Sich selbst vertrauen - Charles Pépin - E-Book

Sich selbst vertrauen E-Book

Charles Pépin

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Beschreibung

Im Meinungsgewitter auf die eigene Stimme hören. Eine klare Richtung einschlagen, wenn sich grenzenlose Möglichkeiten auftun. Entscheidungen treffen trotz Zweifeln. All das erfordert eine wesentliche Fähigkeit: Sich selbst vertrauen zu können. Doch was bedeutet es, sich selbst zu vertrauen? Warum fällt es manchen Menschen leichter als anderen? Worin liegt der Unterschied zwischen Selbstvertrauen und Selbstsicherheit? Charles Pépin findet die Antworten auf diese Fragen in Philosophie, Literatur und Kunst, Psychologie und Pädagogik. Leicht und lebendig zeigt er, wie jeder von uns dem Ungewissen mit mehr Zuversicht entgegentreten kann. Ein stärkendes Buch für unsichere Zeiten.

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Über das Buch

Im Meinungsgewitter auf die eigene Stimme hören. Eine klare Richtung einschlagen, wenn sich grenzenlose Möglichkeiten auftun. Entscheidungen treffen trotz Zweifeln. All das erfordert eine wesentliche Fähigkeit: sich selbst vertrauen zu können. Doch was bedeutet es, sich selbst zu vertrauen? Warum fällt es manchen Menschen leichter als anderen? Worin liegt der Unterschied zwischen Selbstvertrauen und Selbstsicherheit? Charles Pépin findet die Antworten auf diese Fragen in Philosophie, Literatur und Kunst, Psychologie und Pädagogik. Leicht und lebendig zeigt er, wie jeder von uns dem Ungewissen mit mehr Zuversicht entgegentreten kann. Ein stärkendes Buch für unsichere Zeiten.

Charles Pépin

Sich selbst vertrauen

Kleine Philosophie der Zuversicht

Aus dem Französischen von Caroline Gutberlet

Carl Hanser Verlag

Inhalt

Einleitung

1: Pflege gute Beziehungen

2: Übe fleißig

3: Höre auf dich selbst

4: Staune

5: Sei entschlussfreudig

6: Lege Hand an

7: Schreite zur Tat

8: Bewundere

9: Bleibe deinem Begehren treu

10: Vertraue dem Mysterium der Existenz

Schluss

Die Werke, die dieses Buch gemacht haben

Personenregister

Für Victoria, Marcel und Georgia

Weil ich euch nur anzuschauen brauche,

um Vertrauen zu haben.

In mich. In das Leben. Und vor allem in euch.

Einleitung

Heute Morgen wurden die Stützräder abgeschraubt. Mit der ganzen Größe ihrer vier Jahre steigt sie auf ihr Rad und prescht los, der Sonne entgegen. Ihr Vater rennt neben ihr her, eine Hand an ihrem Rücken, die andere am Sattel. Sie tritt kräftiger in die Pedale, krallt sich mit beiden Händen am Lenker fest. Der Vater ruft ihr aufmunternd zu: »Mach weiter, ja, weiter so! Schau nach vorne! Sehr gut!« Dann nimmt er die Hand vom Sattel. Das Mädchen gewinnt an Tempo. Jetzt hält sie das Gleichgewicht. Radelt ohne die Hilfe ihres Vaters. Als sie das merkt, kreischt sie vor Freude und tritt noch kräftiger in die Pedale. Sie fühlt sich frei und leicht: Sie hat Vertrauen.

Aber in was genau? In die eigenen Fähigkeiten? In ihren Vater? In diesen Augenblick des Familienglücks?

Wir ahnen es schon: Das Vertrauen in uns selbst ist eine geheimnisvolle Mixtur. Das Ergebnis der Verknüpfung mehrerer Faktoren. Die Wege, die dorthin führen, sind unterschiedlich, aber haben wir es einmal gewonnen, trägt es jeden von uns auf dieselbe Weise. Es gibt nur ein Selbstvertrauen, aber viele Mittel und Wege, es zu erlangen.

