Sie sollten doch nur tanzen - Gerhard Starke - E-Book

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Gerhard Starke

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Beschreibung

Bei seiner Lieblingsbank am Koblenzer Rheinufer findet der Lebenskünstler Alexander Wallmich eine weibliche Leiche. Zu seinem Schrecken stellt er fest, dass er die grausam ent­stellte Tote kennt. Wenig später wird seine von ihm getrennte Ehefrau entführt, die er noch rechtzeitig befreien kann. Der Entführer stellt dem Ehepaar weiter nach, bis er von einem Unbekannten erschossen wird. Damit ist der Albtraum aber noch lange nicht vorbei, denn im Hintergrund lauert ein weit­aus gefährlicherer Täter, und plötzlich ist auch die Tochter von Wallmich in tödlicher Gefahr. Der Kriminalroman von Gerhard Starke entführt den Leser in ein Netz aus Intrigen und menschlichen Abgründen, das eine Welt offenbart, in der nichts so ist, wie es zu sein scheint. Der Debütroman des ehemaligen Kriminalhauptkommissars pro­fitiert von Starkes jahrzehntelangen Erfahrungen als Mordermittler.

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Gerhard Starke

 

Sie sollten doch nur tanzen

 

 

Kriminalroman aus Koblenz und dem Westerwald

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

IMPRESSUM

© 2020

Verlag Christoph Kloft

Südstraße 5

56459 Kölbingen

www.christoph-kloft.de

Lektorat: Mathieu Kloft

Satz und Umschlag:

Verlag Christoph Kloft

ISBN 978-3-929656-37-4

 

 

 

 

 

 

 

 

Prolog

 

So gut haben wir uns lange nicht verstanden, findest du nicht auch?

Warte, ich mach das Fenster auf, hier drinnen ist so schlechte Luft. Außerdem können wir dann die Nister rauschen hören.

Ich hab dir doch nicht weh getan? Nein, dazu ging es viel zu schnell. Niemals könnte ich dir weh tun. Du bist einfach viel zu schön, mein Schatz! Wer wollte dir schon weh tun?

Oh nein, jetzt ist mir dein Haargummi entwischt. Aber das brauchen wir. Dein Pferdeschwanz gehört doch zu dir wie diese grüne Strähne hinter deinem Ohr.

Schade, dass du in letzter Zeit so widerspenstig warst, sonst könntest du dich jetzt selbst zurechtmachen für unseren Ausflug an den Rhein.

Du wolltest doch immer schon wissen, wie Flusswasser bei Nacht aussieht. Heute zeig ich es dir. Es ist so schwarz wie diese Augenschminke. Wahrscheinlich trag ich sie zu üppig auf, doch auch Er meint, du solltest besonders schön sein, wenn wir unsere letzte Fahrt machen.

Mal versuchen, ob es uns nicht doch noch gelingt, deine Äuglein zuzumachen. Ich mag diesen Blick nicht. - Du kleines eigensinniges Biest, dann starr mich halt weiter an!

So, nun noch den Lippenstift. Ach, jetzt hab ich ihn zu weit über den Rand aufgetragen. Aber irgendwie steht dir das, mein Mädchen.

Wie seltsam, dich küssen zu können, wenn du den Kopf nicht wegdrehst …

Haha, jetzt sind auch meine Lippen rot. Und deine etwas verschmiert. Das ist aber nicht schlimm, du siehst immer noch perfekt aus.

Das Wichtigste ist doch, dass ich mir dich zurückgeholt habe, was meinst du?

Und hier noch deine Lieblingsdecke. Du hast immer auf dieses grelle Rot gestanden. Deshalb wickeln wir dich jetzt auch sorgfältig darin ein.

Dein süßer Pferdeschwanz darf oben rausgucken.

Prima! Jetzt können wir uns auf dem Weg machen.

Ui, du scheinst zugenommen zu haben in letzter Zeit. Liegt das daran, dass du deine Töpfe plötzlich alleine leer essen musstest? Vielleicht ist es aber auch das Gewicht der Wolldecke – ich hab dich ja lange nicht mehr so auf den Armen getragen ...

 

 

 

 

 

Kapitel 1

 

Der milchig weiße östliche Horizont begann bereits, sich zartgelb zu färben – ein täglich erneutes zuverlässiges Farbenschauspiel, das um diese frühe Uhrzeit jedoch nur wenige Augen verfolgen würden.

