Sherlock Holmes - Neue Fälle 03: Sherlock Holmes und die geheimnisvolle Wand - Ronald M. Hahn - E-Book

Sherlock Holmes - Neue Fälle 03: Sherlock Holmes und die geheimnisvolle Wand E-Book

Ronald M. Hahn

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Beschreibung

1880, Dunwich, Massachusetts Der junge Sherlock Holmes besucht seinen ehemaligen Studienfreund Basil Bishop. Im Landhaus der Bishops tauchen am ersten gemeinsamen Abend höchst merkwürdige Gäste auf, die schier unglaubliche Ereignisse hervorrufen. Der zukünftige Meisterdetektiv gerät unversehens in seinen ersten Fall, der absolut unlösbar scheint. Die Printausgabe umfasst 192 Buchseiten.

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DIE NEUEN FÄLLE DES MEISTERDETEKTIVS

SHERLOCK HOLMES

 

 

In dieser Reihe bereits erschienen:

 

3001 – Sherlock Holmes und die Zeitmaschine von Ralph E. Vaughan

3002 – Sherlock Holmes und die Moriarty-Lüge von J. J. Preyer

3003 – Sherlock Holmes u. die geheimnisvolle Wand von Ronald M. Hahn

3004 – Sherlock Holmes und der Werwolf von Klaus-Peter Walter

Ronald M. Hahn

 

SHERLOCK HOLMES

und die geheimnisvolle Wand

 

Basierend auf den Charakteren von

Sir Arthur Conan Doyle

 

 

© 2014 by BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 Windeck

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Lektorat: Dr. Richard Werner

Fachberatung: Dr. Klaus-Peter Walter

Titelbildgestaltung: Mark Freier

Satz: Winfried Brand

All rights reserved

www.BLITZ-Verlag.de

ISBN 978-3-95719-202-8

 

 

Für Börsenspekulationen ist der Februar einer der gefährlichsten Monate.

Die anderen sind Juli, Januar, September, April, November, Mai, März, Juni, Dezember, August und Oktober.

 

MARK TWAIN

Dass Sherlock Holmes unter dem Namen William Escott von 1879 bis 1880 mit Michael Sasanoffs Tournee-Theater in den USA unterwegs war, wo er Triumphe als Bühnenschauspieler feierte, wissen nur wenige Menschen.

„Man müsste freilich lügen, würde man behaupten, Holmes sei bei seinen Kollegen besonders beliebt gewesen. Was sich vielleicht damit erklären lässt, dass ihm die anderen seinen kometenhaften Aufstieg in einem Beruf, den sie jahrelang hatten erlernen müssen, einfach neideten. Michael Sasanoff: Holmes war so sehr von seiner eigenen Leistung erfüllt, dass er die der anderen nicht zu würdigen wusste oder wollte. Jedenfalls hat er sich nie viel daraus gemacht, anderen beim Spielen zuzuschauen.

Holmes’ erste größere Rolle war die des Cassius in Julius Caesar. Die Inszenierung kam in London so gut an, dass Sasanoff den Blick nach Westen richtete, auf das Land der unbegrenzten Möglichkeiten: Amerika.

Das Gastspiel in New York dauerte lange; danach gab das Ensemble in vielen amerikanischen Hauptstädten noch 128 Vorstellungen.“

 

William S. Baring-Gould

Sherlock Holmes of Baker Street (1962)

Prolog

 

1880, Dunwich, Massachusetts

Aller Tage Abend

 

