Sicherheitsrisiko NS-Belastung - Sabrina Nowack - E-Book

Sicherheitsrisiko NS-Belastung E-Book

Sabrina Nowack

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Beschreibung

Die Studie widmet sich einer internen, von der Politik erzwungenen Personalüberprüfung im BND. Zwanzig Jahre nach dem Ende des Dritten Reiches wurde individuelle NS-Belastung hauptsächlich als mögliches Sicherheitsrisiko betrachtet. Zwar entließ der BND 68 von 157 überprüften Mitarbeitern, doch bekamen es die Verantwortlichen nicht nur bei den Überprüfungen selbst, sondern auch beim Umgang mit deren Ergebnissen mit Problemen zu tun, die keine wirkliche »Selbstreinigung« gestatteten. Widerstände regten sich dabei nicht allein in der BND-Zentrale in Pullach, sondern auch bei der Bundesregierung in Bonn.
(Band 4 der Veröffentlichungen der Unabhängigen Historikerkommission zur Erforschung der Geschichte des Bundesnachrichtendienstes 1945-1968)

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Sabrina Nowack

Sicherheitsrisiko NS-Belastung

Veröffentlichungen der Unabhängigen

Historikerkommission zur

Erforschung der Geschichte des

Bundesnachrichtendienstes

1945 – 1968

Herausgegeben von Jost Dülffer,

Klaus-Dietmar Henke, Wolfgang

Krieger und Rolf-Dieter Müller

BAND 4

Sabrina Nowack

SicherheitsrisikoNS-Belastung

Personalüberprüfungenim Bundesnachrichtendienstin den 1960er-Jahren

Meinen Eltern

Die Rechtschreibung in der Studie folgt den aktuellen Empfehlungen der Dudenredaktion. Bei direkten Zitaten aus den Quellen wurden offensichtliche Druckfehler stillschweigend korrigiert, andere Eigenheiten und Fehler aus den Originaldokumenten übernommen.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage als E-Book, Oktober 2016

entspricht der 1. Druckauflage vom Oktober 2016

© Christoph Links Verlag GmbH

Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0

www.christoph-links-verlag.de; [email protected]

Cover: Stephanie Raubach, Ch. Links Verlag

Lektorat: Daniel Bussenius, Berlin

eISBN 978-3-86284-363-3

Inhaltsverzeichnis

Vorbemerkung

Einleitung

Fragestellung und Aufbau

Forschungsstand

Quellen

I. Kurswechsel – Die Entscheidung für eine Überprüfung des »besonderen Personenkreises«

1.Westdeutsche »Vergangenheitsbewältigung« und »Vergangenheitspolitik« in den 1950er- und 1960er-Jahren

Das Auswärtige Amt – Der Untersuchungsausschuss 47

Das Bundeskriminalamt – Die »Allgemeine Überprüfung«

Das Bundesamt für Verfassungsschutz – Parlamentarische Kontrolle und der Silberstein-Bericht

2.Der Fall Felfe: NS-belastetes BND-Personal als Sicherheitsrisiko

Der »Chile-Sonderstab«

Durchleuchtung einer Dienststelle

Presseattacken auf den BND und das Bundeskanzleramt

3.Personalpolitik und politische Kontrolle des BND

II. Überprüfungen – Die Organisationseinheit 85

1.Organisation und Auftrag der »85«

2.Personal

3.Definition der »NS-Belastung«

4.Durchführung der Überprüfungen

Kooperation mit internen Stellen, Fragebögen und Befragungen

Kooperation mit externen Stellen

Möglichkeiten und Grenzen von »85«

5.Zwischenbilanz

III. Entscheidungen – Der »besondere Personenkreis«

1.Das Verfahren

Die Kommission

Die Rolle des BND-Präsidenten

2.Überprüfungsgründe

»Politische« Belastung

»Sicherheitsgründe«

Mangelhafte Leistung

Personalrechtliche Gründe

3.Der »besondere Personenkreis« im BND

4.Bewertungsgrundlagen und Entscheidungen

Beschlüsse

Argumentationen

5.Zwischenbilanz

IV. Konsequenzen – Der Umgang mit den Angehörigen des »besonderen Personenkreises«

1.Umsetzung der Kommissions- und Präsidialbeschlüsse

Weiterbeschäftigung

Wege aus dem Dienst

2.Reaktionen

Aktivierung interner Stellen

Aktivierung externer Stellen

Wirkungen

3.Zwischenbilanz

Resümee – Eine »Selbstreinigung« im BND?

Anhang

Quellen- und Literaturverzeichnis

Quellen

Literatur

Die Ergebnisse des »85«er-Verfahrens

Der Fragebogen von »85«

Am Verfahren beteiligte Dienststellen

Abkürzungsverzeichnis

Personenregister

Dank

Über die Autorin

Vorbemerkung

Die Geschichte des Bundesnachrichtendienstes 1945–1968

Die Unabhängige Historikerkommission zur Erforschung der Geschichte des Bundesnachrichtendienstes 1945–1968 (UHK) wurde im Frühjahr 2011 berufen und sechs Jahre mit insgesamt 2,2 Millionen Euro aus Bundesmitteln finanziert. Die Kommission sowie ihre zeitweilig zehn Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, denen zu allererst gedankt sei, hatten im Bundeskanzleramt und im Bundesnachrichtendienst freien Zugang zu allen derzeit noch klassifizierten und bisher bekannt gewordenen Akten des Untersuchungszeitraums. Nach vorbereitenden »Studien« (www.uhk-bnd.de) legt sie ihre Forschungsergebnisse nun in mehreren Monographien vor. Die UHK hatte sich verpflichtet, die Manuskripte durch eine Überprüfung seitens des BND auf heute noch relevante Sicherheitsbelange freigeben zu lassen. Dabei ist sie bei keiner historisch bedeutsamen Information einen unvertretbaren Kompromiss eingegangen.

Das Forschungsprojekt zur Geschichte des BND unterscheidet sich von ähnlichen Vorhaben insofern, als es sich nicht auf die Analyse der personellen Kontinuitäten und Diskontinuitäten zur NS-Zeit beschränkt, sondern eine breit gefächerte Geschichte des geheimen Nachrichtendienstes aus unterschiedlichen Perspektiven bietet. Eine Bedingung der Vereinbarung mit dem BND war es gewesen, dass die UHK den Rahmen und die Schwerpunkte ihrer Forschung selbst festlegt. Gleichwohl waren auf einigen Feldern Einschränkungen hinzunehmen, namentlich bei den Partnerbeziehungen und den Auslandsoperationen des Dienstes.

Die Zusammenarbeit mit dem Bundeskanzleramt, vertreten durch Herrn Ministerialdirigent Hans Vorbeck, war ausgezeichnet. Bei den BND-Präsidenten Ernst Uhrlau, der das Projekt durchsetzte, Gerhard Schindler, der es förderte, und Bruno Kahl, der die Erträge erntet, stieß die Arbeit der Kommission auf wachsendes Verständnis und Entgegenkommen. Der Kommission ist es eine besondere Genugtuung, dass sie den entscheidenden Anstoß dazu geben konnte, dass die Einsichtnahme in historisch wertvolle Unterlagen des deutschen Auslandsnachrichtendienstes für alle Interessierten inzwischen zu einer selbstverständlichen Gewohnheit geworden ist.

Jost Dülffer, Klaus-Dietmar Henke (Sprecher),

Wolfgang Krieger, Rolf-Dieter Müller

Einleitung

Mitte der 1960er-Jahre trennte sich der Bundesnachrichtendienst (BND) von 68 Mitarbeitern. Sie alle verband ihre hauptamtliche Tätigkeit in NS-Organisationen, wie der NSDAP, der SS, dem SD, der Gestapo oder der Geheimen Feldpolizei (GFP). Bei einigen bestand der dringende Verdacht auf eine Teilnahme an NS-Gewaltverbrechen. Einzelne waren nachweislich an Verbrechen gegen die Menschlichkeit beteiligt. Die Trennungen waren das Ergebnis einer BND-internen Überprüfung von »NS-belastetem« Personal – des »besonderen Personenkreises«.

Für diese Untersuchung hatte der BND-Präsident Reinhard Gehlen im Herbst 1963 einige Vertraute, darunter Hans-Henning Crome, ausgewählt und die Organisationseinheit 85 (»85«) ins Leben gerufen.1 Die interne Ermittlergruppe analysierte in den folgenden drei Jahren die NS-Vergangenheit von mindestens 157 BND-Mitarbeitern.

Gehlen traf diesen Entschluss nicht freiwillig. Die Genese und Aktivitäten der »85« sind vielmehr in die vergangenheitspolitischen Entwicklungen in der Bundesrepublik Deutschland einzuordnen. Mit dem Zusammenbruch des Dritten Reiches hatte in der deutschen Öffentlichkeit die Diskussion eines Problems begonnen, das die (west-)deutsche Gesellschaft noch Jahrzehnte beschäftigen würde und dessen Auswirkungen bis in die Gegenwart spürbar sind: Wie sollte man in einer neuen politischen und rechtlichen Ordnung mit ehemaligen Trägern des Nationalsozialismus umgehen? Welche Abstufungen und Abgrenzungen waren dabei sowohl auf juristischer als auch auf moralischer und politischer Ebene vorzunehmen? Diese Fragen stellten sich zunächst im Rahmen der von den Siegermächten durchgeführten »Kriegsverbrecherprozesse«, durchzogen alliierte Entnazifizierungsmaßnahmen und setzten sich in der »Vergangenheitsbewältigung« der jungen Bundesrepublik Deutschland und ihren Debatten fort. Es war ein schwerer, gewundener »Weg der Selbstreinigung« mit allerlei Sackgassen.2

Von besonderer Bedeutung in diesem Prozess waren »vergangenheitspolitische« Entscheidungen in staatlichen Institutionen und Behörden – einschließlich des westdeutschen Auslandsgeheimdienstes und seiner Vorläuferorganisation, der Organisation Gehlen (Org.). Denn bereits seit Anfang der 1950er-Jahre spekulierten bundesdeutsche und ausländische Publizisten darüber, dass für die Org. zahlreiche Personen verpflichtet worden waren, die vor 1945 als SS- und SD-Angehörige Hitlers Sicherheitsapparate aufgebaut und betrieben hatten.3

Die ersten Angehörigen der Org. rekrutierten sich im Wesentlichen aus der von Gehlen bis April 1945 geleiteten 12. Abteilung des Generalstabs des Heeres, dem Heeresnachrichtendienst Fremde Heere Ost, der für die Auswertung von Informationen sowie für die Bewertung der Feindlage im Osten zuständig war, und aus der Frontaufklärungsabteilung der Wehrmacht um Hermann Baun.4 Angesichts der sich abzeichnenden deutschen Niederlage hatten unter anderen Gehlen, sein Stellvertreter Gerhard Wessel sowie Baun beschlossen, sich der US-Army anzudienen. Unter der Tarnbezeichnung Operation »Rusty« etablierten sich ab 1946 unter US-amerikanischer Ägide Organisationsstrukturen, deren Leitung Gehlen erst nach langen Auseinandersetzungen mit Baun für sich beanspruchen konnte.5 Die Amerikaner versprachen sich angesichts der neuen Bedrohungslage von einer Zusammenarbeit mit den deutschen Spezialisten zunächst Hilfe bei der Abwehr kommunistischer Gefahren in den westdeutschen Besatzungszonen, dann Informationen über das sowjetische Militär vor allem in der SBZ. Anfang Juli 1949 wurde die Org. von der Central Intelligence Agency (CIA) übernommen. In der gesamten Aufbauphase kamen vor allem ehemalige Wehrmachtangehörige, aber auch »Geheimdienstexperten« aus den früheren NS-Sicherheitsapparaten – der SS, dem SD und der Gestapo – in die Org., Letztere als vermeintliche Spezialisten für Gegenspionage, aber auch aufgrund behaupteter Netzwerke in Osteuropa.6 Nicht selten wurden die Männer direkt in den US-amerikanischen Internierungslagern für die Mitarbeit angeworben oder traten auf Betreiben ehemaliger Kameraden aus Kriegszeiten, die bereits im Sold des Geheimdienstes standen, in die Org. ein. 1956 übernahm die Bundesregierung Gehlens Dienst von den Amerikanern und ordnete ihn als BND dem Kanzleramt bei, ohne dass es dabei zu einer gründlichen Überprüfung des Personals gekommen wäre.