Alex zog die Haustür hinter sich ins Schloss und klopfte seine Tasche nach dem Schlüsselbund ab. „Falsche Reihenfolge“, hätte seine Tochter jetzt gesagt und wie so oft die Augen verdreht.

Bingo, Kleines!, dachte er, das ganze Leben deines Vaters besteht aus einer einzigen falschen Reihenfolge. Nur du belegst darin den richtigen Platz.

Sein Blick wanderte an der Hausfassade empor. Hinter dem mittleren Fenster im dritten Stock schlief sie tief wie ein Kleinkind zwischen ihrer karierten Bettwäsche. Er hatte vor seinem Aufbruch noch kurz den Kopf ins Zimmer gestreckt und verwundert festgestellt, dass sie leise schnarchte.

„Wenigstens das hast du von mir“, hatte er ins dunkle Zimmer hinein geflüstert und auf ein altbekanntes Gefühl von Zufriedenheit gehofft, auf ein Zeichen seines wahren Naturells, das ihm binnen kurzer Zeit abhanden gekommen war wie ein davonhüpfender Ball, weiter und weiter weg, ohne die Chance, ihn einzuholen und zu greifen, weil er selbst sich wie festgenagelt auf der Stelle bewegte.

Ihm fiel ein, dass sein Handy noch auf dem Küchentisch lag, dort oben, hinter dem Fenster gleich neben ihrem Schlafzimmer. Er hatte zwar versprochen, es immer bei sich zu tragen, aber für die halbe Stunde … So leicht würde er nun nicht mehr schlappmachen, und ein paar Kreislaufzusammenbrüche durften nicht zur Folge haben, dass man sich entmündigt fühlte.

Er schickte einen letzten, ein wenig trotzigen Blick hinauf zum Schlafzimmerfenster seiner Tochter und konzentrierte sich dann auf seine Umgebung. Um diese frühe Tageszeit war es noch herrlich ruhig im Randbezirk von Koblenz. Nur wenige Autos waren unterwegs und hier und da ein Fußgänger.

Begierig sog er die frische Luft ein. Erst in zwei Stunden ging der übliche Verkehrspulk los. Dann würde er längst droben in der kleinen Wohnung am Fenster sitzen und wie an jedem Tag der vergangenen Woche darüber grübeln, wie es weitergehen sollte. Das hier war kein Zustand auf Dauer, leider aber der einzige, den die gesamte Situation momentan zuließ.

Sein Blick glitt über die Leiste der Klingelschilder des Mietshauses. Acht Parteien – vermutlich lagen noch sämtliche Bewohner in ihren Betten.

Grob überschlagen machte das bei der Größe der Wohnungen im Durchschnitt drei Mann mal acht gleich vierundzwanzig Personen auf geschätzten sechshundert Quadratmetern …

Dieser neu entwickelte Aufzähl- und Teilzwang nervte ihn bisweilen selbst, doch er suchte Ablenkung wo immer es möglich war. Weil ihm im Gegensatz zu seinem gesamten bisherigen Leben plötzlich die Konstante fehlte.

„Mit Mitte vierzig sollte man eigentlich gelandet sein, Papa“, hatte seine Tochter ihn mit schiefem Lächeln hier begrüßt und liebevoll hinzugefügt: „Du Bruchpilot!“

Ihm fiel auf, dass sie ihrem Klingelschild seinen Namen hinzugefügt hatte, vielleicht, um ihm zu zeigen, dass er ihre kleine Wohnung als sein Zuhause betrachten durfte, wenn es auch nur eine vorübergehende Lösung sein sollte. Vielleicht gab ihr einstweilen aber auch der männliche Name in Verbindung mit dem ihren gleich hier unten an der Straße ein beruhigendes Gefühl. 'Charlotte und Alexander Wallmich'.

Er überlegte, wann ihn das letzte Mal jemand Alexander genannt hatte … Er war für alle Welt und auch für sich selbst einfach nur Alex, wie vermutlich die meisten, die diesen Namen trugen. Wenn es jedoch um bürokratische Korrektheit ging, nahm seine Tochter das sehr ernst.

Ein klein wenig schämte er sich, dass er so offenkundig von ihr aufgenommen worden war. Doch wen kümmerte das schon, hier kannte niemand ihn, und erst recht nicht seine privaten Umstände.

