einen Becher Tee. Sharif setzte sich neben sie auf eine staubige Matte. Aber viel lieber, wäre er gleich davon gestürmt. Er verstand  nicht, dass Erwachsene sich in allem immer so viel Zeit lassen.

„Ja, danke!“ Er umklammerte den verbeulten Kupferbecher und schlürfte mit seiner Mutter am heißen Tee. Der stark gesüßte Grüne Tee mit Pfefferminzblättern  strömte wie eine warme Woge in seinen Bauch hinein und machte gleichzeitig Kopf und Denken leicht. Mutter hatte wie so oft Recht. Nach dem Tee fühlt man sich viel besser.

  „Zuerst testen wir, wie der Falke ohne Verband zurecht kommt!“, schlug Sharifs Vater vor, als die beiden zu den Stallungen gingen.

„Und denkt dran, Großmutter kommt heute!“, rief die Mutter hinterher. „Sie kann bestimmt bei der Entschlüsselung des Symbols helfen.“

„Na, da bin ich sehr gespannt, was ihr dazu einfällt!“ Ihr Mann drehte sich um und winkte kurz zurück. Im Moment blieb ihm das Symbol ziemlich gleichgültig.