Madonna ist eine geniale Bühnenkünstlerin, die sich ihr Leben lang immer wieder neu zu erfinden gewusst hat. Dabei war sie schüchtern als Kind und vom Verlust der Mutter im zarten Alter von fünf Jahren zutiefst erschüttert. Wo hat sie dann die Kraft hergeholt, um sich durchzusetzen?

Patrick Edlinger war einer der Pioniere des freien Kletterns. Wenn er free solo kletterte, gingen seine Handgriffe so fließend ineinander über, als würde er über der Leere tanzen. Ein Griff folgte auf den anderen mit einer unglaublichen Anmut. Ohne das leiseste Zittern. Was war sein Geheimnis?

Wenn ein Pilot in der Nacht auf einem Flugzeugträger landet, tut er das mit 250 Stundenkilometern quasi im Blindflug auf einer ultrakurzen Piste. Wie stellt er es an, keine Angst zu haben?

Im brausenden Verkehr, mitten im Chaos eines schweren Unfalls muss ein Notarzt in Sekundenschnelle die Verletzten und Verletzungen erkennen, die als Erstes behandelt werden müssen. Wie stellt er es an, sich nicht zu irren?

Oder ein Musiker, vor einer riesigen Menschenmasse zu improvisieren? Eine Tennisspielerin, ohne das leiseste Zittern Matchbälle abzuwehren? Studierende, am Tag der Prüfung zur Höchstform aufzulaufen? Woraus schöpfen all die Frauen und Männer, die den Mut haben, auf sich zu hören und ihr Leben in die Hand zu nehmen, ihr Selbstvertrauen? Worin ähneln sie sich?

Das kleine Mädchen auf dem Fahrrad kann uns hier Orientierung geben. Sein Vertrauen schöpft Kraft aus drei Quellen.

Die eine ist der Vater. Das Kind prescht nicht alleine los, sondern mit ihm zusammen, dank ihm. Selbstvertrauen ist Vertrauen in den anderen.

Die zweite sind die eigenen Fähigkeiten. Das Kind hat die Ratschläge des Vaters, wie es in die Pedale treten und den Lenker halten soll, beherzigt. Es hat sich ein Können erworben, ohne das nichts möglich wäre. Selbstvertrauen ist Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten.

Damit ist es aber noch nicht getan. Die Woge der Freude, die das Mädchen überkommt, als es an Tempo zulegt, ist stärker als das befriedigende Gefühl, Fahrrad fahren zu können. Diese Freude ist umfassender, tiefer und hallt nach wie ein Dankeschön an das Leben. Selbstvertrauen ist Vertrauen in das Leben.

Diese drei Triebkräfte des Selbstvertrauens — Vertrauen in den anderen, Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und Vertrauen in das Leben — werden wir immer wieder finden, jeweils in unterschiedlichem Maße und in den verschiedensten Formen. Übrigens nimmt wohl alles seinen Ausgang darin: loszulegen mit der Unbeschwertheit eines Kindes und zu vertrauen — auch ohne genau zu wissen, in wen oder was.

Wie schreibt Christian Bobin so schön: »Vertrauen ist die kindliche Fähigkeit, auf das Unbekannte zuzugehen, als erkennten wir es wieder.« Als Erwachsene haben wir ein Bewusstsein für Risiken und Gefahren ausgebildet, das wir als Kind nicht hatten, damals auf unserem Fahrrad, als wir das erste Mal losgeprescht sind. Wir sind ängstlich, weil wir vorausschauend sind. Diese Voraussicht sollte uns allerdings nicht stumpf machen für unseren Wagemut, für unsere Fähigkeit, loszulegen. Sich selbst vertrauen bedeutet, sich im Geist des Erwachsenen das Herz und die Seele eines Kindes zu bewahren.

