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»Es ist kein Luxus, gerade jetzt die emanzipative Aufhebung der kapitalistischen Reichtumsproduktion anzustreben, sondern der einzige Ausweg aus der Spirale ökologischer Zerstörung, sozialer Exklusion und autoritärer Formierung der Gesellschaft.« Klima- und Coronakrise machen deutlich, dass die kapitalistische Produktions- und Lebensweise zunehmend unhaltbar wird. Der systemische Selbstzweck der endlosen Anhäufung von Kapital (›Wachstumszwang‹) ist mit der Endlichkeit der Welt und der natürlichen Ressourcen grundsätzlich unvereinbar. Auch die Corona-Pandemie verdankt sich der fortschreitenden Zurückdrängung von Naturräumen im Dienste der Kapitalvermehrung. Zudem nimmt die soziale Exklusion immer schlimmere Ausmaße an – obwohl längst die Potenziale vorhanden sind, um allen Menschen auf der Welt ein gutes Leben zu ermöglichen. Daher ist eine grundlegende Neuorientierung angesagt. Eine andere Gesellschaft ist machbar, doch das erfordert einen Bruch mit der kapitalistischen Logik.
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Veröffentlichungsjahr: 2021
Ernst Lohoff, Norbert Trenkle (Hg.)
Shutdown
Klima, Corona und der notwendige Ausstieg aus dem Kapitalismus
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Ernst Lohoff, Norbert Trenkle (Hg.)
Shutdown
1. Auflage, November 2020
eBook UNRAST Verlag, März 2021
ISBN 978-3-95405-083-3
© UNRAST-Verlag, Münster 2020
www.unrast-verlag.de | [email protected]
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sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner
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Umschlag: cuore, berlin
Satz: Andreas Hollender, Köln
Norbert TrenkleEinleitung
Ernst LohoffEin Virus stellt die SystemfrageWie die Corona-Pandemie die kapitalistischen Widersprüche verschärft
Norbert TrenkleVerdrängte KostenDie Externalisierungslogik der kapitalistischen Reichtumsproduktion und deren Aufhebung
Ernst LohoffWie Sand am MeerKleine politische Ökonomie des Wachstumszwangs
Karl-Heinz SimonDie Sache mit dem KlimaKlimaschutz hinterfragt
Julian BierwirthVom leeren Land zum überflüssigen MenschenIdeologiekritik in Zeiten von Corona- und Klimakrise
Lothar Galow-Bergemann und Ernst LohoffGestohlene LebenszeitWarum Kapitalismus zu Verzicht nötigt und wir viel weniger arbeiten könnten
Anmerkungen
Es gehört zu den Nebenwirkungen der Corona-Krise, dass diese schon in wenigen Monaten mehr zur Erreichung der Klimaziele beigetragen hat als die gesamte Klimapolitik der letzten Jahre. Weil der Autoverkehr während des Shutdown in den großen Städten um bis zu 80 Prozent zurückging, der Flugverkehr extrem reduziert wurde und viele Produktionsstätten stillstanden, rechnet die UN damit, dass die CO2-Emissionen im Jahr 2020 um bis zu sieben Prozent gegenüber 2019 sinken werden (Frankfurter Rundschau, 9.9.2020); und wie es scheint, könnte sogar die deutsche Regierung trotz ihrer zahnlosen klimapolitischen Maßnahmen das Ziel einer Reduktion des Treibhausgas-Ausstoßes um 40 Prozent gegenüber 1990 doch noch erreichen (Die Zeit, 26.8.2020).
Allerdings gibt es keinerlei Anlass zur Hoffnung, diese Entwicklung könnte von Dauer sein. Denn der vorübergehende Stopp der wirtschaftlichen Aktivitäten in großen Teilen der Welt hat ja rein gar nichts an der Grundlogik der kapitalistischen Produktionsweise geändert, die von dem Selbstzweck zur endlosen Vermehrung des Geldes, dem Repräsentanten abstrakten Reichtums, angetrieben wird. Der aus diesem Selbstzweck resultierende Wachstumszwang wurde durch die Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie keinesfalls ausgesetzt, sondern nur kurzzeitig abgebremst. Gleichzeitig tun die Regierungen und Zentralbanken alles dafür, um die Folgen dieses Bremsmanövers abzumildern und die ökonomische Dynamik so schnell wie möglich wieder auf Touren zu bringen. Zwar sieht es kaum so aus, als ließe sich eine große Weltwirtschaftskrise vermeiden, nicht nur, weil viele ökonomische Effekte erst zeitverzögert wirksam werden und außerdem die Pandemie ja noch keineswegs besiegt ist. Hinzu kommt noch, dass die Krise zwar durch Corona ausgelöst wurde, aber tieferliegende, strukturelle Gründe hat, die nicht einfach verschwinden werden, wenn es einen Impfstoff oder Medikamente gibt und die Eindämmungsmaßnahmen vollständig zurückgenommen werden.
Zwar könnte man argumentieren, eine Weltwirtschaftskrise sei gut für das Klima, weil durch den Rückgang der wirtschaftlichen Aktivitäten weniger Treibhausgase und andere schädliche Substanzen freigesetzt würden, so wie in allen anderen großen Krisen der vergangenen Jahrzehnte – nicht zuletzt der Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008. Doch diese ökologische Entlastung ist nur die Kehrseite einer massenhaften Verarmung und Verelendung von großen Teilen der Bevölkerung. Denn da in der kapitalistischen Gesellschaft nun einmal fast alle gesellschaftlichen Beziehungen die Warenform annehmen und daher der Zugang zu den Dingen ganz überwiegend über Geld erfolgt, führt eine Unterbrechung der monetären Flüsse notwendigerweise zu einem mehr oder weniger großen Zusammenbruch der gesellschaftlichen Versorgung: Unternehmen bankrottieren, Arbeitskräfte werden entlassen und weil die Einkommensquellen versiegen, können sich Millionen Menschen nicht einmal mehr das Nötigste kaufen. Dabei wird selbstverständlich nicht danach gefragt, ob nun die betreffenden Produkte und Dienstleistungen gesellschaftlich notwendig sind oder nicht, wie ihre Ökobilanz aussieht und unter welchen Bedingungen sie produziert werden; denn diese Kriterien spielen in der Welt der Warenproduktion keine Rolle. Vielmehr zählt, ob die produzierten Dinge sich auf dem Markt absetzen lassen und dabei einen Gewinn abwerfen. Deshalb werden in Krisen selbstverständlich auch weiterhin Autos produziert und Kohlekraftwerke betrieben, Flugreisen unternommen und Luxusappartements gebaut, während viele Menschen sich nicht einmal die nötigsten Lebensmittel kaufen können und Krankenhäuser geschlossen werden, weil die öffentlichen Finanzmittel gestrichen werden. In den Krisen offenbart sich besonders deutlich, dass unter kapitalistischen Bedingungen nur der abstrakte Reichtum, also der in Geldeinheiten ausgedrückte Reichtum, zählt; dagegen ist der stoffliche Reichtum, also der Reichtum an nützlichen Dingen und Versorgungsangeboten, immer nur untergeordnetes Mittel zum Zweck der Kapitalakkumulation und wird daher geopfert, wenn dieser Zweck nicht mehr erfüllt werden kann.
