GALAXIS SCIENCE FICTION, Band 37: DIE ZEIT WIRD KOMMEN - DREI VERSIONEN DER ZUKUNFT - Ronald M. Hahn - E-Book

GALAXIS SCIENCE FICTION, Band 37: DIE ZEIT WIRD KOMMEN - DREI VERSIONEN DER ZUKUNFT E-Book

Ronald M. Hahn

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Beschreibung

Die Nacht klirrte vor Kälte. Die Sterne glitzerten an einem Himmel, der so schwarz war wie die Hölle. Der grüne und der rote Mond zogen langsam ihre Bahn. Das schillernde Licht der beiden Satelliten ließ die mit Pelzen und Lederstiefeln bekleideten Gestalten auf den klobigen Festungsmauern wie außerirdische Lebewesen wirken. Und in gewisser Weise waren sie es auch. Vor den aus großen Steinquadern erbauten Mauern und Toren dehnte sich eine endlose Schneelandschaft aus. Wohin Orianas Blick auch reichte, überall fielen dicke weiße Schneeflocken vom Himmel auf das stille Land. Es schneite seit vier Tagen. Niemand konnte absehen, wann es wieder aufhörte. Der Nadelwald, der sich hinter den Festungsmauern ausdehnte, ächzte unter der Last der Schneemassen... DIE ZEIT WIRD KOMMEN von Bestseller-Autor Ronald M. Hahn enthält die Romane PSYCHOTRANSFER, RAUSCHGIFTHÄNDLER DER GALAXIS und IM NETZ DER DIMENSOREN sowie das biographische Essay WIE DIE SCIENCE FICTION MICH VOR EINER VERBRECHERLAUFBAHN bewahrte. DIE ZEIT WIRD KOMMEN erscheint in der Reihe GALAXIS SCIENCE FICTION aus dem Apex-Verlag, in der SF-Pulp-Klassiker als durchgesehene Neuausgaben wiederveröffentlicht werden.

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RONALD M. HAHN

 

 

DIE ZEIT WIRD KOMMEN

- Galaxis Science Fiction, Band 37 -

 

 

 

Drei Romane und ein Essay

 

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

DIE ZEIT WIRD KOMMEN 

PSYCHOTRANSFER 

RAUSCHGIFTHÄNDLER DER GALAXIS 

IM NETZ DER DIMENSOREN 

 

WIE DIE SCIENCE FICTION MICH VOR EINER VERBRECHERLAUFBAHN BEWAHRTE 

 

Das Buch

 

Die Nacht klirrte vor Kälte. Die Sterne glitzerten an einem Himmel, der so schwarz war wie die Hölle. Der grüne und der rote Mond zogen langsam ihre Bahn. Das schillernde Licht der beiden Satelliten ließ die mit Pelzen und Lederstiefeln bekleideten Gestalten auf den klobigen Festungsmauern wie außerirdische Lebewesen wirken.

Und in gewisser Weise waren sie es auch.

Vor den aus großen Steinquadern erbauten Mauern und Toren dehnte sich eine endlose Schneelandschaft aus. Wohin Orianas Blick auch reichte, überall fielen dicke weiße Schneeflocken vom Himmel auf das stille Land. Es schneite seit vier Tagen. Niemand konnte absehen, wann es wieder aufhörte. Der Nadelwald, der sich hinter den Festungsmauern ausdehnte, ächzte unter der Last der Schneemassen...

 

DIE ZEIT WIRD KOMMEN von Bestseller-Autor RONALD M. HAHN enthält die Romane PSYCHOTRANSFER, RAUSCHGIFTHÄNDLER DER GALAXIS und IM NETZ DER DIMENSOREN sowie das biographische Essay WIE DIE SCIENCE FICTION MICH VOR EINER VERBRECHERLAUFBAHN bewahrte. 

DIE ZEIT WIRD KOMMEN erscheint in der Reihe GALAXIS SCIENCE FICTION aus dem Apex-Verlag, in der SF-Pulp-Klassiker als durchgesehene Neuausgaben wiederveröffentlicht werden. 

DIE ZEIT WIRD KOMMEN

 

 

  

 

 

  PSYCHOTRANSFER

 

 

 

1.

 

Die Nacht klirrte vor Kälte. Die Sterne glitzerten an einem Himmel, der so schwarz war wie die Hölle. Der grüne und der rote Mond zogen langsam ihre Bahn. Das schillernde Licht der beiden Satelliten ließ die mit Pelzen und Lederstiefeln bekleideten Gestalten auf den klobigen Festungsmauern wie außerirdische Lebewesen wirken. 

Und in gewisser Weise waren sie es auch. 

Vor den aus großen Steinquadern erbauten Mauern und Toren dehnte sich eine endlose Schneelandschaft aus. Wohin Orianas Blick auch reichte, überall fielen dicke weiße Schneeflocken vom Himmel auf das stille Land. Es schneite seit vier Tagen. Niemand konnte absehen, wann es wieder aufhörte. Der Nadelwald, der sich hinter den Festungsmauern ausdehnte, ächzte unter der Last der Schneemassen. 

Oriana fröstelte auf der Nordmauer. In der rechten Hand hielt sie eine Lanze. Ein schwarzer, ihr bis zur Hüfte reichender Mantel, schlang sich um ihre muskulösen Schultern. Um nicht gänzlich zu erstarren, ging sie einige Schritte auf und ab. Die blonde Mähne, die unter ihrem gehörnten Eisenhelm hervor lugte, flatterte im eisigen Wind. 

Sie stand auf Wacht. Das Wetter war nicht ungewöhnlich. Sie war im Eisland zwischen Schneewölfen, Graubären und Waldkatzen aufgewachsen und konnte sich ihrer Haut erwehren. Auch der mit urwüchsiger Kraft über die Ebene heulende, hohe Schneefontänen aufwirbelnde Nordwind schreckte sie nicht. Das gutturale Klagen der Nahrung suchenden Wölfe und das Knistern von Packeis waren Musik für ihre Ohren. 

»...schwerer als ich dachte...« 

»Na, komm, du bist doch Spezialistin für sowas.« 

Sie atmete die eiskalte Luft ein und machte ihre Runde. Am Nordturm, wo die Festungsmauer einen Knick machte und in die Ostmauer überging, stand Petrik. Er zog seinen Mantel enger um sich und schenkte ihr ein Lächeln. Er war ein Hüne von Gestalt, ein Krieger mit freundlichen Augen und scharf geschnittenen Gesichtszügen. Oriana zitterten die Knie, wie immer, wenn sie mit ihm allein war, denn sie fragte sich, ob die Kraft seiner Lenden der Kraft seiner Arme und der seines Geistes entsprach. 

»Alles ruhig bei dir?«, fragte Petrik. 

Oriana nickte. 

[»Ich bin jetzt in ihr drin.«] 

»Was?«  Sie schaute Petrik an, doch es dauerte eine Sekunde, bis sie begriff, dass er gar nicht gesprochen hatte. 

[»Wäre ich auch gern.«] 

[»Du bist ‘ne Sau, Wiktor.«] 

»Wie?«  Oriana wollte sich umdrehen, um zu sehen, ob jemand hinter ihr stand, aber sie stellte fest, dass es unmöglich war. Petrik war ein Standbild. Die Sterne am Himmel glitzerten nicht mehr. Sie waren nur noch helle Pünktchen aus Licht. Die Schneeflocken hatten aufgehört zu fallen. Sie hingen starr in der Luft, wie aufgehängt. Der Wind wehte nicht mehr. Sein Heulen war ein gleichbleibend schriller Ton. 

[»Wie ist es in ihr, Mascha?«] 

Eine Männerstimme. 

[»Muss mich erst mal orientieren...«] 

Eine Frau. 

Oriana hatte das sichere Empfinden, dass sich ihre Nackenhaare aufrichteten. Körperlose Stimmen. In ihrem Kopf. Schlagartig verspürte sie ein Gefühl der Übelkeit, das sich in ihrem ganzen Leib ausbreitete. Die klirrende Kälte nahm ab. Ihr Inneres erwärmte sich. Sie hatte das eigenartige Gefühl, dass jemand in ihr war; dass sich jemand auf unerklärliche Weise ihres Leibes bediente. 

[»Nun sag schon...«] 

[»Nun mach mal halblang, Wiktor. Ich hab’s gleich, Mann.«] 

Oriana spürte, dass die Muskeln ihres rechten Oberarms heftig und endlos zuckten. Ohne es zu wollen, ohne es zu bemerken, hatten sich ihre Finger geöffnet und die schwere Lanze losgelassen. Sie kippte nach vorn, auf Petrik zu, der noch immer mit offenem Mund dastand und sie anschaute. Wie ein stummes Standbild. Als hätte jemand die Zeit angehalten. 

Knacks. 

Oriana schüttelte innerlich den Kopf und dachte: Ich heiße nicht Oriana. Ich heiße Vivian. Ich bin gar nicht hier. Ich bin in Archangelsk... 

[»Sie hat ‘n Hypnochip, Wiktor.«] 

[»Was?!«] 

Was?!, dachte Oriana. Was habe ich? 

[»Ich zapf ihn mal an...«] 

[»Was für’n Fabrikat?«] 

[»HLP-1138... Warte ‘n Moment... Jetzt!«] 

Ein heftiger Stich. 

[»Und?«] 

[»Oh, verdammte Scheiße...«] 

[»Was ist denn? Was ist denn, Mascha?«] 

[»Sie hat ‘ne falsche Identität.«] 

Oriana zuckte innerlich zusammen. 

[»Erzähl keinen Scheiß...«] 

[»Warte. Ich geh noch mal rein.«] 

Tick. Tick. Tick. 

[»Wie heißt du?«] 

Vivian... Reed. 

Oriana spürte, dass eine Hitzewelle durch ihren Körper raste und sich bis in sämtliche Extremitäten ausbreitete. 

[»Erzähl keinen Scheiß, Dewka. Wie heißt du wirklich?«] 

Vivian... Vivian Reed. 

