GALAXIS SCIENCE FICTION, Band 50: IM REICH DER 12 MONDE - Ronald M. Hahn - E-Book

GALAXIS SCIENCE FICTION, Band 50: IM REICH DER 12 MONDE E-Book

Ronald M. Hahn

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Beschreibung

David Brodie... Haydee Gardner... Chris Castro... Marvin Thorvald... Sie halten sich für normale Amerikaner. Doch dies ändert sich, als Agenten einer außerirdischen Macht sie in einem interstellaren Raumschiff ins Kaiserreich der 12 Monde entführen. Die Entführer sind rabiate Vasallen eines ebenso rabiaten Herrschers, dem nicht daran gelegen ist, die Brut des Mannes am Leben zu erhalten, den er einst beiseitegeschafft hat. Als die Entführten erfahren, wer sie sind und dass sie in eine Zukunft rasen, in der ein Thronräuber ihren Erzeuger gestürzt hat, wehren sie sich – und setzen eine Reihe komischer Katastrophen in Gang, die das Reich der 12 Monde in den Grundfesten erschüttert. Eine Bande gut gelaunter terranischer Haudegen sowie einige snöriphytische Sternenvölker, denen man nur ungern am Tresen begegnen möchte, tragen außerdem dazu bei, ein kosmisches Intrigenspiel in Szene zu setzen, dass auf diversen exotischen Planeten spielt und in dem der Kaiser bald zum Bettelmann wird, während jeder gegen jeden kämpft und sich alle bemühen, einander den Hals umzudrehen. Ob das Gute siegen wird?    Im Reich der 12 Monde  - eine todernste Spass-Opera, wie man sie nur von Ronald M. Hahn und seinem Enkel C. R. Brandy erwarten kann. 

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RONALD M. HAHN/C. R. BRANDY

 

 

IM REICH DER 12 MONDE

- Galaxis Science Fiction, Band 50 -

 

 

 

Roman

 

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

IM REICH DER 12 MONDE 

ERSTES BUCH: IM AUFTRAG DES STERNENKAISERS 

ZWEITES BUCH: EXILPLANET OTHAN 

DRITTES BUCH: DER KAISER HAT ABGEDANKT 

 

Das Buch

 

David Brodie... 

Haydee Gardner...

Chris Castro...

Marvin Thorvald...

Sie halten sich für normale Amerikaner.

Doch dies ändert sich, als Agenten einer außerirdischen Macht sie in einem interstellaren Raumschiff ins Kaiserreich der 12 Monde entführen.

Die Entführer sind rabiate Vasallen eines ebenso rabiaten Herrschers, dem nicht daran gelegen ist, die Brut des Mannes am Leben zu erhalten, den er einst beiseitegeschafft hat.

Als die Entführten erfahren, wer sie sind und dass sie in eine Zukunft rasen, in der ein Thronräuber ihren Erzeuger gestürzt hat, wehren sie sich – und setzen eine Reihe komischer Katastrophen in Gang, die das Reich der 12 Monde in den Grundfesten erschüttert.

Eine Bande gut gelaunter terranischer Haudegen sowie einige snöriphytische Sternenvölker, denen man nur ungern am Tresen begegnen möchte, tragen außerdem dazu bei, ein kosmisches Intrigenspiel in Szene zu setzen, dass auf diversen exotischen Planeten spielt und in dem der Kaiser bald zum Bettelmann wird, während jeder gegen jeden kämpft und sich alle bemühen, einander den Hals umzudrehen. Ob das Gute siegen wird?

 

Im Reich der 12 Monde - eine todernste Spass-Opera, wie man sie nur von Ronald M. Hahn und seinem Enkel C. R. Brandy erwarten kann. 

  IM REICH DER 12 MONDE

 

 

 

 

 

 

  ERSTES BUCH: IM AUFTRAG DES STERNENKAISERS

 

 

Erstes Kapitel

 

Was alle trifft, erträgt man leicht

 

Whitehorse, Yukon-Territorium, Kanada: Ein eiskalter Wind fauchte über die Hauptstraße, als David Brodie mit leichter Schlagseite aus dem Moosehorn Saloon kam und sich wütend dem Parkplatz zuwandte, um seinen dort geparkten Bentley-Gleiter anzusteuern.

Als er den Schlüssel in die Cockpittür steckte, wuchs in der Finsternis vor ihm eine breitschultrige Gestalt aus dem Boden, und eine dunkle Stimme fragte: »David Brodie?«

»Wer will das wissen?«, fragte Brodie zurück, denn er war gerade bei der drallen Bedienung abgeblitzt und deswegen nicht gut auf die Welt zu sprechen.

»Ich«, sagte der Unbekannte. Er hielt Brodie eine Art Taschenlampe unter die Nase.

»Verpiss dich, du Arsch.« Brodie schloss das Cockpit auf. »Sonst tret’ ich dir in die Nüsse.«

»Ach, wirklich?« Die Taschenlampe blitzte auf, und Brodie hatte das Gefühl in einen bodenlosen Schacht zu fallen.

 

Las Vegas, Nevada, USA: Haydee Gardner verließ den Club 68 + 1, in dem sie seit einigen Wochen ihre Haut zu Markte trug, um 4 Uhr nachts. Da sie wusste, dass zu dieser Stunde im Rotlichtviertel nur noch Säufer, Wahnsinnige, Sodomiten und andere Perverse unterwegs waren, ließ sie sich ein Flugtaxi kommen.

Zu ihrer Überraschung wurde es von einem echten Menschen gesteuert; einem blonden, langhaarigen Mann, der ihr einen Blick schenkte, den sie gar nicht mehr gewohnt war.

»Miss Gardner?«

In dem Laden, in dem Haydee tätig war, sagte man in der Regel nur He, Schlampe zu ihr, deswegen war das Miss des Piloten fast eine Offenbarung für sie.

»Ja?«

»Sehen Sie die Taschenlampe hier?«

»Aber ja doch.«

Sie war für lange Zeit das letzte, was Haydee zu sehen bekam.

 

Juneau, Alaska, USA: An diesem Abend war Chris Castro so zugedröhnt wie schon lange nicht mehr. Ihm gefiel sogar die im Fernseher hinter der Theke laufende Talkshow »Der wirklich letzte Dreck«, die heute Abend mit der Attraktion eines anonymen Hühnerfickers aus Tennessee brillierte. Das war ihm noch nie passiert. Dennoch war ihm klar, dass er die Kneipe nun verlassen musste. Zu Hause wartete ein williges Gör auf ihn, und ihm war danach, ihr ordentlich was reinzustecken. Also zahlte er die Zeche und wankte mit einem fröhlichen Liedchen auf den Lippen dem Ausgang entgegen.

Bumsti! Kaum war er aus der Tür raus, knallte er mit einer Schnalle zusammen, die zu neunzig Prozent aus Titten bestand. »Ich werd’ nicht mehr«, sagte Castro und gaffte die Ballons der Kleinen an. »Ist das alles echt?«

»Und ob«, sagte die schöne Unbekannte und hielt ihm eine Taschenlampe unter die Nase. »Aber bevor du es betatschen darfst, beantworte mir eine Frage: Bist du Christian Castro?«

»Ja, klar«, sagte Castro. »Können diese Augen etwa lügen?«

Er zeigte dem Schnuckel seine Augen, und daraufhin zeigte sie ihm ihre Taschenlampe.

 

Seattle, Washington, USA: Es war eigentlich nicht Marvin Thorvalds Art, sich in die Belange anderer Menschen einzumischen, aber eins konnte er nicht ausstehen: Männer, die ihre Begleiterin in aller Öffentlichkeit ohrfeigten, ohne dass sie sich in einer Notwehrsituation befanden.

Leider hatte er nicht ahnen können, dass der breite Kerl in dem Lokal, in dem er gerade eine Mahlzeit zu sich nahm, so viele Freunde hatte. Als er sich zwei Minuten später mit schmerzendem Schädel und einem üblen Gefühl in der Magengrube im Rinnstein wiederfand und sich die Seele aus dem Leib kotzte, beugte sich eine schöne Frau über ihn und sagte mit sympathischer Stimme: »Marvin Thorvald?«

»Wie er kreucht und fleucht«, erwiderte Thorvald mit Galgenhumor und suchte nach einem Taschentuch.

»Das kriegen wir schon wieder hin«, sagte die Unbekannte und hielt ihm eine Taschenlampe vor die Nase.

Leider kriegte Thorvald nie heraus, was sie wieder hinkriegen wollte, denn eine halbe Sekunde später wurde sie versehentlich von einem Tanklastzug überfahren und bespritzte ihn mit ihrem Blut.

 

Guadalajara, Mexiko: Als Thorvald zwei Tage später frohen Mutes das Hauptbüro der Interstellar Adventures Incorporated verließ, die großes Interesse daran hatte, sein neuestes Sensitor-Abenteuer auf den Markt zu bringen, hatte er nach wenigen Minuten des Dahingehens das eigentümliche Gefühl, dass ihm jemand folgte.

Er blieb stehen, suchte in der Jackentasche nach Zigaretten, zündete sich eine an und peilte die Lage. Nicht fern von ihm, nur läppische zehn Meter, vor einem zum Konsum anheizenden Schaufenster in der Avenida Carlo Marx standen zwei attraktive schwarzhaarige Frauen mit ansehnlicher Figur, schicken kurzen Kleidern und bis zu den Knien reichenden Stiefeln aus Schlangenleder.

Sie waren braungebrannt, wie die meisten Menschen in dieser Stadt, etwa Ende Zwanzig und sahen mit ihren prächtigen Atombusen wirklich sehr schnuckelig aus. Thorvald schnalzte verhalten mit der Zunge und fragte sich, ob sie ihm wirklich auf den Fersen waren. Wer waren die beiden? Büromiezen, die einen Bummel machten? Sie standen da, als hätte eine interessante Auslage sie verführt, ihren Spaziergang zu unterbrechen. Trotzdem... Sein geschultes Autorenauge sagte ihm, dass sie ihn verstohlen beobachteten. In der Scheibe.

Thorvald mochte hübsche Frauen, auch wenn sie älter waren als er mit seinen dreiundzwanzig Lebensjahren. Er kannte sogar ein paar Vierzigjährige, für die er sonst was getan hätte, um sie näher kennen zu lernen. Aber plötzlich spürte er, dass seine Nackenhaare sich sträubten und es in seinem Magen eigenartig kribbelte. Er musste sich zusammenreißen, um sich nicht auf offener Straße zu schütteln.