Es war deshalb auch absehbar, dass nach der akuten Phase der Corona-Krise die ohnehin schon halbgaren klimapolitischen Maßnahmen der letzten Jahre allesamt unter Beschuss geraten, weil sie als Hindernisse für einen wirtschaftlichen Aufschwung angesehen werden. Und auch von den Vorstellungen so mancher Klima-Aktivist*innen, die staatlichen und EU-Förderprogramme könnten im Sinne einer sozial-ökologischen Transformation der Wirtschaft ausgerichtet werden, sind allenfalls ein paar grüne Einsprengsel übrig geblieben. So wie die marktwirtschaftlichen Ideologen nach der ersten Schockstarre sehr schnell dazu übergingen, die Folgen der Corona-Pandemie gegen die wirtschaftlichen Schäden des Shutdown aufzurechnen, so argumentieren sie auch, dass nicht nur die Erderwärmung eine Bedrohung für die Menschheit darstelle, sondern auch eine lahmende Wirtschaft, weil dadurch Millionen von Menschen ihre Existenzgrundlage verlören. Damit geben sie zwar im Grunde zu, dass der Kapitalismus die Menschheit in eine fatale Abhängigkeit von seiner destruktiven Akkumulationslogik bringt und vor die Alternative stellt, entweder aufgrund der ökologischen Zerstörung oder aus wirtschaftlicher Not zu sterben. Aber dennoch findet dieses Argument großen Anklang vor allem bei denjenigen, die angesichts der Krise um ihre Existenz bangen und keine Hoffnung auf eine andere Form von Gesellschaft hegen.
Soll die ›Klimafrage‹ also nicht von der politischen Tagesordnung verdrängt werden, muss sie in einer Weise reformuliert werden, die der neuen gesellschaftlichen Krisensituation adäquat ist. Das ist nicht so schwer, wie es vielleicht auf den ersten Blick scheinen mag. Maßnahmen zur Reduktion der CO2-Emissionen und zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen stehen nur dann im Widerspruch zur Sicherung der menschlichen Existenz und der gesellschaftlichen Versorgung, wenn die kapitalistische Form der Reichtumsproduktion als selbstverständlich vorausgesetzt wird. Denn da prinzipiell alle Menschen in der heutigen Gesellschaft von der Produktion des abstrakten Reichtums abhängen, um zu überleben, befinden sie sich in einer Art Geiselhaft. Sie müssen darauf hoffen, dass die Selbstzweckbewegung der endlosen Akkumulation von Kapital in Gang bleibt, weil sie nur so ihre Arbeitskraft oder ihre Waren verkaufen können, auch wenn sie wissen, dass damit die bereits stattfindende ökologische Katastrophe noch weiter vorangetrieben wird.
Stellen wir jedoch diese Form der Reichtumsproduktion infrage, löst sich dieser Widerspruch auf. Denn wenn sich die gesellschaftliche Produktion am stofflichen Reichtum orientiert, also das Ziel die Herstellung nützlicher Dinge zur Befriedigung der konkret-sinnlichen Bedürfnisse aller Menschen ist, dann steht eine ökologisch nachhaltige Ausrichtung der Gesellschaft nicht mehr im Gegensatz zu einer guten materiellen Absicherung des Lebens, sondern fällt mit dieser zusammen. Es wäre dann beispielsweise äußerst unvernünftig, klimaschädliche Gase in die Atmosphäre zu pumpen, massenhaft Wälder abzuholzen oder das Grundwasser zu verseuchen, wenn allgemein bekannt ist, dass dadurch die menschlichen Lebensgrundlagen zerstört werden. Und es wäre absurd, die Produktion von umwelt- und gesundheitsschädlichen Dingen zu befürworten, nur weil das einigen Menschen die Möglichkeit verschafft, ihre Arbeitskraft zu verkaufen und ein Einkommen zu erzielen. Unter kapitalistischen Bedingungen ist aber genau das ›vernünftig‹, weil das gesamte gesellschaftliche Leben auf der Produktion des abstrakten Reichtums beruht.
Es kommt also darauf an, diese Art der ›Vernunft‹ und die ihr zugrundeliegende Produktions- und Lebensweise in den Mittelpunkt der Kritik zu rücken. Damit ändert sich natürlich auch die politische Orientierung. Die ›Klimafrage‹ ordnet sich dann in ein ganzes Bündel von grundsätzlichen ›Fragen‹ ein, die sich allesamt durch eine radikale Transformation der Reichtumsproduktion beantworten lassen, genauer gesagt, durch eine konsequente Ausrichtung der gesellschaftlichen Reichtumsproduktion an konkret-stofflichen Kriterien und am Ziel eines guten Lebens für Alle.