Zwei Minuten, bevor die Kutsche um die letzte Ecke bog, schlug Holmes die Broschüre auf, die er in der Universitätsbibliothek von Arkham hatte mitgehen lassen. Dort stand: Schlägt der Reisende im nördlichen Massachusetts an der Kreuzung der Aylesbury-Überlandstraße direkt hinter Deans Corner die falsche Richtung ein, gerät er in eine einsame und sonderbare Gegend. Der Boden steigt an, die von Dornengestrüpp überwachsenen Steinmauern nähern sich immer mehr dem Verlauf der staubigen und kurvenreichen Straße. Die Bäume zahlreicher Haine erscheinen einem zu hoch. Büsche, Sträucher und Gras erreichen eine Dichte, die man in besiedelten Gebieten kaum findet. Gleichzeitig werden die Felder seltener und wirken unfruchtbarer, während sich die verstreut liegenden Gebäude auf wundersame Weise in Alter und Verfall immer mehr ähneln. Man zögert, ohne genau zu wissen warum, die verhutzelten Gestalten, die man hier und da vor den Türschwellen sieht, nach dem Weg zu fragen. Sie erscheinen so schweigsam und heimlichtuerisch, dass man glaubt, sich irgendwie verbotenen Dingen gegenüber zu sehen, mit denen man lieber nichts zu tun haben möchte …

Holmes schüttelte sich. Dann schob er den Kopf aus dem Fenster. Die Monotonie des Hufschlags drohte ihn schon seit geraumer Zeit einzuschläfern. Er hatte die Broschüre in dem Versuch aufgeschlagen, konzentriert und wach zu bleiben, doch als der kalte Fahrtwind sein Gesicht peitschte, wurde ihm bewusst, dass seine Müdigkeit keine Folge der Reisestrapazen, sondern eine Nachwirkung des abscheulichen Krauts war, das er am Abend zuvor geraucht hatte. Seit er in die Kutsche gestiegen war, hatten ihn merkwürdige Visionen heimgesucht, in denen ziegengesichtige, sabbernde Gestalten von Gicht geplagte, knotige Finger nach ihm ausstreckten.

Frische Luft, so meinte er, konnte seinem Hirn nur Gutes bringen. Doch der ihm um die Ohren pfeifende Wind zwang ihn, sich schnell wieder ins Innere der Kutsche zurückzuziehen. Als die ersten Lichter auftauchten, änderten sich die Geräusche der Wagenräder. Der Weg wurde steiler, die Landschaft weißer. Schon knirschten die Räder über Schnee.

Holmes steckte die Broschüre ein und reckte neugierig den Hals. Die meisten Häuser, an denen die Kutsche vorbeifuhr, waren finster. Über ihren Kaminen stand kein Rauch. Nur hier und da brannte hinter einem Fenster Licht. Die meisten Gebäude waren zweistöckig und schienen sich vor kahl in den Himmel ragenden Bäumen zu ducken.

So sehr sich Holmes auch bemühte, er sah kein einziges Menschenwesen, und als die Kutsche wenige Minuten später vor einem klobigen Gasthof anhielt, fragte er sich, wer eigentlich darauf aus war, in dieser Gegend Bekanntschaften zu machen. Während er nach einem Schild ausspähte, das ihm den Namen der Lokalität verriet, hörte er den Kutscher fluchen und mit einem heftigen Satz vom Bock zu Boden springen.

„Ist alles in Ordnung?“, erkundigte sich Holmes.

Die Antwort des Mannes war ein dumpfes Knurren, das so bedrohlich klang, dass Holmes sich vornahm, seine Nase künftig nur in Dinge zu stecken, die ihn persönlich betrafen. Die Kutschentür quietschte erbärmlich. Holmes betrat einen hölzernen Gehsteig. Der Schnee verschluckte das Geräusch. Holmes schaute kurz auf und erkannte dicke weiße Flocken vor einem riesengroß am Himmel stehenden Mond. Dann flog ihm seine Reisetasche entgegen, traf seinen Brustkorb und warf ihn nach hinten. Bevor sie auf den Gehsteig fallen konnte, packte Holmes zu. Er erwischte sie noch in der Luft. Der Kutscher schwang sich sogleich wieder auf den Bock, seine Peitsche knallte. Die vier schwarzen Gäule, die zuvor nur geschnaubt und durch die Nüstern weißen Dampf ausgestoßen hatten, setzten sich wieder in Bewegung. Die Kutsche knirschte und knarrte. Holmes stand fassungslos vor dem Gasthof, und als er sich fragte, ob er noch bei Sinnen war, zu dieser Jahreszeit hierherzukommen, bog die Kutsche zwischen zwei Gebäuden ab und ward nicht mehr gesehen. Holmes wandte sich um und begutachtete das Haus, in dem er sich telegrafisch angemeldet hatte. Über der Tür stand: Zum Raben. Im Parterre brannte hinter einer bunten Butzenscheibe Licht.

