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Im Alltag zwischen Stress und ständigen Reizen fällt es uns oft schwer, auf unseren Körper zu hören. Dabei birgt unser „innerer Sinn“ ein ungeahntes Potenzial für unsere physische und psychische Gesundheit. Die Biologin und Wissenschaftsjournalistin Caroline Williams wendet den Blick bewusst nach innen und zeigt in ihrem unterhaltsamen und zugänglichen Buch, wie die neue Wissenschaft der Interozeption uns dabei helfen kann, uns selbst und andere besser zu verstehen, uns „zu fühlen“ – und dabei unsere psychische und physische Gesundheit in die eigene Hand zu nehmen.
Wir entscheiden Dinge instinktiv, folgen unserem „sechsten Sinn“ und entschließen uns spontan zu diesem oder jenem – einfach, weil wir spüren, dass es richtig ist –, während wir anderes intuitiv ablehnen. Es sind Eindrücke aus unserem Innersten, die uns dabei leiten: Der Körper zeigt uns, wann wir hungrig sind, wann uns kalt ist oder wie wir uns in Situationen verhalten sollen, auf die wir mit Panik oder Stress reagieren. All das ist Interozeption: Die Wahrnehmung und Interpretation von Signalen aus unserem Körperinneren durch unser Nervensystem. Caroline Williams gibt einen Einblick in dieses faszinierende neue Forschungsfeld, das die Rolle unserer Selbstwahrnehmung für ein glückliches und gesundes Leben untersucht. Dabei fördert sie erstaunliche Erkenntnisse zutage: Der innere Sinn ist Grundlage unserer Fähigkeit zur Empathie, kann unser körperliches Wohlbefinden und Stressmanagement auf ein neues Level heben und ermöglicht einen neuen Zugang zu unserem Körper und Geist. Das Beste daran: Man kann ihn trainieren.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2025
Caroline Williams
SICH FÜHLEN
DIE NEUE WISSENSCHAFT DER INTEROZEPTIONALS SCHLÜSSEL FÜR KÖRPERLICHE UND GEISTIGE GESUNDHEIT
Aus dem Englischen von Susanne Warmuth und Jorunn Wissmann
C.H.Beck
Cover
Inhalt
Textbeginn
Titel
Inhalt
Einleitung
Fühlen Sie es?
Unangenehm unempfindlich
Es geht nicht (nur) um Sie
Auf geht’s nach innen!
1: Im Inneren des Geschehens – Homöostase, Gefühle und die Kunst, am Leben zu bleiben
Die Zukunft fühlen
Wer entscheidet?
Würde es einen Roboter kümmern?
Aus tiefstem Herzen
Auf Veränderung angelegt
2: Der interozeptive Superhighway – Unterwegs auf dem Vagusnerv und anderen, weniger befahrenen Straßen
Linienführung
Was spielt sich wirklich im Vagusnerv ab?
Stimulierende Entdeckungen
Geht es auch ohne Operation?
Geheimnisse des Superhighways
Fett fühlen
In die richtigen Bahnen lenken
3: Die Energie hochfahren – Leben, Energie und die Anfänge einer Wissenschaft des Chi
Eine natürliche Kraft
Was Mitochondrien wollen
Den Teufelskreis durchbrechen
Mitochondrien messen
Keine Probleme, mehr Energie
Auf dem Weg zu einer Wissenschaft des Chi
Altern nach Wunsch?
4: Eingeweideschau für Anfänger – Hunger und andere Bauchgefühle verstehen
Wie viel ist genug?
Zarter Schmelz
Mehrere Gehirne?
Eine Kalorie oder zwei?
Was wir wollen und was wir brauchen
Nicht hungrig
Futter für die Kleinen
5:
Bodymental Health
– Den Überblick behalten, wenn Körper und Kopf sich irren
Unser Sinn für den Körper
Signalstörungen
Unsere Erwartungen
Ich fühle nichts
Dem «Ich» eine Bedeutung geben
Zielübungen
Es braucht ein ganzes Dorf
Krank und schlapp
6: Freud und Leid – Auf den Wellen der Gefühle reiten – ohne hineinzufallen
Überlebenszeichen
Habe mich nie besser gefühlt
Schmerz in Körper und Gehirn
Nützen oder wenigstens nicht schaden
Heilsame Berührung
7: Wie man sich in Einklang bringt – Auf den Körper hören – und mit offenen Augen durch die Welt gehen
Womit anfangen?
Interozeptive Allzweckstrategien
Körperbasierte Achtsamkeit
Immer mal wieder hineinhorchen
Das Signal verändern
Körperlesen in der Welt von heute
Stress und Ängste
Hunger, Energie und Trostessen
Gestärkt von innen, bestärkt von außen
Die Zukunft
Dank
Anmerkungen
Einleitung
1 Im Inneren des Geschehens
2 Der interozeptive Superhighway
3 Die Energie hochfahren
4 Eingeweideschau für Anfänger
5
Bodymental Health
6 Freud und Leid
7 Wie man sich in Einklang bringt
Register
Zum Buch
Vita
Impressum
Ich liege nackt (wenn man von ein paar Ohrstöpseln absieht) in einer Art Tank, der die Form einer Avocado hat. Die flache Wanne in seinem Inneren ist mit Wasser gefüllt, das mit so viel Salz versetzt wurde, dass ich gleichsam darin schwebe; die Temperatur der Lösung entspricht in etwa meiner Körpertemperatur, sodass ich das Wasser auf meiner Haut nicht fühlen kann. Wenn ich den Deckel des Tanks schließe und die stimmungsvolle Beleuchtung ausschalte, ist nichts zu sehen, zu hören oder zu spüren. Nichts, was mich von einer Stunde wohltuender Stille ablenkt.
Jedenfalls hatte ich gedacht, dass es so sein würde; doch schon bald wurde klar, dass Stille nicht zur Debatte stand. Mein Magen gurgelte vor sich hin, mein Puls hämmerte in meinem linken Ohr, offenbar hatte mein Körper sich selbst derart viel zu erzählen, dass es mir nicht gelang, auch nur einen ruhigen Augenblick zu genießen.
Das war mein erster Besuch in einem sogenannten Floating-Tank (manchmal heißen sie auch Isolations- oder Entspannungstank), das Erlebnis wird üblicherweise als «Abschottung von Außenreizen» beworben, ein Weg, um sich eine wohlverdiente Auszeit von der Welt da draußen zu nehmen. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass ich, während meine Umgebung ausgeblendet wird, gleichzeitig immer deutlicher einen Sinn wahrnehmen würde, von dem ich bis dahin nicht wusste, dass ich ihn habe – ein innerer Sinn, der nicht nur der Mittelpunkt unseres persönlichen Universums ist, sondern eines der bedeutendsten Konzepte darstellt, das im Lauf der letzten Jahrzehnte in Wissenschaft und Medizin entwickelt wurde. Eines, das das Potenzial hat, mehr Wohlbefinden, weniger Stress, mehr Energie und neue Behandlungsmethoden für weitverbreitete, aber schwer zu behandelnde Erkrankungen von Körper und Geist zu schaffen.