Die Texte in diesem Buch orientieren sich an dieser Perspektive und diskutieren verschiedene Aspekte des kapitalistischen Naturverhältnisses im Zusammenhang mit der Klimakrise und der Corona-Pandemie. In Ein Virus stellt die Systemfrage untersucht Ernst Lohoff zunächst einmal den Zusammenhang zwischen der Corona-Pandemie und dem kapitalistischen Naturverhältnis. Bei der Pandemie handele es sich so wenig um einen Schicksalsschlag, der ohne eigenes Zutun über die kapitalistische Weltgesellschaft hereingebrochen wäre, wie beim Klimadesaster. Der massive Raubbau an der Natur habe die Entstehung von Zoonosen sehr viel wahrscheinlicher gemacht als in früheren Epochen. Gleichzeitig unterminiere die Ökonomisierung aller Verhältnisse und die damit einhergehende wachsende soziale Ungleichheit die Bekämpfung der Pandemie. Zu allem Überfluss reagiere der heutige von der Finanzdynamik getragene Kapitalismus extrem empfindlich auf jede Drosselung des Wirtschaftslebens. Je länger die Pandemie dauere, vom Auftreten neuer Pandemien ganz zu schweigen, desto mehr spitze sich der Widerspruch zwischen dem Schutz des Lebens einerseits und dem Fortbestand der kapitalistischen Wirtschaftsweise andererseits zu. Die mangelnde Pandemie-Resilienz der kapitalistischen Wirtschaftsweise sei eigentlich nur ein weiteres Argument dafür, deren Abschaffung auf die historische Tagesordnung zu setzen. Die Politik konzentriere sich stattdessen darauf, einen weiteren Shutdown um jeden Preis zu vermeiden und die Akkumulation des Kapitals in Gang zu halten.
In seinem Beitrag Verdrängte Kosten zeigt Norbert Trenkle, dass die angebliche Effizienz der kapitalistischen Produktionsweise ganz wesentlich darauf beruht, alle negativen Effekte auf verschiedene Weise zu externalisieren und damit die wirklichen Kosten für Natur und Gesellschaft auszublenden. Diese systematische Externalisierung resultiere aus der Verselbstständigung der Reichtumsproduktion gegenüber den Menschen und gegenüber dem gesellschaftlichen Zusammenhang, den sie zu ihrem ›Außen‹ mache. Als gesellschaftlicher Reichtum werde in der kapitalistischen Gesellschaft nur der abstrakte Reichtum anerkannt, also das, was sich als ›Wert‹ in den Waren darstelle. Hierin liege der tiefere Grund für die fortschreitende Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen, die Geringschätzung aller nicht-warenproduzierenden Tätigkeiten und die rücksichtslose Ausplünderung des Globalen Südens. Der Beitrag argumentiert, dass die Lösung nicht darin bestehen könne, einen neuen, umfassenderen Maßstab für den gesellschaftlichen Reichtum zu definieren, sondern die praktische Aufhebung der historisch-spezifischen Form der kapitalistischen Reichtumsproduktion ins Auge gefasst werden müsse. Letztlich gehe es um die Herstellung einer Gesellschaft, in der die Menschen nicht von ihren eigenen gesellschaftlichen Beziehungen in verdinglichter Form beherrscht werden, sondern in der sie selbst in freier Absprache über ihren gesellschaftlichen Zusammenhang verfügen. Damit würde sich auch das Verständnis dessen, was als Reichtum gilt, grundlegend verändern und erweitern. Reichtum wäre dann in einem umfassenden Sinne alles, was ein gutes Leben ausmacht.
Auch der Beitrag Wie Sand am Meer von Ernst Lohoff setzt sich mit der destruktiven Logik der kapitalistischen Reichtumsproduktion auseinander und widmet sich dem viel diskutierten Wachstumszwang. Dieser resultiere daraus, dass in der kapitalistischen Gesellschaft die Gebrauchsgüter als Waren produziert werden und der Sinn und Zweck der Warenproduktion in der permanenten Tauschwertmehrung bestehe. Was den Ressourcenverbrauch angeht, übersetze sich dieser einfache Wachstumszwang in einen potenzierten, weil aufgrund der Produktivkraftentwicklung die gleiche Tauschwertmasse sich in immer höheren Güterbergen darstellen müsse. Durch bloß technologische Veränderungen und die Einführung von vermeintlich ›nachhaltigen‹ Produkten lasse sich dieser fatale Mechanismus nicht ausschalten. Denn das führe nur zu einer Verschiebung des Wachstumszwangs von einer Ressource zur anderen. Qualitatives Wachstums sei ein Widerspruch in sich. Fernerhin setzt sich der Autor von Positionen ab, die in der Veränderung der Konsumgewohnheiten den Haupthebel zur Lösung der ökologischen Frage sehen. Die kapitalistische Wirtschaftsweise sei primär Produktionsweise, während der Konsum immer nur nachgelagerten Charakter habe. Aus diesem Grund erfordere ein Ausstieg aus dem Wachstumszwang einen Bruch mit der kapitalistischen Reichtumsform.
Der Beitrag Die Sache mit dem Klima von Karl-Heinz Simon setzt sich kritisch mit dem Begriff ›Klimaschutz‹ auseinander, einem zentralen Begriff der gegenwärtigen Klimadiskussion. Zum einen weist er darauf hin, dass eine Vergegenständlichung von Klima als schützbarem Gut in die Irre führt. Denn es ist überhaupt nicht ausgemacht, wie denn ein solcher Schutz genau aussähe, wenn der Klimawandel ohnehin im Gang ist und selbst bei drastischer Reduktion der verursachenden Treibhausgase die Dynamik weiter anhält. Ein zweiter Aspekt betrifft die Verantwortlichen, die für den ›Schutz‹ zuständig bzw. in der Lage wären, hier positive Beiträge zu leisten. Zumindest müsste die Frage nach einer Verantwortung der großindustriellen Versorgungs- und Produktionsstrukturen sowie der Konsument*innen gestellt werden. Eine Alle-im-gleichen-Boot-Rhetorik verdecke Verantwortlichkeiten und trage dazu bei, dass die Ursachen des Klimawandels nicht adäquat angegangen würden. Schließlich weist der Autor darauf hin, dass die Rede von ›Schutz‹ allenfalls dann gerechtfertigt wäre, wenn nicht ›das Klima‹, sondern die menschlichen Lebensgrundlagen geschützt würden.