Was hatte das zu bedeuten? Empfand sein Unterbewusstsein etwa Angst?

Quatsch. Er versuchte Klarheit in seine Gedanken zu bringen. Er bildete sich etwas ein. Warum sollten die beiden ihn verfolgen? Er schüttelte den Kopf und ging weiter. Dennoch konnte er nicht verhindern, dass das Tempo seiner Schritte zunahm, und kurz darauf hatte er das Gefühl, dass er drauf und dran war zu rennen. Er bog flink in eine Seitenstraße ein, blieb stehen und lugte um die Ecke.

Die beiden Frauen nickten sich zu, dann nahmen sie seine Spur wieder auf. Sie schritten zielgerichtet aus und wirkten nun überhaupt nicht mehr wie Spaziergänger.

Na schön, dachte Thorvald. Ich weiß, dass ich nicht hässlich bin. Sie sind scharf auf mich. Ich hab’ mehr oder weniger immer Glück bei den Weibern. Aber dass sie sich an seine Fersen hefteten, ohne ihm mit einem Lächeln oder einer Geste zu verstehen zu geben, dass sie etwas von ihm wollten, war ihm noch nie passiert.

Er wurde das Gefühl nicht los, dass sie nicht auf Abenteuer aus waren. Sie wollten etwas anderes. Er hatte das komische Gefühl, dass sie ihm nach dem Leben trachteten, obwohl ihm kein Grund dafür einfiel.

Andererseits... Der Konkurrenzkampf in der Sensitor-Industrie war hart. Es gab Unternehmen, die anderen den Erfolg neideten und sich nicht scheuten, Mitarbeiter der Konkurrenz unter Druck zu setzen... Außerdem, fiel ihm ein, hatte es in der Vergangenheit Zeiten gegeben, in denen er wirklich verfolgt worden war. Als Redakteur der Schülerzeitung Roter Rüpel hatte er wenig Lobenswertes über die Polente geschrieben. Aber das war lange her. Sehr lange. Selbst er musste zugeben, dass die Polizei inzwischen viel gelernt hatte und nicht mehr nur rebellische Schüler zusammenschlug.

Wer waren die Frauen? Weshalb verfolgten sie ihn? Thorvalds Blick fiel auf den Eingang einer Bar mit dem hübschen Namen Zum letzten Heller. Er trat hastig über die Schwelle, ignorierte die fragende Miene des bezopften Zapfers am Tresen, nahm in einer Nische Platz, die Ausblick auf die Straße bot und zog den Kopf ein.

Eine menschliche Kellnerin kam an seinen Tisch. Sie war asiatischer Abstammung, ausnehmend hübsch und zog die Brauen neugierig hoch. Thorvalds männliche Züge kündeten ihr wohl von Freiheit und Abenteuern. Er gab ihr freilich keine Gelegenheit, ihn näher kennen zu lernen, denn er wollte seine Verfolger nicht aus den Augen verlieren.

Er bestellte barsch ein Bier. Sollte sie von ihm halten, was sie wollte. Er ließ die Straße keine Sekunde aus den Augen. Draußen pulsierte das Großstadtleben. Autos schoben sich hupend und dröhnend durch die Straßenschlucht. Am blauen Himmel über Mexiko surrten Gleiter aus vorwiegend deutscher Produktion. Menschen aller Nationen und Hautfarben flanierten vorbei. Eine Maid mit goldbrauner Haut, nur angetan mit einem wehenden Lendenschurz aus Wildleder und Pumps, ging aufreizend powackelnd am Fenster vorbei und verteilte Prospekte für die Talkshow Der wirklich letzte Dreck, die heute Abend wahrscheinlich einen anonymen Entenficker aus Louisiana vorstellte.

Thorvalds Verfolgerinnen tauchten auf. Sein Herz schlug schneller, als sie sich dem Eingang der Bar näherten. Hatten sie ihn etwa eintreten sehen? Vor der Tür, außerhalb seines Blickfeldes, verharrten sie.

Schließlich stöckelten sie herein. Ihre Beine waren atemberaubend. Thorvald fiel auf, dass sie geschminkt waren wie zwei Edelhuren. Sie schauten sich suchend um, mussten wohl ihre Augen erst an das Halbdunkel gewöhnen. Die Bar war fast leer. An einem Ecktisch hockten zwei Glatzenkönige mit Nasenringen. Konservative Künstler, die dem vorletzten Jahrhundert nachtrauerten. An der Theke stand eine müde Hure und parlierte leise mit dem bezopften Zapfer, möglicherweise über Toulouse Loutrec oder die alten Theorien Stephen Hawkings. Die asiatische Kellnerin servierte Thorvald sein Bier und zog sich an den Tresen zurück, um eine Zigarette zu rauchen und vor sich hinzustieren. Es war noch zu früh fürs Abendgeschäft. Die meisten Gäste befanden sich noch auf dem Weg vom Arbeitsplatz nach Hause.

Die beiden eingetretenen Frauen hatten Thorvald nun erspäht. Ihre Mienen erhellten sich, als hätten sie ihren seit Jahren vermissten Bruder gesichtet. Die Größere kam mit geschmeidigen Schritten auf ihn zu. Die andere lehnte sich kurz zum bezopften Zapfer hinüber und bestellte etwas. Der bezopfte Zapfer nickte und hantierte hinter dem Tresen herum.

Die beiden Frauen fixierten Thorvald einige Sekunden, dann blieben sie vor seinem Tisch stehen, und die Größere fragte höflich und betont: »Ist hier noch frei?«

»Yeah.« Thorvald war zu verwirrt, um etwas anderes zu sagen. Die unverhoffte Frage erschien ihm wie blanker Hohn, da es im ganzen Lokal von leeren Tischen nur so wimmelte.

Sie nahmen Platz und rückten ihre Stühle an den Tisch. Ihre Bewegungen erinnerten ihn an die Geschmeidigkeit von Katzen. Sie wirkten wach, hatten beide graue Augen und ebenmäßige Zähne, die an den Ecken leicht angespitzt waren.

»Marvin Thorvald?«

»Wie bitte?« Thorvald war platt. Polizei? Er nickte, um zu zeigen, dass er nichts zu verbergen hatte. »Ja, bin ich. Was wollen Sie?«

Als die Kellnerin ihnen zwei Gläser Tomatensaft serviert hatte, sagte die zweite Frau: »Wichtig ist nur, dass Sie der sind, den wir suchen.«

»Wie bitte?« Thorvald schüttelte den Kopf. Alles kam ihm so unwirklich wie ein Traum vor. War es ein Traum?

Die Frauen lächelten. Doch nicht humorvoll, sondern wissend. Verschwörerhaft.

Thorvald unterzog sie einer akribischen Musterung. Er war sich nun ganz sicher, dass sie nicht hinter ihm her waren, weil er ihnen als Mann gefiel. Sie hatten andere Gründe. Aber welche?

»Bald«, sagte die Größere mit einem mysteriösen Unterton, »wird Ihnen alles verständlich sein.« Sie schaute missbilligend auf seine Hand, die mit der Zigarette spielte. »Wissen Sie nicht«, sagte sie spitz, »dass Narkotikstäbchen Gift für humanoide Organismen sind?«

Narkotikstäbchen? Thorvald fragte sich, warum sie statt Menschen humanoide Organismen sagte. Die Wortwahl machte ihn stutzig.

»Jetzt mal ehrlich, Mädels«, sagte Thorvald leicht vergrätzt. »Was wollt ihr?«

»Wir haben bereits versucht, mit Ihnen in Kontakt zu treten«, sagte die zweite Frau. »Vor zwei Tagen. In Seattle.«

»Was?«, sagte Thorvald. Er verstand kein Wort.

»Gefährtin Delli«, sagte die größere der beiden Frauen. »Sie wollte ihnen helfen, als Sie im Rinnstein lagen.«

»Oh«, sagte Thorvald. Der schreckliche Tod der Unbekannten fiel ihm sofort wieder ein. »Das tut mir leid. Es war ein Unfall.«

Gefährtin Delli?, dachte er. Was reden die da? 

»Delli hatte den Auftrag, Ihre Identität festzustellen, um Sie auf den Transfer vorzubereiten«, hörte Thorvald sein Gegenüber sagen.

»Den Transfer?« Thorvald schaute verdutzt von einer zur anderen.

»Wir haben lange gebraucht, um Sie zu finden, Thorvald«, sagte die zweite Frau.

»Ich hab keinen festen Wohnsitz«, sagte Thorvald. »Ich wohne nur in Hotels.«

»Vielleicht können Sie uns mit einigen Informationen helfen.«

»Aber gern«, sagte Thorvald. Und er dachte: Wenn ich euch dann schneller vom Hals kriege...? 

»Ihr Vater hieß Harry Thorvald?«

»Ja«, sagte Thorvald. »Warum fragen Sie?«

»Es ist uns wichtig, zu erfahren, dass er nicht Tarsif hieß«, sagte die andere Frau.

»Tarsif?«, sagte Thorvald. »Was für ein ausgeflippter Name! Wieso sollte der alte Harry so geheißen haben?« Nun wurde es ihm zu bunt. Er legte eine 2-Sol-Münze auf den Tisch und machte Anstalten aufzustehen, um die Bar zu verlassen, doch als er nach unten schaute, blickte er in den Lauf einer auf ihn gerichteten Waffe. Unbekanntes Fabrikat; klein, schwarz, mit einem merkwürdig spiralförmigen Lauf.

»Hinsetzen.«

Thorvald gehorchte. Schweißperlen traten auf seine Stirn. Er warf dem bezopften Zapfer einen Blick zu, aber der Mann starrte durch ihn hindurch. Resigniert zuckte er die Achseln. Na schön. Ich bin in der Gewalt von zwei Irren. Gleich werden sie mir eröffnen, dass ich Staatsfeind Nummer Eins bin und auf der Stelle exekutiert werden muss. 

»Wissen Sie, dass Sie ein gefundenes Kind sind?«

Den Ausdruck Findelkind schien sie nicht zu kennen. Obwohl die beiden perfekt Englisch sprachen, kam er immer mehr zu der Überzeugung, dass er es mit Ausländern zu tun hatte. Aber aus welchem Land stammten sie? Er kam zu keinem Resultat.