Offen gestanden, wundert es mich, dass dieses Konzept noch nicht in den Schlagzeilen und Hauptnachrichten aufgetaucht ist. Und das, obwohl es so ziemlich alles, was uns heutzutage plagt, zu richten vermag. Vielleicht liegt es daran, dass sein Name keine positiven Assoziationen weckt, nicht verrät, wie aufregend es in Wahrheit ist. Sein Name lautet Interozeption, auf Deutsch auch Innenwahrnehmung. Gemeint ist der Sinn zur Wahrnehmung des eigenen Körperinneren, und er umfasst die Art und Weise, wie das Gehirn die Signale und Empfindungen, die in unserem Körper entstehen, zum Beispiel Herzschlag, Hunger, Temperatur, Müdigkeit, Energie, Freude und Schmerz, interpretiert. Diese Signale beinhalten lebenswichtige Hinweise auf unser aktuelles und künftiges Wohlbefinden, und sie sind von so großer Bedeutung für unser Überleben, dass unser Gehirn sie ins Zentrum all unserer Erfahrungen stellt. Wenn wir den Namen beiseitelassen, finden wir eine ganz neue, geheimnisvolle innere Welt vor, die nur darauf wartet, entdeckt zu werden.
Meine Stunde im Floating-Tank war der Beginn einer einjährigen Reise in diese neue Welt. Auf dieser Reise habe ich Kontinente durchquert, vibrierende Kapseln geschluckt und unglaublich viel Zeit damit verbracht, meinem Herzen zuzuhören – alles nur deshalb, weil ich verstehen wollte, was das mit unserem Denken und Fühlen zu tun hat.
Die kurze Antwort lautet: eine Menge. Die Signale und Empfindungen aus unseren Organen und Geweben sind weit mehr als das unvermeidliche Klappern und Surren einer Körpermaschine, sie werden vielmehr zunehmend als das Fundament unseres Geistes angesehen, da sie nicht nur einen ununterbrochenen Strom biologischer Stimmungsmusik zur Verfügung stellen, die jedem Gedanken, jedem Gefühl eine Färbung verleiht, sondern weil sie auch die Anstöße für sämtliche Wünsche und Handlungen liefern. Es liegen immer mehr Forschungsergebnisse vor, die besagen, dass uns die Verbesserung der Fähigkeit, diese Signale zu spüren und zu interpretieren, helfen kann, uns selbst besser zu verstehen und unsere Beziehungen zu den Menschen um uns herum zu verändern. Außerdem könnte sie uns helfen zu verstehen, was hinter manchen gesellschaftlichen Problemen steckt – nicht zuletzt die anscheinend immer stärker werdende Polarisierung im politischen und sozialen Diskurs. In den letzten Jahren wurde die rationale, ruhige Diskussion – insbesondere in den sozialen Medien – mehr und mehr von emotionaler Argumentation und verbalen Ausfällen verdrängt, die allein auf die Gefühls- und nicht auf die Vernunftebene abzielen. Ohne die alles einordnenden Einsichten der Interozeption besteht die Gefahr, dass wir uns von Gefühlen hin- und wegreißen lassen, die unter Umständen nicht die Realität widerspiegeln.
Wenn wir genauer darüber nachdenken, haben wir vermutlich alle schon einmal vermutet, dass wir so etwas wie einen inneren Sinn besitzen. Die Vorstellung, auf sein Herz zu hören, seinem Bauchgefühl zu vertrauen oder sich von seinem Instinkt leiten zu lassen, scheint intuitiv plausibel zu sein, aber es ist nicht so einfach zu erklären, warum. Bis vor Kurzem gab es keine Möglichkeit zu messen, ob dafür tatsächlich eine Grundlage existiert.
Dank einiger genialer Experimente und dank des kreativen Einsatzes von Technik haben Wissenschaftler nun Wege gefunden, Signale aus dem Körperinneren in Echtzeit zu messen – und zu optimieren – und sie mit den Vorgängen in unserem Kopf zu verknüpfen. Diese neuen Herangehensweisen erbrachten einige bedeutsame Erkenntnisse. Erstens, dieser «sechste Sinn» existiert nicht nur tatsächlich, sondern er beruht auf messbaren Körperempfindungen und deren Konversation mit dem Gehirn. Zweitens, manche Menschen haben einen besseren Zugang zu diesem Sinn als andere, das betrifft die Art und Weise, wie wir mit unseren Emotionen umgehen, wie wir mit anderen in Beziehung treten und wie wir Entscheidungen treffen. Drittens, der Zugang zu diesem Sinn ist eine Fähigkeit, die sich durch Training, aber auch durch gezielte Interventionen nachweislich verbessern lässt.
Die Bedeutung dieser Erkenntnis für unser Verständnis von Geist und Gehirn kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Ein wichtiger Aspekt: Es bringt uns weg von der Vorstellung, dass alles, was mit Denken und Fühlen zu tun hat, vom Hals an aufwärts stattfindet – eine weitverbreitete Annahme in Medizin und Neurowissenschaften.
Trotzdem bedeutet Interozeption keineswegs eine Degradierung des Gehirns; es geht vielmehr darum klarzumachen, dass das Gehirn nur im Kontext mit dem Körper und den unzähligen Kommunikationskanälen, die in beide Richtungen verlaufen, selbst einen Sinn hat. So gesehen, ist das Gehirn weniger der Chef als vielmehr ein gleichberechtigter Partner, der eng mit dem Körper zusammenarbeitet, um uns gesund und am Leben zu halten.
Während Sie das hier lesen, fragen Sie sich vielleicht, ob Sie diesen sechsten Sinn wirklich haben. Falls ja: Das ist völlig normal. Denn anders als die bekannteren, nach außen gerichteten Sinne wie Seh- oder Hörsinn funktionieren die Empfindungen im Körperinneren meist nach dem Motto «Du spürst nur, was du weißt».
Es ist nicht notwendig, über die vielen Organe und Körpersysteme Bescheid zu wissen. Unsere Nieren, die Leber und die Bauchspeicheldrüse beispielsweise arbeiten fröhlich vor sich hin, kontrolliert von physiologischen Regelungsmechanismen, von denen wir selten etwas mitbekommen. Wenn wir sie tatsächlich einmal spüren, dann weil irgendetwas ernsthaft schiefgelaufen ist. Im Großen und Ganzen ignorieren wir sie alle miteinander und hoffen, dass sie sich nie melden.