In Vom leeren Land zum überflüssigen Menschen untersucht Julian Bierwirth verschiedene ideologische Verarbeitungsformen der Klimakrise und Reaktionsweisen auf die Corona-Pandemie. Neben dem typischen Abwehrreflex der Krisenleugnung gehöre dazu auch das Muster, die vorgebliche Überbevölkerung für den Klimawandel und die zunehmende Ausbreitung von Krankheiten verantwortlich zu machen und damit einen Großteil der Menschen für ›überflüssig‹ zu erklären. Der Autor zeichnet die Entstehung dieses Musters im Verlauf der kapitalistischen Geschichte nach. Er zeigt ausführlich am Beispiel des europäischen Kolonialismus, wie hier gleichzeitig mit der Durchsetzung der modernen gesellschaftlichen Warenbeziehungen und der Anwendung liberaler Konzepte und Theorien das Bild von den ›Anderen‹ geschaffen wurde, die als unfähig zur Teilnahme am freien Warenverkehr gelten. Diese Vorstellungen prägten bis heute nicht nur das tägliche Handeln und die politische Praxis in den kapitalistischen Zentren, sondern auch den medialen Diskurs über die globalen Beziehungen. In der Frühphase des Kapitalismus wurden die Menschen in den kolonialisierten Gebieten massenhaft versklavt oder umgebracht, um den ›Überflüssigen‹ aus den Zentren Platz zu machen und diesen den Raum zu verschaffen für ihre ›zivilisierte‹ kapitalistische Lebensweise. Heute dagegen würden die ›Überflüssigen‹ in der Peripherie, die für die kapitalistische Verwertung nicht benötigt werden, nur noch als Ballast angesehen, der am besten beseitigt werden sollte. Diese Vorstellung stehe, so Bierwirth, hinter den Abwehr- und Abschottungstendenzen in den kapitalistischen Zentren, die durch die Corona-Pandemie noch einmal verstärkt würden.
Der abschließende Text Gestohlene Lebenszeit von Lothar Galow-Bergemann und Ernst Lohoff schlägt den Bogen von Klimakrise und Corona-Pandemie zur Frage der gesellschaftlichen Perspektive. Unter kapitalistischen Bedingungen führe die hohe Produktivität nicht nur zu einer fundamentalen ökonomischen Krise, sondern trage auch wesentlich dazu bei, die natürlichen Lebensgrundlagen zu zerstören. Zudem raube eine Produktionsweise, die die Welt am laufenden Band mit Waren als Mittel der Geldvermehrung überschwemme, den Menschen einen Großteil ihrer Lebenszeit. Sie zwinge sie zu absurden Bullshit-Arbeiten, die es in einer vernünftig organisierten Gesellschaft überhaupt nicht geben müsse. Würden hingegen Produktivitätspotenziale, die vom Kapitalismus hervorgebracht wurden, im Sinne eines guten Lebens für Alle genutzt, so könne neben der ökonomischen und ökologischen Krise auch dieser Raub an Lebenszeit der Vergangenheit angehören. Die Autoren plädieren deswegen für einen Kampf um radikale Arbeitszeitverkürzung, dem sie eine zentrale Bedeutung für die Zukunft zumessen. Er müsse allerdings eingebettet sein in eine gesamtgesellschaftliche Bewegung für einen fortschreitenden Ausstieg aus dem Lohnsystem und der abstrakten Reichtumsproduktion und für den Einstieg in die gesellschaftliche Aneignung und Selbstorganisation des stofflichen Reichtums. Verkehrt sei es, Verzicht zu predigen. Wer das tue, sehe die Wirklichkeit schon durch die Brille der spezifisch kapitalistischen Reichtumsform. Werde dagegen die verfügbare Zeit als neues Reichtumskonzept ins Auge gefasst, ergebe sich eine ganz andere Perspektive. Es zeige sich dann, dass wir derzeit nicht über ›unseren Verhältnissen‹, sondern ganz im Gegenteil weit unter unseren Möglichkeiten leben.
Norbert Trenkle, September 2020
Ernst Lohoff
Der kapitalistischen Gesellschaft kommt unter den Gesellschaftsformationen eine historische Sonderstellung zu. Zum einen wohnt ihr allein die Tendenz inne, sukzessive die gesamte Welt zu durchdringen und die Menschheit zwangszuvereinen; zum anderen ist sie die mit Abstand krisenträchtigste Gesellschaftsformation in der Geschichte. Beide Eigentümlichkeiten haben in der jüngsten Phase kapitalistischer Entwicklung eine ganz neue Qualität erreicht. Die erstgenannte Eigentümlichkeit ist schon lange bekannt; seit Jahrzehnten ist der Begriff der Globalisierung in aller Munde. Seit der Jahrtausendwende drängt aber immer schmerzhafter ins Bewusstsein, dass auch die lange verdrängte Krisenanfälligkeit des kapitalistischen Systems ganz neue Dimensionen erreicht hat. Allein die letzten zwölf Jahre haben neben zahllosen kleineren, auf bestimmte Weltregionen beschränkte Krisen gleich drei Krisen mit globalem Charakter hervorgebracht, die die Weltgesellschaft in ihren Grundfesten erschüttern. Erstens die Finanzmarktkrise, die im Jahr 2008 die Weltwirtschaft an den Rand des Zusammenbruchs brachte und nie wirklich überwunden wurde. Zweitens rast das kapitalistische Weltsystem im Prozess der Erderwärmung auf einen Point-of-no-return zu. Ohne eine schnelle und dramatische Reduktion des CO2-Ausstoßes lässt sich der Klima-GAU mit seinen unabsehbaren Folgen nicht mehr abwenden. Und auch wenn die Befürworter eines Green New Deal das stur ignorieren, ist eine solche Reduktion auf dem Boden der kapitalistischen Produktionsweise unmöglich; sie ist an einen Systembruch gebunden. Drittens steckt auch die liberale Demokratie dreißig Jahre nach ihrem vermeintlichen Endsieg in einer fundamentalen Krise. Selbst in ihren ehemaligen Hochburgen wie den USA und Großbritannien verliert sie ihre Integrationskraft und ist in Auflösung begriffen, von den Ländern der Weltmarktperipherie ganz zu schweigen. Der letzte vermeintlich demokratische Aufbruch, der Arabische Frühling, endete im Desaster. Die gesamte Weltmarktperipherie ist zur Domäne autoritär-kleptokratischer Regime verkommen oder fällt in die Rubrik der Failed States. Und zur Krönung beschert das Jahr 2020 der Weltgesellschaft mit der Corona-Pandemie noch eine vierte globale Krise.