Holmes trat an den Eingang. Die Tür war verschlossen. Er klopfte. Nichts rührte sich. Er klopfte noch einmal. Erfolglos. Schließlich stellte er seine Reisetasche auf dem Boden ab und versuchte es mit der geballten Faust. Dies schien zu helfen. Kurz darauf drang durch die verschlossene Tür eine quäkende Stimme an sein Ohr, die sich nach seinem Begehr erkundigte.

„Mein Name ist Holmes“, sagte er daraufhin. „Ich habe Ihnen vor zwei Tagen aus Arkham telegrafiert und für heute Nacht ein Zimmer reserviert.“

„Kenne keinen Holmes“, kam die Antwort. „Hau ab!“

Holmes runzelte die Stirn. „Sherlock Holmes“, erklärte er. „Vom Sasanoff-Tournee-Theater aus London, England. Wir gastieren derzeit in Arkham, und …“

„Ist geschlossen!“

Holmes hörte Schritte, die sich entfernten. Während er mit offenem Mund in der Kälte stand und der fallende Schnee sich anschickte, seinen Deerstalker und seinen Mantel unter einer weißen Schicht zu begraben, erlosch in dem Haus, in dem er eigentlich die Nacht hatte verbringen wollen, das Licht.

„Sie belieben zu scherzen, Sir!“ Holmes schlug mit der Faust gegen die Tür. „Wo bin ich hier? Doch nicht bei den Kaffern in der Wildnis!“ Hilflos und wütend schaute er sich um. „Oder etwa doch?“

Plötzlich gewahrte er auf der anderen Straßenseite eine Gestalt, die so schief dastand und deren Miene so sehr an eine Ziege erinnerte, dass er seinen ersten Impuls, sie um Hilfe zu bitten, auf die lange Bank schob und sich stattdessen schüttelte. Als sei dies für das ziegengesichtige Ding ein Signal, stieß es einen meckernden Laut aus und setzte seinen Weg fort, bis es, von Schneeflocken eingehüllt, mit der Landschaft eins wurde.

„Der Teufel soll mich holen“, murmelte Holmes. „Was tun?“ Er begutachtete die Umgebung. Von den etwa zehn Häusern, die er im Schneetreiben zu beiden Seiten der Straße sehen konnte, war nur eins erhellt: Eine Buchhandlung! Wenn das kein gutes Omen war! Dort gab es gewiss gebildete Menschen, die einen Briten mit ausgezeichneten Umgangsformen und Intelligenz zu schätzen wüssten. Sie würden ihm erklären, wie man hier in dieser winterlichen Landschaft eine kalte Nacht überleben konnte. Holmes nahm seine Reisetasche und überquerte die Straße. Da ihm inzwischen ziemlich kalt geworden war und er sich auf die Wärme eines Ofens freute, gönnte er dem Schaufenster des Lädchens nur einen beiläufigen Blick. Dass eine Türglocke sein Erscheinen ankündigte, erinnerte ihn an seine nebelverhangene europäische Heimat. Dass jedoch bei seinem Eintreten statt einer hübschen Buchhändlerin ein hübscher Buchhändler den Kopf hinter einem Regal hervorschob, empfand er als leicht enttäuschend.