[»Ihre Abschirmung ist keinen Schuss Pulver wert... Die reinste Pfuscharbeit... Sie heißt... Tanja Uljanowa.« 

[»Frag Sie noch mal.«] 

[»Wie heißt du, Dewka?«] 

Ich heiße Vivian Reed. 

[»Du heißt Tanja Uljanowa. Du wurdest am 16. April 2068 in Archangelsk geboren. Dein Vater heißt Philip Reed. Er ist Kanadier und hatte in den sechziger Jahren geschäftlich hier zu tun. Deine Mutter heißt Anna Uljanowa und stammt aus St. Petersburg. Vor zwei Jahren hast du für Korsakow und seine Hyänen gearbeitet. Du bist ein mieser kleiner Spitzel. Es steht alles genau in deinem Hypnochip.«] 

Ich bin Vivian Reed, dachte Oriana stur. Ich kann jederzeit aus dem Programm aussteigen. Ich brauche nur das Kodewort auszusprechen. Es heißt... Es heißt... 

[»Ich geh erst mal wieder raus.«] 

»Bei mir rührt sich auch nichts«, sagte Petrik. Sein Gesicht verzog sich zu einem Lachen. Er schüttelte seine Mähne und entblößte ebenmäßige Zähne. 

Die Welt war wieder normal. 

Orianas Finger schnellten vor, packten die kippende Lanze und hielten sie fest. Sie schüttelte den Kopf, um den mysteriösen Wachtraum loszuwerden, der sie überfallen hatte. Dann warf sie einen Blick über die nächtliche Landschaft. 

Petrik lächelte plötzlich nicht mehr. Er beugte sich über den Mauerrand, spähte nach etwas aus. »Hast du das auch gehört?« 

Mit einem Satz war Oriana bei ihm. Sie schob sich in die nächste, halb zugeschneite Zinne und lugte in die Finsternis hinein. Sie konnte nichts entdecken. 

»Was ist?«, flüsterte sie aufgeregt. 

Petrik kniff die Augen zusammen. »Da!« Er deutete auf eine hohe Schneeverwehung. Sie lag etwa fünfzig Schritte vom Haupttor entfernt. 

Schatten huschten dort herum. Oriana umklammerte ihre Lanze und lauschte dem Klopfen ihres Herzens. Was hatte das zu bedeuten? Mit zusammengebissenen Zähnen drehte sie sich um und blickte in den Innenhof. Zwei in Mäntel gehüllte Hauptleute standen vor dem geschlossenen Tor und unterhielten sich leise. Auf den Wehrgängen hinter den Zinnen patrouillierten insgesamt sechzehn Angehörige der Nachtwache; auf den Türmen tat jeweils ein Krieger Dienst. 

»Schlagen wir Alarm?« Petrik sprach so leise, dass sie ihn kaum hörte. Der Wind riss ihm die Worte von den Lippen. 

»Warte!« Oriana wandte sich der Treppe zu. Sie eilte schnell die Stufen hinab und eilte über den Hof, auf die Hauptleute zu, die bei ihrem Anblick sofort verstummten. 

»Oriana«, meldete sie sich. »Petrik und ich haben vor dem Tor verdächtige Schatten beobachtet. Ich glaube...« 

Der kleinere Hauptmann musterte sie erschreckt. Der andere, Oluf, fluchte leise und schickte seinen Gefährten ins Innere der Festung. Oriana fragte sich, wie Fürst Afron wohl reagierte, wenn er man aus dem Bett holte, in dem er mit seinen Frauen lag. Oluf, ein drahtiger Mann mit stahlblauen Augen und schulterlangem Haar, rannte zur Treppe und winkte Oriana, sie solle ihm folgen. 

Sie eilte hinterher. Auf der Mauer hatte sich inzwischen ein weiterer Krieger bei Petrik eingefunden: Zabo, der Lanzenwerfer. 

»Wo sind sie?« Oluf warf einen Blick über die Zinnen. Sein Blick flackerte nervös. 

Da! Oriana erkannte nun deutlich drei Gestalten. Sie duckten sich hinter die Schneeverwehung. 

Oluf fuhr zurück. »Wer sind die Kerle?«, fragte er heiser. »Was führen sie im Schilde?« Er schaute Petrik an. Petrik zuckte ratlos die Achseln. 

»Vielleicht eine Vorhut?«, sagte Oriana. 

Oluf schüttelte den Kopf. Seine Haare flogen. »Ein Angriff – bei diesem Wetter? Bei den sieben Höllenhunden! Nicht mal Wiscard der Schreckliche würde es wagen, uns in diesem Schneegestöber anzugreifen!« 

Er schickte Zabo hinunter, um die Bereitschaft zu wecken. Zabo verschwand lautlos in der Nacht. 

Langsam verrann die Zeit. Oriana hatte das Gefühl, dass sich dort draußen etwas Unheimliches anbahnte. Nun spürte sie die beißende Kälte nicht mehr. Ihr Puls schlug heftig und erhitzte ihr Blut. Die Fremden hinter der Schneeverwehung interessierten sie sehr. Sie schob sich in eine Zinne und schaute angestrengt in die Tiefe. 

[»Mascha?«] 

Erneut erstarrten Leben und Welt. Die gewohnten Nachtgeräusche verharrten. Das Universum wurde zu einem Standbild. 

Wer ist Mascha?, wisperte es in Orianas Verstand. Ich kenne keine Mascha. 

Das Schneetreiben nahm wieder zu. Das Leben ging weiter. Genaues war nicht zu erkennen. Oriana schüttelte verwirrt den Kopf. 

Der kleine Hauptmann und ein anderer Offizier kamen auf die Mauer. Im Festungshof versammelten sich viele bewaffnete Krieger. Ihre Mäntel flatterten im Wind, als sie lautlos wie Waldkatzen zu den Zinnen hinauf eilten. Andere postierten sich mit gezückten Schwertern und Lanzen an den Toren. Ein Offizier stand mit dem Schwert in der Hand an der Seilwinde. Alle Befehle wurden im Flüsterton erteilt. Die Offiziere verteilten sich auf der Nordmauer und berieten sich. Es war ihnen verdächtig, dass die Fremden es vorzogen, die Nacht im Freien zu verbringen. Afron, der Herr dieser Region, war zwar als Rüpel bekannt, aber auch sehr gastfreundlich. Er hatte noch keinem Reisenden den Zutritt zu seiner Festung verwehrt. 

Die drei Gestalten rührten sich nicht von der Stelle. Oriana bemühte sich, Einzelheiten zu erkennen, doch der fallende Schnee behinderte ihre Sicht. Die Fremden trugen halbkugelförmige blaue Helme mit durchsichtigen Visieren, hinter denen es nun unentwegt blitzte. 

»Oriana! Petrik! Zabo!« 

Oluf hatte die Namen leise gerufen, aber es kam ihr so vor, als hätte er geschrien. Nun war auch der weiße Mond, der größte von allen, aufgetaucht. Er tauchte die Schneelandschaft um die Festung in bleiches Licht. 

»Geht durch die Ostpforte hinaus. Überwältigt sie. Der Herr will, dass ihr sie in die Festung bringt.« 

Petrik und Zabo legten Lanzen und Mäntel ab. Oriana warf einen Blick auf das Fenster der fürstlichen Schlafkammer und erblickte das Gesicht ihres Herrn, das sich unscharf von der Dunkelheit des Gemachs abhob. Afron nickte ihr zu. Sie fühlte sich geehrt, und so legte sie wortlos den Mantel ab und zückte ihr Schwert. 

Als sie im Innenhof waren, öffnete ein Krieger die Ostpforte. Sie sprangen in den Schnee hinaus. Oriana versank bis an die Knie, stieß eine stumme Verwünschung aus und eilte hinter Zabo und Petrik her, die katzengleich an ihr vorbei huschten. 

Das Heulen einer hungrigen Bestie ertönte. Doch sie hatte keine Angst, auch wenn die Schneewölfe in dieser Jahreszeit besonders gefährlich waren. Da sie jetzt nur wenig Nahrung fanden, trieb der Hunger sie zu den Höfen. Im vergangenen Jahr hatten sie den Ochsenkarren eines Kaufmanns angegriffen. Er hatte hundert Schritte vor der Festung anhalten müssen, denn eins seiner Zugtiere hatte gelahmt. Sie erinnerte sich an ein übles Blutbad, doch die Krieger waren aus der Festung gestürmt und dem Kutscher zu Hilfe geeilt. Acht Schneewölfe und sechs Mann hatten dabei ihr Leben gelassen. 

Zabo blieb stehen und streckte einen Arm aus. Sie näherten sich der Schneeverwehung. Gleich mussten sie hinter den Fremden auftauchen. 

Zabos Klinge deutete auf ein verschneites Nadelgehölz. »Von dort aus können wir sie beobachten.« 

Sie schlichen geduckt weiter, und Oriana fragte sich insgeheim, warum die Fremdlinge so verstohlen taten. Sie erreichten die Bäume, und sie warf einen Blick auf die Festung. Von hier aus gesehen wirkte sie mit den klobigen Türmen und den sich drohend in den Himmel reckenden Zinnen geradezu unheimlich. Auf den Mauern war niemand zu sehen. Die Krieger hatten sich gut versteckt. 

Dann entdeckte sie die Fremden. 

Sie trugen weite weiße Mäntel, und hinter ihren Helmvisieren blitzte es unentwegt in verschiedenen Farben auf. Ein eigenartiger Lichtschein umgab sie. Es waren Männer, alle drei. An der Stelle, an der sich ihr rechtes Ohr befand, ragten dünne gebogene Stangen hervor, die bis an ihren Mund verliefen. Sie hielten längliche Gegenstände in den Händen, aber es waren keine Klingen. 

Einer der Fremdlinge sagte etwas. Die anderen nickten, lugten über den Rand der Schneeverwehung und beobachteten die Festung. 