Gegenüber bestieg soeben ein gähnender junger Mann sein Fahrrad, und weiter vorn wackelte eine alte Dame mit ihrem Mischlingshund an den Hauswänden entlang. Sie war ihm schon ein paar Mal aufgefallen, seit er hier mit in der Wohnung seiner Tochter in der Hohenzollernstraße wohnte. Er und die alte Frau dort vorn schienen denselben Schlaf- und Wachrhythmus zu haben: ein letztes Luftschnappen kurz vor Mitternacht, um gleich bei Sonnenaufgang den Tag wieder zu beginnen. Und Letzteres war im Hochsommer verdammt früh, wie seine Taschenuhr ihm verriet.

Hingegen hielt er sich tagsüber so gut wie gar nicht in den Straßen von Koblenz auf. Hatte er bis vor Kurzem noch jegliche Art von Gesellschaft gesucht und genossen, so schreckten ihn Menschenansammlungen mit einem Mal regelrecht ab.

„Du weißt, in was du gerade reinstolperst“, hatte ihn seine Tochter gewarnt. „Mensch, Papa, du konntest doch nie genug Leute um dich haben. Und jetzt vergräbst du dich und gehst den Menschen aus dem Weg. Warum denn immer alles so extrem?“ Er spürte, wie gern sie ihn aus der Reserve lockte und kritisierte, damit er ebenso heftig reagierte und sich auf Diskussionen einließ. Seine kleine Intelligenzbestie, die bereits als Teenager ihre Nase lieber in Fachbücher aller Art gesteckt hatte als mit den anderen Mädchen durch die Diskos zu ziehen.

Und heute, mit zwanzig, absolvierte sie eine Lehre zur Verwaltungsfachangestellten auf dem hiesigen Polizeipräsidium. Der Vollzugsdienst interessierte sie weniger. Ihr Interesse bezog sich auf Gesetz und Recht.

Mit ihr würde die Polizei auf jeden Fall eine treue Ordnungshüterin bekommen, selbst vom Schreibtisch aus. Sie nahm alles unter die Lupe und prüfte es bis ins Detail. Auch er selbst blieb von ihrer Wachsamkeit nicht verschont. Weil sich ihre Rollen vertauscht hatten.

Seit Marla ihn nun zum zweiten Mal – und endgültig, wie es schien – verlassen hatte, war alles anders. Er hatte sich verändert, als hätte Marla in ihrem Gepäck auch seine Unbekümmertheit mit fortgenommen. Selbst seine körperliche Substanz ließ zusehends nach – ein Sportwagen ohne PS. Und seine kleine Charlotte hatte sich kurzerhand die Verantwortung für ihren Vater auferlegt, traute ihm nicht zu, sich ausreichend um sich selbst zu kümmern. Das Schlimme daran war, dass er ihr diesen Eindruck vermittelt haben musste. Weil es stimmte. Weil er auch seinem Hausarzt hatte versprechen müssen, nicht alleine zu leben, bis sein Zustand sich stabilisiert hatte.

Ebenso schlimm war aber auch, dass seine Tochter Charlotte aussah wie ihre Mutter und ihr Anblick ihn ohne Unterlass an Marla erinnerte …

Der Gedanke an seine Frau schmerzte so unerwartet heftig, dass er stehenbleiben musste, weil ihm das Blut in den Ohren rauschte und sein Herzschlag sich beschleunigte. Er lehnte sich gegen die nächstliegende Wand und wischte sich die ersten Schweißperlen von der Stirn, obwohl er noch keine zweihundert Meter zurückgelegt hatte. Seine Kleine hatte Recht, hier musste dringend etwas passieren!

Längst schon fühlte er sich nicht mehr angegriffen, wenn Charlotte mit drohendem Finger vor ihm stand und den Kopf in den Nacken legte, um ihm eindringlich in die Augen zu sehen. „Dieser Doping-Kram hätte dich umbringen können, das hast du jetzt hoffentlich kapiert! Langsam abtrainieren, hat dein Arzt gesagt, kontinuierliche Spaziergänge, die Ausdauer bewahren, aber moderate Übungen. Du schaffst das. Aber der viele Bohnenkaffee ist kein Ersatz, denk an dein Herz. Ich hoffe, dass du nicht auch noch heimlich Alkohol trinkst und womöglich noch mit dem Rauchen angefangen hast! Jetzt werde mal normal und tu was für dich. Wenn dein Chef wüsste, warum du laufend umkippst, hätte er bestimmt keine Krankmeldung akzeptiert.“

Er ließ sie reden, es war rührend und wohltuend, dass sein Mädchen sich um ihn sorgte. Wobei 'laufend' natürlich haushoch übertrieben war. Drei Mal war ihm das passiert, und immer war es gut ausgegangen, hatte er sich von selbst wieder gefangen. Was sich jedoch nicht mehr hatte auffangen lassen, war seine Ehe, und diese Entzugserscheinungen übertrafen die körperlichen bei Weitem.