„Guten Abend, Sir“, sagte der junge Mann. Er sah mit seiner hellblonden Mähne wie ein Rauschgoldengel aus. „Womit kann ich Ihnen dienen?“ Er sprach, wie die meisten Bürger des Staates Massachusetts, ein Englisch, das so gepflegt war, dass Holmes sich fast heimisch fühlte. Er schätzte den Buchhändler auf vielleicht zwanzig oder einundzwanzig Jahre. Seine Haut war ganz und gar ebenmäßig, und nicht das geringste Barthaar zierte seine Oberlippe.

„Mein Name ist Holmes.“ Holmes deutete eine Verbeugung an. „Sherlock Holmes.“

„Ich heiße Aylesbury.“ Der Rauschgoldengel kam nun gänzlich hinter dem Regal hervor und breitete die Arme aus. „Mir gehört dieses …“ Er hüstelte. „… Unternehmen.“ Seine hellblauen Augen musterten seinen Besucher mit großem Interesse. „Ich helfe Ihnen gern, Sir, wenn ich kann.“

„Danke.“ Holmes schaute sich um und sah mehrere tausend Bücher in zwei bis drei Dutzend Regalen. Er fragte sich, wie man hier, am Ende der Welt, mit so einem Laden seinen Lebensunterhalt bestreiten konnte. „Ich bin derzeit beruflich in Arkham tätig“, erläuterte er. „Und ich wollte ein freies Wochenende dazu nutzen, einen Studienfreund zu besuchen, der hier in Dunwich lebt.“ Er zwinkerte Mr Aylesbury zu. „Da ich ihn überraschen wollte, habe ich mich nicht angemeldet, sondern telegrafisch im örtlichen Gasthof Quartier genommen. Leider hat man dort mein Telegramm offenbar nicht erhalten, und der Besitzer sagt, er hätte sein Gasthaus geschlossen.“

Aylesbury nickte. „Der Besitzer des Gasthofes ist vor einigen Monaten verstorben. Der Mann, mit dem Sie gesprochen haben, ist nur jemand, der das Haus bewacht, bis es einen neuen Besitzer gefunden hat.“ Er seufzte. „Er ist nicht von hier, aber …“ Er zögerte. „Ich hege die Vermutung, dass er weder lesen noch schreiben kann und darüber hinaus nicht ganz bei Sinnen ist.“ Aylesbury deutete mit dem Zeigefinger auf seine Schläfe. „Sind Sie jetzt etwa ohne Bleibe, Sir?“

Holmes nickte. „Es sei denn, Sie können mir sagen, wo ich meinen Freund finde. Er heißt Basil Bishop. Er lebt hier bei seinen Eltern.“ Ein Lächeln legte sich auf Holmes’ Miene. „Ich wette, er wird mich nicht im Freien übernachten lassen.“

„Basil Bishop?“ Die hellblauen Augen des Buchhändlers blitzten auf. „Na, so ein Zufall! Da kommt er gerade!“

1. Kapitel

Düstere Träume

 

Violet erwachte in der Dämmerung eines eiskalten Morgens. Das neben dem Fenster an der Wand befestigte Thermometer war unter Null gesunken. Also konnte ihre innerliche Hitze nur von dem unheimlichen Traum herrühren. Noch im Halbschlaf machte sie einen Versuch, wieder ins Land der Träume zu entschwinden. Vergebens. Ihre Sinne waren hellwach. Eigentlich war es gut so, denn auf die unheimlichen Bilder konnte sie gut und gerne verzichten. In ihrem Kopf war ein hohles Gefühl. Das Grauen hatte sich aufgelöst. Sie drehte sich auf den Rücken, blickte an die Decke und versuchte sich an den Alb zu erinnern.

Grässliche Schattengestalten unter einem fremdartig grünen Himmel. Bestien …

Violet schüttelte sich. Dann richtete sie sich auf und schaute aus dem Fenster.