Von den vier globalen Krisen betreffen gleich zwei das Verhältnis zur Natur, dem »unorganischen Leib des Menschen« (Marx). Bei der Klimakrise handelt es sich um das ungewollte Nebenprodukt der kapitalistischen Wirtschafts- und Lebensweise. Je schneller die monströse »schöne Maschine« (Bentham) rotiert, je höher sich die Warenberge türmen, desto weniger sind Bio- und Geosphäre in der Lage, die bei deren Herstellung, Nutzung und Entsorgung freigesetzten Treibhausgase zu absorbieren. Die Corona-Krise stellt in gewisser Weise das Pendant zu dieser Art von ›Natur‹-Krise dar. In der Gestalt eines kleinen, dummen Virus schlägt ›die Natur‹ zurück und zwingt die Politik zum bis dato Unvorstellbaren. Damit die Pandemie nicht völlig aus dem Ruder läuft und massenhaft eigene Bürger dahinrafft, entschließt sich die Politik zu einem historisch beispiellosen Schritt: Blutenden Herzens und wild entschlossen, den kapitalistischen Selbstlauf sobald wie irgend möglich wieder hochzufahren, drosseln die Regierungen diesen nun für ein paar Wochen.
Wenn die Ökonomen über die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie und ihrer Bekämpfung räsonieren, dann fällt regelmäßig der Ausdruck ›externer Schock‹. An dieser Klassifizierung ist so viel richtig: Der Auslöser der Weltwirtschaftskrise, in die das kapitalistische Weltsystem gerade hineinsteuert, unterscheidet sich vom Ausgangspunkt früherer Wirtschaftskrisen. Klassische Wirtschaftskrisen entspringen sinkender Profitabilität. In ihnen fährt sich die »schöne Maschine« selbst hinunter. Der Shutdown, der Auslöser des neuen ökonomischen Krisenschubs, wurde dagegen von der Politik ins Werk gesetzt. Trotzdem führt das Gerede vom externen Schock gleich in doppelter Hinsicht in die Irre. Zum einen ist es seiner inneren Struktur geschuldet, dass das warenproduzierende Weltsystem auf ein paar Wochen Drosselung der Produktion dermaßen empfindlich reagiert. Die Ökonomenzunft mag noch so fleißig an der Dolchstoßlegende weben, die Weltwirtschaft sei quasi aus heiterem Himmel durch die Pandemie und ihre Bekämpfung zum Absturz gebracht worden; in Wirklichkeit war sie schon vorher todkrank, und auch ohne Corona war es nur eine Frage der Zeit, bis ein neuerlicher großer ökonomischer Krisenschub fällig war.
Zum anderen suggeriert die Formel ›externer Schock‹, die Entstehung und Verbreitung von Pandemien wie Corona habe nichts mit der kapitalistischen Wirtschafts- und Lebensweise zu tun; der Virus, so die Botschaft, sei genauso als Schicksalsschlag ohne eigene Beteiligung über ›unsere Wirtschaft‹ hereingebrochen wie der Einschlag des Yucatán-Asteroiden vor 66 Millionen Jahren über die Dinosaurier. Eine solche Sicht stellt die realen Zusammenhänge aber auf den Kopf. Die Entwicklung, die das kapitalistische Weltsystem in den letzten Jahrzehnten genommen hat, liest sich im Nachhinein wie ein einziges Corona-Förderprogramm. Zu den Übeln, die der markttotalitären Büchse der Pandora entsteigen, gehört eben auch, dass die Durchökonomisierung aller gesellschaftlichen Verhältnisse Pandemien Tür und Tor öffnet.
Bei der Klimakatastrophe dauerte es relativ lange, bis unter Naturwissenschaftler*innen Einigkeit darüber herrschte, dass der Anstieg der Durchschnittstemperaturen sich nicht auf natürliche Klimaschwankungen zurückführen lasse, sondern eindeutig ›menschengemacht‹[1] sei. Bei Sars-CoV-2 war das in der Wissenschaftsgemeinde sehr schnell Konsens. Wie dem neuen Erreger im konkreten Fall der Sprung vom Wildtier zum Menschen gelang, ist derzeit noch nicht abschließend geklärt; allerdings warnen Virologen, Politik und Öffentlichkeit schon seit vielen Jahren vor neuen Pandemien: »Die Zahl der zoonotischen Viren, die vom Tier auf den Menschen überspringen, ist in den vergangenen 50 Jahren steil angestiegen«,[2] so der niederländische Virologe Peter Rottier. Schuld daran ist zum einen die immer raschere Zerstörung von Lebensräumen. In Afrika, Asien und Lateinamerika dringen Menschen in bisher kaum genutzte Naturräume ein. Dabei kommen sie nicht nur mit Arten in engen Kontakt, mit denen sie früher nicht in Berührung kamen, sondern auch mit den spezifischen Krankheitserregern, die diese Tiere beherbergen. »Durch die immer massivere Abholzung der Wälder und die wachsende Urbanisierung haben wir diesen Mikroben Wege eröffnet, den menschlichen Körper zu erreichen und sich entsprechend anzupassen.«[3] Zum anderen erhöht die industrielle Massentierhaltung sowie das Zusammenpferchen unterschiedlicher Arten auf Märkten das Zoonose-Risiko:
»Je mehr Tiere zusammen auf einer kleinen Fläche gehalten werden, desto leichter können Viren zirkulieren und desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie früher oder später auf den Menschen überspringen. In dieser Hinsicht stellt die Massentierhaltung ein Risiko für die öffentliche Gesundheit dar.«[4]
Dass gerade dieses spezielle Virus zu genau diesem Zeitpunkt eine Pandemie auslöste, ist natürlich Zufall. Dennoch handelt es sich bei der Corona-Krise angesichts der gestiegenen Wahrscheinlichkeit von Zoonosen um eine Krise mit Ansage. Selbst die Virenfamilie ist keine Überraschung. Bereits für den Sars-Ausbruch von 2002/2003 war ein enger Verwandter von Sars-CoV-2 verantwortlich. Dementsprechend rangierten Corona Viren unter Virologen ganz oben auf der Liste potenzieller Pandemie-Erreger.