Personelle Kontinuitäten aus der NS-Zeit waren im BND und seiner Vorläuferorganisation also von Beginn an gegeben. Obwohl dies außerhalb des streng abgeschotteten Dienstes durchaus vermutet wurde, war die Personalpolitik Gehlens zunächst nicht Gegenstand ernsthafter öffentlicher oder politischer Debatten. Zwar kam das Thema Ende der 1950er-Jahre im Rahmen von Diskussionen über die Wiedereinstellung ehemaliger Gestapobeamter in Bonn auf, doch verfolgte man auch hier eine großzügige Linie.7 Dies änderte sich im November 1961 schlagartig, als Mitarbeiter des BND und der CIA den Landesverrat durch den ehemaligen SS-Obersturmführer und hochrangigen BND-Angehörigen Heinz Felfe und seiner Komplizen Hans Clemens und Erwin Tiebel aufdeckten. Mit der Presseberichterstattung, die den Verrat wichtigster BND-Geheimnisse an das KGB mit einer Problematisierung der NS-Vergangenheit des Verräters kombinierte, kam – zusätzlich angeheizt durch die »Spiegel-Affäre« – bis Sommer 1963 eine Entwicklung in Gang, in der die bundesdeutsche Politik und Öffentlichkeit Fragen nach weiteren potenziellen Gefahrenquellen für den Nachrichtendienst und damit für die Bundesrepublik immer lauter stellten. Die Besorgnis, dass Personal mit »NS-Belastung« generell erpressbar sei, spielte hier die Hauptrolle. Damit richtete sich der Fokus auf den Schnittpunkt zwischen der »Vergangenheitspolitik«, der Personalpolitik des BND und der allgemeinen Sicherheit. Die Überlegungen kreisten hierbei weniger um moralische Aspekte denn um potenzielle Sicherheitsrisiken. Gehlen, durch den Verrat seines geschätzten Abwehrexperten sichtlich angeschlagen, musste sich dem Druck schließlich beugen und ordnete im November 1963 die interne Überprüfung des Werdegangs der hauptamtlichen BND-Mitarbeiter in den Jahren vor 1945 an. Diese Maßnahme war in der deutschen Behördenlandschaft in Hinblick auf Umfang und Auswirkungen beispiellos.8

Fragestellung und Aufbau

Die vorliegende Arbeit untersucht Genese, Verlauf und Ergebnisse der BND-internen Überprüfungen. Sie ist in vier große Komplexe unterteilt. Zunächst sind die eigentlichen Ursachen und der unmittelbare Ausgangspunkt der Überprüfungen des hauptamtlichen BND-Personals zu diskutieren. Aus welchem Grund entschied sich die Leitung des nach außen abgeschotteten Nachrichtendienstes für diese Maßnahme? In diesem Kontext sind die Entwicklungslinien der bundesdeutschen »Vergangenheitsbewältigung« und »Vergangenheitspolitik« ebenso zu beachten wie der erwähnte Landesverrat durch Heinz Felfe. Dabei werden die sich wandelnden Definitionen von »Sicherheit« sowie, damit in engem Zusammenhang, das Verhältnis zwischen Politik – vertreten vor allem durch das Kanzleramt und das Parlamentarische Vertrauensmännergremium – und Nachrichtendienst berücksichtigt. Einzubeziehen ist auch der Vergleich mit anderen Bundesbehörden und Ministerien unter dem Gesichtspunkt, ob und aus welchem Grund sich das Problem der Beschäftigung »NS-belasteten« Personals dort bereits früher gestellt hatte und wie es gelöst wurde.

Im zweiten Abschnitt geht es um den Aufbau und die Arbeitsweise der im Herbst 1963 neu eingerichteten Organisationseinheit 85. Dabei sind auf breiter empirischer Basis ihre organisatorische Anbindung und ihr Auftrag ebenso in den Blick zu nehmen wie ihr Personal, das Gehlen für diese Aufgabe persönlich auswählte. Welche Positionen nahmen diese Personen im BND und vor allem im Umfeld des Präsidenten ein? Warum wurden gerade Hans-Henning Crome, Karl Bäuml und Volker Foertsch als noch recht junge Mitarbeiter für diesen Auftrag ausgewählt? Besonders wichtig ist die Bestimmung des »besonderen Personenkreises«. Ihr lag eine diensteigene Definition von NS-Belastung zugrunde. Blieb diese Definition über den ganzen Zeitraum der Tätigkeit von »85« hinweg unverändert oder wandelten sich mit fortschreitendem Kenntnisstand der Ermittler über die Geschichte der NS-Zeit entscheidende Kriterien? Damit ist die Frage verbunden, mit welchen Methoden und Wissensständen die Überprüfungen durchgeführt wurden. Zu erörtern ist außerdem, auf welche Probleme und Widerstände die internen Ermittler bei ihren Erhebungen im BND stießen und wie sie diese überwanden – oder an ihnen scheiterten.

Die »85« hatte eine rein ermittelnde Funktion. Sie entschied nicht über den weiteren Umgang des BND mit den Angehörigen des »besonderen Personenkreises«. Eine eigens zu diesem Zweck eingerichtete Kommission bewertete die Ergebnisse der Überprüfungen und erarbeitete Beschlussvorlagen zur »politischen Tragbarkeit« der Mitarbeiter für den BND. Ihr Votum musste vom Präsidenten bestätigt werden. Das Gesamtverfahren als zweite Stufe eines vergangenheitspolitischen Prozesses im BND bildet den nächsten Schritt der Analyse. Neben der Zusammensetzung, organisatorischer Anbindung, Auftrag und Befugnissen der Kommission ist natürlich die Rolle des BND-Präsidenten in diesem Verfahren von besonderem Interesse. Außerdem ist zu klären, ob in das »85«er-Verfahren auch Mitarbeiter einbezogen wurden, die aus anderen Gründen als einer etwaigen »NS-Belastung« als nicht mehr verwendbar erschienen. Welche Gründe führten im Einzelnen also zur Überprüfung durch »85«? Damit verbindet sich die Frage, wie sich der »besondere Personenkreis« im Detail zusammensetzte und wo er im Gesamtpersonalprofil des BND zu verorten ist. Im Rahmen einer statistischen Analyse werden auch Einschätzungen über die Positionen und Einflussmöglichkeiten der Betroffenen im Dienst möglich. Die Kernfrage lautet, in welchem Maße der Umgang mit den Mitarbeitern mit den Ermittlungsergebnissen von »85« korrelierte und inwieweit andere, außerhalb der NS-Vergangenheit und der Sicherheitsaspekte liegende Überlegungen das weitere Vorgehen beeinflussten.

Vor diesem Hintergrund sind abschließend mittels eines biografischen Einzelzugriffs die Konsequenzen zu beleuchten, die für die Betroffenen selbst, aber auch für den BND aus dem »85«er-Verfahren erwuchsen. Mit Blick auf die Angehörigen des »besonderen Personenkreises« ging es um weitere Verwendungen innerhalb des BND oder Entlassungen. Natürlich sahen die Betroffenen das Verfahren, dem sie unterworfen waren, zumeist sehr kritisch. Im ganzen Dienst war es alles andere als unumstritten. Dabei offenbaren sich neben dem Problem einer fehlenden Personalvertretung auch die Schwierigkeiten des Dienstes dabei, selbst gespannte personalrechtliche Fallstricke zu umgehen. Interne Kritik am Verfahren und Unverständnis über die ergriffenen Maßnahmen drangen bald aus der Pullacher Enklave hinaus – bis nach Bonn, wo sich das Kanzleramt und die Parteien mit den Ergebnissen der Überprüfungen befassen mussten. Erbrachte die BND-Personalüberprüfung in Bonner Augen die gewünschten Resultate oder verloren sie unter geänderten politischen Vorzeichen an Relevanz? Welchen Wandel erfuhr der zu Beginn für den BND definierte Sicherheitsbegriff und wie beeinflusste dies das Gesamtverfahren?

Forschungsstand

Die vorliegende Studie bietet die erste detaillierte Auseinandersetzung mit personellen NS-Kontinuitäten im BND auf der Grundlage aller relevanten Akten. Sie ist im Rahmen der Arbeiten der Unabhängigen Historikerkommission zur Erforschung der Geschichte des Bundesnachrichtendienstes 1945–1968 (UHK) entstanden. Die bisher von der UHK veröffentlichten Studien basieren hauptsächlich auf Quellenmaterial des BND-Archivs.9 Erste Einschätzungen auf BND-Aktengrundlage zu Rekrutierungsmechanismen der Org. respektive des BND hat Gerhard Sälter vorgelegt.10

Die Archive des BND waren für die Forschung bisher weitgehend verschlossen. Zwar hat der Dienst in den letzten Jahren Akten an das Bundesarchiv abgegeben, doch handelt es sich hierbei lediglich um einen Teilbestand. Daher stützten sich frühere Studien über den BND vorwiegend auf Teilüberlieferungen, wie etwa amerikanische, u. a. im Rahmen des »Nazi War Crimes Disclosure Act« von 1998 freigegebene, Dokumente, auf informierte, doch oftmals stark verzerrte Außenansichten in Unterlagen nicht mehr existierender Nachrichtendienste, wie des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), oder in ostdeutschen und sowjetischen Publikationen sowie auf Aussagen von Zeitzeugen.