An seinen Augen zog der Moment vorbei, in dem er Bormann das ärztliche Attest vorgelegt hatte, der den Titel Personalmanager etwas zu wörtlich nahm. „Dann sehen Sie zu, dass Sie sich in den Griff kriegen, Wallmich. Mit Kreislaufversagen ist nicht zu spaßen. Ich drück Ihnen die Daumen, dass Sie in drei Wochen wieder der Alte sind.“ Er hatte ihm auf die Schulter geklopft, mit ermutigendem Nicken und halbwegs gelungenem Lächeln. Sie hatten sich die Hände geschüttelt – eine gestelzte Situation unter Männern, deren wahre Botschaft mit im Raum schwebte: Die derzeitige Lage am Arbeitsmarkt ließ bekanntlich keine langfristigen Vertretungslösungen mehr zu.

Glücklicherweise hatte dieser Mensch nicht das letzte Wort, weil Alex Privilegien genoss, die keinem anderen Kollegen in dem Maße wie ihm im Betrieb eingeräumt wurden: Der Oberboss der Fitnessabteilung, Benno Molls, sein eigentlicher Chef, war zugleich sein Freund, dem er vieles verdankte und der ganz auf seiner Seite stand, wenn auch im Sinne des Betriebsklimas vor dem Rest der Belegschaft gekonnt verborgen.

„Bring Bormann die Krankmeldung und überhör seine wichtigtuerischen Kommentare“, hatte Benno ihn schon vorweg beschwichtigt. „Ich kenne doch dein Dilemma, Alex. Was hast du denn jetzt vor? Wohnst du vorübergehend bei Charlotte in Koblenz? - Also, alleine sein solltest du nicht, bis du dich erholt hast.“

„Richtig getippt“, hatte Alex zugegeben. „Ist anscheinend wirklich das Beste, wenn ich für eine Weile bei ihr unterkrieche. Außerdem besteht sie drauf, als frischgebackene Wohnungsinhaberin. Wird eng werden, aber so sicher wie in einem kameraüberwachten Sanatorium.“ Sie hatten gelacht, Benno hatte ihm die Schulter geklopft: „Dann komm bald wieder auf die Beine, Alter!“, und ihm das beruhigende Gefühl mit auf den Weg gegeben, sich mit gutem Gewissen erholen zu dürfen.

Ja, er musste unbedingt wieder auf die Beine kommen, seelisch wie gesundheitlich, das hatte er sich fest vorgenommen.

Kurz blieb er stehen, nahm das vor ihm aufgetauchte Straßenschild wahr, zählte die Buchstaben, teilte sie durch zwei und straffte seine Haltung. Hier konnte er abbiegen, dann waren es nur noch ein paar Ecken bis zum Rheinufer. Er freute sich auf sein Ziel, auf seine stummen Gesellen, die Baumriesen an der Rheinlache, die standen einfach nur da, zuverlässig immer am selben Platz und verlangten ihm nicht das Geringste ab. Abermals stellte er fest, wie angenehm die Luft doch in der Frühe war, besonders in diesem extrem trockenen, heißen Sommer. Und keine Menschenseele hier unten unterwegs. Er hatte die gesamte Kaiserin-Augusta-Anlage für sich.

Noch vor Kurzem hätte er jetzt und hier ein paar Kniebeugen und Dehnübungen vollzogen und wäre losgelaufen, hätte die gesamte Anlage spielerisch im gleichbleibend leichtfüßigen Sprint genommen.

„Warum immer alles so übertreiben, Alex“, hatte Marla schon vor Jahren verzweifelt gefragt, „warum musst du rennen, bis dir die Zunge aus dem Hals hängt? Das hier hat doch nichts mehr mit Fitness zu tun oder mit Gewichthalten. Wovor läufst du davon?“ Die Antwort hatte sie sich gleich selbst gegeben: „Warum frag ich das noch, ich kenn dich doch lange genug. Sobald sich in deinem Leben die kleinste Regelmäßigkeit zeigt, wirst du unruhig und brauchst etwas anderes. Weil sich für dich jedes Gleichmaß in Langeweile verwandelt. In Eintönigkeit. Du hast keine Rast in dir, keine Ruhe. Du bist süchtig nach Abwechslung.“ Dann hatte sie aufgezählt: „Zuerst der Traum vom Theaterspielen, von der großen Bühne, die du aber nie betreten hast, dann vom Polizeidienst. Und als du denen für eine Ausbildung zu übergewichtig warst, wolltest du es der Welt beweisen und hast dich in einen Athleten verwandelt. Und dann hast du die sportlichen Voraussetzungen der Polizei erfüllt, bist aber an den theoretischen gescheitert. Vermutlich steckt dir das immer noch gewaltig in den Knochen und deine Rennerei ist ein einziger Protestmarsch, was weiß ich.“