Unsere heutige Zeit zwingt uns dazu. In den traditionellen Gesellschaften hatte jeder seinen festen Platz. Selbstvertrauen ist nicht nötig, wenn von Geburt an alles bestimmt ist und es nichts zu erringen gibt. Die Moderne hingegen hat uns zu freien Wesen gemacht, die für ihr Schicksal selbst verantwortlich sind. Dem Einzelnen obliegt es, seine Projekte in die Tat umzusetzen, seinen Wert zu beweisen, sein Glück zu schmieden. Jeder muss sein Leben selbst erfinden. Dafür ist Selbstvertrauen notwendig.

Allerdings war das noch nie so kompliziert wie heute. Noch nie war es so wichtig, Selbstvertrauen zu haben, und zugleich so schwierig, dieses aufzubauen. Einen Automotor zu reparieren oder eine Leiter zu bauen, konnte Kummer lindern. Die Familie mit der Ernte aus dem eigenen Garten zu ernähren, konnte einem das Herz erfüllen. Den ganzen Tag mit Sitzungen zu verbringen oder mit dem Beantworten von Mails, besitzt diese Gabe nicht. Uns ist der primäre Kontakt zu den Dingen verloren gegangen. Unsere Produktionssysteme sind so kompliziert geworden, dass wir nicht mehr wissen, was wir tun. Wir respektieren die »Prozesse«, können aber kaum sagen, welchen Beruf wir haben. In unserem Dasein, das ultra-connected und gleichzeitig vom elementarsten »Machen« so weit entfernt ist wie nie, mangelt es uns an konkreten Gelegenheiten, um Vertrauen zu finden. Wir müssen das Fundament wiederfinden, auf dem wir unser Vertrauen aufbauen können.

Die Lebenswege von Madonna, Patrick Edlinger, George Sand, John Lennon, Serena Williams und anderen werden erhellend für uns sein: Wir kommen nicht vertrauensvoll auf die Welt, wir werden es erst. Selbstvertrauen ist immer eine Errungenschaft, die viel Mühe und Geduld erfordert. Und gelegentlich ist es der Anlass zu tiefer Freude, wenn etwas wirklich zu beherrschen darin gipfelt, dass wir loslassen können.

Um dem Rätsel des Selbstvertrauens auf die Spur zu kommen, werden wir uns an Gelehrte der Antike und Philosophen der Neuzeit wie Emerson, Nietzsche und Bergson wenden. Denker also, die sich dem Thema zumeist auf indirekte Weise genähert haben, indem sie über Freiheit, Wagemut oder Einzigartigkeit nachdachten, um von Vertrauen zu sprechen. Daher werden wir anderweitig weitersuchen müssen, bei Psychiatern wie Boris Cyrulnik und Psychoanalytikern wie Jacques Lacan, in den Arbeiten von Forschern und Pädagogen, in den Erfahrungen von Sportlern, Piloten und Notärzten, in den Worten von Dichtern und den Visionen großer Mystiker.

Selbstvertrauen ist in unserem Leben ein so zentrales Thema, dass es unmöglich der Gegenstand einer einzigen Disziplin sein kann. Um seine Triebkräfte zu ergründen, sind Untersuchungen im Labor nutzlos: Wir müssen es im wahren Leben beobachten, es entstehen und wachsen sehen, seinem Rhythmus und seinen Bewegungen folgen, seinen Zweifeln und seinen Umwegen, wir müssen neben ihm herlaufen wie bei einem Kind, das zu fallen droht, sein Gleichgewicht wiederfindet und schließlich losprescht.

1

Pflege gute Beziehungen

Zwischenmenschliches Vertrauen

Die Güte ist unbesiegbar.

Mark Aurel

Selbstvertrauen kommt zuerst von den anderen. Diese Aussage erscheint paradox, ist es aber nicht. Ein Neugeborenes ist ein fragiles, vollkommen abhängiges Wesen. In den ersten Monaten kann es unmöglich allein überleben. Dass es überlebt, ist für sich genommen schon der Beweis dafür, dass andere Menschen sich seiner angenommen haben. Mithin ist Vertrauen in sich selbst zuerst ein Vertrauen in sie: Selbstvertrauen ist zuerst Vertrauen in die anderen.