Die Darstellung von Jens Wegener beispielsweise beleuchtet die amerikanischen Motive beim Aufbau der Org., ohne die Problematik von NS-Kontinuitäten ausführlich diskutieren zu können.11 Mary Ellen Reese veröffentlichte 1990 eine Studie über den BND, die sich auf freigegebene US-amerikanische Quellen sowie auf Memoiren stützen musste. Dennoch gelang ihr neben einer Skizze über die Geschichte der Org. und ihrer Entwicklung zum BND, das Thema »NS-Belastungen« zu berücksichtigen.12 Der Journalist Christopher Simpson ging in seinem Werk zwei Jahre zuvor noch einen Schritt weiter und sprach von »NS-Kriegsverbrechern im Sold der USA«.13 Zur parlamentarischen Kontrolle der bundesdeutschen Nachrichtendienste hat Stefanie Waske eine dichte Darstellung vorgelegt.14

Das Schattenreich der Geheimdienste bietet naturgemäß viel Raum für Spekulationen. Früh begannen Publizisten in beiden Teilen Deutschlands sich für den mysteriösen Nachrichtendienst in Pullach zu interessieren. Die Spiegel-Redakteure Hermann Zolling und Heinz Höhne beispielsweise legten 1971 eine ausführliche Darstellung über die Geschichte von Gehlens Dienst vor, bei der sie sich auf Zuarbeiten des BND stützen konnten.15 Zwei Jahre zuvor hatte das MfS die Arbeit von Albrecht Charisius und Julius Mader über BND-Aktivitäten in der DDR inspiriert. Zwar hatte dieses, vor allem für propagandistische Zwecke erstellte Werk tendenziösen Charakter, doch sind die enthaltenen Informationen über den BND, die zum Teil vom MfS selbst stammten, meist durchaus belastbar.16 Frühere Publikationen aus der DDR, wie das »Braunbuch« von 1965, das Funktionsträger der Bundesrepublik als ehemalige Nationalsozialisten »entlarvte«, hatten hier schon erste Spuren aufgenommen.17

Nach dem Ende der DDR und damit des publizistischen Krieges der Geheimdienste konnten neuere Veröffentlichungen von Autoren mit ausschnittsweisem Insiderwissen nichts wesentlich Neues zur Gesamtgeschichte des BND beitragen, ungeachtet der Durchleuchtung wichtiger Teilaspekte.18 Auf eine nur eingeschränkte Quellenlage konnten auch die Autoren einer weiteren Abhandlung über die deutschen Nachrichtendienste nach 1945 bei ihrem Versuch zurückgreifen, den BND dem MfS gegenüberzustellen. Sie legen in ihrer Publikation zwar einen Schwerpunkt auf die Beschäftigung ehemaliger Nationalsozialisten im BND, doch bleibt auch diese Studie nur an der Oberfläche.19

Memoiren schließlich vermitteln vor allem einen Eindruck der zeitgenössischen Atmosphäre und des Selbstverständnisses im Geheimdienstwesen, die auch die Haltung zu personellen NS-Kontinuitäten beeinflussten. Allen voran sind die Erinnerungen des ersten BND-Chefs Reinhard Gehlen von 1971 zu nennen.20 Eine Gegendarstellung zu Gehlens Beschreibung des Verratsfalles und seiner Bedeutung lieferte Heinz Felfe persönlich. Der Mann, der zehn Jahre »im Dienst des Gegners« gestanden hatte, veröffentlichte 1986 seine ebenfalls stark subjektiven Memoiren.21 Viele nützliche Informationen über den Aufbau und die Tätigkeit der Org. und des BND unter amerikanischer Ägide bieten die Erinnerungen des ehemaligen, für den deutschen Dienst zuständigen CIA-Offiziers James H. Critchfield. Allerdings geht auch er nicht weiter auf die NS-Kontinuitäten im Dienst ein.22

Die Existenz und Tätigkeit der »85« unterlag bis Anfang 2010 strikter Geheimhaltung. Nach Freigabe einiger Dokumente durch den BND erschien in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein Artikel darüber, wenig später ein Interview mit Hans-Henning Crome.23

Die Rolle NS-belasteten Personals beim Aufbau der Org. und des BND bewertete Timothy Naftali in seiner Arbeit über Reinhard Gehlen und die Vereinigten Staaten kritisch. Trotz des asymmetrischen Aktenzugangs gelang ihm eine schlüssige Darstellung der Zusammenarbeit von deutschen und amerikanischen Nachrichtendienstlern nach dem Zweiten Weltkrieg.24 Auf ähnlicher Aktengrundlage beschäftigte sich Norman J.W. Goda mit dem Landesverrat durch Heinz Felfe und thematisierte dabei auch pointiert das Problem der reihenweisen Rekrutierung ehemaliger Angehöriger des NS-Terrorapparats für den deutschen Nachrichtendienst.25

Neben den allgemeinen Darstellungen zur (Entstehungs-)Geschichte des BND mit mehr oder weniger Gewicht auf den personellen NS-Kontinuitäten sind bisher einige Studien zu einzelnen ehemaligen Funktionsträgern des Dritten Reichs erschienen, die später auf der Gehaltsliste des deutschen Geheimdienstes standen. Zu den neuesten Publikationen gehört Peter Hammerschmidts Abhandlung über den verurteilten SS-Kriegsverbrecher Klaus Barbie, der nach Kriegsende zunächst den Schutz britischer und amerikanischer Regierungskreise genoss und später für die US-Geheimdienste sowie in den 1960er-Jahren nebenamtlich für den BND arbeitete. Für seine Arbeit erhielt Hammerschmidt begrenzten Zugang zum BND-Archiv.26 Martin Cüppers stellt mit Walter Rauff den Verantwortlichen für die von der SS zur Ermordung von Juden und anderen Häftlingen eingesetzten Gaswagen in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen. Auch Rauff stand von 1958 bis 1963, trotz Strafverfolgung durch die bundesdeutsche Justiz, als Agent in Diensten des BND.27 Robert Winters Abhandlung dreht sich um Wilhelm Krichbaum. Der ehemalige Geheime Feldpolizist rekrutierte für die Org. zahlreiche alte Kameraden aus der GFP.28 Ansätze für weitere biografische Forschungen bietet die Publikation von Susanne Meinl und Bodo Hechelhammer, in der die »Bewohner« der BND-Liegenschaft in Pullach vorgestellt werden.29

Die UHK, die im Rahmen einer Gesamtgeschichte des Dienstes einen Schwerpunkt auf die Untersuchung von NS-Kontinuitäten legt, gehört zu den vom Deutschen Bundestag angestoßenen Forschungsanstrengungen, die sich mit den personellen NS-Kontinuitäten in bundesdeutschen Institutionen befassen.30 Historikerkommissionen und Projektgruppen haben mittlerweile Studien beispielsweise zur Geschichte des Auswärtigen Amtes (AA), zum Bundeskriminalamt (BKA) und jüngst zum Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) vorgelegt.31 Hinzu kommen Einzelstudien zu Politikern, wie zu den drei ersten Oberbürgermeistern der Stadt Kassel.32 Daneben sind die derzeit laufenden Projekte beispielsweise zu den Vorläufern des Finanz-,33 Justiz- und Wirtschaftsministeriums, dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales sowie den Innenministerien der Bundesrepublik Deutschland und DDR zu nennen.34 Untersuchungen aus dem Bereich der Wirtschaftsgeschichte, wie zu Siemens, Volkswagen, Daimler Benz, Deutscher oder Dresdner Bank liegen seit Längerem vor.35 Auch sie speisen sich aus der »breiten Dynamik von Forschung und öffentlicher Diskussion«36 in der Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit. Die Befassung mit der Geschichte der »Vergangenheitsbewältigung« hat generell einen reichen Ertrag gezeitigt.37

Quellen

Für die Studie konnte erstmals ohne Beschränkungen auf den Gesamtbestand des BND-Archives sowie der VS-Registratur des Bundeskanzleramtes zurückgegriffen werden. Während die VS-Registratur des Kanzleramtes erwartungsgemäß dicht erschlossen und organisiert ist, trifft dies für das BND-Archiv nicht zu. Die Unterlagen des BND-Archives befinden sich derzeit häufig noch in dem Zustand, in dem sie seinerzeit von den jeweiligen Dienststellen abgegeben wurden. Das bedeutet, dass die relevanten Aktenbestände in weiten Teilen unerschlossen und in verschiedenen Teilüberlieferungen verstreut sind. Insgesamt stellte sich die Aktenführung in vielen Fällen als ungeordnet, undurchsichtig und teilweise unvollständig dar. Besonders die Personalakten entbehren oft einer klaren Struktur.

Diese Defizite ändern allerdings nichts daran, dass das BND-Archiv eine sehr gute Quellengrundlage für die historische Forschung bietet. Gregor Schöllgens Befürchtung, dass diese »am Ende ohne Akten« dastehen könnte, hat sich nicht bestätigt.38 Wohl wurden seit den 1950er-Jahren einzelne Aktenbestände zu Operationen oder von Diensteinheiten vernichtet. Das betraf jedoch, ungeachtet entsprechender Richtlinien des Beamtengesetzes und spezifischer Datenschutzbestimmungen, in aller Regel nicht die personenbezogenen Unterlagen. Damit sind diese Akten zu der hier untersuchten Gruppe nahezu vollständig erhalten. Eine Ausnahme bilden insgesamt acht relevante Personalakten, die zwischen 1996 und 2007 kassiert wurden.39 Die notwendigen Informationen konnten jedoch anhand anderer Überlieferungen des BND-Archives sowie auswärtiger Archive gewonnen werden.

Neben den Personal- und weiteren personenbezogenen Akten wurde auf Sach- und Dienststellenakten zurückgegriffen, die Aufschluss über die inneren Strukturen und Abhängigkeitsverhältnisse im BND geben. Im BND-Archiv aufbewahrte Nachlässe enthalten zusätzlich Ausarbeitungen und Papiere einzelner Akteure im Dienst. Operationsakten und Schematische Gliederungen von Dienststellen lieferten außerdem Informationen über die konkrete Tätigkeit einzelner BND-Mitarbeiter.

Sach- und personenbezogene Akten aus der VS-Registratur des Bundeskanzleramtes ermöglichten eine Rückbindung der BND-internen Prozesse an die bundesdeutsche Politik und ihre Akteure. Zudem konnte unter Rückgriff auf diesen Aktenbestand die Rolle des Bundeskanzleramtes im Hinblick auf den Umgang des BND mit den Angehörigen des »besonderen Personenkreises« geklärt werden.

Informationen aus allgemein zugänglichen Archiven lieferten wertvolle Ergänzungen zu Teilaspekten. Dabei handelt es sich um an das Bundesarchiv abgegebene Bestände des BND, die vor allem Sachakten umfassen sowie einzelne Nachlässe. Von besonderer Bedeutung war bei dieser Untersuchung das Archiv der Zentralen Stelle Ludwigsburg. Dort sind nämlich im Generalaktenbestand III-43 die Korrespondenzen zwischen der zuständigen BND-Justiziarin und den Ludwigsburger Staatsanwälten zum »besonderen Personenkreis« abgelegt. Sein Inhalt erstreckt sich von Anfragen zu bestimmten historischen Ereignissen und Einrichtungen des NS-Terrorapparats über einzelne Personenanfragen bis hin zu Stellungnahmen zu ganzen Personenlisten, die der BND an Ludwigsburg übermittelt hatte.

Relevante Hinweise der CIA sind in deren »Elektronischem Lesesaal« online zugänglich. Neben Erkenntnissen zu Einzelpersonen dokumentieren diese Quellen auch die Zusammenarbeit von BND und dem seinerzeit den Amerikanern unterstehenden Berlin Document Center (BDC). Bei den Unterlagen aus dem CIA-Archiv handelt es sich allerdings hauptsächlich um Auskünfte des BDC, die dem BND auf Anfrage zugestellt wurden.

Unterlagen aus den Parteiarchiven der CDU/CSU und der SPD, dem Archiv für Christlich-Demokratische Politik und dem Archiv der sozialen Demokratie, ergänzten die Erkenntnisse aus dem BND-Archiv und der VS-Registratur des Bundeskanzleramtes wesentlich. Besonders in Hinblick auf die Frage nach dem unmittelbaren Anlass für die Personalüberprüfungen durch »85« und die Haltung bundesdeutscher Politiker zu den personellen NS-Kontinuitäten im BND ist der Zugriff auf ausgewählte Nachlässe und das Schriftgut der Bundestagsfraktionen von großer Bedeutung.