Das Landhaus der Bishops, deren Gast sie seit gestern war, stand auf einem bewaldeten Hang im oberen Drittel einer Erhebung namens Sentinel Hill. Die Kuppe dieses Hügels zierte ein Kreis aus gigantischen Steinen. Es gab Menschen, die der Meinung waren, dass es sich dabei um Überreste einer uralten Ruine handelte. Andere behaupteten gar, dass dort, wo die Steine lagen, einst eine Feste gestanden hatte. Beweise dafür gab es allerdings nicht. Doch Violet fand die Vorstellung inspirierend genug, um in Erwägung zu ziehen, ihre nächste Erzählung genau dort spielen zu lassen – in alter Zeit. In prähistorischer Zeit. Noch fehlte ihr ein fesselnder Plot. Um ihn zu finden, war sie hier. Sie hob den Blick. Über Nacht hatte sich eine jungfräuliche Schneedecke auf den Hügel gelegt.

Eigenartig, dass sich ihr Traum um das Thema gedreht hatte, das sie hier verarbeiten wollte. Sie war durch die finsteren nächtlichen Gassen einer mittelalterlichen Siedlung geschritten; über ihr ein Schwarm krächzender Vögel mit schwarzem Gefieder. Das Rascheln der Schwingen hatte sie noch im Ohr. Im Traum hatte sie alles ganz deutlich gesehen. Nun, im Tageslicht, löste sich alles auf. Falls man von Tageslicht überhaupt reden konnte.

Violet seufzte. Schade. Man konnte nicht alles haben. Hoffentlich stimmte die alte Weisheit nicht, dass das, was man in fremden Betten träumte, irgendwann Wirklichkeit wurde. Vermutlich hatten die Bücher aus Onkel Harrys Bibliothek zum Entstehen ihres Traums beigetragen. Violet hatte sich am Abend zuvor drei Glas Tee mit Rum gegönnt und in alten Werken geblättert. Vielleicht waren ihr das krause Geschreibsel und die bizarren Zeichnungen zu Kopf gestiegen.

Beim Zubettgehen hatte sie sich fast fiebrig gefühlt. Sie erinnerte sich noch an die magisch klingenden Satzfetzen in uraltem Englisch. Die Wirklichkeit ist euren Augen verborgen … Ihr seht nur, was die Geschöpfe der Finsternis euch sehen lassen wollen … Noch ist die Zeit nicht reif … Noch muss die Pforte geschlossen bleiben.

Die Warmwasserheizung fing an zu rattern. Violet nahm es freudig zur Kenntnis. Das hochmoderne Gerät würde dennoch eine Weile brauchen, um das Landhaus zu erwärmen. Trotzdem stand sie mutig auf und bewunderte die Eisblumen am Fenster.

Esther, die junge Schwester ihrer Mutter, schepperte in der Küche. Das Wasser im Gästebad war eiskalt. Als die Frau mit der Morgentoilette fertig war, vernahm sie das Knirschen der Asche, die im Parterre aus dem Kamin in einen Eimer geschaufelt wurde. Nun ja, Massachusetts war nicht New York. Hier lebte man nicht viel komfortabler als im Wilden Westen.

Als Violet in die Wohnküche kam, war diese gerade im Begriff, sich langsam zu erwärmen. „Was für eine grässliche Kälte.“ Der Traum spukte noch immer in Violets Kopf herum. „Wo ist Onkel Harry?“

„Er kümmert sich um die Heizung.“ Esther lächelte. Sie war fünfundvierzig, rothaarig, hatte grüne Augen und war so hübsch, wie Violet es gern gewesen wäre. Die Jahre sah man ihr nicht an. Harry, ihr Mann, war Kunstmaler. Er hatte sie vor fünfundzwanzig Jahren an einer Hotelrezeption in New York kennengelernt. Dass er ein Künstler war, bewiesen sein Bart, seine Pfeife und seine Baskenmütze. Außerdem führte er das Leben, das bei Künstlern typisch war, er stand spät auf, so gegen neun Uhr, saß stundenlang am Frühstückstisch, trank abends Rotwein und wanderte zweimal in der Woche den Hügel hinab nach Dunwich, wo er mit Pastor Peabody und einigen Honoratioren pokerte. Wirtschaftliche Not kannte er nicht. Seine Eltern hatten ihm ein Vermögen hinterlassen, von dessen Zinsen er lebte. „Geh doch mal runter und ruf ihn …“

„Und Basil?“, fragte Violet sofort.