[»Komm jetzt raus, Mascha... Michail hat sie eindeutig identifiziert.«] 

[»Moment... Ich muss noch...«] 

Oriana zuckte zusammen. 

Da waren sie wieder. Doch diesmal erstarrte die Landschaft nicht. Sie beschloss, die Gelegenheit zu nutzen. Sie biss sich auf die Unterlippe und packte ihr Schwert. 

»Los!« 

Sie sprangen aus ihrem Versteck hervor und flogen wie lautlose Schatten auf die hockenden Fremdlinge zu. Der heulende Wind verschluckte das Knirschen ihrer Schritte. So waren sie nur noch sechs Meter entfernt, als sie entdeckt wurden. 

»Ai!« Orianas Schwert zuckte hoch. 

Zwei der Fremdlinge setzten eine überraschte Miene auf. Der dritte brach in lautes Gelächter aus. Dann erhoben sich alle drei lautlos in die Luft. 

»Bei den sieben Höllenhunden!« 

Oriana, Petrik und Zabo blieben stehen, starrten zum Himmel auf und ließen fassungslos die Waffen sinken. Orianas Haar schien sich vor Grauen zu sträuben. 

»Narrt mich ein Spuk?«, krächzte Petrik entsetzt. »Seht ihr es auch? Sie fliegen!« 

Die Fremdlinge hatten inzwischen eine Höhe von dreißig Ellen erreicht und schwebten lautlos auf die Nordmauer zu. Oriana stieß einen Warnschrei aus. Sofort waren die Köpfe der Krieger und Offiziere zwischen den Zinnen zu sehen. Auch Oluf schrie. Sekunden später flogen die ersten Lanzen über den Mauerrand auf die Fremdlinge zu. Die Bogenschützen beugten sich über die Nordturmzinnen und schossen eine Salve ab. Oriana verfolgte die Flugbahn der Pfeile ganz genau. Nur wenige verfehlten die Fremden, doch statt sie zu durchbohren, prallten sie ab und klatschten in den Schnee. Es war, als seien sie einen Schritt vor den Schwebenden gegen eine unsichtbare Wand gestoßen. 

Oluf brüllte Angriffsbefehle und schleuderte den lautlosen Gestalten eine Lanze entgegen. Viele Krieger waren vor Angst wie gelähmt. Der Hornist schritt zur Aktion. Ein hoher Ton hallte durch die Festung. 

»Sie fliegen!« 

Hohnlachen erschallte über der Mauer. Der erste Fremde stand nun auf einer Zinne. Er sprang auf den Wehrgang und schritt auf Oluf und die Bogenschützen zu. Ein Schrei wurde laut. Ein vor Angst zurückweichender Krieger verlor das Gleichgewicht und schlug im Innenhof auf. Oluf stierte den Fremden aus großen Augen an und tastete nach seinem Schwert. Als er es endlich in der Hand hielt, sprang er dem Eindringling mit dem Mut der Verzweiflung entgegen. Die Klinge zischte durch die Luft, doch der Hieb prallte wirkungslos ab. 

Die Krieger ergriffen die Flucht. Sie eilten in Panik die schmalen Treppen hinab und stoben auseinander. Nun landeten auch die beiden anderen Fremden auf der Mauer. Drei Schwertkämpfer sprangen vom Nordturm auf den Laufgang hinab und hieben mit gewaltigen Schlägen auf sie ein. Der erste wurde von einem lachenden Fremdling beiseite gestoßen und fiel über die Brüstung. Die anderen flohen. 

Die Festung war inzwischen vollends erwacht. Viele Krieger und Weiber drängten sich im Innenhof und starrten auf das sich ihnen bietende Bild. Als die Fremden die Treppe hinab stiegen, rannten die Weiber in ihre Kammern zurück. Gleichzeitig öffnete sich die Ostpforte, und Oriana, Petrik und Zabo sprangen nach Luft ringend über die Schwelle. 

[»Wie lange dauert es denn noch?«] 

[»Geh mir nicht auf den Senkel, Wiktor!«] 

Und die Welt blieb erneut stehen. Doch nur fünf Atemzüge lang. Dann holte Zabo aus und schleuderte sein Schwert mit aller Kraft gegen den ersten Fremdling, der den Boden des Hofes betrat. Es flog mit mörderischer Kraft auf ihn zu, prallte einen Schritt vor ihm in einem weißblauen Aufblitzen ab und fiel wie ein Stein in den festgetretenen Schnee. Die Menge sprang schreiend auseinander, als der Fremdling den länglichen Gegenstand in seiner rechten Hand hob und auf Zabo richtete. 

Ein weißer Strahl blitzte auf, schoss auf Zabo zu und riss ihn in so viele Fetzen, dass nichts mehr von ihm übrig blieb. Petrik fuhr herum, lehnte sich an die Mauer und übergab sich. Oriana stand mit funkelnden Augen da und ballte die Fäuste. 

Nun trat Afron in den Hof. Er trug ein langes Pelzgewand. Das zottelige Haar reichte ihm bis auf den mit Edelsteinen verzierten Ledergurt. »Wer seid ihr?«, brüllte er zornrot. »Und was ist euer Begehr?« 

Gelächter antwortete ihm. »Spiel dich nicht auf, kleiner Barbarenhäuptling!«, kam die Antwort. »Du kannst deine Dreck fressenden Untertanen auch weiterhin ausplündern. An kleinen Fischen sind wir nicht interessiert!« 

Afron bebte. Ihn einen Barbarenhäuptling zu nennen, wo er doch im ganzen Land als Freund der Künste und Kultur bekannt war! Zornesadern schwollen auf seiner Stirn an. Er trat einige Schritte vor. Die Fremden standen nun zu dritt am Fuß der Treppe. Die Krieger, die ihnen am nächsten waren, wichen zurück. Sie hielten zwar Schwerter in den Händen, aber sie wussten offenbar nicht, was sie damit anfangen sollten. 

»Barbarenhäuptling?!«, schrie Afron. »Wer wagt es...?!« 

Die Fremdlinge lachten erneut. »Wir! Wir sind Vertreter einer höheren Macht! Und da wir dir an Kraft und Intelligenz überlegen sind, bestimmen wir, was du bist! Aber keine Angst, wir tun dir nichts. Wir wollen nur eine Auskunft!« 

Afron trat einen weiteren Schritt vor. Oriana verfolgte gebannt, was nun passierte. Als ihr Herr noch einen Schritt vom ersten Fremdling entfernt war, traf ihn ein heftiger Stoß. Er flog zurück und landete mit dem Hinterteil auf dem Boden. 

»Sachte, sachte«, sagte der Fremdling erheitert. »Ich habe vergessen, dich vor meinem Schutzschirm zu warnen, o Herr über ein Dutzend Dörfer. Komm mir nicht zu nahe!« 

Afron stand fluchend auf und rieb seinen schmerzenden Hintern. Sein Blick suchte die Offiziere, die sich zwischen die Krieger gemischt hatten und ihn ängstlich musterten. 

»Wir suchen jemanden, der in deiner Festung lebt!«, sagte der Anführer der Fremden mit lauter Stimme. 

Afron schaute ihn irritiert an. »Ihr sucht jemanden? In meiner Festung? Einen meiner Leute? Was wollt ihr von ihm?« 

»Das geht dich einen feuchten Dreck an, werter Fürst«, erwiderte ein anderer Fremdling und musterte die Menge mit prüfendem Blick. »Es handelt sich um jemanden, der dem Herrn unseres Reiches unsägliche Schmach bereitet hat. Sie lebt seit etwa fünf Sonnenumläufen in deiner schäbigen Behausung und steht in deinem Sold.« 

»Sie?«,  rief Afron. »Bei den sieben Höllenhunden! Meint ihr etwa Oriana?«  

Oriana empfand plötzlich eisige Kälte. Sie war als  Einzige nicht in Afrons Reich zur Welt gekommen. Aber sie kannte außer Afron keinen Herrscher, und schon gar nicht den eines Reiches, dessen Untertanen fliegen und mit Blitzen töten konnten. Es konnte alles nur ein Irrtum sein. Aber konnte sie sich Afron widersetzen? In seinem Reich galt nicht nur unter Feiglingen die Maxime »Das Hemd ist mir näher als das Wams«. Ein Fürst, der von Lebewesen bedroht wurde, die zum Töten nur die Hand zu heben brauchten, war gut beraten, wenn er mit den Schneewölfen heulte. 

»Oriana nennt sie sich?«,  rief der Fremdling. »Bringt sie her, sonst seid ihr des Todes!« 

Alle wandten sich um. Aber Oriana war verschwunden. 

 

 

2.

 

»Miss Reed?« 

Vivian öffnete die Augen. Ein leichtes Schwindelgefühl erfasste sie, als sie sich abrupt aufrecht hinsetzte und ihr einfiel, wo sie sich befand. 

Stepan Lewitin, der Betreiber des Sensitorstudios, musterte sie lächelnd. »Das war die erste Folge. In der zweiten können Sie herausfinden, welches Geheimnis Oriana umgibt und welche Schmach sie einem galaktischen Herrscher bereitet hat.« Er zuckte verlegen die Achseln, als käme ihm das Scheinweltenspiel selbst ein wenig kindisch vor. 

»Ich glaube nicht, dass ich es herausfinden will.« 

Vivian schüttelte den Kopf, um ihren Geist zu klären. Sie gehörte eigentlich nicht zu den phantasielosen Typen, die sich gern von professionellen Fantasten in andere Welten versetzen ließen. Sie erlebte Abenteuer lieber selbst. Das war spannender. »Das war ja rechter Edelkitsch.« Zudem hatte das Gerät wohl eine Macke, denn sie erinnerte sich vage daran, Stimmen gehört zu haben, die nicht zu dem Erlebten passten. Womöglich hatte sich ihr »Abenteuer« mit dem eines anderen Kunden überlappt. 