Dann gibt es die Botschaften von Organen, die sich in der Regel ruhig verhalten, in die wir aber gezielt hineinhorchen können, wenn wir wollen. Doch meistens nehmen wir sie erst dann wahr, wenn sie sich bemerkbar machen, normalerweise um zu signalisieren, dass dringendes Handeln geboten ist. Am auffälligsten ist unser Herzschlag, aber die Empfindungen beim Ausdehnen und Zusammenziehen der Lungen, das Gefühl von Fülle und Leere im Magen, in der Blase, im Darm, sie alle funktionieren nach dem gleichen Muster. Die Situation ist nicht direkt mit der Botschaft «Bitte rufen Sie uns nicht an, wir melden uns bei Ihnen» zu vergleichen, eher mit «Sie können gern anrufen, aber wir kommen auf Sie zu, wenn es wichtig ist».
Zwischen diesen beiden Extremen sind die dezenten, kaum wahrnehmbaren Empfindungen angesiedelt, die Bauchgefühl und Intuition zugrunde liegen; sie sorgen nach den Worten von Bud Craig, einem Pionier der Interozeptionsforschung, für das allgemeine «Wie ich mich gerade fühle»-Gefühl. Dieses kann sich als unbestimmtes Gefühl von Wärme und Sicherheit zeigen. Es kann an einem Tag als Gefühl von Stärke und Leistungsfähigkeit auftreten, an einem anderen als Gefühl von Angst und Verletzlichkeit. Oder es äußert sich als ungutes Gefühl, dass irgendetwas nicht Definierbares nicht in Ordnung ist. Diese nebulösen Gefühle lassen sich nicht einfach beschreiben oder an einem bestimmten Teil des Körpers festmachen, aber sie können zu mächtigen Triebfedern für Gedanken, Handlungen, Emotionen werden, selbst wenn wir uns nicht bewusst sind, was uns in die eine oder die andere Richtung stupst.
Aus Gründen, die noch nicht vollständig geklärt sind, verfügen manche Menschen über einen empfindlicheren inneren Sinn als andere. Es gibt Leute, die können den Herzschlag in ihrer Brust spüren, wenn sie ruhig dasitzen, und andere können das nicht. Manche Menschen registrieren Gefühle wie Hunger, eine leichte Muskelverspannung oder einen Druck in der Blase, lange bevor es dringend wird. Andere merken erst dann etwas, wenn ihnen schwindlig wird, sie den Kopf nicht mehr drehen können oder sie schnellstens eine Toilette benötigen.
Wir unterscheiden uns auch darin, wie viel bewusste Einsicht wir in unsere Fähigkeit haben, den eigenen Körper «zu lesen», wie viel Vertrauen wir in unsere Körpersignale als zuverlässige Informationsquellen setzen und ob wir eher dazu neigen, auf unseren Körper zu achten als auf die Welt um uns herum. Diese Unterschiede, die zum Teil auf unserer Genetik und zum Teil auf unserer Lebenserfahrung beruhen, beeinflussen alles, angefangen von unserer emotionalen Intelligenz bis hin zu unserer Fähigkeit, Mitgefühl zu empfinden. Sie spielen auch für unsere seelische Gesundheit, für Motivation sowie für einige der Herausforderungen eine Rolle, die mit neurologischen Unterschieden (Neurodiversität) einhergehen. Erhöhte sensorische Empfindlichkeit kann bei autistischen Menschen beispielsweise dazu führen, dass sie sich ängstigen oder überfordert fühlen, während Probleme mit der Emotionsregulation, die auf der Fähigkeit beruht, Körpersignale zu spüren und zu verstehen, sowohl bei Autismus wie auch bei ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) auftreten.
Aber es gibt auch eine gute Nachricht: Wie immer klarer wird, können wir unseren inneren Sinn optimieren und trainieren. Indem wir ein besseres Gefühl dafür bekommen, was in uns vorgeht und was es bedeutet, erhalten wir alle die Möglichkeit, unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden gezielt zu beeinflussen.
Zwar ist es ohne Zuhilfenahme einer Zeitmaschine schwer zu beweisen, doch möglicherweise sind sich diejenigen von uns, die in der «westlichen Welt» leben, weniger bewusst, wie der Körper den Geist beeinflusst, als es unsere Vorfahren waren. Wie unsere Vorfahren gelebt haben, können wir näherungsweise in heutigen Jäger-Sammler-Populationen wie den Hadza in Tansania beobachten. Einer neueren Studie zufolge drücken die Hadza emotionale Momente eher in Begriffen aus, die körperlichen Empfindungen entsprechen – sie sagen zum Beispiel, dass ihnen heiß wird oder dass sie ein Pochen in der Brust verspüren. Eine amerikanische Vergleichsgruppe beschrieb die Emotionen eher in Begriffen, die sich auf die geistige Ebene beziehen, wie Zweifel oder Scham, oft ohne den Körper überhaupt zu erwähnen![1]
Ob sich das ohne Weiteres verallgemeinern lässt, ist schwer zu sagen, doch dass die westliche Wissenschaft seit mindestens 400 Jahren Körper und Geist formal voneinander geschieden hat, ist sicher richtig; dies geschah nicht nur durch das Sezieren von Leichen, sondern auch durch das Aufspalten von Körper und Geist in zwei Entitäten. Der französische Philosoph René Descartes bekommt üblicherweise die Schuld daran zugewiesen, nicht zuletzt wegen seiner enorm einflussreichen Werke Principia philosophiae (Die Prinzipien der Philosophie) und Meditationes de prima philosophiae(Meditationen über die Erste Philosophie), die im 17. Jahrhundert erschienen und in denen er den Körper als Maschine beschreibt, die nichts mit dem ätherischen, unmessbaren Geist zu tun hat. Wenn man bedenkt, dass zu dieser Zeit weder über das Funktionieren des Körpers noch des Geistes viel bekannt war, ist diese Annahme absolut plausibel. Gut zweihundert Jahre später, Mitte der 1880er Jahre, wurden Körper und Geist kurz wieder zusammengepackt, als William James (ein amerikanischer Philosoph, der von vielen als Vater der Psychologie betrachtet wird) postulierte, dass körperliche Empfindungen die Basis all unserer Gefühle seien. Etwa zur gleichen Zeit stellte der dänische Arzt Carl Lange eine ähnliche Hypothese auf; beide zusammen wurden später als James-Lange-Theorie der Emotionen bekannt. Nach dieser Theorie ist es nicht so, dass wir Angst haben und dann unser Puls steigt, sondern wir empfinden Angst,weilunser Herz schneller schlägt.