Weil wir zu früh geboren werden, sind wir auf die Hilfe anderer Menschen angewiesen. Embryologen zufolge bräuchten die Zellen eines Embryos insgesamt etwa zwanzig Monate Zeit, um zur vollen Reife zu gelangen. Schon Aristoteles hat festgestellt, dass wir unfertig auf die Welt kommen. Als hätte die Natur an dieser Stelle einen Defekt und ihr Werk nicht vollendet, wirft sie uns, schwächer und hilfloser als jedes andere Säugetier, zu früh ins Leben. Wir kommen auf die Welt, ohne laufen zu können, und brauchen ungefähr ein Jahr, um es zu erlernen, während ein Fohlen schon nach wenigen Stunden, manchmal sogar wenigen Minuten auf die Beine kommt und herumtrabt. Und wir sollen uns selbst vertrauen?

Also kompensieren wir dieses Manko der Natur durch Kultur: Familie, gegenseitige Hilfe, Bildung. Dank unserer zwischenmenschlichen Beziehungsfähigkeit vollenden wir das, was die Natur uns in der Rohfassung geliefert hat, und gewinnen eben jenes Vertrauen, das die Natur uns nicht mitgegeben hat.

Nach und nach fasst ein Kind Vertrauen zu sich selbst dank der Beziehungen, die es zu anderen Menschen aufbaut, dank der Fürsorge, die sie ihm angedeihen lassen, der Aufmerksamkeit, die es erfährt, und der bedingungslosen Liebe, die ihm geschenkt wird. Das Kind spürt, dass diese Liebe durch nichts bedingt ist, weder durch das, was es in Angriff nimmt, noch durch das, was ihm gelingt: Es wird geliebt für das, was es ist, und nicht für das, was es tut. Das ist das solideste Fundament für sein späteres Selbstvertrauen. Geliebt und mit liebenden Augen angeschaut worden zu sein, schenkt uns Kraft fürs Leben.

Das Erringen von Selbstvertrauen beginnt also mit dem Kampf gegen die »infantile Hilflosigkeit«, wie Sigmund Freud es nannte. Wenn ein Jugendlicher den Drang verspürt, die große, weite Welt zu entdecken, wenn ein Erwachsener zuversichtlich seine Projekte in die Tat umsetzt, dann geschieht das in erster Linie deshalb, weil sie das Glück hatten, in den allerersten Lebensjahren bei den »frühen Interaktionen«, wie der Psychiater und Resilienzforscher Boris Cyrulnik sie nennt, jene »Selbstsicherheit« zu gewinnen, die, wie Psychologen nachgewiesen haben, von grundlegender Bedeutung ist.

Im Unterschied zur Selbstachtung, der eine Beurteilung des eigenen Wertes zugrunde liegt, hat Selbstvertrauen mit unserem Verhältnis zum Handeln zu tun, mit unserer Fähigkeit, uns trotz aller Zweifel aufzumachen, uns in die komplexe Welt hinauszuwagen. Um den Mut aufzubringen, uns in die Welt da draußen zu begeben, brauchen wir Selbstsicherheit.

In seinem bahnbrechenden Text über das sogenannte Spiegelstadium beschreibt der Psychoanalytiker Jacques Lacan die ersten Momente der Entstehung des Selbstbewusstseins im Kind. Schon nach wenigen Monaten — in der Regel ab dem sechsten bis zum achtzehnten Monat — erkennt sich ein Kind im Spiegel. Aber was passiert da beim ersten Mal eigentlich? Das Kind ist auf dem Arm eines Erwachsenen, der es vor einen Spiegel hält. Kaum, dass es sich darin wiederzuerkennen glaubt, dreht es sich zu dem Erwachsenen um mit der Frage im Blick: Bin ich das — bin ich das wirklich? Der Erwachsene antwortet mit einem Lächeln, einem Blick oder ein paar Worten. Er gibt ihm die Rückversicherung: Ja, du bist es wirklich. Die philosophischen Implikationen dieses ersten Mals sind enorm: Zwischen mir und meinem Selbst ist der andere — von Anfang an. Nur durch den anderen bin ich mir meiner selbst bewusst. Das Kind vertraut dem, was es im Spiegel zu sehen bekommt, nur deswegen, weil es dem anderen vertraut. In den Augen der anderen sucht es Selbstsicherheit; in den Augen der anderen sucht es sich selbst.