Aus den personenbezogenen Beständen des Archives des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU) wurden für das Projekt Informationen zu einzelnen Angehörigen des »besonderen Personenkreises« sowie zu weiteren Mitarbeitern des BND gewonnen. Im Zentrum stand die Frage, inwieweit diese Personen vom Ministerium für Staatssicherheit (MfS) erfasst und damit als BND-Mitarbeiter enttarnt waren. Dies ermöglicht eine bessere Bewertung der Frage, ob das in Pullach heraufbeschworene Sicherheitsrisiko, das sich in den 1960er-Jahren aus Sicht des Dienstes zunächst mit einer »politischen Belastung« aus der NS-Zeit verband, so tatsächlich gegeben war.

Für weitere personenbezogene Detailrecherchen wurden schließlich Regional- und Lokalarchive konsultiert. Daneben ließen sich durch die Auswertung der Berichterstattung der meinungsbildenden bundesdeutschen und ausländischen Presse zum BND interne Prozesse in Pullach und im politischen Bonn an »vergangenheitspolitische« Entwicklungen in der Bundesrepublik rückbinden.

Im BND und seiner Vorläuferorganisation war man darum bemüht, innere Strukturen, Diensteinheiten und die Identität des Personals vor Einblicken von außen, aber auch von innen zu schützen. Dafür bediente man sich Codierungen, Chiffren und Deck- bzw. Dienstnamen. Der BND strukturierte sich bis 1968 mehrfach um. Die Dienststellen und Abteilungen wurden, in unregelmäßigen Zeitabständen und keiner nachvollziehbaren Logik folgend, mit neuen Chiffren versehen. Die Personalabteilung beispielsweise trug bei Gründung der Org. im Jahr 1946 die Nummer »34,1«, wurde nur drei Jahre später in »32« umgetauft und 1953 in »511« umbenannt. 1958 erhielt sie die »262«, ein Jahr später die »764« und 1961 die Chiffre »734«. Unter dieser Bezeichnung agierte sie bis zu den großen Reformen im BND ab 1968, in deren Zug sie schließlich die »IV B« erhielt.40

Die Mitarbeiter trugen während ihrer Dienstzeit nicht selten nacheinander oder sogar gleichzeitig mehrere Decknamen. Zudem war jedem eine individuelle, meist fünfstellige Verwaltungsnummer (V-Nummer) zugeordnet, die der internen Identifikation, Kommunikation und Verwaltungszwecken diente. Verfasser und Empfänger dienstinterner Korrespondenzen wurden ausschließlich chiffriert, das heißt mit der Dienststellennummer oder dem Dienstnamen bzw. der V-Nummer angegeben.

Aus Gründen der Lesbarkeit wurden die Codierungen in der vorliegenden Arbeit aufgelöst. Die einzige Ausnahme bildet die Organisationseinheit 85, die durchgängig unter dieser Bezeichnung geführt wird. Die Chiffrebezeichnungen werden in den Anmerkungen in Klammern hinter den Dienststellenbezeichnungen wiedergegeben. In den Originalzitaten verwendete V-Nummern sind durch die jeweiligen bürgerlichen Namen (Klarnamen, KN) ersetzt. In wenigen Fällen konnte auf die Verwendung von Dienst- bzw. Decknamen nicht verzichtet werden. Diese wurden durch ein vorstehendes »DN« markiert. Orte, deren Bezeichnungen sich nach 1945 geändert haben, wurden mit ihren im Dienst genutzten deutschen Namen wiedergegeben. Die korrekte Benennung findet sich, soweit für das Verständnis notwendig, in Klammern. Auf eine Anpassung der Quellenzitationen an heutige Rechtschreibregeln wurde verzichtet.

Die vorliegende Arbeit hat gemäß den vertraglichen Vereinbarungen zwischen UHK und BND ein Deklassifizierungsverfahren durchlaufen: Es brachte keinerlei inhaltliche Einschränkung mit sich.

1Vgl. Krüger BND-Leitungsstab (106/II) an Leiter Referat Org. (49 pers.), Nr. 461/63 VS-vertraulich, betr. Einrichtung einer neuen Dienststelle, 13. 11. 1963, BND-Archiv, 1532, Blatt 70.

2Theodor Heuss: Rede »Um Deutschlands Zukunft« vor dem »Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands« in Berlin, 18. 3. 1946; in: Theodor Heuss: Aufzeichnungen 1945–1947, Tübingen 1966, S. 184–208, hier S. 190.

3Verwiesen sei stellvertretend auf Sefton Delmer: Deutsche Abwehr auf US-Rechnung. Die Amerikaner von der Arbeit der Geheimorganisation begeistert, Aachener Nachrichten, 25. 3. 1952; Oberländers Gefolgschaft, Die Zeit, Nr. 18, 6. 5. 1954, S. 1. Hinsichtlich der Beschäftigung von ehemaligen SD- und Gestapobeamten als nebenamtliches Personal auffallend wohlwollend drückte sich der Verfasser des folgenden Artikels aus: Gehlen. Des Kanzlers lieber General, Der Spiegel, Nr. 39, 22. 9. 1954.

4Zu Fremde Heere Ost vgl. Magnus Pahl: Fremde Heere Ost. Hitlers militärische Feindaufklärung, Berlin 2012; David Kahn: Hitler’s Spies. German Military Intelligence in World War II, London 1978.

5Vgl. Thomas Wolf: Die Anfänge des BND. Gehlens Organisation – Prozess, Legende und Hypothek, Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 64 (2016), S. 191–225.

6Vgl. Report by the Comptroller General of the United States: Nazis and Axis Collaborators were used to further U.S. Anti-Communist Objectives in Europe – some immigrated to the United States, hg. von U.S. Government Accountability Office, o. O. (Washington), 28. 6. 1985.

7Vgl. BND-Personalabteilung (262), Vormerkung zur Sitzung zur Unterrichtung des Vertrauensmännergremiums unter Vorsitz von Adenauer vom 11. 6. 1958, 20. 6. 1958, BND-Archiv, 1088, Blatt 43.

8Personalüberprüfungen waren 1951 im Auswärtigen Amt sowie zu Beginn der 1960er-Jahre im BKA und im BfV durchgeführt worden.

9Vgl. Ronny Heidenreich: Die Organisation Gehlen und der Volksaufstand am 17. Juni 1953, Marburg 2013; Jost Dülffer, Klaus-Dietmar Henke, Wolfgang Krieger und Rolf-Dieter Müller (Hg.): Die Geschichte der Organisation Gehlen und des BND 1945–1968. Umrisse und Einblicke. Dokumentation der Tagung am 2. Dezember 2013, Marburg 2014 (UHK-Studien, Nr. 2); Agilolf Kesselring: Die Organisation Gehlen und die Verteidigung Westdeutschlands. Alte Elitedivisionen und neue Militärstrukturen, 1949–1953, Marburg 2014; Andreas Hilger und Armin Müller: »Das ist kein Gerücht, sondern echt.« Der BND und der »Prager Frühling« 1968, Marburg 2014; Jost Dülffer: Pullach intern. Innenpolitischer Umbruch, Geschichtspolitik des BND und »Der Spiegel« 1969–1972, Marburg 2015.

10Vgl. Gerhard Sälter: Kameraden. Nazi-Netzwerke und die Rekrutierung hauptamtlicher Mitarbeiter; in: Die Geschichte der Organisation Gehlen und des BND 1945–1968, hg. von Jost Dülffer et al., S. 39–50.

11Vgl. Jens Wegener: Die Organisation Gehlen und die USA: deutsch-amerikanische Geheimdienstbeziehungen 1945–1949, Berlin 2008.

12Vgl. Mary Ellen Reese: Der deutsche Geheimdienst. Organisation Gehlen, Berlin 1992.

13Vgl. Christopher Simpson: Der amerikanische Bumerang. NS-Kriegsverbrecher im Sold der USA, Wien 1988.

14Vgl. Stefanie Waske: Mehr Liaison als Kontrolle. Die Kontrolle des BND durch Parlament und Regierung 1955–1978, Wiesbaden 2009.

15Vgl. Hermann Zolling und Heinz Höhne: Pullach Intern. General Gehlen und die Geschichte des Bundesnachrichtendienstes, Hamburg 1971. Mit der Geschichte der Entstehung dieser Arbeit setzte sich jüngst Jost Dülffer auseinander: Dülffer, Pullach intern.

16Vgl. Albrecht Charisius und Julius Mader: Nicht länger geheim. Entwicklung, System und Arbeitsweise des imperialistischen deutschen Geheimdienstes, Berlin 1969.

17Vgl. Nationalrat der nationalen Front des demokratischen Deutschland. Dokumentationszentrum der staatlichen Archivverwaltung der DDR (Hg.): Braunbuch. Kriegs- und Naziverbrecher in der Bundesrepublik. Staat, Wirtschaft, Verwaltung, Armee, Justiz, Wissenschaft, Berlin 1965.

18Vgl. Peter F. Müller und Michael Mueller: Gegen Freund und Feind. Der BND: Geheime Politik und schmutzige Geschäfte, Hamburg 2002; Erich Schmidt-Eenboom: Schnüffler ohne Nase. Der BND – die unheimliche Macht im Staate, Düsseldorf 1993.

19Vgl. Klaus Eichner und Gotthold Schramm (Hg.): Angriff und Abwehr. Die deutschen Geheimdienste nach 1945, Berlin 2007.

20Vgl. Reinhard Gehlen: Der Dienst. Erinnerungen 1942–1971, Mainz 1971.

21Vgl. Heinz Felfe: Im Dienst des Gegners. 10 Jahre Moskaus Mann im BND, Hamburg 1986.

22Vgl. James H. Critchfield: Auftrag Pullach. Die Organisation Gehlen 1948–1956, Hamburg 2005.

23Vgl. Peter Carstens: Die Arbeit für Org. 85, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18. 3. 2010, S. 3; Peter Carstens: NS-Verbrecher im BND. Eine »zweite Entnazifizierung«, FAZ. Net, 18. 3. 2010, http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/ns-verbrecher-im-bnd-einezweite-entnazifizierung-1640084.html (Zugriff: 8. 7. 2013); Peter Carstens: »Ein gewisses Dilemma«. Wie der Geheimdienst nach NS-Verbrechern in den eigenen Reihen fahndete – ein BND-Mann erinnert sich, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Nr. 18, 9. 5. 2010, S. 6; Hans M. Kloth: »Organisationseinheit 85«. Wie der BND seine eigenen Nazis jagte, Spiegel Online, Einestages, 18. 3. 2010, www.spiegel.de/einestages/organisationseinheit-85-a-948770.html (Zugriff: 19. 10. 2015).

24Vgl. Timothy Naftali: Reinhard Gehlen and the United States; in: U.S. Intelligence and the Nazis, hg. von Richard Breitman et al., Cambridge 2005, S. 375–418. Verwiesen sei auch auf seine Beiträge: Berlin to Baghdad. The Pitfalls of Hiring Enemy Intelligence, Foreign Affairs 83 (2004), 4, https://www.foreignaffairs.com/reviews/review-essay/2004-07-01/berlin-baghdad-pitfalls-hiring-enemy-intelligence (Zugriff: 20. 10. 2015) sowie Hans-Georg Wieck, Clarence W. Schmitz, Timothy Naftali: Spies Like Us, Foreign Affairs 83 (2004) 6, https://www.foreignaffairs.com/articles/russia-fsu/2004-11-01/spies-us (Zugriff: 20. 10. 2015).