„Der ist heute Nacht nicht nach Hause gekommen. Ich nehme an, der starke Schneefall war daran schuld.“

Violet nickte, dann ging sie ein Stück die Kellertreppe hinab und rief Onkel Harry zum Frühstück.

„Gleich!“, rief dieser. „Sobald diese elende Erfindung der Neuzeit macht, was sie machen soll!“

Als Violet in die Küche zurückkehrte, war diese angenehm warm. Sie schaute aus dem Fenster. Ein dunkler Fleck wanderte durch die weiße Landschaft auf Bishop Mansion zu. Violet dachte spontan an den attraktiven jungen Mann, mit dem Esther gestern in der Küche Tee getrunken hatte.

„Wer war eigentlich der Bursche, der dich gestern besucht hat?“, fragte sie scheinheilig. „Der Postbote?“

„Der blonde Gentleman?“

Violet nickte gespannt.

„Er heißt Algernon Aylesbury.“

„Aylesbury?“ Violet zog die Nase kraus. „Wie die Ortschaft?“

Esther zuckte die Achseln. „Seine Vorfahren haben den Ort, glaube ich, gegründet. Und auch die Zeitung, die dort erscheint.“ Sie kicherte. „Er ist ziemlich verschroben.“ Sie deutete zur Tür. „Ein Bücherwurm mit abseitigen Interessen. Wenn er hier ist, steckt er seine Nase oft in Harrys Folianten. Er wohnt in Dunwich. Sein Großvater hat ihm einige Häuser vererbt. Er ist Antiquar und handelt mit alten oder seltenen Büchern, die er per Post an Kunden in aller Welt verschickt. Er interessiert sich auch für den Steinhaufen auf dem Sentinel Hill und meint, da oben hätte schon vor Columbus eine Burg oder so etwas gestanden.“

Violet runzelte die Stirn. „Und wer hat sie gebaut? Die Apachen? Es wäre ziemlich untypisch für sie.“

Esther zuckte die Achseln. „Algernon meint, auch vor den Indianern hätten hier schon Menschen gelebt. Er ist ein Spürhund, immer auf der Suche nach Geheimnissen aus alter Zeit.“

„Ich habe gestern Abend in Onkel Harrys Büchern geschmökert“, gestand Violet. „Und ich glaube, ich hatte ihretwegen einen Albtraum.“

„Wundert mich nicht.“ Esther lachte. „Die sind ja auch voll mit Bildern von Hexen, Satansbraten und Teufelsfratzen.“

„Die geflügelten Schlangen und monströsen Köter nicht zu vergessen.“ Violet schüttelte sich. „Interessiert Onkel Harry sich auch für diesen Kram?“

„Nicht im Geringsten.“ Esther seufzte. „Ich wünschte, er würde sich wenigstens für das interessieren, was er beruflich zu tun vorgibt: Kunstgeschichte.“

„Was er beruflich zu tun vorgibt?“ Violet setzte eine verblüffte Miene auf. „Wie darf ich das verstehen, Tante Esther?“

„Lass die Tante, mein Schatz. Ich bin eine Frau in der Blüte ihrer Jahre. Und du bist jetzt erwachsen.“ Esther hüstelte vornehm. „Sag bloß, du hast noch nicht gemerkt, dass Harry nur ein wohlhabender Tagedieb ist? Er malt höchstens ein Bild im Jahr.“ Sie seufzte. „Und nicht einmal das verkauft er. Er verschenkt es.“

Die junge Frau lachte. „Warum verkauft er diese alten Schwarten denn nicht?“

„Das würde Harry nie tun.“ Esther schüttelte den Kopf. „Diese Dinge sind seit hundert Generationen im Besitz seiner Familie.“

Violet schmunzelte. „Oh, dann hat es sie ja schon vor dem Beginn der Zeitrechnung gegeben.“

Esther nickte. „In seiner Familie wird auch seit hundert Generationen bei jeder Gelegenheit kräftig übertrieben.“

Der Teekessel fing an zu pfeifen.