In ihrer Zeit wurde die Idee niedergemacht, nicht zuletzt von Walter Cannon, einem Physiologen, der unter anderem den Begriff fight-or-flight response (Kampf-oder-Flucht-Reaktion) prägte. Nicht einmal Charles Sherrington[2], der Nobelpreisträger für Physiologie, der 1906 das Wort «interoceptive» erfand, war überzeugt. Viele Jahre blieb es die vorherrschende Auffassung, dass die sensorischen Verbindungen zum Gehirn zu langsam seien, um für etwas so Gewitztes wie menschliches Denken und Fühlen eine Rolle zu spielen; das Gehirn bemerke Veränderungen gewiss zuerst, und dann komme der Körper hinterher. Die Neurowissenschaften entwickelten sich weiter, aber immer auf Grundlage der Vorstellung, dass sich alles Wichtige im Gehirn abspielt. Noch einmal eineinhalb Jahrhunderte später kommen diese beiden konkurrierenden Theorien endlich in einer Weise zusammen, die uns helfen kann, heutige – und künftige – Probleme und Anforderungen zu meistern.
Kein Zweifel, das 21. Jahrhundert war bislang alles andere als ein Spaziergang. Von Klimawandel über Krieg, eine globale Pandemie und politische und ökonomische Instabilität jagt gerade eine existenzielle Bedrohung die andere, im Gepäck das undeutliche, aber hartnäckige Gefühl, dass gerade nichts in Ordnung ist. Dieses leise Unwohlsein ringt um Aufmerksamkeit inmitten der Reizüberflutung und der rasenden Geschwindigkeit des modernen Lebens. Im Mahlstrom der Informationen, die wir mit unseren nach außen gerichteten Sinnen aufnehmen, werden wir unempfindlich für die subtileren Informationen aus unserem Inneren. Wir haben nichts weiter als das vage Gefühl drohenden Unheils, das wir aber nicht packen können; wir könnten nichts dagegen unternehmen, selbst wenn wir Zeit dafür hätten. Am stärksten ist dieses Gefühl bei jungen Erwachsenen, die sich der geballten Macht einer ungewissen Zukunft gegenübersehen. Das brachte die Forscherin Britt Wray von der Stanford School of Medicine dazu, vor einer kommenden seelischen Gesundheitskrise zu warnen; sie spricht von einer «Generation Dread»[3] («Generation Angst»).
Angesichts der Größenordnung der Herausforderungen, vor denen die Menschheit steht, ist die Versuchung groß, sich der vielen Ablenkungsmöglichkeiten der modernen Welt zu bedienen und sie als Schutzschild gegen die bösen Vorahnungen aus dem Inneren zu verwenden. Wenn man ständig einen in hohem Maße Aufmerksamkeit fordernden Bildschirm in der Tasche hat, ist das nur allzu leicht. Doch auf lange Sicht wird es auf diese Weise nur noch schlimmer, im Extremfall kann es sogar katastrophal enden. Im Jahr 2005 starb ein 28-jähriger Computerspielsüchtiger namens Lee Seung Seop vor seinem Bildschirm, nachdem er das Onlinespiel StarCraft fünfzig Stunden ohne Pause gespielt hatte.[4] Die offizielle Todesursache war Herzversagen aufgrund von Erschöpfung und Dehydrierung. In Wirklichkeit starb er, weil er die interozeptiven Schreie seines Körpers nach Nahrung, Wasser und Schlaf nicht wahrgenommen hatte und diesem Verlangen nicht nachgekommen war.
Diese Geschichte erzählen viele Mütter ihren Teenager-Gamern zur Warnung, sie ist auch ein seltenes Beispiel dafür, was geschehen kann, wenn die körperliche Unempfindlichkeit extrem wird. Aber der Tod von Lee war kein Einzelfall.[5] Jeder, der einen Gamer zu Hause hat – oder einen anderen Bildschirmabhängigen, von Social-Media-Junkies bis zu Bingewatchern –, wird den Hang zur Vernachlässigung selbst der grundlegendsten Bedürfnisse wiedererkennen. Selbst auf einem Niveau, das wir vielleicht noch als gesund erachten, scheint der Bildschirm uns von dem abzulenken, was unser Körper wirklich braucht. Als die zur Amateurforscherin gewandelte frühere Microsoft-Managerin Linda Stone die Atemfrequenz von 200 Menschen beim Lesen und Beantworten ihrer E-Mails maß, stellte sie fest, dass 80 Prozent von ihnen so gebannt auf den Bildschirm schauten, dass sie gelegentlich vergaßen, Luft zu holen. Sie nannte dieses Phänomen screen apnoea («Bildschirmapnoe»), später konnte ein Zusammenhang zu einer erhöhten Wahrscheinlichkeit für Stress und Angstzustände hergestellt werden.[6]
Langes Sitzen, mit oder ohne Bildschirm, hat auch noch andere Konsequenzen. Das Fehlen sensorischer Information aus dem Körper führt dazu, dass wir keine Verbindung mehr zu Herz, Muskeln und Gelenken spüren und gar nicht merken, dass wir steif werden und die Kondition verlieren. Am Ende sind wir schlapp und kraftlos, und ein Teufelskreis von Müdigkeit und Untätigkeit setzt ein, unterbrochen von gelegentlichen Versuchen, wieder in Form zu kommen, die aber nur wenig damit zu tun haben, wie sich unser Körper gerade innerlich anfühlt.
Die heutige Ernährung ist ebenfalls nicht hilfreich. Hochverarbeitete Lebensmittel, die etwa 60 Prozent der durchschnittlichen Ernährung von Briten und Amerikanern ausmachen,[7] wurden so designed, dass sie gut schmecken, Kalorien liefern und eine Textur haben, die im Mund schmilzt und Appetit auf mehr macht, ohne wirklich zu sättigen. Diese Ernährungsweise hebelt das interozeptive System aus, das uns sagt, wann wir essen sollen, was wir essen sollen und wann wir genug haben. Viele hochverarbeitete Lebensmittel enthalten große Mengen Salz, Zucker und Fett; das führt zu einer Überstimulation der Darm-Hirn-Verbindungen, die kalorienreiche Nahrungsmittel mit angenehmen, tröstlichen und belohnenden Gefühlen koppeln. Auf diese Weise wird ein lebensrettendes zu einem potenziell lebensbedrohlichen Bedürfnis, das uns veranlasst, zu viel von dem zu essen, was wir mögen, anstatt das zu essen, was wir brauchen.