25Vgl. Norman J.W. Goda: The Gehlen Organization and the Heinz Felfe Case. The SD, the KGB, and West German Counterintelligence; in: A Nazi Past. Recasting German Identity in Postwar Europe, hg. von David A. Messenger und Katrin Paehler, Lexington 2015, S. 271–294.

26Vgl. Peter Hammerschmidt: Deckname Adler. Klaus Barbie und die westlichen Geheimdienste, Frankfurt/Main 2014.

27Vgl. Martin Cüppers: Walther Rauff in deutschen Diensten. Vom Nazi-Verbrecher zum BND-Spion, Darmstadt 2013; Martin Cüppers: Immer davongekommen. Wie sich Walter Rauff erfolgreich seinen Richtern entzog; in: Die Gestapo nach 1945. Karrieren, Konflikte, Konstruktionen, hg. von Andrej Angrick und Klaus-Michael Mallmann, Darmstadt 2009, S. 71–90. Erweitert wurden Cüppers Darstellungen durch den Aufsatz von Jost Dülffer: Im Einsatz für den BND, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27. 9. 2011, S. 8.

28Allerdings verlässt Winter bei seiner Studie die deskriptive Ebene nicht, wodurch Krichbaums Einfluss auf die Org. und den BND nur oberflächlich beleuchtet wird. Vgl. Robert Winter: Täter im Geheimen. Wilhelm Krichbaum zwischen NS-Feldpolizei und Organisation Gehlen, Leipzig 2010.

29Vgl. Susanne Meinl und Bodo Hechelhammer: Geheimobjekt Pullach. Von der NS-Mustersiedlung zur Zentrale des BND, Berlin 2014.

30Vgl. Christian Mentel und Niels Weise: Die zentralen deutschen Behörden und der Nationalsozialismus. Stand und Perspektiven der Forschung, hg. von Frank Bösch, Martin Sabrow und Andreas Wirsching, München, Potsdam 2016; vgl. auch Wolfgang Krieger: »Official history« in Deutschland. Der Bundesnachrichtendienst und seine Geschichte; in: Licence to detect. Festschrift für Siegfried Beer zum 65. Geburtstag, hg. von Alfred Ableitinger und Martin Moll, Graz 2013, S. 561–577, hier S. 568–571. Zur Aufarbeitung der Geschichte des BND vgl. auch Klaus-Dietmar Henke: Zur innenpolitischen Rolle des Auslandsnachrichtendienstes in der Ära Adenauer, Aus Politik und Zeitgeschichte, 2014, Nr. 18–19, S. 31–36; Bodo Hechelhammer: Offener Umgang mit geheimer Geschichte, Aus Politik und Zeitgeschichte, 2014, Nr. 18–19, S. 26–31; Ralf Beste et al.: Welle der Wahrheiten, Der Spiegel, 2. 1. 2012, www.spiegel.de/spiegel/print/d-83422497.html (Zugriff: 19. 10. 2015).

31Vgl. Eckart Conze et al.: Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik, München 2010. Zum Projekt vgl. www.historikerkommission-aa.uni-marburg.de/index.html; Imanuel Baumann et al.: Schatten der Vergangenheit. Das BKA und seine Gründungsgeneration in der frühen Bundesrepublik, Köln 2011; Constantin Goschler und Michael Wala: »Keine neue Gestapo«. Das Bundesamt für Verfassungsschutz und die NS-Vergangenheit, Hamburg 2015. Zum Projekt: www.verfassungsschutz.de/de/das-bfv/geschichtsprojekt-bfv.

32Vgl. Sabine Schneider et al.: Vergangenheiten. Die Kasseler Oberbürgermeister Seidel, Lauritzen, Branner und der Nationalsozialismus, Marburg 2015. Zu weiteren Projekten vgl. Norbert Kartmann (Hg.): NS-Vergangenheit ehemaliger hessischer Landtagsabgeordneter. Dokumentation der Fachtagung, Wiesbaden und Marburg 2014.

33Vgl. Christiane Kuller: Das Reichsfinanzministerium im Nationalsozialismus. Bürokratie und Verbrechen. Antisemitische Finanzpolitik und Verwaltungspraxis im nationalsozialistischen Deutschland, München 2013. Zum Projekt: www.reichsfinanzministeriumgeschichte.de.

34Zu den Projekten des BMJ, des BMWI, zum Reichsarbeitsministerium und dem Bundesinnenministerium und dem Ministerium des Innern der DDR: www.uwk-bmj.de, www.bmwi.de/DE/Ministerium/Geschichte/geschichtskommission.html, www.historikerkommission-reichsarbeitsministerium.de; Frank Bösch und Andreas Wirsching: Abschlussbericht der Vorstudie zum Thema: Die Nachkriegsgeschichte des Bundesministeriums des Innern (BMI) und des Ministeriums des Innern der DDR (MdI) hinsichtlich möglicher personeller und sachlicher Kontinuitäten zur Zeit des Nationalsozialismus. http://www.ifz-muenchen.de/fileadmin/user_upload/Neuigkeiten%202015/BMI_Abschlussbericht%20der%20Vorstudie.pdf.

35Vgl. Wilfried Feldenkirchen: Siemens 1918–1945, München 1995; Hans Mommsen und Manfred Grieger: Das Volkswagenwerk und seine Arbeiter im Dritten Reich, Düsseldorf 1996; Neil Gregor: Stern und Hakenkreuz. Daimler-Benz im Dritten Reich, Berlin 1997; Harold James: Die Deutsche Bank und die »Arisierung«, München 2001; Klaus-Dietmar Henke (Hg.): Die Dresdner Bank im Dritten Reich, 4 Bde, München 2005.

36Schneider et al., Vergangenheiten, S. 9.

37Zu nennen sind stellvertretend: Norbert Frei: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996; Ulrich Herbert: NS-Eliten in der Bundesrepublik; in: Verwandlungspolitik. NS-Eliten in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft, hg. von Winfried Loth et al., Frankfurt/Main 1998, S. 93–115; Lutz Hachmeister: Die Rolle des SD-Personals in der Nachkriegszeit. Zur nationalsozialistischen Durchdringung der Bundesrepublik; in: Nachrichtendienst, politische Elite und Mordeinheit. Der Sicherheitsdienst des Reichsführers SS, hg. von Michael Wildt, Hamburg 2003, S. 347–369; Michael Wildt: Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2002.

38Vgl. Gregor Schöllgen: Am Ende ohne Akten? Notstand in Pullach: Der geplanten Aufarbeitung der Geschichte des Bundesnachrichtendienstes sind Grenzen gesetzt, Süddeutsche Zeitung, 9. 2. 2011, S. 12.

39Vgl. Bodo Hechelhammer: Kassationen von Personalakten im Bestand des BND-Archivs, Mitteilungen der Forschungs- und Arbeitsgruppe »Geschichte des BND«, Sonderausgabe, 22. 12. 2011.

40Vgl. Abt. für zentrale Aufgaben, Organisation (IV A 2), Chronik BND, organisatorische Entwicklung des BND und ihrer Vorläuferorganisation ab 1946, 1976, BND-Archiv, Az. 50-20 111/76 geheim.

I. Kurswechsel – Die Entscheidung für eine Überprüfung des »besonderen Personenkreises«

Zu Beginn des Jahres 1953 wandte sich die Leitung der Org. gegenüber dem Staatssekretär im Bundeskanzleramt, Hans Globke, entschieden gegen »die wiederholt aufgetretene Behauptung«, dass im Nachrichtendienst »rechtsstehende Elemente« besonders zahlreich seien und einflussreiche Positionen einnähmen. Gehlen führte aus, dass sich die Mitarbeiter ausschließlich aus Personengruppen rekrutieren würden, »die auf der politischen Linie der demokratischen Parteien seien«. In Bezug auf V-Männer und Agenten, versicherte der Geheimdienstchef, würde die Organisation zudem auf Personen möglichst verzichten, die der radikalen Rechten oder der kommunistischen Partei naheständen. Auf sie greife man lediglich zurück, »wenn in diese Kreise hinein zur Schaffung von III F [Gegenspionage]-Grundlagen und -Anknüpfungspunkten gearbeitet werden soll, ebenso wie man in Russland nur mit Russen, in Polen nur mit Polen aufklären kann«.1 Damit legitimierte er die Verwendung von Personal mit einschlägigen NS-Bezügen und erteilte gleichzeitig einem etwaigen nachrichtendienstlichen Nutzen Priorität.

Im Zuge der Übernahme der Org. in die Zuständigkeit der Bundesregierung 1956 ergaben sich spezifische personalrechtliche Probleme. Diese hatten sich zumindest in Teilen anderen Behörden bereits früher gestellt: Alle öffentlichen Institutionen der Bundesrepublik standen nach 1949 vor der Frage, wie mit Personen umzugehen sei, die sich, in unterschiedlicher Intensität und aus welchen Gründen auch immer, vor 1945 für das NS-Regime engagiert hatten. Für einen Nachrichtendienst wie die Org. bzw. den BND, der sich berufen fühlte, kommunistische oder, weiter gefasst, staatsfeindliche Agenten und Infiltration aufzuspüren und abzuwehren, spielte in diesem Gesamtkomplex etwa die Beschäftigung – und adäquate beamtenrechtliche Behandlung – ehemaliger Gestapoleute eine Rolle. Dies kollidierte allerdings in den späten 1950er-Jahren mit der zunehmend kritischer werdenden öffentlichen Auffassung über die Beschäftigung ehemaliger Amtsträger des NS-Staates in bundesdeutschen Einrichtungen.

Diese Problematik drang mit der Zeit auch in den nach allen Seiten und in sich abgeschotteten BND vor. 1957 sah der BND-Personalchef Neueinstellungen von ehemaligen Gestapoangehörigen durchaus kritisch, wobei dies wohl weniger auf sein moralisches Empfinden denn auf politische Entwicklungen zurückging: »Der BND muss zunächst erst einmal die alten Mitarbeiter, die früher Angehörige der Geheimen Staatspolizei waren, politisch verkraften und kann es sich nicht leisten, neue Leute dieser Kategorie einzustellen.«2

Dennoch sprach sich Gehlen Ende der 1950er-Jahre persönlich mit Nachdruck für die Beschäftigung und Verbeamtung ehemaliger Gestapobeamter in seinem Dienst aus.3 Dabei stützte er sich auf zwei Argumente: Erstens würden ausschließlich diese Mitarbeiter, die vor allem im Bereich der Gegenaufklärung beschäftigt seien, die Voraussetzungen für die Bewältigung von, nicht weiter definierten, »Spezialaufgaben« erfüllen. Zweitens könne der BND diese Mitarbeiter nicht schlechter behandeln, als sie es in anderen Bundesbehörden erwarten könnten, drohte doch sonst ihre Abwanderung.4 In diesem konkreten Fall beantragte der BND-Präsident die Weiterbeschäftigung und Verbeamtung von zehn ehemaligen Gestapobeamten. Neun von ihnen, hob Gehlen hervor, seien ohnehin als Polizisten nur von Amts wegen, d. h. unfreiwillig, zur Gestapo versetzt worden. Alle seien außerdem in Geschäftsbereichen verwendet worden, die als weniger belastet einzustufen seien. Adenauer selbst äußerte zwar Bedenken, verschloss sich aber schließlich den Argumenten Gehlens nicht. Auch das Parlamentarische Vertrauensmännergremium, darunter der SPD-Bundestagsabgeordnete Fritz Erler, hatte keine Einwände:

Der Herr Bundeskanzler entschied, dass er unter dem Gesichtspunkt der Unentbehrlichkeit bestimmter Beamter der ehem. Gestapo für die Aufgaben des BND seine starken Bedenken zurückstellen und den Vorschlägen des BND zur Ernennung der ehem. Beamten stattgeben wolle. Auch die Abgeordneten waren einverstanden.5

Zu diesen ehemaligen Beamten zählte Sebastian Ranner. Er hatte seine Polizeikarriere bei der Münchner Schutzpolizei begonnen, bevor er im Mai 1933 zur Abteilung VI (politische Polizei) der Gestapo München wechselte. Seine Versetzung erfolgte, darauf legte Ranner in den 1950er-Jahren in einem Lebenslauf für den BND Wert, angeblich ohne sein Zutun und ohne dass er gewusst hätte, welche Aufgaben in der Abteilung VI auf ihn zukommen würden.6 In seinen Aufgabenbereich fielen die Überwachung von Vereinstätigkeiten und der exekutive Nachrichtendienst. In München bewährte sich Ranner in den Augen seiner Vorgesetzen offenbar: Von April bis November 1939 übte er eine Tätigkeit bei der sogenannten Reichszentrale für die Bekämpfung der Abtreibung und Homosexualität im Reichskriminalamt Berlin aus. Danach war er knapp zwei Jahre in der Politischen Abteilung der Gestapo Regensburg tätig. Hier erfolgte auch am 1. November 1939 sein Eintritt in die NSDAP.7 Am 13. März 1941 wurde Ranner zu einem Einsatzkommando der Sicherheitspolizei und des SD in Luxemburg kommandiert. Dieser Einsatz endete am 26. Februar 1942.8 Zurück in Regensburg ersetzte er den SS-Obersturmführer Luitpold Kuhn, der ein Kommando führte, das für die Identifikation und Entfernung politisch nicht verlässlicher sowjetischer Kriegsgefangener und Zwangsarbeiter zuständig war.9 In der Gestapoaußenstelle übernahm Ranner die Leitung der Referate IV4, IV5 und IV6 für »Gegnerbekämpfung«. Bis Kriegsende hatte er es in der Gestapo bis zum Kriminalkommissar gebracht und bekleidete gleichzeitig den Rang eines SS-Hauptsturmführers.

Laut eigenem Lebenslauf will sich Ranner unmittelbar nach Kriegsende, am 12. Mai 1945, bei den US-amerikanischen Streitkräften respektive beim Counter Intelligence Corps (CIC) gemeldet haben. Vorerst erfolgte keine Inhaftierung.

[Doch e]in Versuch der öffentlichen amerikanischen Stelle, mich aus den allgemeinen Massnahmen gegen Angehörige der Staatspolizei herauszuhalten, fand nicht die Billigung des amerikanischen Hauptquartiers.10

So wurde Ranner am 27. Mai 1945 in das Kriegsgefangenenlager Natternberg gebracht und später ins Internierungslager Dachau überführt, wo die amerikanischen Alliierten mutmaßliche Kriegsverbrecher festhielten.11 Mitte Juli des folgenden Jahres wurde er an die luxemburgischen Behörden ausgeliefert, die einen Prozess gegen deutsche Sicherheitspolizisten vorbereiteten.12 Der Prozess vor einem Sondergericht begann 1949. Vorgeworfen wurden den Angeklagten Beihilfe zum Mord und Freiheitsberaubung mit Todesfolge. Am 23. März 1950 erlaubte das Gericht Ranner, den Ausgang des Prozesses in der Bundesrepublik abzuwarten – möglicherweise, weil die Richter die Vorwürfe für wenig fundiert hielten. Denn mit Urteil vom 19. Februar 1951 sprach der jetzt für den Fall zuständige Gerichtshof für Kriegsverbrechen in Luxemburg den Angeklagten frei. Neben den luxemburgischen Strafverfolgern ermittelte Anfang der 1950er-Jahre auch die Regensburger Staatsanwaltschaft wegen Beihilfe zum Mord an polnischen Staatsbürgern sowie wegen Verschleppung von Juden gegen Ranner.13 Diese beiden Ermittlungsverfahren wurden am 29. April 1955 eingestellt – »mangels Schuld«, wie er später beim BND zu den Akten gab. Am 16. April 1956 erfolgte Ranners Wiedereinstellung als Polizeimeister bei der bayerischen Landespolizei, wo er später als Polizeiobermeister im Passkontrolldienst eingesetzt wurde. Spätestens seit 1957 versuchte Ranner, in den BND zu wechseln.14 Seine Übernahme konnte allerdings bis 1958 nicht erfolgen, weil die Voraussetzungen für die offizielle Beschäftigung ehemaliger Angehöriger der Gestapo innerhalb des BND, wie erwähnt, noch nicht geklärt waren.15

Anfang 1959 wurde Ranner schließlich von der bayerischen Landespolizei zum BND abgeordnet, nachdem das Parlamentarische Vertrauensmännergremium, wie oben dargelegt, in seiner Sitzung am 11. Juni 1958 die Einstellung des ehemaligen Gestapoangehörigen ausdrücklich gebilligt hatte.16 Am 7. März 1959 wurde ihm zudem in seiner Eigenschaft als Unterbringungsteilnehmer nach Artikel 131 des Grundgesetzes der Beamtenstatus zuerkannt.17 Aus einer von Gehlen unterzeichneten Feststellung zur Laufbahnbefähigung gehen die Gründe hervor, warum der BND sich der Mitarbeit Ranners versichern wollte: Der ehemalige Gestapoangehörige verfügte in den Augen des Dienstes aus seiner Tätigkeit von vor 1945 über besonders nützliche nachrichtendienstliche Kenntnisse. Konkret wurde er im Dienst mit den Aufgaben eines Sicherheitsberaters einer Dienststelle betraut.

Nur fünf Jahre nach dem Beschluss des Parlamentarischen Vertrauensmännergremiums hatten die Verantwortlichen in Bonn und in der BND-Leitung ihre Meinung über die Beschäftigung ehemaliger Gestapobeamter im BND offensichtlich geändert. Im November 1963 ordnete der BND-Präsident die interne Überprüfung des sogenannten »besonderen Personenkreises« an, mit dem inoffiziellen Ziel, NS-belastetes Personal aus dem Dienst zu entfernen. Nun wurden auch Personen wie Ranner überprüft, für deren Einstellung und Beamtenernennung sich Gehlen noch vor wenigen Jahren nachdrücklich eingesetzt hatte.18 Damit stellt sich die Frage, wie es zu dem Sinneswandel der BND-Führung gekommen war. Im Kern geht es darum, ob die interne Überprüfung auf eigene Entscheidung der BND-Instanzen erfolgte oder ob hier Einflüsse von außerhalb der Pullacher Mauern, etwa aus Politik, Justiz oder Presse, wirksam wurden. Denn immerhin war der Nachrichtendienst dem Bundeskanzleramt beigeordnet und stand damit in dessen Verantwortungsbereich. Aus diesem Grund musste sich vor allem die Bundesregierung dem Problem der Beschäftigung von Personen mit NS-Hintergrund im BND stellen. Im Dienst hätten zudem aufgrund seiner Eigenschaft als besonders sicherheitsempfindliche Einrichtung auch eigene Maßstäbe bei der Personalauswahl gelten müssen. Dieses Versäumnis sollte nun im Jahr 1963 nachgeholt werden.

Analytisch lässt sich das komplexe Ursachenkonglomerat, das zu den umfangreichen Überprüfungen im BND führte, in drei miteinander verwobene Aspekte aufteilen: Zum ersten ist, im Vergleich zur Zeit unmittelbar nach der Übernahme des BND durch die Bundesregierung, für die frühen 1960er-Jahre ein Wandel im bundesdeutschen Umgang mit der NS-Vergangenheit schlechthin zu konstatieren. Diese Veränderungen hatten für verschiedene Bundesbehörden, beispielsweise für das Auswärtige Amt, das Bundeskriminalamt sowie für das Bundesamt für Verfassungsschutz, Folgen und konnten auch den BND nicht unberührt lassen. Daneben hatte der sogenannte Verratsfall Felfe im Jahr 1961 die bisherige personalpolitische Praxis des BND infrage gestellt. Der umfassende Landesverrat des früheren SS-Angehörigen rückte zwangsläufig die Loyalitäten und nachrichtendienstlichen Schwachstellen des BND-Personals mit einer nationalsozialistischen Vergangenheit in den öffentlichen Fokus, schien sich doch zu zeigen, dass braune Vergangenheiten Mitarbeiter für Erpressungen durch gegnerische Dienste anfällig machten.19 Mit diesem Problem, das letztlich die Frage nach der Gewährleistung der bundesdeutschen Sicherheit insgesamt aufwarf, war unmittelbar das Bundeskanzleramt als Auftraggeber des BND berührt. Damit verband sich die Frage, wer im politischen Bonn diese Kernaufgabe mit allen macht- und demokratiepolitischen Implikationen am besten erfüllen sollte.

1. Westdeutsche »Vergangenheitsbewältigung« und »Vergangenheitspolitik« in den 1950er-und 1960er-Jahren

Zum Verständnis, warum das Thema der NS-Belastungen in bundesdeutschen Behörden – und damit auch im BND – zu Beginn der 1960er-Jahre an Bedeutung gewann, müssen die Entwicklungslinien der Aufarbeitung der NS-Zeit in Politik, Justiz und Öffentlichkeit in den 1950er- und 1960er-Jahren in den Blick genommen werden.

In der Bundesrepublik Deutschland gelang es einer großen Zahl ehemaliger nationalsozialistischer Funktionsträger, sich sowohl gesellschaftlich als auch beruflich zu reintegrieren und zu etablieren. Daraus folgte, dass viele Stellen in der Wirtschaft, aber auch im öffentlichen Dienst von Personen besetzt wurden, die sie auch vor dem Krieg ausgefüllt hatten. Für die meisten Ministerien und Behörden lassen sich NS-Kontinuitäten in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten nachweisen. Der BND und seine Vorläuferorganisation bilden dabei keine Ausnahme. Daneben sind beispielsweise im Auswärtigen Amt, dem Bundeskriminalamt sowie im Bundesamt für Verfassungsschutz NS-Kontinuitäten zu verzeichnen, die auf eine eher unbedarfte Einstellungspraxis, einen Mangel an Kontrollen und auf die Reaktivierung alter Netzwerke aus der Zeit des Nationalsozialismus schließen lassen.20 In den ersten Jahren wurde in der Org. Personal dezentral rekrutiert und gelangte vor allem über die Anwerbung ehemaliger Kameraden aus der NS-Zeit sowie durch die Einstellung ehemaliger Militärs in den Dienst.21 Diese »wilden Rekrutierungen« erfolgten unter den Augen der US-Amerikaner.