Damit hatte Marla genau ins Schwarze getroffen. Zugegeben hätte er das jedoch niemals. Leider, denn vielleicht wäre dann alles anders gekommen. Stattdessen hatte er auf ihre Mutmaßung recht schroff reagiert.

„Du brauchst mir nicht meinen Lebenslauf aufzusagen, den kenne ich selbst gut genug. Und weißt du, was? Ich bereue nichts davon.“ Ein wenig versöhnlicher und mit der Hoffnung auf den wohlbekannten Themenwechsel hatte er hinzugefügt: „Und wenn du ehrlich bist, hast du mich gerade wegen meiner Vielseitigkeit genommen.“

Marla hatte daraufhin mit wehmütiger Miene geseufzt, dann anflugsweise gelächelt. „Ja, du hast mir gefallen, du mit deinen unzähligen halb angelernten Instrumenten, du warst so anders als alle andern. Mit deinem Leierkasten bist du rumgezogen, ein Alleinunterhalter, der das große Geld mit dem Verkauf von Geselligkeit machen wollte. Ein verdammt gut aussehender Charmeur, der die Menschen nach Belieben um den Finger wickeln konnte.“

Alex hatte das Gesicht abgewandt und genüsslich die Lippen geschürzt: Diese Stelle hörte er immer wieder gern. Ein gutes Zeichen, dass Marla sie gerade inmitten ihrer Vorhaltungen erwähnte – berechtigten Vorhaltungen, denen er nichts entgegenzusetzen hatte. Solange sie am Ende wie jedes Mal sein zerknirschtes Gesicht betrachten und lachend hinzufügen würde: „Du bist schon ein hoffnungsloser Fall, Alexander Wallmich, aber was soll ich tun … ich liebe dich halt.“

Marla hatte die gern gehörte Stelle fortgeführt: „Ach Alex, du hast alles so leicht genommen, in nichts ein Problem gesehen. Und du warst … bist … na ja, ein guter Liebhaber bist du schon ...“ Sie hatte kurz den Blick gesenkt und seine Hand war bereits auf dem Weg zu ihr, als er das warnende Aufblitzen in ihren Augen sah. Er zog seine Hand zurück, ahnte, dass sich ihre Rede in veränderter Form fortsetzen würde und lenkte den Blick abwartend an ihr vorbei.

„Aber bodenständig warst du nie! Nie beständig in irgendwas. Gib es doch selbst zu. Den Hof deiner Eltern an der Mosel hast du abgelehnt. Lieber Taxifahren wolltest du, als uns etwas für die Zukunft aufzubauen. Gemeinsam mit mir. Wie hab ich die alte Pension in Cochem geliebt. Was hätten wir zusammen daraus machen können … Aber du wolltest weg von dort, unter dem Vorwand, du bräuchtest einen Ortswechsel. Da kam dir meine Heimat im hohen Westerwald gerade recht. Und ich war so verliebt, dass ich den wahren Grund nicht erkannt habe: Mein lieber Alex wollte fliehen, weg aus der Gegend, weil er dort nicht mehr gern gesehen war. Weil er provoziert und den großen Macker markiert hat, weil er es drauf angelegt hat, sämtlichen Jungs die Mädchen auszuspannen. Da ist der Ruf mal schnell im Eimer, was?“

„Ich hab dir aber später davon erzählt“, hatte er interveniert.