Der gleiche Versuch wurde mit Makaken durchgeführt, einer Affenart, die uns genetisch sehr nahesteht. Dabei wurde ihre Intelligenz deutlich: Sie benutzen den Spiegel sehr schnell, um Körperpartien zu betrachten, die sie sonst nicht sehen können, etwa ihren Rücken oder ihr Gesäß. Allerdings drehen sie sich dabei nicht nach den anderen Makaken im Raum um: Sie richten keinen fragenden Blick an ihre Artgenossen. Makaken sind soziale Wesen, lernen viel von den anderen, aber anders als wir sind sie für ihre Weiterentwicklung nicht von den untereinander aufgebauten Beziehungen abhängig. Sie sind viel weniger Beziehungswesen, als wir es sind. Wir können ohne die anderen unser Menschsein nicht weiterentwickeln: Ohne die anderen können wir nicht zu dem Menschen werden, der wir sind.

Man denke an die wilden Kinder, die nach der Geburt ausgesetzt und von Tieren (Bären, Wölfen, Schweinen usw.) »adoptiert« und aufgezogen wurden, wenn sie viele Jahre später gefunden werden. Wie der Film Der Wolfsjunge von François Truffaut (1970) zeigt, sind sie in Ermangelung von Beziehungen zu anderen Menschen in ihrer Entwicklung stehen geblieben. Zu Tode verängstigt wie gehetztes Wild, unfähig, sprechen zu lernen, scheinen sie verloren zu sein. Im besten Fall, mit viel Geduld und Behutsamkeit, schaffen es die Spezialisten, denen diese Kinder anvertraut werden, vorsichtig Bindungen aufzubauen und sie zu kleinen Fortschritten zu bewegen. Das bisschen Selbstvertrauen, das sie gewinnen, ist allerdings brüchig und schwindet bei der kleinsten Irritation dahin. In den Worten der modernen Psychologie leiden diese »Wolfskinder« an einem »Bindungsmangel«. Als sie klein waren, wurden sie nicht an andere Menschen »gebunden«, die sie beschützt, ihnen Sicherheit gegeben, mit ihnen gesprochen und sie angeschaut haben. Ohne die Selbstsicherheit, die diese Bindung gibt, ist es ihnen nicht möglich, jenes Mindestmaß an Vertrauen aufzubauen, dank dessen die Welt und die Mitmenschen nicht feindselig erscheinen.

Psychiater wie John Bowlby oder Boris Cyrulnik betonen: Wenn ein kleiner Junge von zwei Jahren imstande ist, einen Unbekannten, der ins Haus kommt, zu begrüßen, ihn anzulächeln, zu ihm zu gehen, um ihn anzusprechen oder ihn gar zu berühren, geschieht das, weil er genug Selbstsicherheit besitzt, um dem Neuen zu begegnen. Seine Bindungspersonen haben ihm ausreichend Vertrauen vermittelt, dass er in der Lage ist, sich von ihnen zu entfernen und auf den Unbekannten zuzugehen.

Erziehung ist erst gelungen, wenn »Schüler« ihre Lehrer nicht mehr brauchen, wenn sie genug Selbstvertrauen haben, um den Moment auszuhalten, in dem sich ihre Erzieher zurückziehen. Wenn der kleine Junge die wenigen Schritte auf den Unbekannten zugeht, macht er sich bereits auf den eigenen Weg. Die anderen haben ihm Vertrauen geschenkt, nun liegt es an ihm, zur Tat zu schreiten und sich dessen würdig zu erweisen. Um sich aufzumachen, schöpft er aus der Liebe, aus der Zuwendung, die er von seiner Familie und von all denen bekommt, die ihn erziehen.