Was noch schlimmer ist, ungesunde Ernährung, Bewegungsmangel und Stress lösen Entzündungen aus, wodurch Körpersignale freigesetzt werden, die uns sagen, dass wir uns zurückziehen sollen. Wir erleben das als Unwohlsein: Wir fühlen uns müde, antriebslos und meiden die Gesellschaft von anderen. Um eine Infektion oder eine Verletzung auszukurieren, wäre das eine vernünftige Strategie, so aber wächst das Risiko, an einer Depression, einer Herz-Kreislauf-Erkrankung oder einer der vielen anderen bekannten Stoffwechselstörungen zu erkranken,[8] ganz zu schweigen davon, dass man sich erschöpft und nicht auf dem Damm fühlt.
Diese modernen Faktoren kommen noch erschwerend hinzu zur Ausgangssituation, dass wir alle verschieden sind, sowohl in unserer natürlichen Neigung, unserem Körper zuzuhören, als auch darin, wie laut er zu uns spricht. Und wie wir noch sehen werden, können auch Erfahrungen, die wir machen, wichtige Veränderungen an den Sollwerten vornehmen, wann wir die Signale unseres Körpers wahrnehmen; das kann unter Umständen dazu führen, dass wir überempfindlich oder zu unempfindlich auf sie reagieren. Ob nun aufgrund genetischer oder sozialer Prägung – wahrscheinlich spielt beides eine Rolle –, wir alle singen von einem anderen Notenblatt und zu unserer persönlichen Begleitmusik. Wenn wir hören, was die Musik spielt, und verstehen, wie sie uns beeinflusst, haben wir eine größere Chance, die Melodie zu verändern, wenn es nötig werden sollte.
Es gibt noch einen letzten Grund, weshalb wir der Interozeption wesentlich mehr Aufmerksamkeit einräumen sollten, und der ist wirklich wichtig. Unsere interozeptiven Fähigkeiten betreffen uns nicht nur als Individuen, sie haben auch großen Einfluss auf unsere Beziehungen zu anderen und die «Gesundheit», das Wohl unserer Gesellschaft. Genau wahrzunehmen, was im Inneren des eigenen Körpers vorgeht, ist die biologische Grundlage für Mitgefühl – die Fähigkeit, die Gefühle anderer «anzuzapfen». Das geschieht nicht einfach nur, indem wir die äußeren Zeichen von Freude oder Schmerz an deren Körper erkennen, vielmehr verändert sich unser eigener Körper ebenfalls, sodass wir die Gefühle der anderen spüren, als seien es unsere eigenen. Einiges deutet darauf hin, dass unser Immunsystem aktiviert wird, wenn wir uns in Gesellschaft einer kranken Person befinden, und wir beginnen, ihre Symptome zu spüren – selbst wenn wir uns nicht im selben Raum aufhalten.[9]
Der Ursprung unserer Empathiefähigkeit liegt zum Teil in unserer einzigartigen Evolutionsgeschichte als soziale Spezies begründet. Hinzu kommt unsere lange Kindheit, in der wir auf andere angewiesen sind, die uns helfen, unsere physiologischen und emotionalen Bedürfnisse zu steuern. Diese Erfahrungen aus den frühen Jahren bleiben uns unser ganzes Leben lang erhalten, sie sind maßgeblich dafür, wie wir unseren Körper und unseren Geist verstehen.[10]
Ganz gleich wie unabhängig wir als Erwachsene werden, das Bedürfnis nach zwischenmenschlichen Beziehungen verschwindet nie; wir können nicht ohne sie leben. Eine neuere Datenanalyse von mehr als zwei Millionen Menschen ergab, dass soziale Isolation mit einem um 32 Prozent erhöhten Risiko für einen frühen Tod einhergeht. Einsamkeit, das heißt ein Mangel an echten sozialen Interaktionen, erhöht das Risiko für einen frühen Tod um 14 Prozent.[11] Selbst wenn Einsamkeit nicht tödlich ist, kann sie das Leben schwerer machen als nötig. Während der Lockdowns in der Covid-19-Pandemie wurde es offensichtlich: Sobald wir uns nicht mit anderen treffen können, fühlen wir uns schnell emotional und sozial verloren.
Fehlende Verbundenheit fördert möglicherweise sogar einige der besorgniserregendsten Merkmale moderner Gesellschaften. Manos Tsakiris von der Royal Holloway University in London ist der Meinung, dass das (erneute) Aufkommen einer wutgetriebenen, populistischen Politik von einer verängstigten Bevölkerung befeuert wird, der es nicht gelingt, das Chaos zu verarbeiten, das unsere moderne Welt in unserem Körper anrichtet. Es ist eine explosive Mischung, die das Risiko birgt, dass wir uns von unserem Bauchgefühl leiten lassen und empfänglich werden für Führerfiguren, die uns versprechen, diese unangenehmen Gefühle verschwinden zu lassen, und für Verschwörungserzählungen, die mit unseren schlimmsten Ängsten und Unsicherheiten arbeiten.
Nachdem der vor uns liegende Weg sogar noch holpriger aussieht, als zunächst gedacht, ist es vielleicht an der Zeit, sich ernsthaft damit zu befassen, was wir in unserem Inneren fühlen – und warum. Nur so können wir die Spaltung in Körper und Geist beenden und mehr Verständnis für uns selbst und unsere Mitmenschen entwickeln.
Vielleicht klingt es wie ein Wunschtraum, aber diese neue Art zu leben befindet sich in Reichweite. Im Folgenden werde ich versuchen herauszufinden, was es bedeutet, die Interozeption zu meistern, und was sie für uns alle tun kann. Ich werde mich mit ein paar Wissenschaftlern und Philosophen treffen, die dieses unbekannte Land in unserem Inneren kartieren und herausarbeiten, wie das System funktioniert. Und die ergründen, warum es als Reaktion auf die moderne Welt fehlschägt – mit negativen Folgen für unsere physische und psychische Gesundheit.
Ich werde Menschen treffen, die den Nutzen neuer körperzentrierter Ansätze am eigenen Leib spüren, und ich werde erfahren, wie interozeptives Training Menschen mit Angststörungen hilft, ihre Symptome unter Kontrolle zu bekommen, und Polizeibeamte beim Umgang mit beruflichem Stress unterstützt. Ich werde herausfinden, wie Berührung effektiv Schmerz lindert, indem sie die interozeptiven Verbindungen in der Haut aktiviert, die Trost und Fürsorge signalisieren, und wie durch zunehmende körperliche Stärke auch Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl stärker werden. Ich werde entdecken, weshalb das Gefühl, Energie zu haben, Ergebnis einer interozeptiven Konversation zum Thema «Ist das, was ich tun muss, die Energie wert?» ist – und wie wir das System austricksen könnten, wenn die Antwort Nein lautet.