„Ja, vor nicht allzu langer Zeit. Erst nachdem auch dein Vater gestorben war und wir runter nach Cochem zur Bestattung fuhren und du Angst hattest, dass ich von Fremden erfahre, wen ich da geheiratet habe“, hatte Marla leicht schmunzelnd erwidert, dann aber sogleich den Faden ihrer Vorhaltungen wieder aufgenommen. „Jetzt zählt aber das Heute. Nichts hast du auf die Beine gestellt. Zwei Ausbildungen hast du abgebrochen, weil du dann doch lieber Detektiv werden wolltest. Wie ein kleines Kind, meine Güte! Ich bin all die Wege mit dir gegangen, und du, du wolltest und warst … von allem immer nur ein bisschen. Wie gut, dass ich die ganze Zeit über mein festes Standbein hatte. Für unsere Lebenshaltungskosten, mein lieber Alex, weil die auch bestritten sein wollen! Ein Wunder, dass du immer noch die erste Frau an der Seite hast, so wechselhaft, wie du bist. Und jetzt hast du endlich mal einen festen Job, der dir Freude macht, sitzt in keinem Büro, hast keinen vor dir, der dir auf die Finger guckt und den ganzen Tag Menschen um dich, genau die Abwechslung, die du gesucht hast, und ich merke, dass da wieder irgendein neuer Spleen in dir herumspukt.“

„Wer will denn ein Leben lang in einer Waschstraße arbeiten!“ Er hatte Argumente aufgeführt, deren Sinn und Wortlaut er nun nicht mehr im Einzelnen im Kopf hatte, dafür aber Marlas Ergänzungen, die er wahrscheinlich nie mehr vergessen würde.

„Ich sag dir, was du bist, Alex! Ichbezogen und blauäugig. Ohne jedes Durchhaltevermögen. Aber so funktioniert Ehe und Familie nicht. Da gibt es auch etwas wie Verantwortung. Und du hast so viel Potential in dir, aber was nutzt es, wenn die Beständigkeit fehlt. Du investierst lieber in Spiel und Spaß. Wer nicht weiß, was wirklich in dir steckt, sieht da nur eine sonnige, unbekümmerte Sportskanone. Hallo Leute, ich bin Alex, und ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt. Eine männliche Pipi Langstrumpf! Ich hab die Nase endgültig voll, Alexander Wallmich. Gestrichen voll!“

Das hatte ihn mehr erschreckt als getroffen, zumal Marlas Vorhaltungen für ihn recht überfallartig gekommen waren. Und doch hatte sie nicht Unrecht gehabt. Sie kannte ihn besser als vermutet, denn in der Tat war sein berufliches Gleichgewicht zu jener Zeit wieder ins Wanken geraten. Er hatte ja alles versucht, war diesen abwegigen Gedanken wortwörtlich davongerannt, hatte sich gefragt, ob er vielleicht wirklich ein hoffnungsloser Fall war, weil seine einzig wirklichen Bedürfnisse allein um die Langstreckenläufe und seine Drehorgel kreisten.

In Anbetracht ihrer Argumente musste Marla urplötzlich die Geduld gekippt sein und sie hatte ein Ventil ihrer Psyche geöffnet und alles entweichen lassen, was sich über lange Zeit angestaut hatte. Sie würde sich schon wieder einkriegen, hatte er gedacht, mit kleinen Diskussionen waren sie bisher noch immer fertiggeworden. Doch bevor er sie beruhigen wollte, dass er diesmal nicht vorhatte, aus seinem Job auszusteigen, entschied er sich erst einmal, an Marlas Gewissen zu rütteln und all ihre Vorwürfe in einen Gegenstoß zu packen. Denn derart herabwürdigend ließ er nun doch nicht mit sich reden.

„Ah ja, dann hat die kluge, fleißige Marla sich also einen Versager zum Mann genommen? Das hat sie nun wirklich nicht nötig, sie sollte sich gut überlegen, ob dieses Leben nicht vielleicht unter ihrer Würde ist.“ Damit hatte er ihr den Rücken gekehrt und sie auf ihren Vorwürfen sitzenlassen. Sie würde wohl einen Tag lang schmollen, dann würde sich alles wieder im Normalbereich einfinden.

Das war vor zwei Jahren gewesen. „Kennst du den Spruch, Alex? 'Wer versucht, sich immer alle Türen offen zu halten, wird sein Leben auf dem Flur verbringen!'“

Damals war sie zum ersten Mal von ihm fort gegangen, war mitsamt Charlotte umgezogen und hatte Alex ganz sich selbst überlassen, den Dauerauftrag der Mietkosten gelöscht und weder auf Handy-Anrufe noch auf Nachrichten reagiert.