Die unmittelbar nach Kriegsende von den Alliierten durchgeführten juristischen Verfahren22 und allgemeinen Entnazifizierungsmaßnahmen waren erste Versuche einer kollektiven »Vergangenheitsbewältigung«.23 Die Entnazifizierungen hatten nicht zu einer »Reinigung« der deutschen Gesellschaft vom Nationalsozialismus beigetragen, sondern waren genutzt worden, individuelle Vergangenheiten mit Hilfe von Zeugen und »Persilscheinen« umzuinterpretieren und amtlich bestätigen zu lassen. Dabei fielen auch NS-Täter durch das grobmaschig gespannte Netz, die sich über ein Jahrzehnt später vor bundesdeutschen Gerichten für ihre Taten vor 1945 verantworten mussten und rechtskräftig verurteilt wurden.24 Diese Entwicklungen perpetuierten sich durch den sich zunehmend verschärfenden Ost-West-Konflikt. Die Suche der Westalliierten nach potenziellen Verbündeten mit einschlägigen Erfahrungen und Kompetenzen begünstigte die Fortsetzung der Karrierewege. In dieser Zeit wurde eine Definition von »NS-Belastung« angelegt, die sich einzig auf Partei- oder Organisationszugehörigkeiten stützte, individuelles Handeln hingegen in der Regel ausklammerte. Damit zerschlug die Entnazifizierung Karrieren in der Regel nicht, sondern ermöglichte oftmals erst ihre Fortführung.25 Als Resultat wurden in nahezu allen öffentlichen Bereichen der Bundesrepublik Deutschland sukzessive wichtige Positionen auch von ehemaligen Nationalsozialisten besetzt, was sich wiederum stark auf die jeweils betriebene Personalpolitik auswirkte.

Diese Männer und Frauen gehörten der politischen Generation der zwischen der Jahrhundertwende und den ersten Jahren nach dem Ersten Weltkrieg Geborenen und damit jener Gruppe an, die den NS-Staat mitaufgebaut und getragen hatte. Diese »Kriegsjugendgeneration« war tendenziell national und an patriarchalischen Strukturen orientiert. Dennoch gelang es den Betroffenen, sich an das neue demokratische System anzupassen und ihre Karrieren fortzuführen. Nach dem Krieg galt es die Bundesrepublik aufzubauen und hier spielte diese Gruppe potenzieller Täter eine ebenso große Rolle wie die nachfolgende Generation, die sogenannten »45er«. Hierbei handelte es sich um die um 1930 Geborenen, die 1945 bereits alt genug waren, um das Kriegende, aber auch die NS-Herrschaft bewusst miterlebt zu haben. Diese Gruppe einte vor allem die Tendenz zu einer grundsätzlichen Skepsis gegenüber Ideologien verbunden mit einer Orientierung an den Vereinigten Staaten.26

Partielle Erfolge alliierter Vergangenheitsbewältigung wurden von der unter Bundeskanzler Adenauer betriebenen »Vergangenheitspolitik«27 der 1950er-Jahre ganz oder teilweise rückgängig gemacht. Kurz nach Bildung der ersten westdeutschen Bundesregierung wurden Rufe nach einer Amnestierung vormaliger Funktionsträger des Dritten Reiches laut. Daneben waren auch parteiübergreifende Bestrebungen zu verzeichnen, ehemaligen Parteigenossen beizustehen.28 Hintergrund dafür war zum einen eine Solidarität des Großteils der deutschen Bevölkerung mit den Betroffenen, woraus – besonders vor Bundestagswahlen – ein hoher Erwartungsdruck auf die Parteien resultierte. Zum anderen entsprach das Streben nach einer Generalamnestie der deutschen Selbstidentifikation als »Opfergemeinschaft«.

In dieser »Schlussstrichmentalität« kamen die Wünsche nach einem Neuanfang ohne die Beschäftigung mit der NS-Zeit und ihren Belastungen, nach Rückgewinnung historisch-politischer Identität sowie politischer Selbstbestimmung zusammen. Allerdings profitierten von Amnestien für vermeintlich Unschuldige, Verirrte und Fehlgeleistete immer auch Personen, die sich an NS-Gewaltverbrechen beteiligt hatten. Das galt bereits für das erste Straffreiheitsgesetz von 1949, die »Weihnachtsamnestie«.29 Dabei war es die freiheitliche Demokratie selbst, die – stets auf Stimmenfang – den Wunsch nach einem »Schlussstrich« hochstilisierte.

In die Amnestie- und Schlussstrichdebatten fügte sich die Diskussion um die Rehabilitierung und Wiedereinstellung ehemaliger Beamter in den Bundesdienst ein. Dementsprechend schloss das im Bundestag einstimmig verabschiedete »Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Artikel 131 des Grundgesetzes fallenden Personen« von April 1951 Personen ein, die im Zuge der sogenannten politischen Säuberungen durch die Alliierten ihres Amtes enthoben worden waren.30 In der Folge der parteienübergreifenden Konsenspolitik war es sogar ehemaligen Gestapoangehörigen möglich, in den öffentlichen Dienst zurückzukehren, solange eine Beteiligung an NS-Verbrechen nicht ersichtlich war, wie das Beispiel Sebastian Ranner verdeutlicht.31 Dieses Gesetz trug maßgeblich dazu bei, dass sich personelle NS-Kontinuitäten in deutschen Amtsstuben etablieren konnten.32

Die Verfolgung von NS-Verbrechern gehörte also nicht zu den Prioritäten Bonner Politik. Vielmehr war man darum bemüht, dem Bedürfnis der Bürger nach einem Neuanfang nachzukommen und die Westbindung des jungen deutschen Staates voranzutreiben. Diese erschien allerdings nicht ohne Unterstützung erfahrener Militärs zu bewerkstelligen. So forderten die ehemaligen Wehrmachtsgeneräle Hans Speidel und Adolf Heusinger die Freilassung aller noch in alliierter Haft befindlichen Deutschen und erklärten diese Forderung zur Bedingung für ihren Wehrbeitrag. Beide Männer waren im Amt Blank, dem Vorläufer des Bundesverteidigungsministeriums, beschäftigt, als Sachverständiger bzw. als Leiter der Militärischen Abteilung. Die Westverträge von 1955 regelten schließlich die Freilassung aller Gefangenen, die von den drei Westmächten verurteilt worden waren, bis 1958.33 Damit wurde die Ambition zur sogenannten politischen Säuberung in der Bundesrepublik einerseits durch den Wiederaufbau selbst und andererseits durch ein Bedrohungsgefühl im Kalten Krieg gedämpft.34

Dabei zeigten aber erste Gegenentwicklungen auch frühe Grenzen der Rehabilitierungspolitik an. Bereits 1951 musste sich das gerade erst wieder eingerichtete Auswärtige Amt mit der Frage von »NS-belastetem« Personal in seinen Reihen auseinandersetzen.

Das Auswärtige Amt – Der Untersuchungsausschuss 47

Im Auswärtigen Amt, das sich in den ersten Jahren nach seiner Wiedererrichtung personell stark vergrößerte,35 sorgte vor allem die »Fürsorgebereitschaft« von dort angestellten Beamten gegenüber ihren vormaligen Kollegen für die Einstellung von Personen mit NS-Hintergrund.36 Der Leiter der Politischen Abteilung des Auswärtigen Amtes Herbert Blankenhorn und Personalchef Wilhelm Haas kamen ihrer Zusage vor der Alliierten Hohen Kommission (AHK), keine ehemaligen Parteigenossen der NSDAP in den Auswärtigen Dienst einzustellen, also nicht nach. Sie sahen die Zahl von geeigneten unbelasteten Personen als zu klein an, um den Bedarf des Amtes zu decken. Daraufhin kam man im Bundeskanzleramt überein, dass die einzustellenden Mitarbeiter einer besonderen Kontrolle unterzogen werden sollten. Der Vorschlag, bei Personalengpässen nach erfolgter Prüfung und Genehmigung durch die AHK in Ausnahmefällen auch Personal im Ausland zu verwenden, das vor 1945 mit der nationalsozialistischen Bewegung in Verbindung gestanden hatte, traf auf die Zustimmung der Kommission. Für die Überprüfung wollte man Unterlagen aus dem BDC heranziehen.37 Daneben wurden strenge Regeln für die Zentrale – besonders für das Personalreferat – aufgestellt. Doch verhüteten diese Maßnahmen nicht die Wiederverwendung »NS-belasteten« Personals im Auswärtigen Amt.38

Eine ausgesprochen gut informierte Artikelserie der Frankfurter Rundschau mit dem Titel »Ihr naht euch wieder …« aus der Feder des Journalisten Michael Mansfeld machte Anfang September 1951 die Personalpolitik im Amt öffentlich.39 Die Vorwürfe waren so schwerwiegend, dass auf Adenauers Anweisung zunächst eine dienstrechtliche Untersuchung durch den ehemaligen Kölner Oberlandesgericht-Präsidenten Rudolf Schetter durchgeführt wurde, deren unbefriedigendes Ergebnis großes öffentliches Interesse erregte. Dies führte am 24. Oktober des Jahres schließlich – vor allem auf Betreiben der SPD-Bundestagsfraktion – zur Einsetzung des Bundestags-Untersuchungsausschusses 47.

Das siebenköpfige Gremium widmete sich vor allem der Frage, ob Personen in das Amt eingestellt worden waren, die das Vertrauen des In- und Auslands in eine demokratische Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland gefährden könnten. Daneben sollte erörtert werden, von wem diese Personen eingestellt worden waren und welche Maßnahmen getroffen werden konnten, um künftige Angriffe gegen Amtsangehörige zu verhindern.40 Mitglieder des Ausschusses waren Eugen Gerstenmaier (CDU), Hermann Louis Brill (SPD), Adolf Arndt (SPD), Fritz Erler (SPD), Josef-Ernst Fürst Fugger von Glött (CSU), Max Becker (FDP) sowie Erich Köhler (CDU). In den Sitzungen, die bis auf eine Ausnahme unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfanden, konzentrierte sich die Kommission vor allem auf die von der Frankfurter Rundschau aufgeworfenen Fälle. Zu diesem Zweck wurden Personalakten gesichtet und Zeugenprotokolle beigezogen. Außerdem griff der Ausschuss auf die Unterlagen aus der Voruntersuchung, auf das Archiv des Instituts für Zeitgeschichte (IfZ) sowie auf die Prozessakten der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse zurück. Daneben wurden die betroffenen Mitarbeiter des Amtes befragt. Allerdings verzichtete der Ausschuss auf eine Auswertung von Unterlagen aus dem BDC. Die Fronten in den zunächst in entspannter Atmosphäre durchgeführten Befragungen verhärteten sich im Lauf des Jahres 1952 zunehmend. Aufgrund eines Rückgangs von Neubewerbungen kam zudem die Einstellung von Personal im Auswärtigen Amt nahezu zum Erliegen. Für diese Krise wurde aus Reihen des Amtes Bundeskanzler Adenauer verantwortlich gemacht. Die Lage spitzte sich zu, als im Frühjahr 1952 innerhalb des Amtes das Gerücht kursierte, dass mindestens fünf hohe Beamte infolge der Überprüfungen ihren Dienst quittieren müssten.41

Nachdem eine zweite Serie der Frankfurter Rundschau mit neuen Biografien nachgelegt hatte, trat der Staatssekretär des Auswärtigen Amts Walter Hallstein die Flucht nach vorn an.42 Auf einem Presseempfang im Palais Schaumburg erläuterte er am 25. März 1952 die Personalpolitik seines Ministeriums und unterstrich, dass er aus den Ermittlungen die nötigen Konsequenzen ziehen werde. »Wer sich durch Mitwirkung am NS-Regime belastet habe, sei nicht geeignet, dem öffentlichen Dienst anzugehören«, so Hallsteins Anspruch.43

Am 18. Juni 1952 legte der Untersuchungsausschuss 47 seinen Abschlussbericht vor. Von insgesamt 22 überprüften Diplomaten erklärte er vier als für den Auswärtigen Dienst ungeeignet. Für sieben Beamte sah der Ausschuss Verwendungsbeschränkungen vor, während er die Weiterverwendung von elf Mitarbeitern für unbedenklich hielt.44 Die im Bericht dargelegten Empfehlungen hatten keinen rechtlich bindenden Charakter und wurden nur teilweise umgesetzt.45 Das im Abschlussbericht formulierte Votum wurde allerdings stark von den CDU/CSU-Abgeordneten im Ausschuss beeinflusst, die, um das Ansehen des Adenauer-Kabinetts zu schützen, auf ein gemäßigtes Urteil bestanden.46 Die Untersuchungsergebnisse des Ausschusses entfalteten zudem wegen innerparteilicher Spannungen in der SPD keine größere gesellschaftspolitische Wirkung. Damit setzte sich der von der ersten Bundesregierung eingeschlagene vergangenheitspolitische Weg auch im Auswärtigen Amt bruchlos fort.

Die Umstände, die zur Einrichtung des Untersuchungsausschusses 47 führten, verdeutlichen, wie gewichtig die Presseberichterstattung in der Bundesrepublik Deutschland bis 1951 geworden war. Allerdings war keine der im Bundestag vertretenen Parteien dazu bereit, offene Konflikte zu riskieren. Bezeichnenderweise unterblieb eine Grundsatzaussprache zur Rolle der Beamtenschaft im Nationalsozialismus ausgerechnet aus Furcht vor außenpolitischen Konsequenzen. In der Bilanz war 1952 noch »kein Politiker willens und in der Lage, die demokratischen Mindestanforderungen an den neuen demokratischen Dienst der Bundesrepublik genauer zu definieren«.47

Der Untersuchungsausschuss bezog in seine Erhebungen lediglich 22 von insgesamt 542 Bediensteten im Amt ein.48 Allein aus diesem Grund kann nicht von einer grundlegenden und flächendeckenden Überprüfung von potenziell »NS-Belasteten« im Amt gesprochen werden. Die Forderung des Auswärtigen Amtes, einen Schlussstrich unter diese Angelegenheit zu ziehen, zeigt, dass man dort nicht um eine konsequente Aufklärung bemüht, vielmehr an einer Verschleierung der gegebenen Personalstruktur interessiert war. Zudem beurteilte der Ausschuss die Vergangenheit der Betroffenen gemäß der zeitgenössischen Definition von »NS-Belastung«, die vor allem Partei- und Organisationszugehörigkeiten, aber in der Regel keine individuelle Schuld in den Blick nahm.

Nach dem 131er-Gesetz war das Straffreiheitsgesetz von 1954 die nächste Wegmarke im vergangenheitspolitischen Prozess in der Bundesrepublik Deutschland. Bezeichnenderweise stammte ein früher Vorschlag zu diesem Gesetz vom ehemaligen NS-Juristen Werner Best.49 Insgesamt profitierten rund 400 000 Personen von dem Straffreiheitsgesetz. Erstmals wurde eine weitgehende Amnestierung von Verbrechen während des letzten Kriegsjahrs einschließlich Totschlags erwirkt.50 Dies war nichts anderes als eine Delegitimation von Strafverfolgungsbemühungen. Damit wurden die zunächst umfassend betriebenen »politischen Säuberungen« durch die Alliierten endgültig in eine individuelle Rehabilitierung verkehrt. Nach Inkrafttreten der Amnestiegesetzgebungen musste Mitte der 1950er-Jahre fast niemand mehr befürchten, für seine Taten vor 1945 strafrechtlich belangt zu werden.51

In der bundesdeutschen Öffentlichkeit hatte sich ohnehin weitgehend ein Bewusstsein durchgesetzt, dass die Verantwortung für die Gräueltaten im Dritten Reich allein Hitler und seinen direkten Untergebenen – den Hauptkriegsverbrechern – zuzuschreiben sei. Allen anderen hingegen wurde der Status von »Verführten«, und damit ein Opferstatus, beigemessen.52

Eine erkennbare Verschiebung in der öffentlichen Wahrnehmung setzte erst Ende der 1950er-Jahre ein. Sie ging auf eine Mischung akuter Anlässe und der Veränderung allgemeiner Rahmenbedingungen zurück. Mit dem Ulmer Einsatzgruppenprozess, der Gefangennahme und Verurteilung Adolf Eichmanns in Israel und den Frankfurter Auschwitzprozessen, die von den Medien im großen Stil verfolgt wurden, traten das Ausmaß der nationalsozialistischen Verbrechen und die Versäumnisse der Justiz ins Blickfeld der Öffentlichkeit – sowohl im In- wie im Ausland.53 Die Berichterstattung und Diskussionen über den Jerusalemer Eichmann-Prozess 1961 verdeutlichten die Tragweite der Schuld sogenannter »Schreibtischtäter« am Holocaust.54 Durch die Auschwitzprozesse und die in diesem Zuge erstellten wissenschaftlichen Expertisen des Instituts für Zeitgeschichte München55 erfolgte ab 1963 eine kontinuierliche Konfrontation der bundesdeutschen Gesellschaft mit der Schuld und die Thematisierung des Holocaust in einer breiten Öffentlichkeit. Die umfangreiche Presseberichterstattung zu den Prozessen wurde in der Bundesrepublik von einer breiten Öffentlichkeit wahrgenommen.56 So gaben rund 85 Prozent der Deutschen an, den Eichmann-Prozess zu verfolgen. Am Auschwitzprozess bekundeten noch 60 Prozent ein konstantes Interesse.57

In größerem Zusammenhang hatte sich die Bundesrepublik Deutschland zu einem stabilen Staat entwickelt. Zu diesem Zeitpunkt regte sich eine neue und jüngere Generation, die die gesellschaftliche und soziale Integration ehemaliger Nationalsozialisten kritisch zu hinterfragen begann.58 Vor allem im Medienbereich vollzog sich ein Wandel. Der von einer älteren, in der NS-Zeit geprägten Journalistengeneration betriebene Konsensjournalismus wurde von der »Zeitkritik« einer nachrückenden jüngeren Generation – den »45ern« – überholt. Ende der 1950er- und zu Beginn der 1960er-Jahre nahm eine zunehmend kritischere Berichterstattung über personelle NS-Kontinuitäten in öffentlichen Einrichtungen der Bundesrepublik Deutschland in den Printmedien und im Rundfunk immer mehr Raum ein.59 Damit ging auch die sukzessive Aufdeckung der nahezu skandalösen Vernachlässigung der strafrechtlichen Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit einher, die mit personellen Kontinuitäten in der bundesdeutschen Justiz verbunden war. Nun wurden personalpolitische Verhältnisse infrage gestellt, was zu langanhaltenden Debatten in der bundesdeutschen Gesellschaft über die NS-Vergangenheit führte.60

In Folge des Ulmer Einsatzgruppenprozesses von 1958, der der Öffentlichkeit mit einem Schlag vor Augen führte, »welche schwerwiegenden Verbrechen bis dahin nicht verfolgt worden waren«, wurde am 1. Dezember 1958 die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg eingerichtet.61 Dies hatte einen quantitativen Anstieg von Verfahren gegen NS-Täter zur Folge.62

Parallel aufgedeckte Affären, die stets auch auf die Beschäftigung »NS-belasteter« Mitarbeiter in bundedeutschen Einrichtungen abhoben, befeuerten die öffentliche Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit und trugen zur Skandalisierung bei.63 Zu den großen Skandalen dieser Zeit zählen die »Spiegel-Affäre«, aber auch die »Abhör-Affäre« sowie die »Felfe-Affäre«.64 Diese Entwicklung ist vor allem auf den erwähnten Generationswechsel sowie auf die sich mehr und mehr vom Diktat der Bundesregierung befreiende und unabhängiger agierende Presse – eine Veränderung des journalistischen Selbstverständnisses – zurückzuführen. Mit diesen Entwicklungen verband sich ein Wandel in der Definition von NS-Belastung – im Ganzen fand um die Wende von den 1950er- zu den 1960er-Jahren eine Verschiebung im kulturellen Wertgefüge der bundesdeutschen Gesellschaft statt.65 So verdeutlichten die neuen NS-Prozesse, dass die individuelle Schuld und die Verantwortung der Einzeltäter viel stärker in den Blick zu nehmen war, als bisher angenommen.

Zu einer kritischen Auseinandersetzung mit NS-Kontinuitäten in Westdeutschland trug auch die zunehmende Aufmerksamkeit des Auslands angesichts ehemaliger NS-Funktionäre in herausgehobenen Positionen bei.66 Insbesondere die gezielten, gegen Würdenträger der Bundesrepublik Deutschland gerichteten Presseattacken aus der DDR führten dazu, dass NS-Kontinuitäten auch in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit mehr und mehr diskutiert und problematisiert wurden. So standen sowohl westdeutsche Juristen, Wirtschaftsfunktionäre, Politiker als auch – wie an späterer Stelle noch zu zeigen sein wird – Angehörige des bundesdeutschen Sicherheitsapparats immer wieder im Fadenkreuz der SED.67

Die Propagandakampagnen der DDR zielten beispielsweise auf personelle NS-Kontinuitäten im Bereich der bundesdeutschen Justiz ab.68 Der Fall des Generalbundesanwalts Wolfgang Fränkel verdeutlicht die Wirkung die diese Kampagnen in der Bundesrepublik Deutschland entfalten konnten. Nachdem Fränkel im März 1962 das Amt des Generalbundesanwalts übernommen hatte, verwiesen Presseorgane der DDR auf angeblich belastendes Material aus seiner Zeit beim Reichsgericht Leipzig. Konkret ging es um seine Tätigkeit als Bearbeiter für das wieder eingeführte Rechtsmittel der »Nichtigkeitsbeschwerde« gegen Urteile der Amts- und Landgerichte bis 1943. Sein formaljuristisches Agieren habe, so der Vorwurf, zu mehreren unrechten Todesurteilen geführt.69Nach den Presseattacken aus der DDR wurde Fränkel am 2. Juli 1962 zunächst beurlaubt. Noch im gleichen Monat versetzte ihn Bundespräsident Heinrich Lübke nach Einleitung eines Disziplinarverfahrens in den einstweiligen Ruhestand. Obwohl er drei Jahre später durch ein Urteil des Bundesgerichtshofs vollständig rehabilitiert wurde, nahm Fränkel seine Karriere als Jurist nicht wieder auf.70

Der Fall löste im politischen Bonn Diskussionen darüber aus, wie derlei Angriffen begegnet werden könne. Wie kontrovers diese Erörterungen ausfielen, zeigen die folgenden, innerhalb der Regierungsspitze angestellten, Überlegungen. Angesichts der »Fränkel-Affäre« erörterte zunächst ein Ausschuss von Staatssekretären die Frage, ob kompromittierendes Material über Persönlichkeiten durch die Bundesrepublik Deutschland aus der DDR beschafft und für die Strafverfolgung genutzt werden sollte.71 Denn man befürchtete, dass der Fall weitreichende Folgen haben und sich die Angriffe aus der DDR auch auf andere Bereiche und Amtsträger der Bundesrepublik ausweiten würden.72