Ich werde auch Menschen mit überdurchschnittlichen interozeptiven Fähigkeiten treffen und herausfinden, wie ihnen das hilft. Zum Beispiel ein Verhandler bei Geiselnahmen, dessen Empathie ihm hilft, in Krisensituationen mit Menschen eine Verbindung herzustellen, während er seine eigenen Emotionen im Zaum hält. Oder ein Börsenmakler, der an der Wall Street viel Geld gemacht hat, weil er seinem Bauchgefühl folgte. Anhand solcher Beispiele werden wir sehen, dass es sich um alles andere als eine schwammige Idee handelt, die keinen großen Unterschied macht, sondern dass wir damit eine Handhabe für unsere Körpersignale bekommen, die echten Nutzen verspricht. Zum Schluss werde ich all diese Forschungsergebnisse zusammenführen und Vorschläge unterbreiten, wie Sie interozeptives Wissen in Ihren Alltag integrieren können.
Doch als Erstes müssen wir einmal tief Luft holen und in unsere undurchsichtige Innenwelt eintauchen, um zu verstehen, warum das, was dort passiert, so viel Einfluss auf unser Erleben hat. Wie wir sehen werden, ist es Sinn und Zweck der Interozeption, aus den Widrigkeiten des Lebens zu lernen, damit wir die einzigartige Erfahrung des Menschseins genießen können.
1
Homöostase, Gefühle und die Kunst, am Leben zu bleiben
«Hör zu, ich bin nur ein Planet, der sein Ding macht, verstanden? Wenn du auf mir leben willst, ist das ganz allein deine Sache.»
Dieses Zitat von der satirischen Website «The Daily Mash» wurde dem Planeten Erde zugeschrieben und ist tiefgründiger, als es scheint.[1] Wir mögen uns unseren Planeten vielleicht als eine fürsorgliche «Mutter Erde» vorstellen, aber in Wahrheit ist sie nicht die Art Mutter, die sich darüber Gedanken macht, ob es Ihnen warm genug ist oder ob Sie genug zu essen haben. Das Leben auf der Erde existiert nicht etwa, weil sich jemand darum gekümmert hätte, sondern weil es einen Weg gefunden hat, sich um sich selbst zu kümmern.
Wenn es das nicht getan hätte, gäbe es uns heute nicht. Nachdem die chemischen Basiszutaten für das Leben auf der Erde angekommen waren (mit verschiedenen Asteroiden, so die Annahme), ist das Leben vermutlich mehrfach entstanden – und nach unerwarteten Veränderungen der Umwelt wieder verschwunden. Doch eines Tages vor etwa vier Milliarden Jahren fand einer der Lebensversuche plötzlich eine Lösung und wurde zum gemeinsamen Vorfahren aller Lebensformen auf der Erde.
Wie diese Lösung aussah, wissen wir nicht genau, eine Idee ist, dass mehrere chemische Reaktionen, von denen jede in der Lage war, mit Kohlenstoff aus der Atmosphäre Energie zu erzeugen, auf irgendeine Weise in einer frühen Zelle eingeschlossen wurden. Weil jede dieser Reaktionen ein bisschen anders ablief, hatte die Zelle eine Rückversicherung. Wenn eine oder zwei dieser Reaktionen nicht funktionierten, sprang eine der anderen ein, und das Leben konnte weitergehen.[2]
Wie das bei Überlebensstrategien so ist, gab es auch Rückschläge, aber es funktionierte lange genug, dass die Evolution mit etwas Besserem um die Ecke kommen konnte – einem Satz spezialisierter Sensoren, die es der Zelle ermöglichen, Veränderungen in der Welt um sie herum zu bemerken, ihren inneren Zustand entsprechend anzupassen und mit der Anpassung aufzuhören, sobald sich die Lage geklärt hat. Diesen Prozess der zellulären Selbstfürsorge nennt man Homöostase, und er ist für das Überleben eines jeden Lebewesens absolut unverzichtbar. Ein paar Milliarden Jahre nach der Entstehung des Lebens hatte die Evolution verschiedene zelluläre Werkzeuge zur Perfektion gebracht, mit denen physikalische, chemische oder auch Temperaturveränderungen entdeckt werden können, hinzu kam eine Reihe von Möglichkeiten, um Feineinstellungen an der Chemie vorzunehmen und Dinge wieder in die richtige Spur zu bringen.
Noch einmal ein paar Milliarden Jahre später, und die Sache mit dem Aufrechterhalten der Homöostase in unserem Körper ist immer noch dieselbe und doch ganz anders. Unsere Körperzellen sind mit Abwandlungen derselben altmodischen, aber verlässlichen Sensoren zum Entdecken innerer Veränderungen ausgestattet. Manche, wie zum Beispiel die Chemorezeptoren, reagieren auf Veränderungen im Kohlendioxid-, Glucose- oder Salzgehalt. Andere, wie die Hormonrezeptoren, entdecken Veränderungen im Hormonspiegel, während Mechanorezeptoren darauf spezialisiert sind, Druck oder Dehnung festzustellen.
Auf dem langen Weg vom Einzeller zum Menschen sind manche Lebensformen allerdings so kompliziert geworden, dass sich im Inneren ihres Körpers fast so viele Variablen befinden wie in der Außenwelt. Unser interozeptives System ist das evolutionäre Ergebnis der Notwendigkeit, diese beiden sich ständig verändernden Welten gleichzeitig zu beobachten. Schiedsrichter ist das Gehirn, das sich in der Evolution entwickelt hat, um diese beiden Welten im Blick zu behalten und die Reaktionen zu koordinieren, damit wir am Leben bleiben.
Um besser nachvollziehen zu können, wo wir heute stehen, lohnt es sich, eine kleine Tour durch die evolutionären Entwicklungssprünge zu machen, die uns hierhergebracht haben. Diese zufälligen Geniestreiche fanden nur selten und in großen Zeitabständen statt, und der erste ließ lange auf sich warten. In den ersten zwei Milliarden Jahren gab es nur einzelliges Leben auf der Erde. Dann schaffte es eine Zelle, in eine andere hineinzukommen, und tauschte für Schutz und Nahrung fast ihre gesamte DNA sowie alle Energie, die sie erzeugen konnte, ein. Das war der Ursprung der Zellorganellen, die wir heute als Mitochondrien kennen (und die oft als «Kraftwerke» der Zelle bezeichnet werden). Ausgestattet mit einer zusätzlichen Energiequelle und einer Menge frischer DNA, konnte diese neue hybride Lebensform mit allerhand neuartigen Designs experimentieren.[3] Darunter waren einige vielzellige Lebensformen wie Grünalgen,[4] Schleimpilze, Pilze und Schwämme.