Zuerst hatte er geglaubt, mit dieser Reaktion wolle sie ihn umerziehen, eine sorgsam ausgetüftelte weibliche List, die leicht zu durchschauen war und sich ebenso leicht wieder in Luft auflöste. Doch Monate vergingen, und er witterte den Ernst der Lage. Nach wie vor wünschte er sich Frau und Tochter zurück in die gemeinsame Wohnung, waren seine Gefühle für Marla unverändert. Weder aber war er von Wut noch von Traurigkeit erfüllt. Vielleicht war es dieses undefinierbar Neutrale, das Marla letztendlich abgestoßen hatte, sein gleichbleibend unbekümmertes Gemüt. Und vielleicht hatte sie ja mit allem Recht gehabt: Er war von allem ein bisschen und wollte mehr auch nicht sein.

So war er also alleine zurückgeblieben, jedoch zufrieden mit seinem neuen Job im Getränkemarkt, in dem er den ganzen Tag in Bewegung war, seine Muskeln fordern konnte und sich an einigen Abenden in der Woche in einer Kneipe hinter der Theke zusätzlich etwas verdiente. Sogar seine Drehorgel konnte dort zum Einsatz kommen, dem Kneipier waren die animierten, länger verweilenden Gäste nicht unwillkommen.

Dass er gerade in dieser Zeit eine wertvolle Begegnung hatte, grenzte für ihn schon beinahe an Fügung. Ein ehemaliger Schulkamerad saß vor ihm auf dem Barhocker: ein damals uninteressanter farbloser Kandidat, der so selten den Mund aufgemacht und allen immer nur zugehört hatte. Alex hätte ihn niemals wiedererkannt, wenn der Kamerad ihn nicht von selbst mit Namen angesprochen hätte.

„Ich werd verrückt! Der Benno! Frisch von den Malediven, was?“, scherzte Alex in Anbetracht seines braun gebrannten und vor Gesundheit strotzenden Gegenübers. Ungläubig schüttelte er den Kopf: Eine derartige optische Veränderung hatte er niemals zuvor bei einem Menschen festgestellt.

Aber auch der andere schüttelte mit dem Kopf und lachte: „Kein Urlaub. Der ganz normale Berufsalltag.“

Dass die Gabe des Zuhörens immer noch vorhanden war und zudem zu Bennos Beruf gehörte, erfuhr Alex umgehend. Er war Fitnesscoach und Personaltrainer mit allen Lizenzen. In Alex' Ohren klang Bennos Berichterstattung nach einer Zusammenfassung all seiner eigenen beruflichen Wunschvorstellungen.

Gegen Mitternacht meinte Benno: „Es gibt Lehrgänge, Alex, Mensch, das hast du doch drauf! Du brauchst ja keinen Master zu machen. Aber den Schein zum Trainerassistenten und zum Massagetherapeuten hättest du in einem Jahr in der Tasche. Und glaub mir, die Deutschen wollen trainieren und sich fit halten. Du hättest unzählige Möglichkeiten, unterzukommen. Ich besorg dir aber auch gerne eine Stelle in unserem Betrieb.“

„Wie, in eurem Betrieb?“, hatte Alex mit großen Augen gefragt.

„'Masters of pleasure', vielleicht hast du schon mal davon gehört? Ein Zusammenschluss von Physiotherapeuten, Trainern und Beratern. Du könntest mein persönlicher Trainerassistent werden, und Massage bieten wir auch an.“

Sie hatten ihre Telefonnummern ausgetauscht und Alex hatte nur einen Tag gebraucht zum Überlegen. Warum eigentlich nicht sein sportliches und das Interesse am Kontakt mit Menschen unter einen Hut bringen? Dass für ihn der Zug für eine ausführliche Ausbildung, wie Benno sie durchlaufen hatte, abgefahren war, hatte Alex von selbst eingesehen. Aber den Weg, die Möglichkeit, in diesem Zweig Fuß zu fassen, hatte der Experte Benno ihm bereits in der Nacht an der Theke geliefert.

 

Alex konnte damals nicht anders, als Marla von seinen Plänen zu erzählen, hatte regelrecht Feuer von diesem Gedanken gefangen. Mit Bennos Unterstützung leitete er alles in die Wege. Er hielt Marla auf dem Laufenden, teilte mit ihr seine Pläne und ließ erstmals im Leben Euphorie für einen Beruf erkennen. Schon bald fühlte er sich derart beschwingt und selbstsicher, dass er es wagte, Marla zu bitten, wieder heimzukommen.

Und sie kam zu ihm zurück. Zuerst nur immer mal wieder, heimlich und rein körperlicher Natur, und als sie sah, wie konsequent er seine Studienzeit, wie er die Schulungen nannte, durchzog und parallel dazu im Getränkemarkt sein Geld für die notwendigen Unkosten verdiente, imponierte ihr diese Konsequenz und sie und Charlotte zogen wieder zu ihm in die Wohnung.