»Das Spiel heißt ‘Götterdämmerung’«, sagte Lewitin. Er seufzte. »Da Sie ja wohl nicht mehr zurückkehren, um den Rest zu erleben, kann ich Ihnen auch sagen, um was es geht: Oriana ist die Tochter eines Sternenkönigs, die ihre Erinnerung verloren hat...« 

»Wie spannend«, sagte Vivian und lachte so, dass Lewitin merkte, dass sie sich nicht für derlei Unsinn interessierte. Ihr hatte noch nie der Sinn nach Sternenkönigen und kosmischen Barbaren gestanden. Dazu war die irdische Realität und speziell die der Unabhängigen Republik Nordrussland viel zu interessant. Außerdem war sie überhaupt nur in dieses Sensitorstudio geraten, weil Stepan Iwanowitsch Lewitin mit Katharina befreundet gewesen war und sie die stille Hoffnung gehegt hatte, über ihn an sie heranzukommen. Doch auch dies war ein Trugschluss gewesen: Katharina studierte seit einem guten Jahr in Paris, ihre Affäre mit Stepan Iwanowitsch war längst beendet, und er hatte keinen Kontakt mehr zu ihr. 

»Meine Kunden sind jedenfalls verrückt danach«, sagte Lewitin achselzuckend. 

»Ich nicht, auch wenn das neue Medium vielleicht seine Reize hat.« 

Vivian rieb sich die Augen und gähnte. Sie fühlte sich merkwürdigerweise wie zerschlagen, deswegen rührte sie sich auch nicht, als Lewitin die Stirnkontakte löste, die sie mit dem Sensitor verbanden. »Götterdämmerung hin oder her – ich hab wohl keine Ader für sowas. Aber immerhin kann man damit prima die Zeit totschlagen.« 

Lewitin nickte. Er war ein gut aussehender Mann von etwa dreißig Jahren, mit dunklem Haar und wachen grauen Augen. »Man muss sich wohl eine kindliche Einstellung bewahrt haben, um sowas zu genießen«, sagte er. Er schaltete den leise summenden Sensitor aus und schaute auf seinen Chrono. »Sie sind für heute die Letzte. Eigentlich ist schon seit einer halben Stunde Feierabend.« 

Vivian lächelte ihn an. »Danke Stepan Iwanowitsch, dass Sie sich die Zeit für mich genommen haben... Auch wenn Sie mir bei meiner Suche nicht helfen konnten.« 

»Für hübsche Frauen tu ich viel, Madame.« 

Vivian seufzte erneut. Lewitin war zwar ein attraktiver Mann, aber im Moment stand ihr nicht der Sinn nach einem Flirt. Sie war nach Archangelsk gekommen, um ihre Halbschwester Katharina zu suchen. Sie hatte sich vor vier Wochen bei der kanadischen O’Dell Corporation um eine Stelle beworben, doch bisher noch keine Antwort erhalten. Keith O’Dell, den sie aus DeGorm City kannte, war nämlich der Meinung gewesen, eine Frau wie sie fehle ihm noch an Bord seines in Konstruktion befindlichen, noch namenlosen Raumschiffes. Aber sein Vater, den Freunde »den grauen Riesen« und weniger wohlmeinende Menschen »den alten Eisenfresser« nannten, war nun mal Herr über 300 000 Angestellte und Arbeitsroboter. Und von einem Mann wie ihm konnte man wohl nicht verlangen, dass er die Bewerbungen aller Leute persönlich bearbeitete, mit denen sein Sohn befreundet war. Vermutlich hatte er ihre Unterlagen irgendeinem Bürokratenunterknecht gegeben. 

»Gehen wir noch einen trinken?«  

»Wie?« Vivians Kopf ruckte hoch. 

»Dann können Sie mir bei einem Wodka erzählen, was Sie bedrückt.« 

»Wer sagt denn, dass mich was bedrückt?« Vivian zog die Nase kraus. 

Lewitin lachte. »Meine Nase ist telepathisch begabt.« Er reichte ihr die Hand, und sie sprang von der weichen Pritsche, auf der sie die letzte Stunde verbracht hatte. 

»Na schön«, sagte Vivian, obwohl sie eigentlich gar nicht wusste, warum. 

»Ich sag nur eben meiner... Mitarbeiterin Bescheid.« Lewitin drehte sich um und schrie »Mascha!« 

Mascha? 

Die Tür der Sensitorkabine ging auf. Eine mittelblonde Frau, die ungefähr in seinem Alter war, trat ein. Ihr Haar war millimeterkurz geschnitten, und sie hatte intelligente, grün schillernde Augen und einen kleinen Busen. Sie war stark geschminkt und erinnerte Vivian an eine deutsche Apothekerin. 

»Stepan Iwanowitsch?« Sie musterte die Kundin aus dem warmen Westen nur kurz, aber ihr Blick schien zu besagen, dass sie sie schon lange kannte. 

Lewitin deutete auf Vivian. »Ich gehe mit Miss Reed ins Café Lux. Für den Fall, dass Wiktor sich noch meldet...« 

Wiktor?, dachte Vivian. 

»Ist recht, Stepan Iwanowitsch.« Mascha lächelte ihren Chef und Vivian an, dann ging sie lautlos hinaus und ihren Geschäften nach. 

Als Vivian sich in ihren Mantel hüllte und den dicken Pelzkragen hochschlug, empfand sie ein leichtes Schwindelgefühl, doch es verging, sobald sie das kleine Studio an Lewitins Seite verlassen hatte und ins Freie trat. Die Kälte in Archangelsk kam ihr noch schlimmer vor als die in Fürst Afrons Festung. Sie schätzte die Temperatur auf 30 Grad unter Null. Man konnte kaum Luft holen. Nur wenige Gleiter waren am Himmel zu sehen, denn die Unabhängige Republik Nordrussland gehörte trotz der kürzlich gemachten Goldfunde noch nicht zu den reichen Nationen der Erde. Die alten Autos auf der Straße knarzten, ächzten und schnauften vor sich hin, und wer anhalten musste, um irgendetwas einzukaufen, tat gut daran, den Motor laufen zu lassen, damit er nicht einfror. 

»Sie sind Amerikanerin?«, fragte Lewitin, als sie im warmen Café Lux an einem Ecktisch saßen. Vivian hatte einen Grog bestellt. Ihr Gegenüber mochte es lieber traditionell: Er saß vor einem Wasserglas mit Wodka. 

»Kanadierin, aber... in Archangelsk geboren.« 

»Ich habe mich schon gefragt, wieso sie unseren Dialekt so perfekt beherrschen.« 

»Perfekt? Sie schmeicheln mir. Mit der hiesigen Grammatik habe ich schon als Kind gekämpft.« 

»Nein, wirklich.« Lewitin steckte sich eine deutsche Filterzigarette an. »Sie haben doch nichts dagegen, dass ich rauche?«  

»Nur, wenn sie mir keine abgeben.« 

Er lachte und gab ihr eine. Sie pafften zu zweit graue Kringel in die Luft. 

»Was machen Sie so?«, fragte Lewitin interessiert. »Sind Sie Mannequin oder sowas? Beim Fernsehen?«  

Vivian hätte sich fast verschluckt. 

»Um Himmels willen.« 

»Aber Sie haben bei Ihrem Aussehen doch bestimmt irgendwas mit dem Showgeschäft zu tun?«  

Vivian schüttelte den Kopf. »Ich fühle mich geschmeichelt, Stepan Iwanowitsch. Aber eigentlich bin ich gar nichts. Ich habe Amerikanistik, Germanistik, Soziologie, Physik, Psychologie und Politik studiert...« 

Lewitins Augen wurden groß. 

»...aber nichts beendet.« Vivian seufzte. »Aber um mich nicht zu Tode zu langweilen, habe mich vor kurzem bei der O’Dell Corporation beworben.« 

»Bei den Raumschiffbauern?«  

Vivian nickte. »Ich kenne den Junior. Ist ein netter Kerl.« Ihr Blick verschleierte sich kurz, als sie an Keith und ihre Feten in DeGorm City dachte. Keith mochte sie, und manchmal hatte sie sogar geglaubt, er sei heimlich in sie verknallt. Leider legte Mr. O’Dell junior jedoch großen Wert auf feste Bindungen, und damit konnte und wollte sie ihm im Moment nicht dienen. Wenn sie überhaupt ein Problem hatte, dann dies: Sie wollte sich nicht festlegen. Dafür war sie mit ihren zwanzig Lebensjahren noch zu jung. 

»Und was treibt Sie sonst so in den hohen Norden? Sind Sie etwa wegen der legendären Heilquellen hier?« 

Vivian musste lachen. »Nein, nein. Es war nur der Wunsch, endlich meine Schwester kennen zu lernen... Herauszukriegen, wer sie ist...« Sie erzählte ihm das Wenige, dass sie von ihrer Mutter über Katharina wusste. Von ihrem spurlosen Verschwinden aus Archangelsk und ihrer Furcht, sie könne auf die schiefe Bahn geraten sein, sagte sie nichts; es war ihr zu persönlich. Sie verlor auch kein Wort darüber, dass sie es zumindest für zweifelhaft hielt, wie dieser Staat regiert wurde. Nordrussland verfügte zwar über ein Parlament und mehrere Parteien, die sich nach außen hin um die Macht rauften, doch es befand sich seit der Revolte und der Unabhängigkeit von 2030 in den Fängen der Mafia. Die Moskauer Politiker hatten den einstigen Distrikt schon Jahrzehnte zuvor vergessen und abgeschrieben. Seit den Goldfunden auf der Halbinsel Kola ging es zwar wirtschaftlich bergauf, aber dort oben herrschten schlimmere Zustände als 1898 am Klondike. Offenbar behagte es der Mafia – einst angetreten, um »alles für das Volk zu tun« – nicht, dass sich das Volk am Gold bediente. Vivian waren Gerüchte zu Ohren gekommen, dass hier ein geheimer Krieg geführt wurde, um es zu dezimieren. Die Zeiten waren kalt und gefährlich. Wer es sich leisten konnte, ließ sich beschützen oder trug eine Waffe. Wer es sich nicht leisten konnte, führte ein jämmerliches Leben. 