Die ersten Jahre sind also entscheidend, aber glücklicherweise können wir in jedem Alter Bindungen aufbauen, die uns Vertrauen geben. Auch wenn wir als Kind nicht das Glück hatten, von unserem affektiven Umfeld ein ausreichend starkes Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit zu bekommen, ist es nie zu spät, um Bindungen aufzubauen, die uns gefehlt haben. Das setzt allerdings voraus, dass wir uns selbst gut kennen und uns über dieses Manko und über die Notwendigkeit, es zu kompensieren, im Klaren sind.

Madonna Louise Ciccone war zunächst ein schüchternes Kind mit wenig Selbstvertrauen. Schon mit fünf verlor sie ihre Mutter, die an Brustkrebs starb, und kam schlecht damit zurecht, dass ihr Vater bald wieder heiratete und mit seiner Frau weitere Kinder bekam. Sie tat sich schwer damit, in der neuen Familienkonstellation ihren Platz zu finden. Seit frühester Kindheit nahm sie Klavierstunden und Ballettunterricht, allerdings war das für sie eher Fleißarbeit und sie hielt sich nicht für besonders begabt. Doch als sie in die Pubertät kam und ihre Stiefmutter sie nach Detroit auf eine katholische Schule schickte, begegnete sie einem Menschen, der ihr Leben veränderte, ihrem Tanzlehrer Christopher Flynn. Bei den Vorbereitungen der Ballettaufführung zum Ende des Schuljahres sagte Flynn etwas, das noch nie jemand zu ihr gesagt hatte, jedenfalls nicht in diesen Worten, nämlich dass sie schön und talentiert sei und eine unglaubliche Ausstrahlung habe. Viele Jahre später erklärte Madonna, diese wenigen Worte hätten ihr Leben verändert. Davor hatte sie nicht an sich geglaubt, danach sah sie sich als Tänzerin in New York. Es habe sich angefühlt, als würde sie für sich neu geboren. Bei der Ballettaufführung tanzte sie zur Überraschung aller Anwesenden und ganz besonders ihres Tanzlehrers mit einer atemberaubenden Energie und noch dazu: halb nackt! Madonna war geboren. Vor Christopher Flynn hatte es natürlich andere Klavier- und Tanzlehrer gegeben. Sie hatten ihr viele Dinge beigebracht, Techniken und Methoden. Aber es war keiner darunter gewesen, der ihr dies Eine geschenkt hatte: Vertrauen.

Ich erinnere mich an ein Konzert in Nizza, da war ich noch keine achtzehn, und dass ich völlig hingerissen war von ihrer Präsenz auf der Bühne, ihrer Art zu singen und zu tanzen, ihrer Freiheit. Ich erinnere mich noch an die riesige Leinwand und an ihr überdimensioniertes Gesicht, das Like a Prayer sang. An die Schweißtropfen, die ihr in die Augen rannen. An ihren Blick, ihr Lächeln, die eine große Dankbarkeit ausdrückten. Madonna ist natürlich ein Profi, kompetent und erfahren. Die Frau, die die ganze Bühne mit ihrer Präsenz einnimmt, hat schon viele Konzerte hinter sich. Aber Charisma lässt sich nie auf reines Können reduzieren. Da ist dieses gewisse Etwas, ein Mehr, in dessen Gunst charismatische Menschen stehen. Sie suchen ihre eigene Wahrheit in den Augen der anderen und hören nie auf, sich in der Relation zu anderen zu erfinden. Damals habe ich nicht so recht begriffen, was ich auf der riesigen Leinwand sah. Aber heute, wenn ich an Madonnas tiefgründiges Lächeln zurückdenke, glaube ich, dass sie in dem Publikum, in den Anderen, in deren Energie und vielleicht sogar Liebe zu jenem Vertrauen zurückfand, das sie eines Tages in den Augen ihres Tanzlehrers entdeckt hatte.

Madonna hat in ihrer frühen Kindheit keine Sicherheit erfahren, aber dafür später eine Kompensation gefunden.

Dennoch, selbst wenn wir das Glück hatten, seit frühesten Kindertagen die Wärme Sicherheit gebender Beziehungen zu erfahren, sind spätere Begegnungen, die Vertrauen vermitteln, mindestens genauso wichtig. Wir erleben sie allerdings auf andere Weise: Sie lassen in entscheidenden Augenblicken jenes Geschenk zwischenmenschlichen Vertrauens, das wir zu Beginn unseres Lebens entdeckten, wieder aufleben.

Yannick Noah wurde von seinen Eltern Marie-Claire und Zacharie geliebt. Sie selbst waren ineinander sehr verliebt und haben den kleinen Yannick freudig empfangen und umsorgt. Er ist erst elf, als er den Tennisspieler Arthur Ashe, damals der Vierte auf der Weltrangliste, auf einer seiner Tourneen durch Afrika während seines Aufenthalts in Yaoundé (Kamerun) trifft. Er hat das Glück, ein paar Bälle mit dem Tennisass zu wechseln. Arthur Ashe ist von dem hervorragenden Spiel des Kindes überrascht und schenkt ihm am Ende der Partie seinen Schläger. Tags darauf, kurz vor dem Rückflug, sieht er den Jungen atemlos durch die Flughafenhalle auf ihn zustürmen, ein Poster von ihm in Händen. Yannick Noah bittet ihn, es zu signieren. Arthur Ashe belässt es jedoch nicht dabei. Er schreibt: »Auf ein Wiedersehen in Wimbledon!« Wie Yannick Noah einige Jahre später nach seinem Sieg bei den French Open erzählt, waren diese wenigen Worte für ihn das schönste Geschenk überhaupt. Sie haben ihn angefeuert und dauerhaft begleitet. Sie haben ihm ermöglicht, an seinen »guten Stern« zu glauben, und ihm geholfen, zu einem Tennisspieler vom Niveau eines Arthur Ashe zu werden.

Die Beispiele von Madonna und Noah machen deutlich, dass es zuweilen nur eines guten Gespürs und einiger weniger Worte eines Lehrers oder Freundes bedarf, um Selbstvertrauen zu gewinnen. Worte, die von Herzen kommen, können Vertrauen fürs Leben schenken.

Andere Menschen können uns auch ohne große Reden und Ermutigungen Vertrauen geben, indem sie uns einfach eine Aufgabe anvertrauen …

Nach einem Vortrag in einem Unternehmen zum Thema »Rätsel des Vertrauens« kam eine Frau auf mich zu und beschrieb die Vertrauenskrise, die sie durchgemacht hatte, als sie nach ihrer Elternzeit in den Betrieb zurückkehrte, aber vor allem, wie sie da wieder herausgekommen war. Es zerriss ihr das Herz, sich nicht um ihr Kind kümmern zu können, sie fühlte sich angreifbar und fing an zu zweifeln, ob sie noch in der Lage wäre, die Anforderungen ihres verantwortungsvollen Postens zu erfüllen. Ein paar Tage nach ihrer Rückkehr rief ihr Vorgesetzter sie zu sich. Sie rechnete mit dem Schlimmsten. Umso größer war ihre Überraschung, als man sie mit einer äußerst wichtigen Aufgabe betraute. Nie zuvor hatte man ihr so viel Verantwortung übertragen. Sie fasste sofort wieder Zutrauen zu sich selbst.

Aristoteles hat eine sehr originelle und sehr treffliche Definition von Freundschaft vorgelegt. Für den Autor der Nikomachischen Ethik ist ein Freund jemand, der uns besser macht. In seinem Beisein fühlen wir uns wohl, wir wachsen, werden intelligenter oder sensibler, wir öffnen uns für Aspekte der Welt oder unserer selbst, die wir noch nicht kannten. Wie Aristoteles darlegt, ist ein Freund derjenige, der uns in die Lage versetzt, »unsere Möglichkeiten zu aktualisieren«: Dank ihm oder, genauer, dank der Beziehung, die wir zu ihm haben, entwickeln wir tatsächlich — in actu — Talente, die nur potenziell vorhanden waren. Die freundschaftliche Beziehung ist daher eine Gelegenheit für unsere Fortentwicklung. Der Freund muss nicht von reiner Großzügigkeit beseelt sein und er muss nicht stundenlang unseren Klagen zuhören. Wenn die Beziehung, die wir zu ihm haben, gut für uns ist, für unser Talent, wenn sie uns ermöglicht, uns weiterzuentwickeln, dann ist er unser Freund: der Freund des Lebens in uns. In diesem Sinne kann der Klavier-, Tanz- oder Zeichenlehrer, der Champion, dessen Weg wir kreuzen, oder unser Vorgesetzter unser Freund sein. Natürlich nur unter der Voraussetzung, dass er uns Gelegenheiten gibt, uns zu entwickeln, Fortschritte zu machen.

Wenn wir regelmäßig zu einem Kampfsportmeister, einem Sportcoach oder einer Yogalehrerin gehen — im Sinne von Aristoteles alles etwaige Freunde —, gewinnen wir mehr Selbstvertrauen, allerdings nicht nur, weil wir Fertigkeiten erlangen. Wenn wir für die Aufmerksamkeit und das Wohlwollen eines anderen empfänglich sind und von jemandem begleitet werden, der uns Gutes will, finden wir zu unserer eigenen Wahrheit als Beziehungswesen zurück. Was uns Vertrauen gibt, ist also — mehr noch als unser Klavierlehrer oder Kampfsportmeister — die Beziehung, die wir zu ihm haben. Gelebt wird diese Beziehung durch regelmäßige Treffen, die unserer Fortentwicklung einen Takt geben. Wir spüren ein ums andere Mal seine Zufriedenheit, wenn wir uns verbessern, seine Fähigkeit, uns zu motivieren, seinen Beistand, wenn wir mit Schwierigkeiten kämpfen. Nach und nach wird sein Vertrauen zu unserem: Diese Bewegung wohnt dem Vertrauen inne und ist die uns Menschen ureigene Art zu lernen.

Ein guter Meister oder Lehrer bringt uns dazu, uns selbst zu vertrauen, indem er uns den guten Griff wiederholen oder die Tonleitern üben lässt. Dann fordert er uns auf, selbst loszulegen: Er vertraut uns. Wenn ein anderer uns Vertrauen schenkt, gehen diese beiden Aspekte immer zusammen.

Bei der Arbeit an diesem Buch bin ich einem außergewöhnlichen Alpinisten begegnet: Erik Decamp. Der Absolvent der Hochschule École Polytechnique in Paris hat die höchsten Gipfel der Welt erklommen, etwa den Pabil (Ganesh IV) im Himalaja oder zusammen mit seiner Ehefrau, der berühmten Alpinistin Catherine Destivelle, den Shishapangma in Tibet. Er ist aber auch Hochgebirgsbergführer, mit anderen Worten ein Profi auf dem Gebiet des Selbstvertrauens. Denn um diesen Beruf ausüben zu können, muss er notwendigerweise sich selbst vertrauen und darüber hinaus in der Lage sein, den anderen zu vertrauen, die er durch die Berge führt. Um jemandem die Angst zu nehmen, wendet Decamp eine Strategie an, die auf den ersten Blick riskant erscheint, aber oft wirksam ist. Wenn ein Teilnehmer sich die ganze Vorbereitungs- und Trainingsphase hindurch besonders ängstlich gezeigt hat, wird er von Decamp zum Anführer der Seilschaft bestimmt. Das reicht meistens, um ihm seine Angst zu nehmen. Weil der Bergführer ihm vertraut, merkt er plötzlich, dass er stärker ist als gedacht. Erik Decamp hat ihn, wie die anderen Teilnehmer, durch seine Ratschläge, seine Erklärungen, die Wiederholung der Handgriffe und Verhaltensregeln dazu gebracht, sich selbst zu vertrauen. Dann bringt er ihm Vertrauen entgegen, indem er ihn auffordert, voranzugehen. Und der Erste in der Seilschaft wird alles daransetzen, sich des Vertrauens würdig zu erweisen, das in ihn gesetzt wurde.

Das ist auch der Kern der von Maria Montessori