Marla ging nach wie vor ihrer Arbeit als Sprechstundenhilfe in einer psychiatrischen Praxis nach, Charlotte besuchte das Gymnasium und Alex konnte sich nun ganz auf seinen neuen Lehrstoff konzentrieren.

Benno hielt Wort. Die neue Stelle im Fitnesscenter erwies sich schließlich als genau das, was Alex unbewusst gesucht hatte. Abwechslungsreich, kontaktfreudig und nur zwanzig Minuten Fahrt bis zum Arbeitsplatz. Dazu einen neuen aufrichtigen Freund an der Seite, mit dem er über alles reden konnte und der bald mehr über Alex' Privatleben und seine Vergangenheit wusste, als irgendjemand sonst, der ihn sogar sehr schnell durchschaut hatte. „Immer Maß halten, Alex. Ich weiß, das war früher zur Schulzeit schon nicht dein Ding. Aber mach kein Fass auf, wo eine Flasche genügt“, riet er ihm, als er ihm nach Feierabend den Zugang zu sämtlichen Trainingsgeräten überließ.

„Werde ich mir vor die Stirn nageln“, hatte Alex dankbar erwidert.

Die Einsicht war da, der Wille ebenso. Er bemühte sich um Zurückhaltung, um sparsamen Umgang mit den reizvollen Bewegungsmöglichkeiten. Es gelang ihm für ein Jahr, ein schönes Jahr für ihn und seine Familie.

Bis die greifbaren Trainingsgeräte derart Besitz von ihm nahmen, dass er oftmals auch den Feierabend im Studio verbrachte und irgendwann auch seine Dopingcocktails nicht mehr missen wollte.

Und dann kam sein erster Zusammenbruch.

 

 

Kapitel 2

 

All das spulte sich nun in Koblenz täglich aufs Neue vor seinem inneren Auge ab, wollte immer noch irgendwie verarbeitet werden. Die größte Chance seines Lebens hatte er vertan! Und damit wurde er einfach nicht fertig. Auch jetzt, an diesem frühen Morgen in der Augusta-Anlage, hatte er wieder mit dem folgenschweren Verlauf seines Versagens zu kämpfen.

„Ablenken, Alex!“, befahl er sich lautstark und ballte die Hände, spürte, wie seine Körperkraft in die Fäuste floss und seine Gedanken sich zurückzogen.

 

Er stand am Ufer. Der erste Blick auf den Rhein war in diesem Sommer täglich aufs Neue erschreckend. So wenig Wasser hatte das Flussbett seit ewigen Zeiten nicht getragen. Der Pegel zu niedrig für die Schifffahrt, das wenige Wasser zu warm für die Fische. Das hier war wirklich ein Grund, sich zu ängstigen, dagegen waren die Probleme eines einzigen kleinen Menschen doch völlig nichtig!

Kopfschüttelnd stemmte die Hände in die Seiten. Der breite Kiesstreifen am Rand des Flussbettes zu beiden Seiten wirkte auf ihn wie der Vorbote in einer Endzeitdokumentation, die ihn tief beeindruckt und nachhaltig belastet hatte. Wer hätte die extreme Trockenheit in diesem Frühjahr auch nur geahnt… Da war der Rhein noch gut gefüllt, die Schiffe fuhren ihre gewohnten Transportwege – all das hatte sich in kurzer Zeit rapide verändert. Wie sein eigenes Leben.

Er erinnerte sich an seinen Rheinaufenthalt in Lahnstein vor ein paar Monaten, kurz nach ihrer Trennung. Damals hatte er schon einmal seine Tochter besucht, die zu einem Praktikum bei der Polizeiinspektion Lahnstein vor Ort in einer günstigen Pension ein Zimmer bewohnte. Genau zwischen ihren Abiturprüfungen. Nur keine Zeit verlieren, lautete ihr Motto, wenn es darum ging, ihren Wissensdurst zu stillen. Und sie hatte geschafft, was sie erreichen wollte: Ihre guten Referenzen hatten ihr im Handumdrehen die Stelle in Koblenz gesichert.

„Du beneidest sie, was?“, hatte sein Freund und Chef Benno erkannt. „Im Grunde hat sie sich deinen Wunsch erfüllt. Bei der Polizei zu arbeiten, war dein Traum, gib's zu.“