Welche Maßnahmen zur Minimierung des Zoonose-Risikos ergriffen werden müssten, ist ebenfalls wohlbekannt. Sie überschneiden sich mit dem, was zur Abwendung des Klimadesasters dringend geboten wäre. Nicht nur im Kampf gegen die Erderwärmung, auch aus Gründen der Seuchenprophylaxe müsste die sich immer weiter beschleunigende Zerstörung von Naturräumen gestoppt werden. Das Ende der Massentierhaltung von Rindern ist unabdingbar, um die Emission des Treibhausgases Methan abzusenken. In Hinblick auf die Verhinderung von Zoonosen stellen die Haltungsbedingungen insbesondere von Geflügel und Schweinen[5] das Hauptproblem dar.
Im heutigen Stadium kapitalistischer Entwicklung ist das Auftreten von Zoonosen erheblich wahrscheinlicher geworden als in allen früheren. Damit aber nicht genug. Das Wissen über virologische Zusammenhänge war zwar nie derart groß wie heute, das hat aber diese Gesellschaft nicht davon abgehalten, ihr kollektives Immunsystem gegen Seuchen abzubauen. Zum einen hat der jahrzehntelange Prozess der Ökonomisierung des Gesundheitswesens dessen Fähigkeit zur Seuchenabwehr unterminiert; zum anderen hat sich die Gesellschaft insgesamt in eine für die Bekämpfung von Pandemien verheerende Richtung entwickelt.
Dieser zweite Aspekt wird in der öffentlichen Debatte häufig auf die explosionsartige Zunahme der Reisetätigkeit, insbesondere des Flugverkehrs, verkürzt. Das spielt natürlich eine Rolle. Weil es damals weder Massentourismus noch Heerscharen von Geschäftsreisenden gab, war die Spanische Grippe[6] für ihren Aufstieg zur verheerendsten Zoonose des 20. Jahrhunderts noch auf militärische Unterstützung angewiesen. Sie schipperte 1918 als blinder Passagier mit einem US-amerikanischen Truppentransporter nach Europa und brauchte eine Woche für die Atlantiküberquerung. Viel wichtiger als die Beschleunigung und Vervielfachung des Reiseverkehrs[7] sind indes andere Faktoren. Das beginnt mit der Klimafrage. Im Gefolge des Klimawandels erweitern sich nämlich die Verbreitungsgebiete zahlreicher Infektionskrankheiten nachhaltig. Für europäische Ohren klingen heute Dengue-Fieber, Leishmaniose oder Chikungunya noch recht exotisch. Bis dato raffen diese Krankheiten auch nur in Afrika, Lateinamerika und Südostasien Menschen dahin. Weil die Mückenarten, die diese Krankheiten übertragen, in gemäßigte Breiten vordringen, ist es nach Expertenmeinung nur eine Frage der Zeit, bis auch die Erreger Europa für sich entdecken. Wichtiger – vor allem im globalen Maßstab – sind aber Stadtflucht und Verelendung in den Ländern der Weltmarktperipherie. Wo Megacitys mit riesigen Slums entstehen, in denen Abermillionen dicht an dicht leben, und das bei einer Wasserversorgung, die genauso prekär ist wie die Abwasserentsorgung, entstehen potenzielle Seuchen-Hotspots.
Die letzten vier Jahrzehnte haben die soziale Ungleichheit weltweit enorm verschärft. In den Ländern der Weltmarktperipherie wurden die traditionellen sozialen Netze zerstört, staatliche soziale Sicherungssysteme sind jedoch entweder erst gar nicht installiert worden oder sind schon wieder zerfallen. Und auch in den kapitalistischen Zentren wird bei den Sozialleistungen immer mehr geknausert, und die Armen werden immer ärmer. Angesichts von Corona und Co. entpuppt sich dieser Trend zur sozialen Polarisierung als ein einziges gigantisches Seuchenförderungsprogramm. Besonders extrem ausgeprägt ist das natürlich an der Weltmarktperipherie. Man nehme nur Indien, eines der Länder, das in der Wirtschaftspresse seit Jahren als einer der neuen Global Player abgefeiert wird. 90 Prozent der Arbeitnehmer*innen sind dort im informellen Sektor beschäftigt, ohne Verträge, ohne Versicherungen. Zu allem Überfluss hat die hindu-nationalistische Regierung in den letzten Jahren bei der staatlichen Gesundheitsversorgung und bei den Sozialausgaben noch einmal kräftig den Rotstift angesetzt. Millionen Menschen leben von der Hand in den Mund. Als Ministerpräsident Modi rigide Ausgangssperren erließ, rächte sich das bitter. Die vielen Millionen prekär Beschäftigten, die in den letzten Jahren vom Land in die Städte geströmt waren und von einem Tag auf den anderen von ihren kärglichen Reproduktionsmöglichkeiten abgeschnitten wurden, reagierten anders, als von Regierungsseite gewünscht. Statt sich in ihre städtischen Behausungen zurückzuziehen, machten sich viele von ihnen, wie Arundhati Roy eindrucksvoll schilderte, auf den langen Marsch zurück in die Herkunftsdörfer:
»Als Läden, Restaurants, Fabriken und die Bauindustrie geschlossen wurden, als die Reichen und die Mittelschicht sich in ihre umzäunten Kolonien zurückzogen, begannen unsere Städte und Megacitys die Arbeiter auszuspucken – die Wanderarbeiter – so wie einen ungewollten Haufen. Viele, die von ihren Arbeitgebern oder Vermietern herausgeworfen worden waren, Millionen Verarmter, hungriger, durstiger Menschen, Jung und Alt, Männer, Frauen, Kinder, Kranke, Blinde, Behinderte, die keinen Ort mehr hatten, ohne öffentliche Verkehrsmittel, machten sich auf einen langen Marsch nach Hause in ihre Dörfer. Sie wanderten über Tage (…) – hunderte von Kilometer. Einige starben auf dem Weg. Sie wussten, sie würden nach Hause kommen und möglicherweise langsam verhungern. Vielleicht wussten sie sogar, dass sie das Virus transportieren könnten, aber sie waren verzweifelt, weil sie ihre Familie brauchten, ihre Eltern, Schutz und Ehre, aber auch Nahrung, wenn schon keine Liebe. Während sie marschierten, wurden sie brutal geschlagen und gedemütigt von der Polizei, die die Ausgangssperre strikt durchsetzen sollte. (…) Getrieben von der Angst, dass die fliehende Bevölkerung das Virus in die Dörfer tragen werde, schloss die Regierung die Landesgrenzen sogar für Fußgänger.«[8]
Anfang Juni musste die indische Regierung den Lockdown nach 69 Tagen offiziell beenden, obwohl selbst die amtlichen Infektionszahlen immer noch stark steigen und jeden Tag mehr als 8.000 Neuinfektionen gemeldet werden.