Etwa eine Milliarde Jahre lang tat sich dann nicht viel – weswegen diese Zeit manchmal als die boring billion bezeichnet wird. Das Leben ruckelte so vor sich hin, Wahrnehmung der und Anpassung an die Welt fanden auf eine Weise statt, die man als chemische Äquivalente zu im Klassenzimmer durchgereichten Zettelchen betrachten kann. Botschaften reisten langsam vom einen Ende des Lebewesens zum anderen, von Zelle zu Zelle, in der Luft oder im Wasser. Dann kam eine Eiszeit, und alles lief noch langsamer ab.
Als sich die Erde schließlich wieder erwärmte, setzte das Leben seine Experimente fort. Nach ein paar Millionen Jahren von Versuch und Irrtum kam ein neuer Zelltyp zur Welt – einer, der Botschaften schneller und genauer weitergeben konnte, wodurch sich die Wahrnehmungs- und Anpassungsprozesse deutlich beschleunigten. Das waren die ersten Neuronen, und jede Kreatur, die sie hatte, stellte fest, dass sie ihre Konkurrenten ausstechen konnte, weil sie ihnen an Nahrungsquellen zuvorkam oder weil sie einer Gefahr zu entrinnen vermochte, ehe andere sie bemerkten.
Diese tollen neuen Zellen sind in vielerlei Hinsicht eine verbesserte Version der derselben alten Idee. Sensorische Neuronen weisen viele der gleichen Sensoren auf, die sich in den frühen Tagen des Lebens entwickelt haben, doch in Neuronen befinden sich diese Sensoren konzentriert an den Enden der verzweigten Zellfortsätze (Dendriten), die sich durch die Gewebe erstrecken und Veränderungen der chemischen oder physikalischen Situation oder potenziell problematische Temperaturabweichungen erkennen. Wird eine Veränderung festgestellt, jagt die Information durch einen Kommunikationskanal (das Axon), um die jeweils notwendigen Aktionen auszulösen. Quallen beispielsweise besitzen sensorische Neuronen, die die Berührung eines potenziellen Beutetiers detektieren. Diese Neuronen leiten die Botschaft an einen anderen Neuronensatz weiter, die Motoneuronen, die den Muskeln der Qualle befehlen, sich zusammenzuziehen, damit das Beutetier in spe nicht entkommen kann. In einer Welt, in der Geschwindigkeit unter Umständen zwischen Leben und Tod entscheidet, versetzten Neuronen Tiere in die Lage, in weniger als einer Sekunde etwas wahrzunehmen und zu reagieren; das verhalf ihnen zu einem kleinen, aber entscheidenden Vorsprung gegenüber ihren Wettbewerbern.[5]
Im Spiel des (Über-)Lebens ist Geschwindigkeit gut – doch Geschwindigkeit mit Plan ist noch besser. Aus diesem Grund begannen einige Tiere – nur wenige Millionen Jahre nachdem die ersten Neuronen entstanden waren –, Gehirne zu entwickeln. Das geschah nicht in allen Zweigen des Tierstammbaums (Quallen und Seesterne kommen bis heute ohne sie aus), doch in dem Ast, der zu uns führt, zeigte sich, dass Gehirne Bewegung nicht nur schneller, sondern auch cleverer machen können. Die frühesten Versionen traten bei unseren entfernten Wurmverwandten auf, in kleinen Nervenzellhäufchen, den Ganglien. Diese bestanden aus den Zellkörpern der Neuronen, von denen die Axone ausgingen und sich durch den Körper erstreckten. Der größte Nervenzellklumpen befand sich am Kopfende, dort, wo der größte Teil ihrer sensorischen Ausstattung liegt.
Irgendwo weiter unten liefen die Verästelungen der Körperneuronen in einem zentralen Rückenmarkstrang zusammen: eine Art Kabelkanal mit fein säuberlich getrennten Wegen für einlaufende sensorische Informationen und ausgehende Anweisungen für Bewegungen. Eine bemerkenswerte Ausnahme in diesem System stellt seine jüngste Neuerwerbung dar, der Vagusnerv. Der entsprang vor rund 400 Millionen Jahren aus dem Gehirn, schlängelte sich durch den Körper und stellte Verknüpfungen zu den unterschiedlichen Organen her, die sich in der Evolution entwickelt hatten, um die verschiedenen Homöostasejobs zu erfüllen. Seine Aufgabe war und ist es, unsere Organe ständig zu überwachen und automatisch nachzujustieren, ohne notwendigerweise gleich das ganze Tier auf Trab zu bringen.
Das bringt uns jetzt tatsächlich zum heutigen interozeptiven System. Auf den ersten Blick sieht es kompliziert aus – aber das ist es auch. Wir sind noch dabei herauszufinden, was wie zusammengehört und wie alles funktioniert, doch was wir schon jetzt wissen, ist, dass im Lauf von Milliarden Jahren immer wieder neue Teile hinzugekommen sind, um uns am Leben zu halten. Allerdings geht mit höherer Komplexität leider auch ein höheres Risiko für Störungen einher. So wie ein hochgetunter Sportwagen für einen Hobbyschrauber zu kompliziert ist, erweist sich auch die Feineinstellung der Körpermaschine, über die wir verfügen, manchmal als ziemlich anspruchsvoll in Unterhalt und Wartung.
Die Antwort auf die Herausforderungen, die mit der wachsenden Komplexität einhergingen, war clever, brachte aber wieder andere Probleme mit sich. Gehirne ermöglichten es Tieren, über das reine Wahrnehmen und Anpassen hinauszugehen. Sie machten es möglich, zu lernen und aus den gelernten Lektionen der Vergangenheit begründete Vermutungen anzustellen, was wohl als Nächstes geschehen wird. Dass Nervenzellen gehäuft an einer Stelle vorkamen, führte schon in den frühesten, einfachsten Gehirnen[6] unweigerlich dazu, dass diese Neuronen nicht nur Botschaften durch den Körper schickten, sondern dass sie sich auch miteinander verknüpften und Informationen austauschten. Das heißt, Tiere konnten sich an Gefahrensituationen oder gute Gelegenheiten anpassen – und zwar nicht nur schnell, sondern oft sogar, bevor sie eingetreten waren.