„Wenn diese Folianten so alt sind, sind sie vielleicht eine Million Dollar wert“, sagte Violet nachdenklich. „Da könnte man doch vielleicht …“ Dann fiel ihr ein, dass Onkel Harry kaum Interesse an einer Million hatte. Er besaß ja schon eine. Oder zwei. Vielleicht sogar drei?

2. Kapitel

Ein undurchsichtiger Gentleman

 

Nach dem Frühstück entpuppte sich der schwarze Fleck, den Violet in der Landschaft gesichtet hatte, als Mensch. Esther räumte gerade das Geschirr ab, als der Mann, einen Schlapphut auf dem Kopf, ein dunkles Cape über den Schultern und eine Reisetasche in der Hand, durch den Schnee auf das Haus der Bishops zu stiefelte.

Violet betrachtete ihn. Ihr erschien er uralt, so um die fünfzig. Er hatte ein eckiges Kinn, buschige Brauen und einen stechenden Blick. Uhhh. Seine Hosen waren nass bis an die Knie, er trug keine Stiefel, lediglich Halbschuhe. Der Fremde musterte das Anwesen der Bishops, dann wanderte sein Blick zum Sentinel Hill und den Steinen hinauf, von denen man hier unten nur wenig sah.

In Violets Magengrube breitete sich plötzlich ein ungutes Gefühl aus. Der Mann wirkte wie ein Vertreter auf sie, wie ein Mensch, der einen Fuß zwischen die Tür unwilliger Kunden klemmte, weil ein Nein für ihn keine akzeptable Antwort war.

„Erwartest du Besuch?“, fragte sie ihre Tante.

Esther warf einen schnellen Blick aus dem Fenster. „Das ist Mr Whateley aus Arkham. Ja, er hat sich vor einer Woche angekündigt. Habe ich es nicht erwähnt? Lass ihn bitte rein.“

„Gern.“ Violet verließ die Wohnküche und öffnete dem Fremden die Haustür. „Guten Tag, Sir“, begrüßte sie ihn. „Ich bin Violet Armitage, die Nichte der Bishops.“

Whateley musterte sie eingehend und lüftete seinen Hut. Seine Augen waren grün-grau und blickten stechend. „Guten Tag, Miss Armitage. Ich habe schon von Ihnen gehört. Sie leben in New York, nicht wahr? Sie sind Schriftstellerin?“

Violet errötete. Hatte Esther wieder mit ihr angegeben? Eigentlich war sie nur Sekretärin in der Redaktion der Zeitschrift Argosy. Seit Mr Munsey, ihr Chef, ihre erste Erzählung angenommen hatte, wurde sie in der Familie wie eine Künstlerin behandelt. „Ich bemühe mich, Sir, aber … Ich würde mich selbst nicht als Schriftstellerin bezeichnen.“

„Sondern?“

„Schreibkraft.“ Violet erklärte Mr Whateley, womit sie hauptsächlich ihre Brötchen verdiente. „Ich bin kaum mehr als eine Amateurin …“

Esther tauchte in der Küchentür auf und winkte dem Besucher zu. „Hallo, Mr Whateley. Ich habe nicht erwartet, dass Sie bei diesem scheußlichen Wetter kommen.“

„Ich bin ein Mann mit Prinzipien.“ Whateley setzte seinen Hut wieder auf.

„Das muss man an einem solchen Tag wohl auch sein.

---ENDE DER LESEPROBE---