Derart zugespitzt sind die Verhältnisse in den kapitalistischen Metropolen selbstverständlich nicht. Dennoch gilt auch dort die simple Gleichung: Je ausgeprägter die soziale Ungleichheit, je weiter der Prozess sozialer Entsicherung fortgeschritten ist, umso schwieriger gestaltet sich die Pandemiebekämpfung. Die USA waren nicht zuletzt deshalb prädestiniert, China als Hauptherd der Corona-Pandemie abzulösen, weil in God‘s Own Country die Lohnabhängigen mangels Lohnfortzahlung daran gewöhnt sind, sich auch krank zur Arbeit zu schleppen. Eine solche Praxis wirkt sich im Fall des hochgradig infektiösen Covid-19 natürlich höchst fatal aus. Dass 30 Millionen Amerikaner keine Krankenversicherung haben und schon aus diesem Grund aus der medizinischen Versorgung weitgehend herausfallen, tut ein Übriges. Sogar die Trump-Regierung hat indirekt die katastrophalen Folgen dieses Zustandes anerkannt, als sie Anfang April ihre Absicht erklärte, die Test- und Behandlungskosten im Zusammenhang mit Corona-Infektionen für die US-Bürger*innen ohne Krankenversicherung übernehmen zu wollen. Eine solche Ad-hoc-Maßnahme auf dem Höhepunkt der Pandemie kam aber natürlich zu einem Zeitpunkt, als das Kind längst im Brunnen lag. Wie viele Corona-Tote wären den USA erspart geblieben, wenn Obamacare nach 2016 nicht demontiert, sondern ausgebaut worden wäre?
Selbst in Ländern wie Frankreich und Deutschland, die im internationalen Vergleich noch mit einem soliden sozialen Netz ausgestattet sind, erweist sich die soziale Ausgrenzung als Fallstrick bei der Durchsetzung des ›Social Distancing‹. Man denke in diesem Zusammenhang nur an die Obdachlosen. Wer über keine eigenen vier Wände verfügt, hat es schwer, zu Hause zu bleiben. Weil in Wärmestuben und Notunterkünften die gängigen Abstandsregeln kaum realisierbar sind, mussten viele Hygiene-Stationen schließen. Ausgerechnet mitten in der Pandemie bleibt ein Großteil einer der gefährdetsten sozialen Gruppen mehr oder minder sich selber überlassen. Das liegt natürlich nicht daran, dass ein Mangel an geeigneten Unterbringungsmöglichkeiten herrschen würde. So wäre es während des Lockdowns naheliegend gewesen – und Obdachlosen-Initiativen forderten das auch – die zahllosen Corona-bedingt leer stehenden Hotelzimmer für diesen Zweck zu nutzen. Im April 2020 kamen auf jeden Bedürftigen in Deutschland ungefähr 36 ungenutzte Betten in Pensionen, Gasthäusern und Hotels. Dieses Reservoir wird aber nur für eine Minderheit der Betroffenen angezapft.[9] In den Nachbarländern bietet sich ein ähnliches Bild. Allein in Paris leben nach offiziellen Schätzungen 3.500 Menschen auf der Straße. Die Stadtverwaltung mietete im März 170 Hotelzimmer an, dem Gros der Obdachlosen stehen nur zu Notunterkünften umgebaute Turnhallen zur Verfügung. In den USA geht man, was die ›Fürsorge‹ für Obdachlose angeht, noch einen Schritt weiter und verzichtet auch schon einmal auf den Luxus, ein Dach über dem Kopf anzubieten:
»Wegen Ansteckungsgefahr hatten Wohnungslose in Las Vegas eine Notunterkunft räumen und auf dem Parkplatz eines Fußballstadions übernachten müssen. Mit weißen Linien, wie in einem Setzkasten, hatte die Polizei winzige ›Wohnflächen‹ markiert, auf denen sie ihre Körper ablegen durften, während die Luxushotels ringsum leer standen.«[10]
Offensichtlich ist auch angesichts von Corona das heilige Prinzip, dass jede über das bloße Vegetieren hinausgehende ›Wohltat‹ erarbeitet sein will, doch wichtiger als eine möglichst effiziente Seuchenbekämpfung.