Diese flexible Version der Homöostase wird Allostase[7], [8] genannt, das bedeutet «Stabilität durch Veränderung», und was unser eigenes Leben betrifft, hat sie Vor- und Nachteile. Einerseits macht sie uns zu Experten für schnelle Anpassung an komplexe Umgebungen, was es uns erlaubt, sie vorherzusagen und uns auf sie vorzubereiten, so dass wir nicht allzu weit vom Kurs abkommen. Andererseits bedeutet es, Zeit und Energie für die Anpassung an Situationen aufzuwenden, die vielleicht nie eintreten, die aber Veränderungen in unserem Körper und Geist mit sich bringen, die nicht immer notwendig oder gesund sind. Wenn immer neue Herausforderungen auftreten, seien sie nun real oder nur imaginiert, kann es so weit kommen, dass die Strategie «Vorhersage und Anpassung» keine Energie mehr spart, sondern zu einem Stressfaktor für die körperlichen Ressourcen wird. Kurz gesagt: Das ist der Grund, weshalb Stress zu Erschöpfung führt – und langfristig unserer Gesundheit schadet.
Die gute Nachricht ist, dass unser Gehirn immer versucht, eine Balance zwischen Vorabanpassung und Energieverschwendung auf nicht vorhandene Gefahren zu erreichen. Wie das funktioniert, beschreibt eine relativ neue neurowissenschaftliche Idee, das predictive processing (oft auch predictive coding, deutsch etwa als «vorhersagende Verarbeitung» zu umschreiben), die versucht, die Funktionsweise des Gehirns mithilfe komplexer mathematischer Modelle zu erklären. Weniger kompliziert ausgedrückt, heißt es: Weil die Neuronen untereinander Information austauschen, ist das Gehirn in der Lage, auf Erfahrung beruhende Vorhersagen darüber zu machen, welche Informationen höchstwahrscheinlich von den Sinnesorganen kommen. Wenn es Vorhersagen zu kommenden Ereignissen gibt, kann der Körper darauf vorbereitet und der Anpassungsprozess bereits eingeleitet werden, wodurch ein schon schnelles System noch schneller wird. Während der Körper seine Physiologie bereits auf das einstellt, was das Gehirn erwartet, mischt sich die sensorische Information aus dem Körperinneren – und über Augen, Ohren etc. auch von der Außenwelt – ein und liefert Echtzeitdaten, die die Vorhersage entweder bestätigen oder widerlegen.
Wenn die einlaufenden Signale mit dem übereinstimmen, was das Gehirn vorhergesagt hat, ist alles gut, und es passiert nicht viel. Allerdings erzeugt jede Diskrepanz zwischen dem, was das Hirn erwartet, und dem, was die Sensoren liefern, eine Fehlermeldung, die anzeigt, dass irgendeine Art der Anpassung erforderlich ist: Entweder muss die Vorhersage korrigiert werden – etwa von einem Gefühl der Ruhe und Sicherheit zu einem von Alarm und erhöhter Wachsamkeit –, oder das Signal muss sich ändern, vielleicht indem wir den Abstand zur Hitze einer Flamme vergrößern.
Falls eine Anpassung erforderlich ist, hat das System Körper-Gehirn drei Optionen. Erstens, das Gehirn kann seine Vorhersage dahingehend ändern, dass sie mit dem übereinstimmt, was der Körper berichtet. Ein kollernder Magen beispielsweise könnte zu der Vorhersage führen, dass Sie hungrig sind, selbst wenn Sie gerade gegessen haben. Zweitens, das Körpergefühl kann so verändert werden, dass es zu der Vorhersage des Gehirns passt – Sie rennen beispielsweise um eine Ecke und sehen einen Hügel, mit dem Sie nicht gerechnet hatten, und schon fühlen sich Ihre Beine in Erwartung des Anstiegs schwer an. Die dritte Option ist, dass die Stärke der Körpersignale während ihrer Reise durch Körper und Gehirn herauf- oder heruntergeregelt wird. Das kann bedeuten, wir lassen sie vorübergehend außer Acht, um zuerst etwas wesentlich Dringenderes zu tun (zum Beispiel den Schmerz eines gebrochenen Knöchels nicht zu spüren, bis wir der Gefahr entronnen sind), oder wir verstärken sie derart, dass wir sie nicht mehr ignorieren können (das überwältigende Gefühl zu ersticken bei einer Panikattacke).
Welche Option in die Tat umgesetzt wird, hängt davon ab, welche Informationsquelle als die verlässlichste eingeschätzt wird. Niemand weiß genau, wie diese Entscheidung zustande kommt, aber irgendwie scheint der Körper-Hirn-Neuronenschaltkreis auf die Option zu setzen, die in diesem Augenblick wohl am wahrscheinlichsten ist. Das Ergebnis dieses Vorgangs erleben wir als Realität: eine sehr wahrscheinlich zutreffende Annahme, die auf Erwartungen des Gehirns beruht, was der Körper berichtet, und das Bedürfnis zu handeln, wenn beides nicht übereinstimmt. Doch selbst wenn uns diese Diskussionen zwischen Körper und Gehirn nicht bewusst sind, können sie unser Denken und Fühlen beeinflussen, und zwar in einer Art und Weise, die gerne als «das ist doch reine Einbildung» abgetan wird.
Die Komplexität und die sich ständig verändernde Natur unseres interozeptiven Systems erklären, warum zwei Menschen exakt dieselbe Situation so unterschiedlich erleben können. Aus diesem Grund ist es oft auch schwierig zu erklären, warum wir ausgerechnet so und nicht anders denken und fühlen. Wir landen immer bei einer «sehr wahrscheinlich zutreffenden Annahme» in einem hochkomplexen Körper-Hirn-System.
Der cleverste Trick des vorhersagenden Gehirns ist vermutlich, dass es uns den Eindruck vermittelt, es sei allein für unser Denken und Fühlen verantwortlich: ein Körper-CEO, der alles sieht und uns diktiert, was wir denken und fühlen sollen. Ein interozeptiver Blick auf den Geist enthüllt jedoch, dass Körper und Gehirn unser geistiges Erleben gemeinsam verantworten. Das Gehirn wurde nicht in einem Tank geschaffen und dann, als es ausgeformt war, auf den Körper aufgeschraubt; es ist aus dem Körper hervorgegangen mit dem einzigen Ziel, diesen Körper am Leben zu halten. Das heißt, es gibt keine Spaltung von Körper und Gehirn; beide sind Teil desselben genialen Überlebenssystems, das mit einem kleinen Säckchen voller chemischer Reaktionen begann.
Der Hauptunterschied zwischen uns und einem Säckchen voller chemischer Reaktionen ist, dass – zumindest soweit wir wissen – gebündelte chemische Reaktionen keine Gefühle besitzen, die an ihre homöostatischen Bedürfnisse gekoppelt sind. Aber aus einem Grund, den niemand kennt, ist das bei uns so.