»Zugegeben«, sagte Lewitin leise, als wolle er nicht, dass ihn jemand hörte, »die Lage ist seit 2030 nicht sehr viel besser geworden. Aber wer sich an die Gegebenheiten anzupassen weiß...« 

»Hallo, Stepan.« 

»Hallo, Wiktor.« 

Vivian schaute auf. Wiktor? 

Ein hagerer Mann mit einem langen Mantel, leicht geschlitzten Augen und völlig haarlosem Schädel war an ihren Tisch getreten. Seine Kleidung verriet, dass er entweder gut verdiente oder aus wohlhabendem Hause stammte. In seinen dunkelbraunen Augen blitzte etwas auf, das Vivian nicht genau klassifizieren konnte. Intelligenz oder Gerissenheit? Sie konnte es nicht sagen, aber wahrscheinlicher erschien ihr Letzteres. 

»Darf ich vorstellen?«, Lewitin deutete auf Vivian. »Miss Reed aus Kanada. – Mein Freund Wiktor Boronin.« 

»Freut mich«, sagte Vivian, obwohl sie nicht genau wusste, ob es sie wirklich freute. 

»Angenehm«, sagte Wiktor. Er nickte ihr zu. 

Eindeutig Gerissenheit, entschied Vivian und nahm sich vor, auf der Hut zu sein. 

»Ich muss dir leider mitteilen, dass das Ergebnis unserer Nachforschungen positiv ausgefallen ist«, sagte Wiktor und nahm an ihrem Tisch Platz, als sei er dazu eingeladen worden. 

Lewitin nickte stumm. Er wirkte plötzlich irgendwie besorgt, und Vivian fragte sich, um was es überhaupt ging. Als sie den Kopf hob, um den Glatzkopf anzusehen, fiel ihr Blick auf den Eingang. Die Tür öffnete sich und ließ Mascha und einen blonden jungen Mann ein, die sich nach einem kurzen suchenden Blick in ihre Richtung in Bewegung setzten. Die beiden wirkten bedrohlich, als hätten sie es auf jemanden abgesehen. Als Vivian ihre steinernen Mienen betrachtete, schlich sich plötzlich eisige Kälte in ihr Herz. Mascha? Wiktor? Die Stimmen. Sie kannte ihre Stimmen. Sie wollte etwas sagen, aber in diesem Moment wurde sie von einem heftigen Schwindel erfasst, und alles, was sie umgab, war doppelt und dreifach zu sehen. 

»Es wirkt schon«, sagte Lewitin zu Wiktor. Als Vivian von ihrem Stuhl zu kippen drohte, waren Mascha und der blonde junge Mann schon da und fingen sie auf. 

»Der Grog ist meiner Freundin wohl nicht bekommen«, hörte sie Stepan Lewitin zu einem Kellner sagen. »Ich glaube, wir bringen sie lieber nach Hause, Freunde.« 

 

»Du heißt?«,  

»Vivian Reed.« 

»Hattest du je einen anderen Namen?« 

»Ja.« 

»Wie hat er gelautet?«  

»Tanja Uljanowa.« 

»Wann bist du geboren?«  

»Am 16. April 2060.« 

»Wo?« 

»In Archangelsk.« 

»Beruf?« 

»Ohne.« 

»Wer finanziert dein Leben?«  

»Mein Vater.« 

»Wie heißt er?«  

»Philip Reed.« 

»Wo lebt er?« 

»In Toronto, Kanada.« 

»Hattest du je eine bezahlte Stellung inne?« 

»Ja.« 

»Wann und bei wem?« 

»Von Januar 2078 bis Dezember 2078. In Archangelsk. Bei der Nordrussischen Abwehr.« 

»Wer war dein Vorgesetzter?« 

»Major Nikolai Korsakow.« 

»Was hast du für ihn getan?« 

»Ich habe für ihn ermittelt.« 

»Du warst Geheimdienstspitzel?« 

»Ich war Informantin.« 

»Warum hast du diese Tätigkeit aufgegeben?« 

»Sie hat mir nicht behagt.« 

»Konkreter.« 

»Es hat mir nicht behagt, mich ständig verstellen zu müssen.« 

»In Gegenwart der Menschen, über deren Leben du Ermittlungen angestellt hast?« 

»Ja.« 

»Wieso hat man dich aussteigen lassen?«,  

»Ich habe gekündigt und das Land verlassen.« 

»Legal?« 

»Ja.« 

»Wohin bist du gegangen?«,  

»Nach Mega-Berlin. Dann nach DeGorm City, Mexiko.« 

»Hast du Kontakt zu Korsakow?« 

»Nein.« 

»Aus welchem Grund bist du in Archangelsk?« 

»Ich suche meine Schwester.« 

»Wie heißt deine Schwester mit vollem Namen?« 

»Katharina... Korsakow.« 

Schweigen. Lange Zeit. Dann: 

»Wann hast du Katharina zum letzten Mal gesehen?« 

»Ich habe sie noch nie gesehen.« 

»Du hast sie noch nie gesehen? Wieso?« 

»Ich kenne sie nur von einem Foto. Sie ist sieben Jahre älter als ich. Sie ist bei den Eltern ihres Vaters aufgewachsen.« 

»Hast du sie in Archangelsk getroffen?« 

»Nein.« 

»Warum nicht?« 

»Ich konnte sie nicht finden.« 

»Hat sie Spuren hinterlassen?« 

»Nein. Ich war bei ihrer letzten Adresse und habe ihre Nachbarn befragt.« 

»Welche Auskunft haben sie dir gegeben?«  

»Sie haben Katharina vor einem Jahr zum letzten Mal in Begleitung eines Freundes gesehen.« 

»Wie heißt dieser Freund?«  

»Stepan Iwanowitsch Lewitin.« 

»Gut. Wach jetzt auf.« 

 

 

3.

 

Vivian schlug die Augen auf, und als sie Maschas Gesicht sah, wusste sie plötzlich wieder viel von dem, was sie zuvor vergessen hatte. Sie erinnerte sich an ihre Tätigkeit für Korsakow. Sie erinnerte sich daran, dass seine Leute ihr vor ihrem Ausscheiden aus dem Dienst einen Hypnochip implantiert hatten, damit sie alle Fälle vergaß, mit denen sie beschäftigt gewesen war. Sie wusste auch, warum Korsakow sie hatte gehen lassen: Irgendeine ihm nicht geheure oppositionelle Gruppierung hatte sie als seine Agentin entlarvt und auf die Abschussliste gesetzt. Und da er ihrer Mutter einst freundschaftlich verbunden gewesen war, hatte er in den sauren Apfel gebissen und ihr die Freiheit zugestanden. Sie wusste aber längst nicht alles, was sie damals für ihn und die NRA getan hatte. In ihrem Kopf schwirrten Namen, Gesichter und Akten umher. 

Ihr Kopf war merkwürdig leicht, als hätte sie lange geschlafen. Helles Licht fiel durch die Fenster. Sie befand sich in einer luxuriös eingerichteten Wohnung und lag bekleidet auf einem frisch bezogenen Bett. So, wie das Licht durch hereinfiel, schien es kurz nach Mittag zu sein. Draußen rauschte der Straßenverkehr. 

Sie erinnerte sich auch an die Fragen, die man ihr gestellt und die sie beantwortet hatte. Sie fragte sich, wie es möglich war, ihr Fragen zu stellen, während sie schlief. Dann sah sie die Spritze auf der Nachtkonsole, und die Phiole, die daneben lag. Borsalthin. Die Wahrheitsdroge. Auch Korsakows Leute arbeiteten mit diesem Zeug, und wenn sie sich nicht irrte, war es sogar in den NRA-Labors entwickelt worden. 

Wiktor tauchte hinter Mascha auf. Er richtete eine Nagant mit Laserzieleinrichtung auf Vivians Kopf und sagte mit einem Seitenblick auf Mascha: »Soll ich sie ausblasen?«  

Vivians Herz schlug rasend schnell, doch sie bewegte sich nicht. Der Glatzkopf wirkte hochgradig nervös; sie wollte seinen empfindlichen Zeigefinger nicht provozieren. 

Was geht hier vor, verdammt noch mal? Wer sind diese Leute? Arbeiten sie für Korsakow? 

Mascha maß ihn kurz mit ihren grün schillernden Augen, dann warf sie einen Blick aus dem Fenster. »Red keinen Scheiß.« 

Vivian atmete unmerklich auf. 

Wiktor senkte den Lauf der Nagant jedoch um keinen Millimeter. 

»Du hast also für Korsakow gearbeitet, ja?«, fragte Mascha. Sie zog einen pelzbezogenen Hocker heran, nahm Platz und schlug die Beine übereinander Sie waren lang und wohlgeformt. »Einfach so?«  

»Ich war noch ein Kind«, sagte Vivian. »Und Korsakows Chef hatte etwas Peinliches aus der Vergangenheit meiner Mutter ausgegraben. Man hätte sie einbuchten können.« Sie hoffte, dass man ihr wenigstens das glaubte, auch wenn sie nicht wusste, wieso all dies für jemanden von Wichtigkeit sein konnte. Was wollten diese Leute von ihr? 

»Ein Kind, was?«, fauchte Wiktor. Seine Augen funkelten. Vivian sah ihm an, dass er sie am liebsten erwürgt hätte. Aber er traute sich wohl nicht, Entscheidungen zu fällen, die Mascha nicht billigte. Sie hatte offenbar mehr zu sagen als er. Vielleicht warteten sie aber auch nur darauf, dass Stepan Lewitin kam. Vivian fragte sich, ob er dafür plädieren würde, sie umzulegen, und wenn ja, aus welchem Grund. Was hatte sie getan? Was hatte sie diesen Leuten getan? Sie kannte weder Stepan Iwanowitsch, noch Mascha und Wiktor. Stepan hatte eigentlich einen sympathischen Eindruck auf sie gemacht. Vielleicht dachte er anders als Wiktor. 

»Du dreckige Blatj!«, fauchte Wiktor ungehalten. »Du dreckiger Spitzel! Du hast Michail mit deiner hübschen Larve betört und für ein Jahr in den Knast gebracht! Er hat dich im Lux wieder erkannt. Wenn er jetzt hier wäre, würde er dich vermutlich in Stücke reißen.« 

Vivian kannte keinen Michail; vermutlich war er der blonde junge Mann, mit dem Mascha ins Lux gekommen war. Sie wusste nicht, was sie ihm angetan haben sollte. Dafür sorgte der Hypnochip. Dienstgeheimnisse. Sie hatte nur vagen Zugriff auf ihre Erinnerungen. Ah, die Vergangenheit! Die verfluchte Vergangenheit! Was war, wenn diese Leute Recht hatten? Wenn sie wirklich ein verachtenswerter Spitzel gewesen war und irgendwelche oppositionellen Kräfte ans Messer geliefert hatte? Sie schüttelte sich. 

»Was wissen Korsakow und seine Bluthunde über uns?«, fragte Mascha. Sie beugte sich vor und packte Vivians rechtes Ohrläppchen. »Was wissen sie genau?«  

»Ich weiß nicht... Ich weiß nicht mal, wer ihr seid. Meine Erinnerungen sind manipuliert worden...« 

»Glaub ihr kein Wort, Mascha«, knurrte Wiktor. »Die ist nicht ausgestiegen. Die haben sie nur für ein paar Jahre ins Ausland geschickt. Die wissen alles über uns. Die ist nicht zufällig bei Stepan aufgekreuzt. Die verdammte Fotze steckt noch immer mit Korsakow unter einer...« 

»Halt die Schnauze!« Mascha fuhr herum. »Als sie für Korsakow gearbeitet hat, war sie kaum achtzehn Jahre alt. Du weißt doch, wie einfach man junge Leute manipulieren kann.« 

»Aber was ich sage, ist nicht von der Hand zu weisen.« 

»Na schön.« 

»Wir müssen wissen, ob Korsakow unsere Ziele kennt.« 

Mascha zuckte die Achseln, dann kam ihr Gesicht gefährlich nahe an Vivian heran. Vivians Ohrläppchen tat weh. Mascha verdrehte es äußerst gekonnt. 

Was hätte sie sagen sollen? Sie wusste nicht das Geringste. In ihrem Kopf waren nur verschwommene Bilder von namenlosen Gesichtern, Schwarzweißfotos in Computerdateien und lange Textblöcke, die Auskunft über die Gewohnheiten und Vorlieben jener gaben, die Batjuschkas System mit Vorbedacht Knüppel zwischen die Beine warfen. Vivian wusste, dass nach Batjuschkas Machtergreifung viele Menschen zuerst in die Opposition gegangen waren und dann das Land verlassen hatten. Sie hatte alle Namen vergessen. Der Hypnochip hatte alles aus ihrem Kopf radiert. Aber konnte sie es sagen? Man würde ihr ohnehin nicht glauben. Sie hatte das Land legal verlassen, weil Korsakow – Onkel Nikolai – Katharinas Vater war. Doch nach der Logik dieser mysteriösen Leute stieg niemand, der einmal für ihn gearbeitet hatte, so einfach aus. Für sie musste es einen besonderen Grund für dieses Privileg geben: dass sie nur zum Schein gegangen war; dass sie in den letzten Jahren im Ausland für ihn gearbeitet hatte und nun zurückgekommen war, um sich bei ihnen einzuschleichen.  

»Hört zu«, sagte sie in dem wahnwitzigen Versuch, ihre Haut zu retten. »Ihr habt Recht. Ich arbeite noch immer für die NRA. Ich stehe unter ständiger Beobachtung. Wo wir auch sind – das Haus ist längst umstellt. Wenn ihr euch die Mühe macht, aus dem Fenster zu schauen... Die meisten Leute, die da draußen irgendeiner Beschäftigung nachgehen, sind Agenten. Wir haben euch schon lange im Visier.« 

Wiktor war paranoid genug, ihr jedes Wort zu glauben. Er fing sichtlich an zu schwitzen, ging mit der Nagant in der Hand ans Fenster und schaute hinaus. »Gawno! Draußen wimmelt es von Menschen.« 

»Stepan Iwanowitsch hat es bestimmt längst bemerkt«, sagte Vivian. »Er ist sicher längst abgehauen.« 

»Er ist gar nicht im Haus, du Miststück«, sagte Wiktor. 

»Wahrscheinlich kommt er deswegen nicht rauf«, sagte Vivian. Ihr wurde der Kragen allmählich eng. Außerdem wäre sie gern aufgestanden, um eine weniger hilflose Position einzunehmen. 

»Bleib bloß sitzen«, sagte Wiktor drohend. Auf seiner Stirn: Schweißperlen. Er hatte Angst. 

Mascha dachte stirnrunzelnd nach. »Lass uns noch eine Viertelstunde warten. Wenn er sich bis dahin nicht gemeldet hat, trennen wir uns und tauchen unter.« Ihr Blick fiel auf Vivian. »Aber vorher erledigen wir dich noch.« 

»Mich kriegen die nicht lebend.« Wiktor fuchtelte mit der Nagant herum. »Eher lasse ich mich umlegen...« 

Mascha entnahm ihrer Handtasche eine weitere Nagant. 

»Hör zu, Wiktor«, sagte sie, »du gehst raus und prüfst die Lage, klar? Ich wette, sie tun dir nichts, solange wir die Uljanowa als Geisel haben. Du gehst...« 

Wiktor schüttelte heftig den Kopf. »Ich bin doch nicht lebensmüde!« 

»Hör mir erst mal zu«, sagte Mascha. »Du gehst in eine öffentliche Komzelle und rufst Stepan an. Er ist seit ‘ner guten halben Stunde überfällig. Wenn er nicht mehr im Hauptquartier ist, ist es ‘n sicheres Zeichen dafür, dass er den Braten gerochen hat und verduftet ist. Wenn er sich nicht meldet, machst du unauffällig Mücke. – Ich komm dann nach.« 

»Glaubst du, die lassen mich hier so einfach rausgehen?«, fragte Wiktor zweifelnd. 

»Bestimmt«, sagte Mascha. »Weil sie glauben, du kommst zurück, um auf Stepan zu warten. Die wollen uns doch alle zusammen hochnehmen.« 

»Aber...« Wiktor ließ die Waffe sinken. Dann steckte er sie in ein Schulterholster. »Na schön«, sagte er. »Wenn du meinst...« Er wandte sich zum Gehen. »Aber pass bloß auf, dass die Schlampe dich nicht reinlegt.« 

Mascha grinste. 

Vivian schüttelte sich. 

Wiktor zog die Tür lautlos hinter sich ins Schloss. Er war kaum draußen, als Mascha sagte: »So, jetzt zu uns beiden.« Sie deutete mit der Nagant zum Fenster hin. »Stell dich hinter die Gardine und schau mal raus. Dann sagst du mir, ob du einen bestimmten Agenten siehst.« 

Vivian wusste zwar nicht, was das sollte, aber der Nachdruck, mit dem Mascha sprach, ließ sie an ihre körperliche Unversehrtheit denken, und sie setzte sich in Bewegung. 

»Nun?«, fragte Mascha. 

Vivian gab sich alle Mühe, doch sie konnte beim besten Willen keinen von Korsakows Agenten entdecken. Und das nicht nur, weil keiner da war. Sie konnte sich nicht mehr an ihre Gesichter erinnern. Sie erblickte allerdings Stepan, der gerade mit federndem Schritt die Straße überquerte und einen ziemlich gelassenen Eindruck machte. Ihr blieben nur noch Sekunden. Wenn Stepan auf Wiktor traf, war alles aus. 

Sie riss die Gardine beiseite, hörte Mascha überrascht aufschreien, und gab den nicht vorhandenen Agenten mit einem Wink zu verstehen, Stepan Iwanowitsch Lewitin zu schnappen. Stepan sah ihre Bewegung und stutzte, aber vermutlich zog er genau den richtigen Schluss: Er glaubte, sie habe sich irgendwie befreit und gebe ihren »Kollegen« einen Wink. Er zog den Kopf ein, ging am Hauseingang vorbei und tauchte in einer Nebenstraße unter. Kurz darauf trat Wiktor aus dem Gebäude und steuerte ein Lokal auf der gegenüberliegenden Straßenseite an. 

Vivian atmete auf. Mascha war plötzlich neben ihr und drückte ihr den Lauf der Nagant in die Seite. »Was sollte das gerade?«, fauchte sie. 

»Stepan ist gerade festgenommen worden«, sagte sie mit schlotternden Knien, doch fester Stimme. »Und ich würde es für das Beste halten, wenn du dich jetzt ergibst. Her mit der Waffe.« 

»Verdammt!« Mascha trat zurück. »Zieh die Gardine zu«, fauchte sie. »Ich glaub, wir sitzen tatsächlich in der Falle.« Sie spitzte nachdenklich die Lippen. 

»Er ist weg vom Fenster«, sagte Vivian. »Und Wiktor siehst du garantiert auch nie wieder.« Sie holte tief Luft. »Willst du dir noch einen Mord aufs Gewissen laden, bevor sie dich hoppnehmen, Mascha?«  

Ein seltsames Lächeln umspielte Maschas Lippen. »Du redest von Gewissen?«, fragte sie spitz. »Ausgerechnet du?« Dann schien ihr etwas einzufallen und sie deutete auf die Tür. »Vorwärts, wir gehen!« 

»Aber wohin denn?«, sagte Vivian. 

»Wirst du schon sehen«, sagte Mascha. »Los!« 

Vivian öffnete die Tür und ging hinaus. Mascha ging mit der Nagant in der Hand hinter ihr her. Sie scheuchte ihre Geisel durch den Korridor zu den Aufzügen. Niemand begegnete ihnen. Die Aufzugkabine befand sich auf ihrer Ebene. Sie stiegen ein. Mascha drängte Vivian in eine Ecke und betätigte einen Knopf. Der Aufzug setzte sich schnurrend in Bewegung. Es ging nach unten. Als die Kabine anhielt und die Tür aufging, waren sie in der Tiefgarage angekommen. 

»Raus«, sagte Mascha. »Und halt bloß die Klappe!« 

Vivian stieg aus. Mascha kam hinterher. Sie umrundeten einige Luxuskarossen und standen schließlich vor einer Wand, an der ein roter Pfeil nach rechts zeigte. Mascha schaute sich vorsichtig um. Ihre Miene drückte Misstrauen aus. 

»Irgendwas stimmt hier nicht«, sagte sie. »Wieso haben sie niemanden in der Garage stationiert?«  

Ehe Vivian eine Antwort einfiel, schob Mascha sie in einen schmalen Gang hinein, der an einer nach unten führenden Treppe endete. »Runter!« 

Vivian gehorchte. Die Treppe endete nach zwanzig Stufen vor einer grauen Stahltür mit drei Sicherheitsschlössern. 

Mascha schob Vivian beiseite und zückte ein Schlüsselbund. »Aufmachen!« 

Vivian öffnete die Stahltür. Dahinter erstreckte sich ein muffig riechender, doch sauberer Gang. Sie suchte einen Lichtschalter, doch plötzlich flammten Neonröhren auf. Der Gang war etwa fünf Meter lang und endete vor einer runden Tür, die an den Eingang eines Banksafes erinnerte. 

»Wo sind wir hier?«, fragte sie. 

»Maul halten.« Mascha kicherte plötzlich. »Gelobt sei die Paranoia«, sagte sie. »Wir sind im Bunker.« 

»Wie bitte?«  

»Im Bunker, Herzchen. Für die Wohnungsbesitzer des ganzen Häuserblocks. Damit im Ernstfall jeder rein kann, hat jedes Haus einen separaten Zugang.« 

Mascha schloss die Safetür auf. Sie war einen Meter dick. »Der ganze Block ist unterkellert«, sagte sie. »Ich kann also mühelos aus dem Nebenhaus wieder rausspazieren.« 

Hinter ihnen schloss sich mit einem satten Schmatzen die stählerne Schleusentür. Automatisch flammte Licht auf. 

 

Sie kamen in einen Raum, der offenbar eine Art Zentrale war. Vivian erblickte Tische, Stühle, Sofas und Monitore. Auf dem Boden: ein echter Teppich. Ein massiver Metallschreibtisch, dessen Schubladen dickleibige Umschläge enthielten, diente Mascha als Sitzgelegenheit. 

»Warten wir erst mal ab, was?«, sagte sie. »Irgendwann wird Korsakow ja wohl zum Rückzug blasen.« 

Vivian schwieg. Nach einer Weile fragte sie, ob sie rauchen dürfe. Mascha hatte nichts dagegen. Sie schaltete einen Monitor ein. Vivian war erstaunt, als sie auf dem Bildschirm eine Eingangshalle erkannte. Mascha beugte sich interessiert vor. Vivian nahm an, dass es die Eingangshalle des Hauses war, in dem sie sich befanden. Offenbar konnte man von hier aus jeden überwachen, der es betrat. 

In diesem Augenblick ging das Licht aus. Vivian nutzte die Gelegenheit; sie warf sich zu Boden und packte Maschas Beine. Mascha schrie. Vivian hörte einen metallischen Gegenstand zu Boden scheppern. Die Nagant! Gleich darauf hatte sie Maschas rechte Fessel erwischt und riss sie zu Boden. Sie hörte das Ratschen zerreißenden Stoffs. Eine Faust schlug gegen ihr Kinn. Sie wollte Mascha festhalten, aber sie entwand sich ihr. Dennoch hatte sie unverschämtes Glück: die Nagant war plötzlich in ihrer Hand. Dann wurde ein Summen laut. Das Licht ging wieder an, aber es war nicht die Deckenbeleuchtung, sondern der rote Schein von Notlämpchen. Stromausfall. Die Lämpchen tauchten den Raum in ein geisterhaftes Licht. 

Maschas rechtes Hosenbein wies einen unterarmlangen Riss auf, der Strumpf darunter war von Laufmaschen übersät. Ehe sie sich aufrichten konnte, hockte Vivian breitbeinig über ihr und nagelte ihre Arme mit den Knien an den Boden. Die Nagant in ihrer Hand richtete sich auf Maschas Stirn, und das rote Licht der Laserzielerfassung wanderte an ihrem Haaransatz entlang. 

Mascha riss erschreckt den Mund auf. Der Körper unter Vivian zuckte, aber sie konnte sich nicht wehren. 

»Und jetzt«, sagte Vivian zähneknirschend, »will ich wissen, was hier abläuft, verdammt noch mal!« Ein kurzer Seitenblick sagte ihr, dass der Monitor kein Bild mehr zeigte. Er war tot. Auch die Computer hatten keinen Strom. 

»Aus mir kriegst du nichts raus, du verfluchter Spitzel«, fauchte Mascha kratzbürstig und fletschte die Zähne. »Lieber krepier ich.« 

Vivian versetzte ihr mit der Linken eine schallende Ohrfeige. Mascha schrie auf, ihr Körper bockte instinktiv. Sie war stark und störrisch, man spürte es. Und sie wähnte sich in den Händen einer NRA-Agentin. 

Ich muss hier raus, und zwar so schnell wie möglich, dachte Vivian. Zumindest Wiktor würde bald bemerken, dass ihm von Seiten der NRA keine Gefahr drohte. Dann würde er die Suche nach Mascha und ihr aufnehmen. Da er von dem Lokal auf der gegenüberliegenden Straßenseite den Eingang unter Kontrolle behielt, würde er bald wissen, dass sie das Haus nicht verlassen hatten. Als Hausbewohner musste er von dem Bunker und seinen Unterschlupfmöglichkeiten wissen. Er brauchte sich nur einen zweiten Schlüssel zu besorgen. Und den hatte wahrscheinlich Stepan. 

Vivian schaute sich suchend um. In einem der Regale an der Wand entdeckte sie eine Seilrolle. 

Nachdem sie Mascha die Hände auf den Rücken gefesselt und auf einen Drehstuhl gesetzt hatte, zählte sie ihre Zigaretten. Es waren nur noch zwei. Welch elende, mistige Situation! 

»Jetzt nehmen wir mal hübsch die Pfötchen hoch und vergessen jeden Gedanken an Gegenwehr«, sagte eine Stimme hinter ihr. Mascha lächelte plötzlich. In ihrem Blick flackerte hämische Freude. Die Stimme war ungehalten und boshaft – nein, rachsüchtig. Vivian gehorchte. 

»Umdrehen.« 

Vivian gehorchte. Hinter ihr stand der blonde junge Mann, den sie schon im Café Lux gesehen hatte. Er hielt eine Nagant-LZE in der Hand. Lewitin, Wiktor und eine rothaarige Frau von Ende zwanzig drängten sich durch den Türrahmen. Auch sie waren bewaffnet. Der Blonde trat vor Vivian hin, packte schnell die auf dem Tisch liegende Nagant und schob sie in seinen Gürtel. Er musste der Michail sein, den Wiktor erwähnt hatte; der Michail, den sie während ihrer aktiven Dienstzeit ins Gefängnis gebracht haben sollte. 

»Tag, Tanja«, sagte Michail. »Hätte nicht gedacht, dass wir uns mal wieder sehen. Freust du dich?«  

»Ich weiß nicht«, sagte Vivian. »Ich kann mich nicht an dich erinnern.« 

»Ach, wirklich?« Er knallte den Lauf der Nagant in ihre Seite. Vivian schnappte nach Luft und spürte, dass sich über ihren Rippen ein blauer Fleck bildete. Es tat verdammt weh. Von diesem Mann hatte sie bestimmt nichts Gutes zu erwarten. 

»Sachte, Michail«, sagte Lewitin beschwichtigend. Er steckte seine Waffe ein und kam näher. 

Doch Michails Hand zuckte vor. Der Kolben seiner Waffe traf Vivian am Hinterkopf, und sie verlor erneut das Bewusstsein. 

 

 

4.

 

In ihrem ständig wiederkehrenden Alptraum hielt Vivian Reed sich in einer Großstadt auf, in einem Land, dessen Sprache sie nicht verstand. 

Sie war Gast in einem Hotel, und in dessen Safe hatte sie all ihre Wertsachen und ihr Flugticket eingelagert. Und dann, an einem Abend, nach einem ausgelassenen Streifzug durch das örtliche Vergnügungsviertel, bei dem fast ihre ganze Barschaft draufgegangen war, kam sie aus einem Lokal und stellte beim Einsteigen in ein Taxi fest, dass sie den Namen ihres Hotels vergessen hatte. 

Dann geriet sie regelmäßig in Panik. Und wachte schweißgebadet auf. 

Auch als sie diesmal die Augen aufschlug und dem Trommeln ihres Herzens lauschte, erkannte sie, dass sie nur geträumt hatte. Sie wollte gerade erleichtert aufatmen, als ihr auffiel, dass sie sich in einem abgedunkelten Zimmer befand, das sie noch nie gesehen hatte. 

Keine Geräusche. Sie hob vorsichtig den Kopf und schaute sich um. Abgesehen vom matten Licht einer Stehlampe, die in der linken Ecke stand, war es finster. Dann hörte sie näher kommende Schritte, doch sie waren so leise, dass sie zuerst glaubte, sie seien ein zurückgebliebener Bestandteil ihres Alptraums. 

Sie schaute an die Decke. Sie war mit Holz verkleidet. Keine Fenster. Die Decke, die sie bis an den Hals gezogen hatte, rutschte herab. Sie war splitternackt. Sie setzte sich hin und holte hektisch Luft. Ihr praller Busen hob und senkte sich. 

Na schön, dachte Vivian, ich träume also doch noch.  

Die Tür ging auf. Die Rothaarige trat ein. Ihre lockige Mähne wippte irgendwie sexy auf und ab. Sie hatte ein schmales Gesicht, graublaue Augen und ging auf hohen, klackernden Absätzen. Vivian musterte sie neugierig. Sie war die erste Frau, die in diesem kalten Land keine langen Hosen trug, sondern ein eng anliegendes schwarzes Kleid. An ihrem rechten Unterarm leuchtete ein schwerer silberner Armreif. 

»Hör zu«, sagte Vivian, »ich hab die Schnauze jetzt wirklich voll. Was wollt ihr überhaupt von mir?«  

»Ich heiße Natalja«, sagte die Rothaarige mit einem feinen Lächeln. Sie hatte ebenmäßige Zähne und wirkte auch aus der Nähe sehr attraktiv.  

Vivian musterte sie von oben bis unten. Irgendetwas an ihrem Lächeln erinnerte sie an jemanden. War sie mit Stepan verwandt? Mit Wiktor? Michail? Mascha? Was haben diese Leute mit mir vor? Die Energie in Nataljas Blick sagte ihr, dass sie sich trotz ihres püppchenhaften Aussehens ihrer Haut zu erwehren wusste. 

Wiktor hält mich für eine Agentin Korsakows. Und ich blöde Kuh habe seinen Verdacht nun bestätigt. Michail hat mich zudem identifiziert. Sie wissen, wer ich war und glauben zu wissen, wer ich bin. Ich habe Michail irgendwann hochgehen lassen. Geht es um simple Rache? Oder um mehr? Sie arbeiten jedenfalls nicht für Korsakow. Sie sind eindeutig seine Gegner. Gehören sie zur politischen Opposition? 

Es erschien ihr irgendwie unwahrscheinlich. Sie brauchte nicht einmal die Erkenntnisse ihrer zwei Semester Psychologie heranzuziehen, um zu erkennen, dass das Verhalten dieser Leute paranoid-hysterische Züge aufwies. 

»Ich bitte dich«, sagte Natalja liebenswürdig. »Inzwischen müsste eine kluge Frau wie du doch begriffen haben, dass wir die Fragen stellen.« Sie zog aus dem Halbdunkel einen Stuhl heran, schob ihn vor das Bett und nahm Platz. Erst jetzt sah Vivian, dass sie eine Nagant in der Hand hielt. 

»Wer bist du wirklich, Tanja?«, fragte Natalja. Sie richtete die Waffe auf Vivians Brustkorb. »Heraus mit der Sprache!« 

»Du wiederholst dich«, sagte Vivian matt. »Und außerdem habt ihr euer Urteil doch längst gefällt. Ihr wisst doch, wie Borsalthin auf die menschliche Psyche wirkt. Also wisst ihr auch, dass ich die Wahrheit sage.« 

»Die anderen haben ihr Urteil vielleicht gefällt«, sagte Natalja. »Ich noch nicht. Ich bin erst vor kurzem eingetroffen.« 

»Was willst du wissen?«  

»Wie stehst du zu Nikolai Korsakow?«  

Vivian seufzte. »Ich weiß, dass er früher ein Gangster war. Ich weiß auch, dass Batjuschka ein Gangster war. Möglicherweise ist er sogar noch immer einer. Alle Leute, die in diesem Land etwas zu sagen haben, sind mehr oder weniger Gangster. Die Gründe dafür haben mit dem Zusammenbruch des so genannten Sozialismus gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts zu tun.« 

»Weich nicht aus. Und schweif nicht ab.« 

»Korsakow war mit meiner Mutter befreundet. Sie haben zusammen eine Tochter.« 

»Ach ja?« Nataljas Miene widerspiegelte nur mäßiges Interesse. 

»Sie heißt Katharina«, fuhr Vivian fort. »Ich kenne sie nicht, aber... Ich würde sie gern mal sehen. Ich habe erst vor einem Jahr von ihrer Existenz erfahren.« 

»Bleiben wir bei Korsakow«, sagte Natalja. 

»Er hat mir in schlechten Zeiten Arbeit gegeben«, sagte Vivian. »Meine Mutter wollte nicht, dass ich für ihn arbeite, aber wir brauchten das Geld und... Außerdem wusste Korsakows Chef, dass meine Mutter...« Sie zögerte, bis sich auf die Unterlippe. 

»...es mit Herrenbekanntschaften nicht so genau nahm«, sagte Natalja. Ihre schmalen roten Lippen verzogen sich zu einem verächtlichen Lächeln. »Sie war eine Hure.« 

Vivian zuckte zusammen. »Sie war nur ein junges Ding, das ums Überleben kämpfte.« 

»So kann man es auch ausdrücken«, sagte Natalja. »Aber auch die Not, unter der du damals gelitten hast, befreit dich nicht von dem Vorwurf, dass du für Korsakows Geheimdienst Menschen bespitzelt hast.« 

»Ich habe für den Staat gearbeitet«, versuchte Vivian sich zu verteidigen. »Für den Staat, dessen Sozialämter mich genährt und gekleidet haben. Außerdem hat er mich erzogen. Ich war jung, kaum achtzehn. Ich habe geglaubt, ich ermittle gegen Verbrecher. Es hat Monate gedauert, bis ich bemerkte, dass...« Sie verstummte verlegen. 

»Und jetzt?«  

»Das wisst ihr doch längst. Ihr haltet mich für jemanden, der ich nicht bin. Ich kann mich immer nur wiederholen.« 

Natalja stand auf und nahm auf dem Bettrand Platz. 

»An was erinnerst du dich, Tanja?«  

»Vivian. Ich heiße jetzt Vivian.« 

»Warum?«  

Vivian musste wider Willen lachen. »Weil in Mega-Berlin drei von zehn Frauen Tanja heißen.« 

»Bleiben wir beim Thema. An was erinnerst du dich bezüglich deiner damaligen Tätigkeit?«  

»Namen. Schatten. Schemen.« 

»Welche Namen?«  

Vivian dachte angestrengt nach. 

»Schaginjan. Lasarew. Pugowkin.« 

»Schatten? Schemen?«  

»Undeutliche Bilder... Menschen in dunklen Büros, die vor Bildschirmen sitzen... Konspirative Wohnungen... Leute, gegen die ich ermittelt habe...« 

»Namen?«  

Vivian schüttelte den Kopf. »Keine Namen.« 

»Keine Namen«, wiederholte Natalja. Vivian sah ihr am Gesicht an, was sie dachte: Lügt sie? 

»Ich lüge nicht«, sagte Vivian, als hätte Natalja die Frage laut ausgesprochen. 

Natalja musterte sie. »Was sollte die Sache mit dem angeblich von der NRA umstellten Haus?«  

»Es war ein Versuch, meinen Hals zu retten«, erwiderte Vivian. »Wiktor war hochgradig nervös. Er war in Panik. Er war darauf aus, mich zu töten.« 

»So könnte es gewesen sein«, sagte Natalja. 

»Leg doch das Schießeisen weg«, sagte Vivian. Das Ding machte sie nervös. Sie hatte nicht gern mit solchen Instrumenten zu tun. 

»Damit du mich überwältigen und türmen kannst?«  

Vivian schaute sie an. »Hör zu, Natalja... Das ist doch lächerlich. Ich bin pudelnackt. Soll ich etwa so...?«  

»Warum nicht?«, sagte Natalja. »Hast du etwas zu verlieren?« Sie setzte eine nachdenkliche Miene auf. »Wir können nicht zulassen, dass du verschwindest.« 

»Was habt ihr mit mir vor?«, fragte Vivian. »Was habt ihr überhaupt vor, bei dem ich euch in die Quere gekommen bin?«  

Natalja schüttelte den Kopf. »Das wirst du nie erfahren.« Sie dachte nach. »Was weißt du über die gegenwärtige Lage der Republik Nordrussland?« 

»So gut wie nichts.« 

»Sehr witzig, Vivian, wirklich. In DeGorm City gibt es doch bestimmt auch so etwas wie eine Presse.« Natalja musterte sie eingehend. 

»Kann ich mich anziehen?«, fragte Vivian. »Wo sind meine Kleider?«  

»Oh«, sagte Natalja mit einem heiseren Lachen. »Ich fürchte, das kann ich nicht zulassen.« 

Vivian setzte eine erschreckte Miene auf. 

»Was soll das bedeuten?«, fragte sie. 

Natalja stand auf. Sie wirkte unschlüssig. Sie ließ die Waffe sinken und legte die Stirn in nachdenkliche Falten. »Wir können dir nicht trauen. Du weißt zuviel.« 

»Was meinst du damit?«, fragte Vivian. »Was soll ich wissen?«  

Natalja hob den Blick. »Du weißt von uns. Und dein Wissen wäre gewiss auch für Korsakow sehr interessant.« 

Die Tür ging auf. Michail trat ein. Seine Züge waren hart, sein Grinsen überheblich. Vivian schüttelte sich unweigerlich und zog die Bettdecke bis an den Hals. 

»Weiß sie es schon?«, fragte er. 

Natalja schüttelte den Kopf. »Nein.« 

Was soll ich wissen?, dachte Vivian in heller Panik. 

Michail setzte sich aufs Bett. »Wirklich nicht?« Seine Stimme war der blanke Hohn. Sein Blick wanderte über Vivians Gesicht und ihren Hals. Er blieb auf ihrem Busen haften, und in seinen Augen war etwas, das in ihr den Eindruck erweckte, als wisse er ganz genau, wie ihre Brüste aussahen. 

Ihr wurde schlagartig übel, und sie musste die Augen schließen. Sie war gewiss nicht prüde; sie war es nie gewesen. Aber es war abscheulich, einem Menschen ausgeliefert zu sein, der etwas über sie wusste, was ihr selbst entfallen war. Sie hatte ihm etwas angetan, an das sie sich nicht erinnerte. Aber er hatte es nicht vergessen, und sein Geist dürstete nach Rache. Nach primitiver Rache. 

Nein, dachte sie, diese Leute sind keine politischen Oppositionellen. Diese Leute sind gefährlich.