»Haben Sie die Sprache verloren?«

»Ja, ich weiß es. Ich müsste farbenblind gewesen sein, um es nicht zu wissen.« Thorvald hob den Kopf. »Hören Sie, ich weiß nicht, wen Sie in mir sehen. Aber ich kann Ihnen versichern...«

»Beantworten Sie nur unsere Fragen«, zischte die Bewaffnete.

Thorvald seufzte. Er war kein ein Feigling, aber gegen eine Waffe hatte er im Moment nicht die geringste Chance.

»Ich bin ein Findelkind«, bestätigte er. »Meine Adoptiveltern sind längst gestorben.«

»Beschreiben Sie Ihren Vater.«

Thorvald grinste. »Er war schwarz.«

Die Frauen schauten sich an. Seine Antwort schien sie zu befriedigen.

Die Bewaffnete steckte das Schießeisen weg, trank einen Schluck Tomatensaft und sagte in einer Sprache, die er noch nie gehört hatte, etwas zu ihrer Begleiterin. Sie waren eindeutig Ausländer. Ihre Sprache klang melodisch. Trotzdem begriff er nichts.

Eine Horde junger Leute betrat das Lokal. Sie verteilten sich wie ein Hornissenschwarm johlend an den Tischen in seiner Umgebung. Nichts kam Thorvald gelegener. Er sprang so heftig auf, dass sein Stuhl umfiel und tauchte in der durch die Eingangstür quellenden Menge unter. Im Nu war er auf der Straße, bog nach links ab und hielt nach einem Taxi Ausschau.

Hinter sich hörte er Worte in einer fremden Sprache, die ihm verrieten, dass er sich nicht umzudrehen brauchte, um zu erfahren, wer da sprach. Er stieß sich von der Hauswand ab und tauchte in eine Toreinfahrt ein, die leicht abwärts führte und in einen Hinterhof mündete. Der Hof war an zwei Seiten von hohen Häuserfronten umgeben. Genau vor ihm befand sich eine Hecke, die er mit einem gewaltigen Anlauf übersprang. Er landete in einem mit stinkenden Mülltonnen übersäten Innenhof. Blumenbeete, Kopfsalat. Vor ihm tauchten die Konturen eines Gartenhauses auf. Der Erbauer hatte es wie ein Vogelhäuschen an die Wand eines einstöckigen Lagerhauses geklebt.

Thorvald sammelte seine Kräfte. Er sprang zum knapp zwei Meter hohen First der Hütte hinauf, stellte den rechten Fuß auf eine Türklinke und zog sich flink auf das Flachdach. Von dort aus konnte er das Dach des Lagerhauses erreichen. Hinter ihm teilte sich die Hecke. Die erste Verfolgerin tauchte auf. Sie hielt eine Waffe in der Hand. Sie entdeckte Thorvald, als er mit langen Sätzen über das Dach des Lagerhauses rannte und am anderen Ende in die Tiefe sprang.

Er lief der zweiten Frau genau in die Arme. Vor seinen Augen blitzte etwas auf, das wie eine Taschenlampe aussah. Gleißende Helligkeit stach in seine Augen. Er schrie vor Schreck auf, obwohl sie keine Schmerzen bereitete.

Das Licht erlosch so schnell, wie es aufgeflammt war, verwandelte sich in samtene Schwärze und ließ Thorvald bewegungslos zu Boden sinken.

Er glaubte, sein Leben sei vorbei.

 

 

 

Zweites Kapitel

 

Es gibt Gerüchte,

denen man nicht auf den Grund gehen darf

 

Thorvald kam zu sich, als jemand seine Schulter packte und ihn sanft schüttelte.

Er musste niesen. Sein Blick war leicht verschwommen. Die Geräusche, die er hörte, klangen so, als befände er sich unter Wasser. Sekunden später schwand sein Unbehagen. Langsam wurden aus den vor ihm agierenden Schemen die Gestalten zweier Männer.

Der Erste: Anfang Zwanzig. Schlank. Blond. Wachsamer Blick. Seine Miene zeugte von Grips. Ein Grübchen am Kinn. Große Zähne. Fröhliches Grinsen. Eine Goldkette zierte seinen Hals. Oberlippenbärtchen.

Der Zweite: Muskulöser Typ. Er war ihm auf den ersten Blick unsympathisch. Trotzig vorgeschobenes eckiges Kinn. Überhebliche Visage. Wie jemand, der daran gewöhnt ist, sich mit den Ellbogen durchzusetzen. Ebenfalls blond und Anfang Zwanzig. Sein Haar war millimeterkurz. Blauen Augen musterten Thorvald misstrauisch. Der Typ schien auch nicht viel von ihm zu halten.

»Willkommen im Affenhaus«, sagte der Mann mit dem Grübchen und dem Schnauz und legte Thorvald eine Hand auf die Schulter, als wolle er ihn vor aufkeimender Panik bewahren. »Ich bin Chris Castro.« Er half ihm auf die Beine.

»Danke.« Thorvald wollte Worte bilden, um seine Verblüffung zu artikulieren, doch er musste feststellen, dass seine Zunge ihn nicht unterstützte.

»Die Lähmung geht vorbei«, sagte Castro. »Keine Angst.«

Thorvald schöpfte beruhigt Atem. Er befand sich also nicht unter Unmenschen. Sein Blick wurde langsam klarer. Er schaute sich verstohlen um. Die Umgebung: Ein leerer Raum. Deckenleuchten. Metallwände. Ohne Fenster. Ohne Türen. Ohne Türen? Nirgendwo war ein Spalt zu entdecken, der auf einen Ausgang hinwies. Er starrte verwirrt an die Decke. Auch dort war nichts zu sehen.

Neben ihm saß ein schmales blondes Lockenköpfchen mit schlanken Beinen und einem Röckchen, das kaum den Zwickel ihres Höschens bedeckte. Die Absätze ihrer Pumps waren bleistiftdünn, ihr Makeup der perfekte Schutzwall gegen männliche Zudringlichkeit. Castro sprach beruhigend auf sie ein. Als er ihr auf die Beine helfen wollte, fing sie an zu schreien und hörte nicht mehr auf. Castro versetzte ihr eine schallende Ohrfeige. Dies ließ sie zwar nicht völlig verstummen, aber es führte dazu, dass ihr Geschrei in ein aufgelöstes Weinen überging.

Castro hielt das Lockenköpfchen in den Armen. Sie klammerte sich an ihn, dann riss sie sich plötzlich los und versetzte ihm einen Haken, der ihn nach hinten taumeln ließ.

Der Muskulöse lachte.

»Du Sau!«, fauchte das Lockenköpfchen Castro an. »Nimm deine dreckigen Pfoten von mir!«

»Sie hat ‘n harten Schlag«, sagte Castro verdutzt und rieb sich verlegen das Kinn.

Das Lockenköpfchen funkelte ihn an. »Fass mich bloß nicht an!«, schrie sie. Sie schaute sich mit flackernden Augen um und musterte den Muskulösen und Thorvald, der sich ihr Verhalten nicht erklären konnte. War er in einer Klapsmühle gelandet? Waren dies seine Mitpatienten? Das Dämchen schien jedenfalls zu glauben, es sei einer Horde von Perversen in die Hände gefallen. »Was ist hier los?«, schrie sie. »Wo bin ich? Was seid ihr für Typen, verflucht noch mal?«

»Jetzt mach mal halblang, Trulla«, sagte der Muskulöse. »Schrei hier nicht rum, sonst kriegst du was aufs Maul.«

»Ich nehme an, Sie sind ebenso entführt worden wie wir«, sagte Castro.

»Entführt?« Das Dämchen schaute ihn entgeistert an. »Entführt? Von wem denn, um Himmels willen? Und warum? Für mich zahlt doch ohnehin kein Schwein!«

Castro zuckte die Achseln und nannte ihr seinen Namen. »Ich weiß zwar nicht, wie’s bei Ihnen war«, meinte er, »aber mir hat irgendeine Frau ‘ne Taschenlampe ins Gesicht gehalten. Dann bin ich hier aufgewacht.«

»Bei mir war’s genauso«, sagte Thorvald.

»Bei mir war’s ‘n Mann«, sagte der Muskulöse.

»Vielleicht sollten wir uns erst mal vorstellen«, sagte Thorvald.

Das Dämchen verzog das Gesicht, dann stand es auf und stemmte aggressiv die Arme in die Seiten. »Mir macht ihr nichts vor, ihr Typen«, sagte sie in einem verächtlichen Ton. »Ich kenn jeden Dreh, den ihr Perversen euch ausdenkt! Was wollt ihr denn hier spielen, hm? Sex im Zuchthaus oder sowas?« Sie lachte schrill. »Ihr steckt doch alle unter einer Decke!«

»Wie bitte?«, sagte Thorvald.

»Ich spiel da nicht mit«, sagte sie. »Bisher war’s bei mir noch immer üblich, vorher den Preis auszumachen, bevor ich bei irgendwelchen Sauereien mitspiele.« Sie funkelte Castro aus hellblauen Augen an. Ihr Blick spiegelte die nackte Empörung einer Geschäftsfrau, die sich aufs Kreuz gelegt fühlt. »Ich bin doch nicht blöd!«, kreischte sie. »Ich weiß doch, was hier abläuft! Ich lass mich doch nicht von ein paar reichen Pinseln verarschen, die auf normale Weise keinen mehr hochkriegen!«

»Sie haben wohl in Ihrem Leben nicht gerade die besten Erfahrungen gemacht«, sagte Thorvald. Er blickte prüfend in die Runde. Der Muskulöse musterte die Frau mit einem abfälligen Blick. Um Castros Lippen spielte ein amüsiertes Lächeln.

»Ich heiße Haydee Gardner«, sagte die Frau dann mit einem leisen Seufzer und zog sich an die Wand zurück. »Wo ist meine Handtasche?« Sie schaute sich suchend um, als hätte sie das Gefühl, bestohlen worden zu sein. »Ich warne euch! Ich habe einen Beschützer, und der ist nicht zimperlich...«

Ihre verhaltene Drohung hatte weder auf Castro, noch auf den Muskulösen irgendeine Wirkung. »Ich war bisher im Nachtgewerbe tätig«, sagte Castro. »In Joy City, wenn ihr’s genau wissen wollt. Ich hatte mir gerade vorgenommen, in ‘ne andere Branche zu wechseln, weil der Job mit Damen wie dieser einem nur Ärger mit der Sittenpolizei einbringt.« Er grinste verlegen in die Runde.

»Ich heiße David Brodie«, sagte der Muskulöse und schaute Thorvald an. »Ich schlage vor, wir vergessen alle Förmlichkeiten und nennen uns beim Vornamen. Wie heißt du?«

»Marvin Thorvald«, sagte Thorvald knapp.

»Ist das alles?«, fragte Castro. Er wirkte enttäuscht.

»Yeah«, sagte Thorvald. »Ich schreibe Sensitor-Abenteuer«, fügte er hinzu. »Über mich gibt’s nicht viel zu sagen.«

»Merkt ihr das auch?«, sagte Castro plötzlich in das allgemeine Schweigen hinein. »Der Boden vibriert! Ruhig!«

Alle hielten den Atem an. Auch Thorvald konzentrierte sich. Castro hatte recht. Unter seinen Füßen wiegte sich sanft das Metall. Es war zwar kaum spürbar, aber nicht zu leugnen.

»Ob wir auf einem... Schiff sind?«, fragte Haydee. Sie machte ein erschrecktes Gesicht.

Die Situation überstieg Thorvalds Begriffsvermögen. Die Leere ihres Gefängnisses deprimierte ihn. Brodie wirkte gespannt. Haydee schien auf Castro zu hoffen, da sie Männer wie ihn aus ihrem Gewerbe kannte und er ihrer Ansicht nach wohl Stärke und Autorität symbolisierte.

»Wir sind wirklich auf einem Schiff«, sagte Brodie. Sein Blick huschte aufgeregt von einer Ecke in die nächste. »Hier sieht’s auch aus wie auf ‘nem Schiff. Wie in ‘nem Laderaum... Der Teufel soll mich holen, wenn wir nicht auf ‘nem Schiff sind!«

»Warum sind hier keine Türen?«, fragte Castro. »Hier muss doch irgendwo ‘ne Tür sein!«

Haydee sah aus, als wolle sie gleich wieder anfangen zu schreien. In ihrem Gesicht zuckte es.

»Na schön«, sagte Thorvald. »Schauen wir uns mal um.«

Sie tasteten die Wände ab. Ihre Hände fuhren über kalte Metallflächen. Niemand fand Einkerbungen. Die Zelle bestand aus einem Stück. Aber wie waren sie hier reingekommen?

»Das ist doch verrückt«, fauchte Brodie. »Man will uns in den Wahnsinn treiben. Es ist ein raffinierter Schwindel. Psychologische Tricks!«

»Mit welchem Ziel?«, fragte Castro.

Thorvald war bereit, Brodie zu glauben. Er konnte sich nicht vorstellen, dass jemand Türen verschwinden lassen konnte, ohne Spuren zu hinterlassen. Stand er unter Drogen? War er an einen Sensitor angeschlossen? Wurde er von Projektionen getäuscht, von Illusionsfeldern, die in ihm die Vorstellung erzeugten, er befände sich in einem nahtlosen Raum? War er überhaupt wach? Existierten die um ihn herum versammelten Menschen wirklich? Bestand die Möglichkeit, dass er alles nur träumte; dass er sich in einer Sensitor-Scheinwelt aufhielt?

»Zu welchem Zweck sollten Entführer mit Psychotricks arbeiten?«, sagte Thorvald. »Was hätten sie davon?«

»Vor einigen hundert Jahren«, sagte Castro, »haben Ärzte heimlich Leichen ausgegraben, um sie zu sezieren und zu studieren.«

»Was willst du damit sagen?«, fragte Haydee ängstlich.

»Vielleicht sind wir in einer ähnlichen Lage. Testobjekte für ein Forschungsprojekt...«

Brodie lachte. »Quatsch. Wir leben im einundzwanzigsten Jahrhundert, Mann!«

Castro grinste hilflos. »War ja nur ein Einfall.«

»Nette Theorie, aber wenig sinnvoll«, sagte Thorvald. »Mir fällt etwas ein, über das bisher noch keiner gesprochen hat.« Er räusperte sich. Sein Blick fiel auf die fragenden Gesichter der anderen. »Hat man euch keine Fragen gestellt?«

»Fragen?«, sagte Haydee. »Was denn für Fragen?«

»Fragen über euch und eure Eltern zum Beispiel«, sagte Thorvald. »Mich haben sie nach meinem Vater befragt.«

»Was?«, sagte Brodie. »Nach deinem Vater? Warum denn?«

Thorvald hob die Schultern. »Keine Ahnung. Aber er schien ihnen wichtig zu sein.« Er musterte Castro. »Irre ich mich, wenn ich annehme, dass keiner von uns im Reichtum schwelgt und eine Entführung zum Zweck einer Lösegelderpressung somit sinnlos wäre?«

Die anderen nickten.

»Wir kennen uns nicht«, fuhr Thorvald fort. »Wir sind uns nie begegnet. Und doch muss uns irgendetwas verbinden, das uns für die Entführer wichtig macht.«

»Klingt logisch«, sagte Haydee. Castro nickte. Brodie zuckte die Achseln.

»Wieso man mir als einzigem diese Fragen gestellt hat, weiß ich zwar nicht«, fuhr Thorvald fort, »aber dafür kann es eine simple Erklärung geben. Ich glaube, wir sollten die Fragen nach meinem Vater nicht außer Acht lassen. Sie sind die einzige Spur, die uns etwas erklären könnte.« Er räusperte sich. »Die Frage könnte vielleicht lauten: Was verbindet meinen Vater mit euren Vätern?«

Castro horchte auf. »Du glaubst, sie hatten irgendwelche Gemeinsamkeiten?«

»Warum nicht?«, sagte Thorvald. »Finden wir es heraus. Vielleicht kommen wir der Sache dadurch auf den Grund.«

»Was verband unsere Väter?«, fragte Castro. »Was waren sie für Menschen?« Er machte den Anfang und berichtete vom Leben seines Vaters, seinen Interessen und Abneigungen. Es war der Lebenslauf eines normalen Menschen, in keiner Weise irgendwie absonderlich.

»Ich kenne meinen richtigen Vater nicht«, sagte Brodie. »Ich bin nämlich ‘n Findelkind und in ‘nem Waisenhaus aufgewachsen.«

»Ich auch«, sagte Haydee.

»Mein Gott, ich auch«, sagte Castro.

»Und ich ebenfalls«, sagte Thorvald.

Sie starrten sich an.

»Der Zufall ist zu groß«, sagte Haydee. Sie wirkte deutlich erschreckt, und ihr Blick wanderte von einem zum anderen. Dann blieb er auf Thorvald haften. »Ich frage mich schon die ganze Zeit, ob es noch keinem von euch aufgefallen ist, aber...« Sie schluckte. »Ich habe den Eindruck, dass ihr euch irgendwie ähnlich seht.«

»Was?!« Brodie starrte die anderen an. »Wirklich?«

Castro musterte Brodie und Thorvald. Thorvald musste ihr widerwillig Recht geben.

»Als einzige Frau unter uns kann sie Ähnlichkeiten bei Männern wohl am besten erkennen«, sagte Thorvald. »Sie ist wohl der Meinung, wir drei könnten irgendwie miteinander verwandt sein.«

»Mach dich doch nicht lächerlich«, schnaubte Brodie. Er schaute noch immer von einem zum anderen.

»Quatsch«, sagte Castro kopfschüttelnd. Aber Thorvald sah an seiner Miene, dass er sich seiner Sache keinesfalls sicher war. Ihm selbst war aufgefallen, dass Castro eine gewisse Ähnlichkeit mit Brodie hatte. Es lag weniger an ihrem Aussehen als an gewissen Gesten oder an der Art, wie sie grinsten. Haydees Augen, fand er, glichen irgendwie den seinen, und wenn sie wütend schaute, erinnerte sie ihn an sein Spiegelbild.

Alle starrten Haydee an. Dann sprachen sie aufgeregt durcheinander.

»Es ist eine Spur, die wir verfolgen müssen«, sagte Haydee. »Je länger ich euch anschaue, desto unübersehbarer ist die Ähnlichkeit. Der Zufall ist zu groß...«

»Könnten wir auf dieser Basis die Motive der Entführer herausfinden?«, fragte Brodie.

»Wir haben es jedenfalls nicht mit gewöhnlichen Verbrechern zu tun, sondern mit einer großen Organisation«, sagte Castro. »Wenn Haydees Theorie stimmt und wir wirklich verwandt sind, muss es diesen Leuten erhebliche Mühe bereitet haben, uns aufzuspüren.«

»Mit der heutigen Computertechnik findest du jeden, der mal irgendwo registriert wurde«, sagte Thorvald. »Und sei es beim Falschparken.«

»Terroristen?«, fragte Brodie.

»Aber was haben unsere Väter mit Terroristen zu tun?«, fragte Castro. »Mein Alter... mein Adoptivvater war ‘n ganz normaler Angestellter bei ‘ner Krankenkasse.«

»Vielleicht geht es nicht um unsere Adoptivväter, sondern um unsere wirklichen Väter«, sagte Thorvald und schüttelte sich instinktiv. »Überlegt mal: Wir waren alle Findelkinder! Unsere Eltern müssen doch einen Grund gehabt haben, uns irgendwo auszusetzen!«

»Vielleicht hatten sie Dreck am Stecken«, sagte Brodie. »Und mussten alle auf Tauchstation gehen.« Der Gedanke schien ihm nicht sonderlich zu behagen.

»Unsere Umgebung«, sagte Thorvald und deutete mit dem Kopf auf ihr Verlies, »deutet darauf hin, dass wir es mit jemandem zu tun haben, der über Mittel verfügt, die gewöhnliche Kriminelle nicht haben. Man hat also offenbar beträchtliche Mittel aufgewendet, um uns zu finden und hierher zu bringen.« Er holte tief Luft. »Gehen wir mal davon aus, dass uns unsere Herkunft verbindet. Fragen wir uns also: Wer waren unsere Väter? Warum haben sie uns ausgesetzt? Und wer kann Interesse an uns haben – und aus welchem Grund?«

»Die Sache riecht nach ‘ner Verschwörung, die lange zurückliegt«, sagte Castro.

»Vielleicht haben unsere Väter damals zusammen ‘n Ding gedreht«, sagte Brodie.

»Für das man sich an ihren Kindern rächen will?« Thorvald schüttelte den Kopf. Es klang zu weit hergeholt.

»Vielleicht haben sie irgend ‘nem Bonzen übel mitgespielt und an seiner Pleite profitiert.«

»Du meinst, sie könnten Gangster gewesen sein?«, fragte Castro.

»Könnte doch sein.«

»Wenn sie an der Pleite profitiert hätten, hätten sie bestimmt dafür gesorgt, dass es ihren Kindern gutgeht«, warf Haydee ein. »Schließlich haben Kinder auch eine Mutter. Sie hätten sich – und wenn auch nur anonym – bestimmt um sie gekümmert. Mütter sind so.«

»Ich bin nicht in reichen Verhältnissen aufgewachsen«, sagte Castro.

Thorvald räusperte sich. »Meiner Familie ging es sogar ziemlich dreckig«, sagte er und erinnerte sich fröstelnd an seine Kindheit, das alte Mietshaus, die ewige Kälte, die miesen Lebensverhältnisse, die Arbeitslosigkeit und den Hunger. Und er dachte auch an die Organisierten, die seine Stadt ausgeplündert hatten.

Brodie gab zu, dass er sich als Halbwüchsiger fast nur von Hundefutter ernährt hatte. Im Alter von achtzehn Jahren war er, um nie wieder Hunger leiden zu müssen, in die Armee eines südamerikanischen Generalissimus eingetreten. Haydee sagte nichts dazu, aber Thorvald sah ihr an den Augen an, dass auch ihre Kindheit kein Zuckerlecken gewesen war. Möglicherweise lag die übliche Hurenvergangenheit hinter ihr: sexuelle Missbräuche, Trunksucht in der Familie, Prügel, keine Ausbildung. Bis sie irgendwann den Abflug gemacht hatte. Vom Regen in die Traufe. 

Die Stimmung wurde depressiv, und sie ermüdeten. Brodie zog sich in eine Ecke zurück. Castro hockte sich apathisch auf den Boden. Haydee knabberte an den Fingernägeln. Thorvald wurde von starker Müdigkeit erfasst und schlief ein.

 Als er erwachte, war Castro weg.

Er sprang auf und rüttelte Brodie. »Aufwachen!«

Brodie blinzelte. Auch Haydee öffnete die Augen. »Was ist los?«

»Castro ist weg!«

Alle sprangen auf und schauten sich um.

»Er kann sich doch nicht in Luft aufgelöst haben«, sagte Brodie.

»Wenn sie ihn geholt haben«, murmelte Thorvald, »muss es einen Grund dafür geben.«

»Aber welchen?«

»Vielleicht verhören sie ihn«, sagte Haydee. »Aber was ist, wenn sie ihn umgebracht haben?«

Thorvald schauderte. »Warum sollten sie das tun?«

Brodie hatte zwar Schweißtropfen auf der Stirn, doch ansonsten wirkte er so kantig und gekämmt wie zuvor. »Ich wette, es sind Terroristen! Sie haben irgendwem ein Ultimatum gestellt – und Castro umgelegt, um zu zeigen, dass sie es ernst meinen!«

Zwar widersprach ihm niemand, aber es glaubte ihm auch keiner. Sie ergaben sich ihrem Schicksal und nahmen todmüde wieder auf dem Boden Platz.

Als Thorvald erneut erwachte, war auch Haydee verschwunden. Die Zeit verging. Ihre Gespräche wurden stereotyper, sie waren ständig müde und schliefen immer wieder ein. Dann verschwand auch Brodie.

 

 

 

Drittes Kapitel

 

Das dicke Ende kommt noch

 

Thorvald hatte einen seltsamen Traum: Der Boden schwankte, dann sah er Licht. Nicht die unidentifizierbare kalte Helligkeit der Deckenleuchten, sondern den Strahl einer Lampe. Er zielte genau auf sein Gesicht.

Muskulöse Arme hoben ihn hoch und führten ihn zu einer schmalen Treppe. Es ging aufwärts. Eine Tür. Es war kein Traum! Er wollte etwas sagen. In seinen Ohren zischte es. Seine Beine wurden leicht. Schemenhafte Gestalten huschten um ihn her. Heiseres Gemurmel drang in sein Bewusstsein. Er verstand kein Wort. Die Welt war weich wie Watte. Er hatte Durst. Die Gestalten hakten ihn unter und schleiften ihn durch endlose Korridore. Er hörte merkwürdige Geräusche: Sirren, Zirpen, Piepsen, Schnarren. Schlierige Farbwirbel wehten vor seinen Augen. Seine Lider waren schwer wie Blei.

Seine Gedanken klärten sich, als eine Stimme aus dem Halbdunkel fragte: »Thorvald? Marvin Thorvald?«

»Yeah«, krächzte Thorvald. Er wollte sich die Augen reiben, aber er konnte die verfluchten Arme nicht heben, an denen Zentnergewichte hingen. Irgendetwas zischte und stach in seinen Hals, aber es tat nicht weh. Die Farbwirbel gingen ineinander über und wurden zu einem verwaschenen Schwarz. In weiter Ferne erblickte er die Gesichter behelmter Zwerge in farbenfroher Kleidung. Uniformen? Sie hatten lange Mähnen; blond in allen Schattierungen; aber es waren auch Rothaarige dabei.

»Sie sind in Sicherheit«, sagte eine andere Stimme. »Gympel wacht über uns. Sie brauchen keine Angst zu haben. Sie sind in Expertenhänden.«

»Ich glaub Ihnen jedes Wort«, sagte Thorvald unter Aufbietung all seiner Kraft. »Aber was machen Sie mit mir? Und wer ist Gympel?«

»Beantworten Sie meine Fragen«, sagte eine andere Stimme. »Ihr Vater war Harry Thorvald?«

»Yeah. Meine Arme...«

»Reden wir nicht von Ihren Armen. Ihr Vater war schwarz, hat sie adoptiert und Ihnen den Namen Marvin Thorvald gegeben?«

»Schwarz... Ja...« Ein schmerzender Lichtstrahl in seinem Gesicht. Augen schließen. Nichts sehen.

»Aus Minneapolis?«

»Minneapolis, ja«, erwiderte Thorvald und fragte sich, in welchen Schlamassel er geraten war. Es war lange nicht mehr in Minneapolis gewesen. Sechs Jahre. Oder sieben? In Minneapolis hatte er Andrea getroffen. Sie hatten sich in einer Kneipe kennengelernt. Oh, Jammer. Oh, Elend... 

»Haben Sie sich schon mal in den Finger geschnitten?«, fragte die Stimme. »Ist Ihnen dabei etwas Ungewöhnliches aufgefallen?«

Stimmen aus der Finsternis. Wie kalt sie klangen. So kalt wie Minneapolis. Wem gehörten sie?

»Aufge... fallen?« Er hörte seine Stimme wie aus weiter Ferne.

»Wie ist die Wunde geheilt?«, fragte eine andere Stimme. »Reden Sie! Ist sie schnell geheilt? Reden Sie!«

»Schnell«, sagte Thorvald. »Von einem Tag auf den anderen.«

»So langsam?«, sagte die Stimme überrascht. »So langsam?«

Jemand machte sich an Thorvalds Kopf zu schaffen. Er hatte den Eindruck, dass man ihm etwas aufsetzte. Einen Helm? Das Ding drückte sich fest an seine Ohren. Die Stimmen verloren sich in der Unendlichkeit. Wieder Nadelstiche. Rechts und links. Kalt und spitz. Eine Injektion. Das folgende Gefühl erinnerte ihn an die Wirkung einer Kalziumspritze. Ihm wurde glühend heiß, bis ins letzte Glied, aber so schnell die Hitze kam, war sie auch wieder weg. Sein Kopf war klar und kühl, und vor seinen Augen lief ein Film ab.

Da wanderte ein armselig gekleidetes Bübchen mit blondem Haar durch die Straßen von Minneapolis. Vorbei an den Schlangen der Arbeitslosen vor dem Vermittlungsbüro der Baugesellschaft TNT. Die Welt sah aus wie ein verkratzter, zweihundert Jahre alter Film. Die Autos kamen ihm vorsintflutlich vor. Das Bübchen lief durch Hinterhöfe, eilte knarrende Treppenstufen hinauf, bog in einen kahlen Hausflur ab. Es roch nach Kohl, Bohnen, Alkohol. Verwegene Gestalten beiderlei Geschlechts pafften auf der Treppe. Unrasiert. Lumpig. Schlecht ernährt. Sie rochen auch nicht gut. Männer mit hungrigen Augen. Verhärmte Mädchen mit knochigen Beinen und roten Lippen. Billiges Parfüm. Flaschen kreisten. Zigaretten. Sie stanken wie die Pest. Eine Wohnungstür. Neben der Klingel ein Schild. Darauf ein Name, in Antiquaschrift: HARRY THORVALD. Ein finsterer, muffig riechender Korridor. Rechts: eine armselige Küche. Eine müde Frau in alten Jeans und einem fadenscheinigen T-Shirt mit dem Konterfei des bekanntesten Enterichs aller Zeiten bereitet Essen zu. Links: das Wohnzimmer. Ein Mann auf einem zerschlissenen Sofa. Papa. Ihm gegenüber ein Weißer mit falkenähnlichen Gesichtszügen, rotblondem Haar, dichtem Vollbart, meerblauen Augen. Onkel Tarsif. Der Geruch von Mottenkugeln erfüllte die ganze Welt.

Thorvald stöhnte auf, als er Onkel Tarsifs Gesichtszüge sah. Er hätte sein Bruder sein können. Er war groß, hatte kräftige Schultern und wirkte sehr gesund. Papa hatte ihn bei der Arbeitssuche kennengelernt. Onkel Tarsif ging es zwar wirtschaftlich auch nicht besonders gut, aber wenn er etwas übrig hatte, kam er zu Besuch und brachte Papa, Mama und ihm ein paar Lebensmittel mit.

Papa war jünger als Onkel Tarsif. Auch er sah gut aus, aber er war mutlos, denn er war krank. Onkel Tarsif schälte gerade einen Apfel. Plötzlich rutschte das Messer ab. Er knurrte leise, warf einen vorsichtigen Blick auf Papa, doch der hatte nichts gesehen. Er schaute kurz auf die Wunde an seinem Finger...

Sie schloss sich augenblicklich.

»Marvin!«, sagte Onkel Tarsif mit Verschwörermiene. er hatte einen auffälligen Akzent. Er klang wirklich ausländisch. »Wo hast du dich wieder rumgetrieben, du Lausebengel?« Er legte zärtlich einen Arm um Thorvalds magere Schultern, zog ihn an sich und hielt ihm den Apfel hin. »Da, iss, Kleiner...«

»Erinnerungsvermögen positiv«, sagte jemand.

Die Vision verblasste.

»Und nun, Thorvald«, sagte eine der Stimmen, die ihn seit geraumer Zeit nervten, »kommen wir zur wichtigsten Frage: Wie lauten die Koordinaten des Planeten Aryal?«

»Aryal?« Thorvalds Verstand umkreiste träge die Frage. »Woher, um alles in der Welt, soll ich...?«

»Abwehrprogramm aktiv«, wisperte eine Stimme in Thorvalds Nähe. »Mentalspeicher registriert Versuch eines unbefugten Zugriffs. Schalte auf...« Eine Zahlenreihe, die Thorvald nichts sagte. »Versuche Umgehung durch Feldebene Alephas...«

»Koordinaten des Planeten Aryal?«

»Ich hab keine Ahnung, ehrlich«, sagte Thorvald und fragte sich, ob er kurz vor dem Durchdrehen stand. Im gleichen Moment manifestierten sich vor seinem geistigen Auge merkwürdige mathematische Zahlenreihen in einer Schrift, die ihm zwar bekannt vorkam, die er aber nicht entschlüsseln konnte...

»Achtung!«

...und verblassten wieder.

»Quorzala!«, schrie eine bärbeißige Stimme. »Was hat das zu bedeuten, Hamee?«

»Ich weiß nicht...«

»Thorvald, hören Sie mich?«

»Ich höre.« Die Finsternis, die ihn umgab, war undurchdringlich. Und ebenso die Eiseskälte. Kleine Lichter flackerten vor seinen Augen. Sie wiesen unterschiedliche Farben auf. Er schaute durch seine Pilotenspezialbrille auf die Monitore, die den vorderen Teil des Zentralstandes einnahmen und erblickte den abgerundeten Bug seiner Jacht.

Meiner Jacht?, dachte Thorvald. Meiner Jacht? Die Zielkoordinaten des Planeten Aryal waren in sein Hirn eingebrannt, aber er konnte sie nicht freigeben. Sein Blick fiel auf einen von sechs über seinem Kopf angebrachten Monitore und er stellte fest, dass er sich in einem von ihnen spiegelte. Er erblickte sein Gesicht; nein, es war das Gesicht von Onkel Tarsif.

Oh, mein Gott, dachte Thorvald. Nein, das kann nicht sein! Er trug einen Helm, von dem mehrere Glasfaserkabel abgingen, die sich irgendwo hinter ihm mit dem Computer verbanden. Vor ihm lagen die Weiten der kosmischen See. Seine Reflexe funktionierten wie damals, in den alten Zeiten, als er mit der Sternenfeuer durchs Sonnentor gejagt war. Beim Probeflug, um im Fall eines Putsches die Kinder in Sicherheit zu bringen... Ragnor... Theon... Marin... Kioga...

Ragnor?, dachte Thorvald. Ragnor? 

»Mentalspeicher blockt ab, Kapitän«, sagte eine Stimme. »Es ist schwierig...«

Erst jetzt fiel Thorvald auf, dass die ihn umgebenden Stimmen sich in einer Sprache verständigten, die er gar nicht kannte. Er verstand sie trotzdem.

Dann berührte ihn eine unsichtbare Hand von innen und schlug die Seiten eines längst vergessenen Buches auf. Er krümmte sich unweigerlich, und eine heftige Übelkeit machte ihm zu schaffen. Sein Magen revoltierte. Er spürte, dass es ihm hochkam. Er vernahm gedämpfte Flüche.

Irgendjemand war in seinen Geist eingedrungen. In seine Erinnerungen. Nein, es waren nicht seine Erinnerungen. Es waren Onkel Tarsifs Erinnerungen. Merkwürdig, dass er sie kannte. Er kannte sie, weil... Eine fremde Wesenheit, kein Mensch, machte sich an seinem Geist zu schaffen, sondierte sein Wissen, prüfte Onkel Tarsifs Erinnerungen, las Thorvalds Gedanken.

Und ihm kam die Erkenntnis, dass jemand den Versuch machte, ihn zu bestehlen. 

Thorvald kotzte. Er hörte Geschrei, empfand stechenden Schmerz. Die kalte Hand zog sich verwirrt zurück. Er sank in sich zusammen, atmete Kälte und Tod. Ein Schrillen, dessen Höhe ihn in den Wahnsinn zu treiben drohte, zerfaserte nach und nach in mehrere aufgeregte Stimmen.

Und dann sagte jemand: »Glück gehabt, Ragnor. Wirklich Glück gehabt, dass wir uns nicht in Ihnen geirrt haben.«

Als er wieder zu sich kam, klapperten seine Zähne. Er fror entsetzlich. Sein Blickfeld war verzerrt. Vor ihm drehten sich unendlich langsam schartige, zackige Asteroiden. Sie waren umgeben von der Leere des Raumes. In der Ferne drehten sich phantastisch anmutende Gasnebel, darunter zog seufzend ein Planet mit einem einsamen toten Mond seine Bahn. Er sah weiße Polkappen. Flirrende Atmosphäre. Feueratem. Rotglühender Hitzeschild. Das Brüllen der Naturgewalten. Das Knistern der Deflek-Schirme. Die Oberfläche raste ihm entgegen. Er bemühte sich verzweifelt... bemühte sich verzweifelt... bemühte sich verzweifelt... Die Kinder schliefen. Kleine Wichte. Vier an der Zahl. Drei Jungen. Ein Mädchen. Sein Blick war zwar verschwommen, aber er konnte sie sehen.

Er befand sich in einem Raum, der so aussah wie die Zelle.

Die anderen waren auch da: Castro, Brodie, Haydee.

»Verhör überstanden?«, fragte Castro.

»Oooaaahhh...« Thorvald presste die Zähne aufeinander. Atmete tief ein. Schaute sich um. Das Bild wurde klarer. In seinem Leib schmerzte jeder einzelne Knochen. Seine Zunge war ein Holzklotz. In seinen Oberarmen zuckten die Muskeln. Seine Beine zitterten. Er war so schwach wie ein neugeborenes Kätzchen. »Ich l-l-lebe«, hörte er sich nuscheln. »Und doch w-w-wieder n-nicht...«

Castro klopfte ihm auf die Schulter. Seine Miene zeigte große Betroffenheit. Er wirkte irgendwie verändert. Thorvald sah Tränen in Haydees Augen. Castros Kinn zitterte leicht. Sie schienen irritierende Erfahrungen gemacht zu haben.

»W-w-was ist p-passiert?«

Er erfuhr, dass ihnen das Gleiche widerfahren war. Sie erinnerten sich an bleischwere Arme, an Kälte, das Tasten fremder Sinne in ihrem Kopf, an fragende Stimmen. Und sie hatten merkwürdige, fremde Dinge gesehen: sich träge im All drehendes Gestein, rasende Fahrten durch die Lufthülle fremder Welten, aus Gasnebeln bestehende Meere, feuerspeiende Vulkane, finstere Trutzburgen in karger Landschaft, bis in die Wolken reichende Türme, eigenartige Lebewesen, teils menschlich, teils reptilienhaft, teils nagerartig. Man hatte sie offenbar unter Drogen gesetzt. Doch zu welchem Zweck?

Die Entführer zeigten sich noch immer nicht. Brodie hockte stumm und fröstelnd in einer Ecke, stierte vor sich hin und zuckte wie unter Peitschenhieben zusammen. Er war lange Zeit nicht ansprechbar. Dann fing er an zu reden. Doch seine Worte teilten nichts mit, sondern waren ein Chaos mysteriöser Satzfetzen, die im Nichts anfingen und endeten, als spräche er rückwärts.

Thorvald glaubte ihn einmal Onkel Tarsif sagen zu hören, aber natürlich hatte er sich getäuscht. Es dauerte eine Stunde, bis Brodie einen dumpfen Seufzer ausstieß. Dann klärte sich sein Blick, er fasste sich an den Kopf und fragte, was passiert sei.

Niemand konnte es ihm sagen. Immerhin waren sie wieder beisammen. Ein seltsames Glücksgefühl. Irgendwie hatten sie ein Zusammengehörigkeitsgefühl entwickelt. Geteiltes Leid...

Nachdem sie einander von ihren Erlebnissen berichtet hatten, fand niemand eine Erklärung. Keiner von ihnen war je im All gewesen. Was war der Grund der Visionen?

»Wenn wir je wieder hier rauskommen wollen«, sagte Brodie, »muss jemand Entscheidungen treffen. Wir sollten vielleicht jemanden zu unserem Anführer machen...«

»Dich vielleicht, hm?«, erwiderte Castro süffisant.

Brodie fuhr herum. »Wenn du was dagegen hast«, knurrte er, »dann nur raus damit.«

Doch ehe Castro ihm antworten konnte, zuckte Thorvald zusammen. Der Boden! Der Boden unter seinen Füßen bewegte sich! Er griff zur Wand, aber seine Hände, vor Schreck feucht geworden, rutschten ab.

Castro bemerkte es auch und sprang auf. »Wir sinken«, sagte er und deutete nach oben. »Schaut euch das an!«

Die Decke entfernte sich von ihnen. Bisher war die Zelle etwa zweieinhalb Meter hoch gewesen. Nun trennten sie fünf Meter von der Decke. Thorvald schaute nach oben und sah hinter Castros Rücken die Konturen einer Tür. Nun verstand er. Man hatte sie in eingesperrt und den Fußboden irgendwie nach oben bewegt. Die Zelle war wie eine Liftkabine. Man konnte sie erst verlassen, wenn der Boden sich unter die Tür senkte. So war ein Ausbruch völlig ausgeschlossen.

Erwartungsvoll starrten sie die Tür an. Nichts deutete auf einen Öffnungsmechanismus hin. Sie ging geräuschlos auf, dann fuhr eine Treppe zu ihnen hinunter.

Ein bärbeißig aussehender Mann tauchte im Rahmen auf und maß sie mit einem herrischen Blick. Er hatte breite Schultern. Sein rotblondes Haar wurde von silbernen Spangen in dicke Strähnen zerteilt und fiel bis auf seinen Kragen. Sein Vollbart machte seinen Mund fast unkenntlich. Seine Kleidung war eine farbenfrohe Kombination, in der Weinrot dominierte. Sein stiernackiger Hals ragte aus einem runden Ausschnitt hervor. Die Ärmel seiner Jacke waren mit Fransen verziert, seine Beine steckten in Stiefeln aus schillernder Schlangenhaut.

Thorvald sah einen mit runden Silberplatten verzierten Gurt, an dem die taschenlampenähnliche Waffe baumelte, mit der er schon Bekanntschaft geschlossen hatte. Ein Paralysator.

Hinter ihm, im Türrahmen, standen mehrere andere seiner Art, und die meisten machten einen heruntergekommenen Eindruck. Ihre Kleidung war schlampig, ihr langes Haar, meist blond oder rotblond, hing strähnig herab, leuchtete in bunten Farben. Sie hatten allesamt Galgenvogelgesichter.

Der vollbärtige Fremde polterte die Treppe herab und musterte die Gefangenen. Ein tückisches Lächeln spielte um seine Lippen, als er sich wie ein Eroberer vor ihnen aufbaute und die Arme vor der Brust verschränkte.

»Willkommen auf der Würgerkralle«, sagte er mit einem rollenden Akzent, der seine Herkunft jedoch nicht preisgab. »Ich bin Kapitän Karran.«

Niemand sagte etwas. Thorvald fragte sich, was er erwartet hatte.

»Dann sind wir also wirklich auf einem Schiff«, sagte Brodie.

»Was hat das zu bedeuten?« Castro trat vor. »Haben Sie vielleicht die Güte, uns aufzuklären?«

Karrans Augen wirkten irgendwie belustigt. »Ja, Sie befinden sich auf einem Schiff«, sagte er. »Ich bewundere Ihren Scharfsinn.« Er räusperte sich. »Allerdings ist es ein Fabrikat, von dem Ihre lächerliche Wissenschaft nur träumen kann.« Seine Worte klangen verächtlich.

Drei seiner Leute folgten ihm. Einer von ihnen schien Offizier zu sein, denn seine Kleidung war sauber und seine Mähne gewaschen. Er war schlanker als Karran und hatte die Miene eines Pedanten. Sie behielten die Gefangenen genau im Blick. Ihre Waffen sprachen eine deutliche Sprache, und sie achteten sorgfältig darauf, dass Karran und der andere Offizier nicht in ihre Schusslinie gerieten.

»Wir haben Ihre Gespräche mitgehört«, fuhr Karran fort und wischte sich mit der Hand ein imaginäres Stäubchen von der Schulter. »Ich muss sagen, sie waren recht vergnüglich.« Er musterte Thorvald. »Sie sind der Wahrheit sehr nahegekommen«, sagte er, »als Sie vermutet haben, dass Ihre Väter etwas verbindet.«

»Was?«, sagte Thorvald. Er war verwirrt.

»Ihre Vermutungen über unsere Identität waren freilich reichlich naiv und erdgebunden«, sagte Karran. »Natürlich sind wir weder Erpresser noch Terroristen. Wir sind auch keine Forscher, die Experimente an Ihnen vornehmen.« Er deutete auf seine Begleiter, die mit stoischem Gleichmut ihre Paralysatoren hielten. »Wir stammen nicht mal von der Erde.«

Castro wich bestürzt zurück. Brodie lachte ungläubig. Haydee starrte Karran aus großen Augen an.

»Na, kommen Sie«, sagte Karran. »Sie werden einem technisch und kulturell weit über Ihnen stehenden Volk wie dem unseren doch wohl zutrauen, dass wir zur Erde vorstoßen können, ohne dass Ihre läppischen Ortungsstationen uns wahrnehmen.«

Thorvald holte tief Luft. »Ich bin verrückt genug, Ihnen glauben«, sagte er. »Aber ich wäre Ihnen trotzdem dankbar, wenn Sie es beweisen könnten.«

»Bitte.« Karran drückte einen Knopf an einem Armband, das sich um sein linkes Gelenk spannte. Wie von Zauberhand glitt ein Teil der Zellenwand zur Seite. Grüne, blaue, rote, gelbe und weiße Lichtpunkte in nachtdunkler Schwärze waberten vor ihren Augen. Unendliche Weiten. Nichts kündete von Bewegung. Ferne Sonnen strahlten in unirdischem Glanz. Der Weltraum in seiner ganzen Pracht. Sie befanden sich in einem Raumschiff. »Nun?« Karrans Augen glitzerten.

Thorvald trat an die Wand heran und tastete sie mit den Fingerspitzen ab. Sie war aus einem glasähnlichen Material. Hinter ihr summte es leise.

»Eine Projektion«, sagte Brodie geringschätzig. »Ein überdimensionaler Fernsehschirm. Glauben Sie, dass wir auf so einen miesen Bluff reinfallen?«

Kapitän Karrans Mundwinkel verzogen sich spöttisch. Die Mienen seiner Begleiter zeigten zum ersten Mal so etwas wie Heiterkeit. »Ich würde empfehlen, dass Sie es als Realität anerkennen.« Er deutete mit dem Kopf auf die Treppe. »Sie kommen mit.«

Sie gingen die Treppe hinauf. Man führte sie durch einen röhrenförmigen Korridor in einen Raum mit Spinden und Regalen. Seltsame Kleidungsstücke hingen dort an eisernen Haken. Raumanzüge!

Karrans Begleiter überwachten ihr Umkleiden mit unbewegtem Gesicht. Dann legten sie selbst Raumanzüge an. Der Offizier in Karrans Begleitung aktivierte eine Schaltung. Eine Wand verschwand. Dahinter wurde ein röhrenförmiger Raum sichtbar. An seinem Ende: eine Metalltür.

Karran sagte etwas in einer fremden Sprache. Thorvald spürte, dass die Röhre hinter ihnen wieder abgedichtet wurde. Vor ihnen öffnete sich die Tür. Eine Schleuse?

Eine kalte Hand griff nach seinem Herzen. Das Licht unzähliger Sonnen raste auf ihn zu, umhüllte ihn und zwang ihn, die Augen zu schließen. Der unendliche, tiefe Schlund des interstellaren Weltraums griff nach seinem Geist. Vor ihm breitete sich in allen Richtungen nur endlose Tiefe aus.

Brodie schrie.

 

 

 

Viertes Kapitel

 

Man muss das Beste hoffen,

das Schlimmste kommt von selbst

 

Der Zentralstand der Würgerkralle war ein etwa zehn Meter durchmessender runder Raum. Thorvald sah ein Dutzend abenteuerlich gekleidete Fremdlinge, die vor Bildschirmen saßen und Instrumente bedienten.

Karran führte sie an einen mannshohen Schirm. Er zeigte ein Abbild der Milchstraße. »Wir sind jetzt hier«, sagte er und deutete auf eine Stelle am unteren Rand. »Knapp hinter der Kreisbahn des Pluto. Unser Ziel ist das System Algor. Es ist etwa tausend Lichtjahre von hier entfernt.«

»Wie lange wird die Reise dauern?«, fragte Castro.

»Nicht länger als eine Woche«, erwiderte Kapitän Karran mit sichtlichem Stolz im Blick.

»Das halte ich für ziemlich lange«, sagte Castro.

»Lange?«, schnaubte Kapitän Karran. »Lange? Wie lange brauchen denn Ihre Raumschiffe für eine solche Strecke?«

»Das sind doch höchstens drei Transitionssprünge«, sagte Castro lässig. »Sowas machen wir an einem Tag.«

»Jaaa!«, sagte Karran. »Mit Transitionstriebwerken! Und im Direktflug?«

»Na ja«, sagte Castro kleinlaut. »Ich bin kein Experte. Da brauchen wir sicher etwas länger. Schätzungsweise hundert Jahre.«

Karran brüllte vor Lachen, und Thorvald wich schaudernd einen Schritt zurück. Irgendetwas an diesem Mann erinnerte ihn an einen Psychopathen, den er einst gekannt hatte.

»Würde es Ihnen etwas ausmachen, uns zu sagen, welchem Zweck unsere Entführung dient?«, fragte er.

»Welchem Zweck?« Karran warf wilde Blicke um sich. Dann strich er sich übers Kinn. »Dazu müsste ich Ihnen eine lange Geschichte erzählen. Warten wir damit, bis wir das System verlassen und unsere Reisegeschwindigkeit erreicht haben.«

Er nahm in einem Schalensitz Platz, der sich seinem stämmigen Leib anpasste und gab eine rasche Folge von Kommandos. Die Hände seiner Leute glitten über Tastaturen und Instrumente. Auf den Bildschirmen erschienen Schriftzeichen, die Thorvald nicht deuten konnte. Der auf einer Plattform sitzende Pilot gab unverständliche Meldungen ab. Er trug einen eiförmigen transparenten Helm, aus dem dünne Kabel herausragten. Sie waren mit elektronischen Gerätschaften verbunden. Er brauchte offenbar keine Hände, um Eingaben zu machen.

»Wir haben das System verlassen«, sagte Kapitän Karran nach einer kurzen Weile, und in seinen Augen blitzte es erneut auf. »Im Namen Seiner Majestät: Bereiten Sie sich vor.«

»In wessen Namen?«, fragte Castro.

»Vorbereiten?«, fragte Thorvald. »Auf was?«

Er hatte die Frage kaum ausgesprochen, als ein starker Schmerz ihn aufschreien ließ. Haydee stürzte mit verzerrter Miene zu Boden. Brodie und Castro pressten stöhnend die Hände auf den Bauch. Thorvald verlor den Boden unter den Füßen. Er focht gegen die Ohnmacht an, die Castro schon erfasst hatte. Er sah das bleiche Gesicht Haydees, die sich gurgelnd übergab – und den kalten, irgendwie faszinierten Blick Karrans, der sie mit klinischer Neugier beobachtete und schnarrend Befehle gab, die seine Untergebenen im gleichen Tonfall bestätigten.

Dann war der Schmerz vorbei. Thorvald spuckte. Er kroch zu Karrans Konturensessel und wollte sich daran hochziehen. Ein Blick sagte ihm, dass kein Gefangener mehr bei Bewusstsein war.

»Was... war... das?«

»Der Übergang zur Reisegeschwindigkeit«, erwiderte Karran wie ein Dozent, »ist in der Regel mit leichtem körperlichem Unwohlsein verbunden.« Er beugte sich vor. »Nur unser Volk kann diese Beschleunigung ertragen. Gewöhnlicher Pöbel wird bei der Aktivierung des Xentrox-Antriebs in tausend Stücke zerrissen.«

Castro stöhnte zum Steinerweichen und wälzte sich am Boden. Brodie schnappte nach Luft. Haydee hielt sich ächzend den Kopf. Thorvald war zwar benommen, aber geistig klar genug, um die Bedeutung von Karrans Worten zu verstehen.

»Unser Volk?«

Karran erhob sich aus dem Konturensitz. »Ja. Dass Sie es überlebt haben, war der endgültige Beweis.«

»Der was?« 

»Der Beweis, dass Sie K’inga sind. Sie gehören zu unserem Volk!«

 

Laut Kapitän Karran waren die K’inga das einzige Volk in der bekannten Galaxis, das aufgrund seiner Zellstruktur in der Lage war, Beschleunigungen zu ertragen, die jedes andere umgebracht hätten. »Die unvorstellbaren Entfernungen zwischen den Sonnensystemen haben unsere geniale Wissenschaft schon vor vielen Jahrtausenden den Xentrox-Antrieb ersinnen lassen, damit wir unsere Ziele nicht als Greise erreichen.«

Die Bewohner der meisten Planeten ihres Sektors hatten angeblich längst den Versuch aufgegeben, andere Sonnensysteme zu erreichen und sich den K’inga unterworfen. Dem Geschwafel des Kapitäns entnahm Thorvald weiterhin, dass sein Volk diese einzigartige Erfindung in den Vorteil umgemünzt hatte, ein Transportmonopol aufzubauen. Die Anwesenheit der K’inga in den Niederlassungen technisch unter ihnen stehender Welten hatte natürlich auch große Auswirkungen auf die Politik. Zwar waren sie bei den anderen Völkern nicht beliebt – »Aber welcher Mächtige ist das schon – ha, ha!« – da man sich nicht gern damit abfand, andere Sonnensysteme nicht besuchen zu können, aber niemand wagte es, die Hand gegen sie zu erheben. Sie waren die Herren ihres Sektors.

»Vor ungefähr zwanzig oder einundzwanzig irdischen Jahren«, sagte Kapitän Karran, als er den leicht verwirrten Gefangenen in Begleitung des Ersten Offiziers Hamee in ihrer durchaus akzeptablen neuen Unterkunft gegenübersaß, »erlitt eins unserer Schiffe einen schweren Maschinenschaden. Es kam vom Kurs ab, und die Überlebenden retteten sich auf den Schlackehaufen, den Sie bisher für Ihre Heimat gehalten haben.«

»Die Erde?«, fragte Haydee.

»Ja. Es hat lange gedauert, bis ihr Notruf bei uns ankam. Soweit wir wissen, haben vier unserer Leute die Havarie überlebt. Sie retteten sich in Notkapseln. Ihr Schiff verging in einem Atombrand. Nichts blieb von ihm übrig.«

»Und wieso haben die irdischen Ortungsstationen nichts davon registriert?«, fragte Castro.

Kapitän Karran maß ihn mit einem mitleidigen Blick, als sei er eine Wanze. »Natürlich verfügen wir über gewisse Abschirmungsanlagen, die dergleichen verhindern.«

»Woher wissen Sie, dass die Überlebenden sich auf die Erde gerettet haben?«, fragte Brodie. »Und wieso haben sie dort nicht um Hilfe gebeten?«

»Wir haben ihre Funksignale aufgespürt«, sagte Karran. »Und sie haben nicht um Hilfe gebeten, weil unsere Gesetze es verbieten.«

»Was?!«, sagte Castro. »Ihre Gesetze verbieten es, andere Völker um Hilfe zu bitten?«

»Wir können doch nicht zulassen, dass das Wissen der K’inga in die Hände unterentwickelter Rassen fällt«, schnaubte Karran. »Die Männer waren in alle Winde zerstreut. Da sie keine Papiere hatten, mussten sie illegal auf der Erde leben, bis sie die Sprache beherrschten und sich eine Gelegenheit bot, ihre Existenz zu legalisieren. Sie schlugen sich durch, so gut sie konnten.«

»Was ist aus ihnen geworden?«, fragte Thorvald, der dem alten Schwadroneur kein Wort glaubte.

»Sie haben sich den Verhältnissen angepasst, bei niederen Bevölkerungsschichten Zuflucht gesucht und sich im Lauf der Zeit mit irdischen Frauen verbunden. Es kam erst zu Problemen, als sie Kinder zeugten, von denen sie wussten, dass sie aufgrund ihrer Andersartigkeit irgendwann auffallen mussten. Damit sie keine Gefahr für sie wurden, haben sie sie ausgesetzt.«

»Und ihre Frauen?«, fragte Haydee.

»Ihre Frauen?«, fragte Kapitän Karran verständnislos.

»Ja, ihre Frauen. Hatten sie nicht auch ein Wörtchen dabei mitzureden?«

»Mitzureden?«, sagte Karran. »Frauen?« Er schaute den Ersten Offizier an. »Verstehen Sie das, Hamee?«

Hamee zuckte die Achseln.

Haydee stieß zischend die Luft aus. »Und diese Männer waren unsere Väter?«

»Ja. Zwar bestand auch in den Händen von Zieheltern die Gefahr, dass die Kinder durch ihre Andersartigkeit auffielen, aber so waren wenigstens die Väter nicht aufzuspüren. Wie sich gezeigt hat, sind Ihre körperlichen und geistigen Fähigkeiten jedoch reduziert.«

»Ich kann’s nicht glauben«, hauchte Haydee fassungslos. »Wir sollen keine Menschen sein?«

»Genau besehen«, sagte Karran, »sind Sie Halbmenschen. Sie haben selbst erlebt, dass eine unserer Fähigkeiten noch in Ihnen schlummert: Die Zellstruktur ihrer Väter hat sich vererbt.«

Haydee sah aus, als wolle sie gleich anfangen zu weinen.

»Und was haben Sie mit uns vor?«, fragte Castro. Er stand auf. »Warum haben Sie uns von der Erde fortgeholt? Warum sind Ihnen die Kinder irgendwelcher Raumfahrer so viel wert, dass Sie Unsummen für ihre Rettung ausgeben?«

Karrans Gesicht wurde starr. »Irgendwelcher Raumfahrer?«, fauchte er. »Mäßigen Sie Ihren Ton.« Er funkelte Castro an. »Was aus Ihnen wird, steht zwar noch nicht fest, aber im Reich der Zwölf Monde herrschen andere Gepflogenheiten als auf Ihrem heimatlichen Ameisenhügel.«

Castro erbleichte.

»Aber seine Frage ist berechtigt«, warf Thorvald ein. »Und was Ihren Ton angeht – von Ihren merkwürdigen Methoden ganz zu schweigen –, ist der wohl ziemlich unangemessen für jemanden, der Schiffbrüchige rettet...«

Karran fuhr hoch. Seine Augen blitzten. Hamee, der Erste Offizier, zog den Kopf ein, als rechne er mit Schlägen.

»Ich finde«, fuhr Thorvald fort, »dass Sie einen Ton anschlagen, den man vielleicht Gefangenen, aber doch nicht Gästen zumuten kann.«

Karran stemmte die Arme in die Hüften. Er warf den Kopf in den Nacken, sein Bart sträubte sich.

»Auf der Würgerkralle herrscht der Kapitän«, schnarrte er aufbrausend. »Seine Befehle werden bedingungslos ausgeführt. Und als Kapitän dulde ich keine Fragen nach meinen oder Seiner Majestät Beweggründen. Sie werden noch früh genug erfahren, welche Pläne Seine Majestät mit Ihnen hat. Bis dahin verlange ich absoluten Gehorsam!«

Er nickte Hamee zu und verließ mit stampfenden Schritten die Zimmerflucht. Hamee knallte die Hacken zusammen und folgte ihm eifrig.

 

Nach dem Abgang der beiden brach eine aufgeregte Diskussion los. Die meisten fühlten sich vom arroganten Ton des Kapitäns und dem barbarischen Verhalten ihrer angeblichen Väter abgestoßen. Brodie war die Ausnahme: Seiner Meinung nach konnte an Bord eines Schiffes wie beim Militär nur einer das Sagen haben – der, der die Macht hatte. Der höchste Dienstgrad. Der Kapitän.

»Haben wir es nötig, uns von diesem Arsch anschnauzen zu lassen, der uns nicht mal gefragt hat, ob wir überhaupt gerettet werden wollen?«, sagte Haydee forsch. »Wenn ich ein Mann wäre, würde ihm eins auf die Schnauze hauen!«

Thorvald grinste müde. »Das hilft uns auch nicht weiter. Ich glaube, wir sollten diesem Clown gegenüber den Mund nicht allzu weit aufmachen. Ich werde das Gefühl nicht los, dass er sich für eine sehr wichtige Persönlichkeit hält. Immerhin handelt er ja im höchstpersönlichen Auftrag Seiner Majestät!« 

»Majestät – wenn ich das schon höre«, sagte Castro. »Ich komme mir vor wie in einem schlechten Piraten-Sensi.« Er legte den Kopf schief und beäugte Thorvald von der Seite. »Sag mal, schreibst du nicht solche Sachen?«

»Ich schreib bessere Sachen«, sagte Thorvald.

»Ich frage mich schon seit einiger Zeit, ob ich überhaupt wach bin«, sagte Castro. »Vielleicht hab ich mich in Wirklichkeit an meinem letzten Abend in Juneau vollgedröhnt in meinen Heimsensitor eingestöpselt und träume das alles nur.« Er schaute auf Haydees Busen. »Bist du echt?«

Haydee zog eine Schnute und warf sich in die Brust. »Natürlich bin ich echt.«

»Ich frage mich, wie wir diesen Typen dazu bewegen können, uns zur Erde zurückzubringen.« Brodie setzte eine nachdenkliche Miene auf. Dann schaute er sich listig um. »Vielleicht hilft es, wenn wir ihm seine Waffe abnehmen.«

»Und dann?«, fragte Thorvald.

»Wir nehmen ihn als Geisel. Damit er seinen Leuten befiehlt, umzukehren.«

»Wir sind in einem Raumschiff, Mann«, sagte Castro. »Nicht auf einem Ozeandampfer. Die könnten uns jede Zusage machen, ohne dass wir überprüfen können, wohin sie fahren.«

Sie konnten nur warten, bis Karran sich bequemte, sie über das zu informieren, was sie brennend interessierte: den Grund ihrer Entführung und das, was Seine Majestät mit ihnen vorhatte.