Noch weit fataler auf die Seuchenbekämpfung wirken sich die Lebensverhältnisse aus, die bestimmten Gruppen von Arbeitsmigrant*innen zugemutet werden. Ein Musterbeispiel in dieser Hinsicht stellt Singapur dar. Wochenlang galt der Stadtstaat mit nur 200 gemeldeten Corona-Fällen als Musterknabe bei der Eindämmung des Virus. Mitte April änderte sich das Bild dramatisch, und Singapur belegte plötzlich in Südostasien den Spitzenplatz bei den gemeldeten Infektionen. Das Virus grassierte unter den zahlreichen Arbeitsmigrant*innen, weil die Behörden ›vergessenï hatten, diese in ihre Schutzmaßnahmen mit einzuplanen. 200.000 von ihnen wohnen in Heimen, 43 davon sind Megaheime mit mehreren Tausend Menschen: »Dort teilen sich bis zu 20 Personen einen Schlafsaal und noch mehr Menschen Küchen und sanitäre Einrichtungen.« Die logische Konsequenz solcher sozialen Ignoranz: »Die billigen Arbeitskräfte aus Süd- und Südostasien, deren Zahl im 5,6-Millionen-Einwohner-Land auf 800.000 geschätzt wird und ohne die in Singapur nichts geht, machen jetzt mehr als dreiviertel aller Infizierten aus.«[11]
In Deutschland gehen die Infektionsraten zwischen Menschen mit und ohne deutschen Pass nicht derart himmelschreiend auseinander. Aber auch hierzulande öffnen die besonders prekären Bedingungen, unter denen einige Gruppen von Arbeitsmigrant*innen schuften und leben müssen, dem Virus Tür und Tor. Das betrifft zum einen die Saisonarbeitskräfte in der Landwirtschaft.[12] Eine noch unrühmlichere Rolle spielt aber die dank Dumpinglöhnen seit Jahren florierende Fleischindustrie, die in erster Linie osteuropäische Arbeitskräfte ausbeutet. Kaum war der Corona-Lockdown Anfang Mai gelockert, machte die Branche negative Schlagzeilen. Zunächst wurden 129 vor allem aus Bulgarien und Rumänien stammende Mitarbeiter eines Schlachterbetriebs in Coesfeld positiv auf Corona getestet.[13] Kurz darauf machte die Meldung die Runde, bei der Firma Müller Fleisch in Birkenfeld bei Pforzheim seien 400 von 1.100 Mitarbeiter*innen infiziert.[14] Deutschland hat einen neuen Corona- Brennpunkt: die Fleischindustrie. Das war insofern absehbar, als diese Branche mit einem tiefgestaffelten System von Subunternehmern operiert, in dem niemand bereit ist, das Social Distancing durchzusetzen und dessen Kosten zu übernehmen. Hinzu kommt die Kasernierung der ausländischen Billigarbeitskräfte in Massenunterkünften. Der Corona-Ausbruch bei Tönnies brachte das Fass schließlich zum Überlaufen. Unter dem Druck der öffentlichen Meinung ergriff die Bundesregierungen eine Maßnahme, die sie schon vor Jahren hätte ergreifen sollen, und erließ für diese Branche ein Werkvertragsverbot.
Was soziale Ungleichheit angeht, sind unter den kapitalistischen Kernstaaten bekanntlich die USA führend. Dementsprechend rangiert das Land auch in Sachen Corona-Infektionen weltweit ganz weit vorne. Die USA haben unter den kapitalistischen Kernstaaten aber nicht nur absolut die meisten Infektionen und Todesopfer[15] zu verzeichnen; weit mehr als in Europa ist Corona dort eine Krankheit der Armen. Das lässt sich insbesondere daran ablesen, dass das Virus in den USA in keiner anderen Bevölkerungsgruppe derart viele Opfer fordert wie in der afroamerikanischen. »Mehrheitlich afroamerikanische Landkreise« vermeldeten laut Washington Post »teils dreimal so viele Infektionen und fast sechsmal so viele Todesfälle … wie Landkreise, in denen weiße Amerikaner in der Mehrheit seien«.[16]
Vor allem in Europa war die Daseinsvorsorge lange Zeit eine Domäne der öffentlichen Hand, auch das Gesundheitswesen. Im Gefolge der neoliberalen Revolution haben sich die Gewichtungen in diesem Sektor nachhaltig zugunsten des privaten Kapitals verschoben. Und auch diejenigen Teile des Gesundheitswesens, die nicht privatisiert wurden, stehen seit Jahren unter einem verschärften Ökonomisierungsdruck. Diese Verwandlung von Gesundheit in eine Art von Ware wirkt sich auf die Seuchenprophylaxe und -bekämpfung verheerend aus.
Das beginnt bereits bei der Ausrichtung der medizinischen Forschung. Diese wird inzwischen hauptsächlich von Pharmaunternehmen getragen, und diese pumpen ihre Mittel ausschließlich in Forschungsbereiche, bei denen die Aussicht besteht, dass sich diese Vorauskosten rentieren und am Ende absetzbare Waren stehen. Die Seuchenprophylaxe fällt da vollständig durchs Raster und Impfstoffe spielen nur eine Nebenrolle. In 2018 gaben die führenden Pharmaunternehmen der Welt einen Rekordbetrag von knapp 180 Mrd. Dollar für Forschung aus. Der riesige privatwirtschaftlich orientierte Wissenschaftsapparat beschäftigt sich aber fast ausschließlich mit der Suche nach Wirkstoffen gegen Zivilisationskrankheiten wie Herz- und Kreislaufleiden und Krebs. Infektionskrankheiten wie Malaria werden stiefmütterlich behandelt. Die für Seuchenbekämpfung relevante Forschung findet dementsprechend vornehmlich an den von der öffentlichen Hand finanzierten Universitäten und Forschungseinrichtungen statt. Allerdings fällt auch auf diesen Sektor des Wissenschaftsbetriebs inzwischen zunehmend der lange Schatten privater Verwertungsinteressen. Im Kampf um private Drittmittel haben nur solche Forschungsprojekte Chancen, an die sich langfristig entsprechende Gewinnerwartungen knüpfen lassen.[17]
Das mag einer der Gründe sein, warum die Forschung über Corona-Viren nach dem Ausbruch der Pandemie mehr oder minder einen Kaltstart hinlegen musste. Zwar war diese Viren-Familie nach dem Sars-Ausbruch von 2002/2003 in verschiedenen Ländern Gegenstand staatlich finanzierter Forschungsprojekte. Angesichts der Tatsache, dass Corona-Viren auf der Liste potenzieller Pandemie-Auslöser weit oben rangierten, war das ja auch dringend geboten; diese Arbeiten fielen aber alsbald dem Rotstift zum Opfer. Die Entwicklung von Medikamenten und Impfstoffen wäre heute natürlich wesentlich weiter vorangeschritten, wenn die Forschungsarbeit auf diesem Gebiet kontinuierlich weitergelaufen wäre. Dementsprechend nachvollziehbar ist die Klage des weiter oben bereits zitierten Virologen Peter Rottier: