Sieben Jahre in Tibet - Mein Leben am Hofe des Dalai Lama - Heinrich Harrer - E-Book

Sieben Jahre in Tibet - Mein Leben am Hofe des Dalai Lama E-Book

Heinrich Harrer

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Beschreibung

Im Frühjahr 1940 will der Forschungsreisende Heinrich Harrer nach Beendigung einer Nanga-Parbat-Expedition die Heimreise antreten. Er wird vom Ausbruch des Zweiten Weltkriegs überrascht, von den Alliierten aufgegriffen und in einem indischen Internierungslager festgehalten. 1944 glückt die Flucht, und gemeinsam mit seinem Freund Peter Aufschnaiter gelangt Harrer nach Tibet, dem geheimnisumwitterten Land auf dem Dach der Welt. Fremde sind in Tibet unerwünscht, und es bedarf einiger Bemühungen, bevor Harrer Einlaß in die »verbotene Stadt« Lhasa bekommt. Hier steigt er bald zum Lehrer und vertrauten Freund des Dalai Lama auf. Der Einmarsch der Chinesen 1950 beendet die Autonomie der Tibeter, und der Dalai Lama muß fliehen. Sieben Jahre in Tibet ist die Geschichte eines großen Abenteuers und einzigartiger Bericht eines Lebens, wie es kein anderer Europäer je erfahren hat.

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Das Buch

Im Frühjahr 1940 will der Forschungsreisende Heinrich Harrer nach Beendigung einer Nanga-Parbat-Expedition die Heimreise antreten. Er wird vom Ausbruch des Zweiten Weltkriegs überrascht, von den Alliierten aufgegriffen und in einem indischen Internierungslager festgehalten. 1944 glückt die Flucht, und gemeinsam mit seinem Freund Peter Aufschnaiter gelangt Harrer nach Tibet, dem geheimnisumwitterten Land auf dem Dach der Welt. Fremde sind in Tibet unerwünscht, und es bedarf einiger Bemühungen, bevor Harrer Einlaß in die »verbotene Stadt« Lhasa bekommt. Hier steigt er bald zum Lehrer und vertrauten Freund des Dalai Lama auf. Der Einmarsch der Chinesen 1950 beendet die Autonomie der Tibeter, und der Dalai Lama muß fliehen.

Sieben Jahre in Tibet ist die Geschichte eines großen Abenteuers und einzigartiger Bericht eines Lebens, wie es kein anderer Europäer je erfahren hat.

Der Autor

Heinrich Harrer, 1912 in Hüttenberg, Kärnten, geboren, wurde zunächst als Skiläufer und Bergsteiger bekannt: 1936 gehörte er der Olympia-Mannschaft an, ein Jahr darauf wurde er akademischer Weltmeister im Abfahrtslauf, 1938 glückte ihm die Erstbesteigung der Eiger-Nordwand, eine Leistung, die seine Teilnahme an der deutschen Nanga-Parbat-Expedition sicherte. 1944 gelang ihm die Flucht aus dem britischen Internierungslager nach Tibet. Zahlreiche Expeditionen brachten Heinrich Harrer in alle fünf Kontinente, von denen er in Büchern und Fernsehsendungen faszinierend berichtet hat. Der Forschungsreisende war Träger des Großen Bundesverdienstkreuzes und wurde mehrfach für sein Lebenswerk ausgezeichnet. Harrer starb 2006 im Alter von 93 Jahren in Kärnten.

In unserem Hause sind von Heinrich Harrer bereits erschienen:

Erinnerungen an Tibet

Mein Leben

Sieben Jahre in Tibet

Die weiße Spinne

Wiedersehen mit Tibet

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Ungekürzte Ausgabe im Ullstein Taschenbuch 21. Auflage 2011 © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2006 © 2003 by Ullstein Heyne List GmbH & Co. KG © 2000 by Econ Ullstein List Verlag GmbH & Co. KG, München © 1952 by Verlag Ullstein GmbH & Co. KG, Berlin

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Titelabbildung: FinePic®, München

E-Book-Konvertierung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

Printed in Germany

E-Book-ISBN 978-3-96048-028-0

Inhalt

Vorwort

Internierungslager und Fluchtversuche

Bei Nacht marschieren, bei Tag sich verstecken

Strapazen und Entbehrungen – alles umsonst

Eine gewagte Maskerade

Tibet will keine Fremden

Nochmals heimlich über die Grenze

In Gartok, dem Sitz des Vizekönigs

Wieder auf harter Wanderschaft

Ein rotes Kloster mit goldenen Dächern: Tradtin

Ein Brief heißt uns weiterziehen

Kyirong, »Dorf der Glückseligkeit«

Unser erstes Neujahr in Tibet

Aufenthaltssorgen ohne Ende

Dramatischer Auszug aus Kyirong

Über den Tschakhyungla-Paß zum Pelgu-Tsho-See

Ein unvergeßlicher Anblick: der Mount Everest

Verlockendes Wagnis: Lhasa zu sehen

Unter freundlichen Nomaden

Gefährliche Begegnung mit den räuberischen Khampas

Hunger und Kälte und ein unverhofftes Weihnachtsgeschenk

Der segensreiche Geleitbrief

Bunte Gebetsfahnen säumen den Pilgerweg

Unser Schlafgenosse – ein Sträfling mit Fußketten

Die goldenen Dächer des Potala leuchten

Zwei Vagabunden bitten um Obdach und Nahrung

Das Stadtgespräch von Lhasa

Die armen Flüchtlinge werden verwöhnt

Im Elternhaus des Dalai Lama zu Gast

Tibets Außenamt schenkt uns Bewegungsfreiheit

Wichtige Besuche in Lhasa

Tsarongs großzügige Gastfreundschaft

Tibet kennt keine Hast

Und wieder droht uns Ausweisung

Das »Feuer-Hund-Jahr« beginnt

Ein Gott hebt segnend die Hand

Unsere ersten Arbeitsaufträge

Sportfeste vor Lhasas Toren 217

Der Orden der Tsedrungs

Der jüngste Sohn der Gottmutter

Freundschaft mit Lobsang Samten

Prozession zum Norbulingka

Wir wollen den Dalai Lama sehen

Regenmangel und das Orakel von Gadong

Alltag in Lhasa

Ärzte, Gesundbeter und Wahrsager

Das Staatsorakel

Fröhlicher Herbst in Lhasa

Meine Weihnachtsparty

Eine arbeitsreiche Zeit

Ausländer und ihre Schicksale in Tibet

Audienz beim Dalai Lama

Wir besichtigen den Potala

Die Verschwörung der Mönche von Sera

Religiöse Feiern zu Buddhas Gedächtnis

Erste Regierungsaufträge

Arbeit und Feste im Edelsteingarten

In der eigenen Wohnung – mit allem Komfort

Auch Tibet erreichen die Wellen der Weltpolitik

Die Klosterfahrt des Dalai Lama

Aufschnaiters archäologische Funde

Landwirtschaftliche Probleme Tibets

Eissport in Lhasa

Kameramann des Lebenden Buddha

Die Kathedrale von Lhasa

Tibetische Gastfreundschaft

Reorganisierung des Heeres und Intensivierung der Frömmigkeit

Von Druckereien und Büchern

Ich baue dem Dalai Lama ein Kino

Zum erstenmal Aug in Auge mit Kundün

»Henrig, du hast ja Haare wie ein Affe!«

Freund und Lehrer des Dalai Lama

Tibet von Rotchinesen bedroht

Erdbeben und andere böse Omina

»Gebt dem Dalai Lama die Macht!«

Die 14. Inkarnation Tschenresis

Vorbereitungen zur Flucht des Dalai Lama

Ich nehme Abschied von Lhasa

Pantschen Lama und Dalai Lama

Der Fluchtweg des Gottkönigs

Zum erstenmal erblickt der junge Herrscher sein Land

Meine letzten Tage in Tibet

Dunkle Wolken über dem Potala

Vierzehn Jahre danach

Der Freiheitskampf der Tibeter

Ausklang

Namen- und Sachregister

Karte

Vorwort

Alle Träume des Lebens beginnen in der Jugend …

Weit mehr als alle Schulweisheit begeisterten mich schon als Kind die Taten der Helden unserer Zeit. Die Männer, die auszogen, unbekannte Länder zu erforschen, oder die es sich zum Ziel setzten, unter Mühen und Entbehrungen ihre Kraft im sportlichen Wettkampf zu messen … Die Erstürmer der Gipfel der Welt; das waren meine Vorbilder. Grenzenlos war mein Wunsch, es ihnen gleichzutun!

Aber mir fehlten der Rat und die Führung Erfahrener. Und so brauchte ich viele Jahre, bis ich merkte, daß man nie gleichzeitig mehreren Zielen nachjagen darf. In fast allen Sportarten hatte ich mich bereits versucht, ohne Erfolge zu erreichen, die mich befriedigt hätten. Schließlich konzentrierte ich mich auf jene zwei, die mir um ihrer engen Naturverbundenheit willen seit je lieb gewesen waren: Skilaufen und Bergsteigen!

Denn ich hatte ja meine Kindheit zum größten Teil in den Bergen der Alpen verbracht, und so gehörte später auch neben dem Studium jede meiner freien Minuten im Sommer dem Klettern, im Winter dem Skilaufen. Kleine Erfolge stachelten bald meinen Ehrgeiz immer mehr an, und durch hartes Training erreichte ich es, daß ich 1936 die Farben der österreichischen Olympiamannschaft tragen durfte. Ein Jahr danach gewann ich bei den Akademischen Weltspielen den Abfahrtslauf.

Bei diesen und anderen Rennen erlebte ich etwas Beglückendes: den Rausch der Geschwindigkeit und das herrliche Gefühl, wenn voller Einsatz durch den Sieg belohnt wird. Aber der Triumph über menschliche Gegner, die öffentliche Anerkennung für den Sieger – das alles konnte mir nicht genügen. Mit den Bergen meine Kräfte zu messen – das allein zählte wirklich!

Und so trieb ich mich ganze Monate lang in Fels und Eis herum, bis ich so »fit« geworden war, daß mir überhaupt keine Wand mehr unbezwingbar schien. Aber auch für mich wuchsen die Bäume nicht in den Himmel, auch ich hatte mein Lehrgeld zu bezahlen. Einmal stürzte ich fünfzig Meter tief ab und blieb nur wie durch ein Wunder am Leben; kleinere Verletzungen gab es bei jeder Gelegenheit.

Die Rückkehr an die Universität war natürlich immer ein hartes Muß. Dabei durfte ich doch gar nicht klagen, denn die Stadt gab mir die Möglichkeit, eine Unmenge Literatur über Alpinistik und Reisen zu studieren. Und beim Verschlingen all dieser Bücher kristallisierte sich, aus einem Gewirr von anfangs vagen Wünschen, immer deutlicher das große Ziel heraus, der Traum aller Bergsteiger: bei einer Himalaja-Expedition einmal mit dabeizusein!

Wie aber konnte ein völlig unbekannter Mann wie ich auch nur im mindesten auf die Erfüllung so kühner Träume hoffen? Der Himalaja! Um dorthin zu kommen, mußte man doch entweder schwer reich sein oder wenigstens der Nation angehören, deren Söhne – damals noch – die Möglichkeit hatten, im Staatsdienst in Indien eingesetzt zu werden.

Für einen Menschen aber, bei dem beides nicht zutraf, gab es nur den einen Weg: Man mußte etwas tun, was die öffentliche Aufmerksamkeit so wirksam auf sich zog, daß man bei einer der seltenen Gelegenheiten, die sich auch für »Außenseiter« ergaben, von den maßgebenden Stellen einfach nicht mehr übergangen werden konnte.

Was aber sollte das wohl sein? Waren nicht alle Gipfel der Alpen schon längst erstiegen? Ja, selbst ihre einzelnen Grate und Wände sämtlich in oft unglaublich kühnen Unternehmungen bezwungen? … Aber nein – eine einzige Wand war übriggeblieben, die höchste und auch die schwierigste von allen: die Eiger-Nordwand!

Ihre Höhe von zweitausend Metern hatte noch keine Seilschaft ganz durchklettert, alle waren sie vor dem Ziel gescheitert, und viele hatten ihr Leben dabei gelassen. Ein Kranz von Legenden hatte sich um diese ungeheure Felsmauer gebildet, und schließlich war sogar von der Schweizer Regierung ein Verbot erlassen worden, überhaupt in die Wand einzusteigen.

Kein Zweifel, das war die große Aufgabe, die ich suchte. Der Eiger-Nordwand den Nimbus zu rauben, das mußte die »Legitimation« für den Himalaja sein … Langsam reifte in mir der Entschluß, das fast aussichtslos Scheinende zu wagen. Wie es mir gemeinsam mit den Kameraden Fritz Kasparek, Anderl Heckmaier und Wiggerl Vörg 1938 dann wirklich gelang, die gefürchtete Wand zu durchsteigen, das ist in mehreren Büchern beschrieben worden.

Ich aber benutzte den Herbst desselben Jahres zu weiterem fleißigem Training, immer die Hoffnung vor Augen, zur Teilnahme an der für den Sommer 1939 geplanten deutschen Nanga-Parbat-Expedition aufgefordert zu werden. Doch es schien, als ob es bei der Hoffnung bleiben sollte, denn der Winter kam, und nichts rührte sich. Andere wurden ausersehen zur Erkundungsfahrt nach dem schicksalsschweren Berg im Lande Kaschmir. Und mir blieb nichts anderes übrig, als schweren Herzens den Vertrag zu unterschreiben, der mich zur Mitwirkung an einem Skifilm verpflichtete.

Die Dreharbeit war schon ziemlich weit vorgeschritten, da kam plötzlich ein Ferngespräch für mich. Es war der heißersehnte Ruf, an der Himalaja-Expedition teilzunehmen! Und in vier Tagen sollte es bereits losgehen! Ich brauchte keinen Augenblick zu überlegen: Ich brach ohne zu zögern meinen Filmkontrakt, fuhr in meine Heimatstadt Graz, packte einen Tag lang meine Sachen, und schon am nächsten war ich auf der Fahrt über München nach Antwerpen, zusammen mit Peter Aufschnaiter, dem Führer dieser deutschen Nanga-Parbat-Erkundungsfahrt 1939, Lutz Chicken und Hans Lobenhoffer, den übrigen Expeditionsteilnehmern.

Bis dahin waren schon vier Versuche, den 8125 m hohen Gipfel des Nanga Parbat zu erreichen, erfolglos geblieben. Sie hatten viele Opfer gekostet, und so war man auf den Gedanken gekommen, eine neue Anstiegsroute zu suchen. Ihre Erkundung war unsere Aufgabe, denn für das nächste Jahr war ein neuer Angriff auf den Gipfel geplant.

Auf dieser Fahrt zum Nanga Parbat erlag ich endgültig der magischen Anziehungskraft des Himalaja. Die Schönheit seiner gigantischen Berge, die ungeheure Weite des Landes, die fremdartigen Menschen Indiens – das alles wirkte mit einer unbeschreiblichen Stärke auf mich.

Seither sind viele Jahre vergangen, aber ich bin von Asien nicht mehr losgekommen. Wie das alles kam, das will ich hier niederzuschreiben versuchen und, da ich nicht die Erfahrung eines Schriftstellers besitze, nur die nackten Ereignisse festhalten.

Internierungslager und Fluchtversuche

Ende August 1939 war unsere Erkundungsfahrt zu Ende. Wir hatten tatsächlich eine neue Anstiegsroute gefunden und warteten nun in Karatschi auf den Frachter, der uns nach Europa zurückbringen sollte. Das Schiff war längst überfällig, und die Wolken des Zweiten Weltkrieges zogen sich dichter und dichter zusammen. Da beschlossen Chicken, Lobenhoffer und ich, das Netz, das die Geheimpolizei bereits zu legen begann, zu unterlaufen und auf irgendeinem Wege zu verschwinden. Nur Aufschnaiter blieb in Karatschi zurück – gerade er, der schon am Ersten Weltkrieg teilgenommen hatte, konnte nicht an den Ausbruch eines zweiten glauben …

Wir andern planten, uns nach Persien durchzuschlagen, um von dort aus die Heimat zu erreichen. Es gelang uns auch ohne Schwierigkeit, unsere »Beobachter« abzuschütteln und in unserem wackeligen Auto, nach Durchquerung von einigen hundert Kilometern Wüstenstrecke, Las Bella zu erreichen, einen kleinen Maharadschastaat im Nordwesten von Karatschi. Dort ereilte uns aber das Geschick: Plötzlich sahen wir uns – unter dem Vorwand, wir brauchten einen persönlichen Schutz – von acht Soldaten bewacht. Das bedeutete praktisch nichts anderes, als daß wir verhaftet waren. Obwohl Deutschland und das Britische Commonwealth sich noch keineswegs im Kriegszustand befanden.

Mit diesem sicheren Geleit waren wir sehr bald wieder in Karatschi, wo es auch mit Peter Aufschnaiter ein Wiedersehen gab. Und zwei Tage später erklärte England nun tatsächlich Deutschland den Krieg! Danach ging alles wie am Schnürchen: Kaum fünf Minuten später marschierten bereits fünfundzwanzig bis an die Zähne bewaffnete indische Soldaten in den Garten einer Gastwirtschaft ein, in dem wir gerade saßen, um uns abzuholen … Ein Polizeiwagen brachte uns in ein schon vorbereitetes, stacheldrahtumzäuntes Lager. Das war aber nur als »Transit-Camp« gedacht, denn bereits vierzehn Tage später wurden wir in das große Internierungslager Ahmednagar in der Nähe von Bombay eingeliefert.

Da saßen wir nun eng zusammengepfercht in Zelten und Baracken, mitten in dem ewig aufgeregten Meinungsstreit der übrigen Lagerinsassen … Nein, diese Welt unterschied sich allzu stark von den lichten, einsamen Höhen des Himalaja! Das war nichts für einen freiheitsliebenden Menschen! Ich fing also gleich an, freiwillig Arbeit zu suchen, um Weg und Gelegenheit für einen Fluchtversuch vorzubereiten.

Natürlich war ich nicht der einzige, der solche Pläne schmiedete. Mit Hilfe von Gleichgesinnten fanden sich bald Kompasse, Bargeld und Karten, die der Kontrolle entgangen waren. Sogar Lederhandschuhe und eine Stacheldrahtschere konnten wir »organisieren«. Das Verschwinden der Schere aus dem Magazin der Engländer hatte dann eine strenge Untersuchung zur Folge, die aber völlig ergebnislos verlief.

Da wir alle an ein baldiges Ende des Krieges glaubten, verschoben wir unsere Fluchtpläne immer wieder. Da wurden wir eines Tages plötzlich in ein anderes Lager übergeführt. Ein ganzer Lastkraftwagen-Geleitzug sollte uns nach Deolali bringen. In jedem Wagen saßen achtzehn von uns, mit einem einzigen indischen Soldaten als Bewachung, dessen Gewehr mit einer Kette an seinem Gürtel befestigt war, damit es ihm niemand entreißen konnte. Dafür fuhren an der Spitze, in der Mitte und am Ende der Kolonne Wagen, die mit Wachmannschaften voll besetzt waren.

Lobenhoffer und ich hatten noch im Lager den festen Entschluß gefaßt zu fliehen, bevor in einem neuen Camp neue Schwierigkeiten unsere Pläne wieder gefährden konnten. Wir setzten uns also auf die beiden hintersten Plätze unseres Wagens und hatten obendrein das Glück, daß die Straße sehr kurvenreich war und dicke Staubwolken uns zeitweise völlig einhüllten. Das mußte uns die Chance geben, unbemerkt abzuspringen und im nahen Dschungel zu verschwinden. Daß »unser« Wachsoldat uns erwischen könnte, war schon deshalb unwahrscheinlich, weil es offensichtlich seine Hauptaufgabe war, den vor uns fahrenden Wagen zu beobachten. Nur gelegentlich sah er sich auch einmal nach uns um.

Alles in allem schien uns also die Flucht nicht allzu schwierig, und wir riskierten es, sie auf den spätesten Zeitpunkt zu verlegen, der irgend denkbar war. Als Ziel hatten wir uns nämlich eine neutrale portugiesische Enklave ausgesucht – und die lag fast genau in der Fahrtrichtung!

Endlich war der Augenblick da. Wir sprangen ab, und ich lag bereits hinter einem zwanzig Meter von der Straße entfernten Busch in einer kleinen Vertiefung – als zu meinem Schrecken die ganze Karawane hielt! Schrilles Pfeifen, Schreien und das Hinüberrennen der Wachen auf die andere Straßenseite ließen kaum einen Zweifel daran, was geschehen war. Lobenhoffer mußte entdeckt worden sein, und da er den Rucksack mit der Ausrüstung bei sich hatte, blieb mir nichts anderes übrig, als meinen Fluchtplan ebenfalls aufzugeben. Zum Glück gelang es mir, bei dem allgemeinen Tumult wieder auf meinen Wagenplatz zu springen, ohne daß einer der Soldaten es bemerkte. Nur die Kameraden wußten, daß ich ausgerissen war, und die schwiegen natürlich.

Jetzt sah ich auch Lobenhoffer: Er stand, Hände hoch, einer Reihe von Bajonetten gegenüber! Ich war ganz gebrochen, die Enttäuschung war schrecklich. Dabei traf meinen Freund kaum eine Schuld an dem Unglück. Er hatte nur mit dem schweren Rucksack, den er beim Absprung in der Hand gehalten hatte, ein wenig Lärm gemacht. Dadurch war unser Wachtposten aufmerksam geworden, und so wurde Lobenhoffer gestellt, bevor er noch den schützenden Dschungel erreichen konnte.

Wir zogen aus dem Vorfall eine bittere, aber nützliche Lehre: Auch bei einem gemeinsamen Fluchtversuch muß ein jeder eine komplette Ausrüstung bei sich haben.

Noch im gleichen Jahr kamen wir abermals in ein anderes Camp. Eisenbahnzüge brachten uns bis an den Fuß des Himalaja, in das größte Internierungslager Indiens, wenige Kilometer außerhalb der Stadt Dehradun. Ein wenig höher als die Stadt lag Mussoorie, der Sommersitz der Engländer und reicher Inder, »Hillstation« genannt. Unser Lager bestand aus sieben großen Flügeln, von denen jeder für sich mit einem doppelten Stacheldrahtverhau umgeben war. Um das ganze Lager herum führten dann nochmals zwei solcher stacheligen Gitter – und in dem Gang zwischen ihnen patrouillierten ständig die Wachen.

Das war nun also eine ganz neue Situation. Solange unsere Camps unten in der indischen Ebene lagen, war das Ziel unserer Fluchtpläne immer, eine der neutralen portugiesischen Kolonien zu erreichen. Hier aber lag der Himalaja direkt vor uns. Wie verlockend war der Gedanke für einen Bergsteiger, über die Pässe in das dahinterliegende Tibet zu gelangen! Als endgültiges Ziel dachten wir dann an die japanischen Linien in Burma oder China.

Eine solche Flucht mußte natürlich besonders gründlich vorbereitet werden. Zu diesem Zeitpunkt waren ja auch unsere Hoffnungen auf ein baldiges Kriegsende geschwunden, und so ging ich nun systematisch daran, das neue Unternehmen zu organisieren. Ein Fluchtweg durch das dichtbevölkerte Indien kam deshalb nicht in Frage, weil dazu große Geldmittel und perfekte englische Sprachkenntnisse fast unentbehrliche Voraussetzungen waren – und beides fehlte mir. Es war also ganz selbstverständlich, daß meine Wahl auf das menschenleere Tibet fiel. Und auf den Himalaja! Selbst für den Fall, daß mein Plan nicht restlos gelingen sollte, war mir schon eine kurze Zeit der Freiheit in den Bergen das Risiko wert.

Zunächst lernte ich erst einmal ein wenig Hindostani, Tibetisch und Japanisch, um mich mit den Einheimischen verständigen zu können. Dann verschlang ich sämtliche in der Lagerbibliothek vorhandenen Reisebücher über Asien, speziell über die Gegenden, durch die mein Weg voraussichtlich führen würde, machte mir Auszüge und kopierte die wichtigsten Karten. Peter Aufschnaiter, der auch in Dehradun gelandet war, besaß noch unsere Expeditionsbücher und -karten. Er arbeitete mit unermüdlichem Fleiß weiter an ihnen und stellte mir in selbstloser Weise alle seine Skizzen zur Verfügung. Ich machte von ihnen allen zwei Kopien, eine für die Flucht, die zweite als Reserve, falls das Original in Verlust geraten sollte.

Ebenso wichtig aber war es, gerade bei diesem Fluchtweg meinen Körper in denkbar bester Kondition zu erhalten. So widmete ich täglich viele Stunden dem Sport. Gleichgültig, ob das Wetter gut oder schlecht war – ich absolvierte das Pensum, das ich mir selber vorgeschrieben hatte. So manche Nacht lag ich dann noch auf der Lauer, um die Gewohnheiten der Wachen zu studieren.

Am meisten Sorge aber machte mir eine ganz andere Schwierigkeit: Ich hatte zu wenig Geld. Obwohl ich schon alles, was ich irgend entbehren konnte, verkauft hatte, war dies für die bescheidensten Lebensbedürfnisse in Tibet völlig unzureichend, ganz abgesehen von den in Asien nun einmal notwendigen Bestechungen und Geschenken. Trotzdem arbeitete ich systematisch weiter, und einige Freunde, die selber keine Fluchtpläne schmiedeten, halfen mir dabei.

In der ersten Zeit meiner Internierung hatte ich keine sogenannte »Parole« für Beurlaubungen aus dem Lager unterzeichnet, um mich bei einer plötzlich auftauchenden Fluchtchance nicht durch mein Ehrenwort gebunden zu fühlen. Hier in Dehradun konnte und mußte ich es tun; die »Ausflüge« dienten ja auch nur der Erforschung der Lagerumgebung.

Ursprünglich hatte ich vorgehabt, allein zu fliehen, um nicht auf irgendjemand Rücksicht nehmen zu müssen, was vielleicht meine Chancen beeinträchtigen konnte. Da erzählte mir eines Tages mein Freund Rolf Magener, daß ein italienischer General die gleichen Absichten habe wie ich. Ich hatte von ihm schon früher gehört, und so kletterten Magener und ich eines Nachts durch die Stacheldrahtzäune zum Nachbarflügel, in dem vierzig italienische Generäle untergebracht waren.

Mein künftiger Begleiter hieß Marchese und war in seinem Äußeren ein typischer Italiener. Er war etwas über vierzig Jahre alt, hatte eine schlanke Figur, angenehme Manieren, und seine Kleidung wirkte für unsere Begriffe ausgesprochen elegant. Vor allem aber machte mir seine gute körperliche Verfassung einen günstigen Eindruck.

Mit der Verständigung haperte es vorläufig etwas. Er sprach nicht Deutsch, ich nicht Italienisch, Englisch konnten wir beide herzlich wenig; also unterhielten wir uns, mit Hilfe eines Freundes, gebrochen auf französisch. Marchese erzählte mir vom Abessinienkrieg und von einem früheren Fluchtversuch aus einem Internierungslager.

Zum Glück war für ihn, der das Gehalt eines englischen Generals bezog, Geld kein Problem. Auch sonst hatte er die Möglichkeit, Sachen für die gemeinsame Flucht zu beschaffen, an die ich nicht einmal im Traum zu denken gewagt hätte. Was er brauchte, war ein Partner, der im Himalaja Bescheid wußte … So einigten wir uns sehr bald auf der Basis, daß ich für die Planung des Ganzen verantwortlich sein sollte, er hingegen für die Beschaffung von Geld und Ausrüstungsgegenständen.

Mehrmals in der Woche kletterte ich nun durch die Stacheldrahtzäune, um mit Marchese weitere Details zu besprechen. Dadurch wurde ich zugleich zu einem wahren Experten in der Überwindung solcher Verhaue. Natürlich gab es hier grundsätzlich viele Möglichkeiten; in unserem Falle aber schien mir eine besonders aussichtsreich. Sie beruhte auf dem Umstand, daß die beiden um den ganzen Lagerkomplex gezogenen Zäune etwa alle achtzig Meter durch ein gemeinsames, spitzes Strohdach überdeckt waren, das die Wachsoldaten vor der heißen indischen Sonne schützte. Wenn wir eines dieser Dächer überklettern konnten, hatten wir beide Zäune mit einem Schlage überwunden!

Im Mai 1943 hatten wir alle unsere Vorbereitungen beendet. Geld, Kraftnahrung, Kompaß, Uhren, Schuhe und ein kleines Bergsteigerzelt waren beschafft.

Eines Nachts beschlossen wir, den Versuch zu wagen. Ich kletterte also, wie schon so oft, durch die Zäune in Marcheses Flügel hinüber. Dort stand eine Leiter bereit, die wir vor längerer Zeit bei einem kleinen Lagerbrand beiseite gebracht hatten. Wir lehnten sie griffbereit an die Wand neben uns und warteten im Schatten einer Baracke. Es war nahe an Mitternacht, in zehn Minuten mußten die Wachen wechseln. Träge und sichtlich ablösungsreif gingen sie noch hin und her. Mehrere Minuten verstrichen, bis sie an die von uns ausgesuchte Stelle kamen. Gerade ging der Mond langsam über den Teeplantagen auf. Die großen elektrischen Lampen warfen kurze Doppelschatten. Es war soweit: jetzt oder nie!

Beide Wachtposten hatten die größtmögliche Entfernung von uns erreicht, als ich mich aus meiner gebückten Stellung aufrichtete und, die Leiter in der Hand, zum Stacheldraht schnellte. Ich lehnte die Leiter gegen den nach innen überhängenden Teil des Zauns, stieg hinauf und durchschnitt die oben noch zusätzlich angebrachten Drähte, die das Überklettern des Strohdachs verhindern sollten. Marchese drückte mit einer langen Gabelstange gegen den restlichen Stacheldraht, und so konnte ich auf das Dach schlüpfen.

Es war ausgemacht, daß der Italiener sofort nachkommen sollte, während ich die Drähte mit meinen Händen für ihn offenhielt. Aber er kam nicht, er zögerte einige gräßliche Sekunden lang, weil er meinte, es sei für ihn schon zu spät, und die Wachen näherten sich bereits … Tatsächlich, ich hörte ihre Schritte! Da ließ ich ihm keine Zeit zum Überlegen mehr, packte ihn kurzerhand unter den Armen und zog ihn mit einem Ruck aufs Dach. Wir krochen hinüber und ließen uns dann mit einem schweren Fall in die Freiheit plumpsen.

All das war nun nicht gerade sehr leise vor sich gegangen. Die Wachen waren alarmiert. Aber während ihre ersten Schüsse durch die Nacht peitschten, hatte uns schon der dichte Dschungel verschluckt.

Das erste, was Marchese tat, war, mich mit seinem ganzen südlichen Temperament zu umarmen und abzuküssen – aber für Freudenausbrüche war es nun wirklich noch nicht der richtige Moment. Leuchtraketen stiegen am Himmel auf, und nahe Pfeifsignale verrieten, daß man uns bereits auf den Fersen war. Wir rannten um unser Leben und kamen auch recht rasch vorwärts, auf Abkürzungswegen, da ich ja den Dschungel in der Umgebung des Lagers von meinen Erkundungsausflügen her gut kannte. Nur selten benutzten wir die Straßen, und um die wenigen Dörfer schlichen wir vorsichtig herum. Unsere Rucksäcke spürten wir am Anfang kaum, aber später machte sich die schwere Last dann doch bemerkbar.

In einem der Dörfer schlugen die Einheimischen ihre Trommeln, und unsere Phantasie ließ uns sogleich an Alarm denken. Das waren alles Schwierigkeiten, die man sich in nur von Weißen bewohnten Ländern kaum ausmalen kann. In Asien reist der »Sahib« eben immer in Begleitung von Dienern und trägt nie auch nur das kleinste Gepäckstück selbst – wie mußte es da auffallen, wenn zwei schwerbepackte Europäer zu Fuß durch die Gegend wanderten!

Bei Nacht marschieren, bei Tag sich verstecken

Wir beschlossen also, die Nächte zum Marschieren zu benutzen, denn der Inder fürchtet sich, den Dschungel in der Dunkelheit zu betreten – der Raubtiere wegen. Sehr wohl war freilich auch uns nicht zumute, denn wir hatten in den im Lager zugelassenen Zeitungen immer wieder Berichte von menschenreißenden Tigern und Panthern gelesen …

Als nach dieser Nacht der Morgen graute, versteckten wir uns erschöpft in einer Bodenrinne, in der wir den ganzen Tag verbrachten. Mit Schlafen und Essen verging ein glühendheißer, endlos langer Tag, an dem wir nur einen einzigen Menschen sahen, und auch den nur aus der Ferne: einen Kuhhirten. Er bemerkte uns zum Glück nicht. Das Schlimmste war, daß wir jeder nur eine gefüllte Wasserflasche besaßen, mit der wir in unserem Versteck einen Tag lang auskommen mußten.

Da war es kein Wunder, daß wir am Abend, vor lauter Sitzen und Stillhalten, unsere Nerven kaum mehr beherrschen konnten. Wir wollten weiter, so schnell wie möglich, und die Nächte allein schienen uns viel zu kurz, um rasch genug vorwärts zu kommen. Wir mußten auf dem kürzesten Weg durch den Himalaja nach Tibet, und das würde uns in jedem Falle Wochen anstrengendsten Marschierens kosten, bevor wir uns in Sicherheit fühlen konnten.

Der Potala, Sitz des Dalai Lama in Lhasa. Erster Eindruck des Pilgers, der die Stadt durch das westliche Eingangstor mit seinen drei Tschörten (rechts im Bild) betritt

Ansicht des Potala von Norden

Tibetisches Dorf im Himalaja

Im Jakhautboot auf dem Brahmaputra (in Tibet »Tsangpo«)

Immerhin – den ersten Höhenrücken überstiegen wir schon an jenem ersten Abend nach unserer Flucht. Oben setzten wir uns zu einer kurzen Rast. Tausend Meter unter uns funkelten die zahllosen Lichter des Internierungslagers. Als es 22 Uhr war, erloschen sie mit einem Schlag. Nur die Scheinwerfer, die das Camp umrahmten, gaben noch einen Begriff von seiner riesigen Ausdehnung.

Es war das erstemal in meinem Leben, daß ich so richtig fühlte, was das heißt: frei sein! Wir genossen dieses herrliche Bewußtsein und dachten mit Bedauern an die zweitausend Gefangenen, die dort unten weiter hinter Stacheldraht leben mußten!

Viel Zeit, unseren Gedanken nachzuhängen, blieb uns aber auch hier nicht. Wir mußten weiter, hinunter ins Dschamnatal, das uns völlig unbekannt war. Und in einem seiner Seitentäler konnten wir dann auch in einer engen Schlucht wirklich nicht weiter und mußten den nächsten Morgen abwarten. Der Platz war so einsam, daß ich es ohne Bedenken wagen konnte, dort meine hellen Kopf- und Barthaare schwarz zu färben. Auch meinen Händen und meinem Gesicht gab ich mit einer Mischung aus Kaliumpermanganat, brauner Farbe und Fett eine dunkle Tönung. Dadurch bekam ich immerhin einige Ähnlichkeit mit einem Inder, und das war wichtig, denn wir wollten uns ja im Falle einer Entdeckung als Pilger auf der Wallfahrt zum heiligen Ganges ausgeben. Was meinen Kameraden betraf, so sah er schon von Natur dunkel genug aus, um zumindest in einiger Entfernung nicht aufzufallen. Näher untersuchen lassen durften wir uns freilich beide nicht.

Diesmal machten wir uns auf den Weg, noch bevor es finster wurde. Wir sollten es bald bereuen, denn nach einer unübersichtlichen Wegstrecke standen wir plötzlich Reis pflanzenden Bauern gegenüber. Halbnackt wateten sie bis zu den Knien im lehmigen Wasser und starrten sichtlich erstaunt auf uns zwei mit Rucksäcken beladene Männer. Dann deuteten sie mit den Fingern den Hang hinauf, wo man, hoch oben, ihr Dorf sehen konnte. Das sollte offenbar heißen, dies sei der einzige Ausweg aus der Schlucht. Um peinlichen Fragen zu entgehen, marschierten wir auch sofort, so schnell als möglich, in der angegebenen Richtung weiter. Nach stundenlangem Bergauf und Bergab erreichten wir endlich den Dschamnafluß.

Inzwischen war die Nacht hereingebrochen. Unser Plan war, den Dschamna entlang bis zu seinem Nebenfluß Aglar zu gehen und, diesem folgend, die Wasserscheide zu erreichen. Von dort konnte es nicht mehr weit zum Ganges sein, der uns zur großen Himalajakette führen sollte.

Der größte Teil der Strecke, die wir bisher zurückgelegt hatten, war ohne Weg und Steg gewesen, nur gelegentlich konnten wir, den Flußläufen entlang, Fischerpfade benutzen. An diesem Morgen war Marchese bereits sehr erschöpft. Ich bereitete ihm Haferflocken mit Wasser und Zucker, und auf mein Drängen aß er ein wenig davon. Leider war die Umgebung für einen Lagerplatz denkbar ungeeignet. Es wimmelte von großen Ameisen, die sich tief in die Haut verbissen. Und da wir, trotz unserer Müdigkeit, kaum schlafen konnten, dehnte der Tag sich endlos.

Gegen Abend erwachte der Unternehmungsgeist meines Kameraden von neuem, und ich schöpfte neue Hoffnung, daß seine körperliche Verfassung sich gebessert haben könnte. Auch er selber war voller Vertrauen, die Strapazen der nächsten Nacht glatt durchzustehen. Doch bald nach Mitternacht war er mit seinen Kräften am Ende. Er war der enormen Anstrengung physisch einfach nicht gewachsen. Da kam uns beiden mein hartes sportliches Training sehr zustatten – denn manchmal trug ich auch noch seinen Rucksack, aufgeschnallt über dem meinigen. Wir hatten übrigens über beide Rucksäcke landesübliche indische Jutesäcke gestülpt, denn, so selbstverständlich diese auch bei uns zu Hause waren – hier hätten sie sofort Verdacht erregt.

Die nächsten beiden Nächte irrten wir weiter flußaufwärts, immer wieder den Aglar durchwatend, wenn Dschungel oder Felsabbrüche den Weg versperrten. Einmal, als wir zwischen großen Felsblöcken im Flußbett rasteten, kamen einige Fischer vorbei, ohne uns zu bemerken. Ein anderes Mal, als wir wiederum auf Fischer stießen, diesmal aber nicht mehr ausweichen konnten, verlangten wir in unserem gebrochenen Hindostani einige Forellen. Unsere Verkleidung schien doch recht gut zu sein, denn die Männer verkauften uns die Fische, ohne Mißtrauen zu zeigen – ja, sie kochten sie uns sogar. Auch auf ihre neugierigen Fragen konnten wir ihnen, ohne Argwohn zu erregen, Rede und Antwort stehen. Sie rauchten dabei die kleinen, für Europäer sehr wenig bekömmlichen indischen Zigaretten. Marchese, der vor der Flucht ein starker Raucher gewesen war, konnte der Versuchung nicht widerstehen und bat um einen dieser Glimmstengel. Kaum hatte er aber einige Züge getan, als er, wie von einer Axt gefällt, ohnmächtig zusammenbrach!

Zum Glück erholte er sich bald wieder, und wir konnten unsere Flucht fortsetzen. Später trafen wir dann auf Bauern, die Butter in die Stadt trugen. Wir waren inzwischen dreister geworden und sprachen sie an, um ihnen etwas abzukaufen. Einer von ihnen war auch gleich einverstanden – aber als der Inder nun mit seinen dunklen, schmutzigen Händen die durch die Hitze fast flüssig gewordene Butter aus seinem Topf in den unseren schmierte, da übergaben wir uns beide fast vor Ekel.

Endlich erweiterte sich das Tal, und der Weg führte uns durch weite Reis- und Kornfelder. Es wurde nun immer schwerer, ein gutes Versteck für den Tag zu finden. Einmal wurden wir schon am Vormittag entdeckt, und da die Bauern allzu viele indiskrete Fragen an uns stellten, schien uns die beste Antwort – einfach schnell unsere Sachen zu packen und weiterzuhasten!

Wir hatten noch kein neues Versteck gefunden, da trafen wir auf acht Männer, die uns durch laute Rufe zum Anhalten zwangen. Unser Glück schien uns endgültig verlassen zu haben. Auf ihre zahllosen Fragen antwortete ich immer wieder, wir seien Pilger aus einer sehr fernen Provinz. Und wir mußten, zu unserem eigenen Erstaunen, die »Prüfung« irgendwie bestanden haben, denn nach einer Weile ließen uns die Leute unbehelligt weiterziehen. Wir konnten es kaum glauben, und noch längere Zeit vermeinten wir Schritte hinter uns zu hören, die uns verfolgten …

Es war also ein guter Einfall gewesen, bei unserm letzten Versteck meine Farbe zu »erneuern«! Aber der Tag war nun einmal wie verhext, und die Aufregungen wollten kein Ende nehmen. Wir mußten schließlich die entmutigende Feststellung machen, daß wir zwar eine Wasserscheide passiert hatten, aber noch immer im Flußgebiet des Dschamna waren. Und das bedeutete einen Zeitverlust von mindestens zwei Tagen.

Und wieder ging es bergauf. Wir kamen jetzt in dichte Rhododendronwälder; sie schienen so menschenleer zu sein, daß wir auf einen ruhigen Tag hofften. Endlich einmal richtig ausschlafen können! Aber bald kamen Kuhhirten in Sicht, und wir mußten das Lager wechseln. Mit dem langen Schlaf war es wiederum nichts.

In den nächsten Nächten marschierten wir dann weiter durch verhältnismäßig wenig bewohnte Gegenden. Wir sollten leider früh genug erfahren, warum es hier so einsam war: Es gab so gut wie kein Wasser! Wir litten so sehr unter dem ewigen Durst, daß ich einmal einen schweren Fehler beging, der schlimme Folgen hätte haben können. Ich stürzte mich nämlich, als wir auf einen kleinen Tümpel stießen, ohne jede Vorsichtsmaßnahme auf das ersehnte Naß und begann sofort in Riesenschlucken zu trinken.

Die Folgen waren scheußlich. Es war einer jener Tümpel, in denen sich die Wasserbüffel, auf der Flucht vor der Hitze, stundenlang herumzusielen pflegen – und deren Hauptinhalt daher nicht Wasser ist, sondern Urin! Ich bekam einen Hustenanfall, dann mußte ich mich erbrechen, und es dauerte lange, bis ich mich von dieser üblen »Erfrischung« wieder erholt hatte.

Bald nach diesem Zwischenfall konnten wir vor Durst einfach nicht mehr weiter und mußten uns hinlegen, obwohl es noch tiefe Nacht war. Als der Morgen graute, kletterte ich dann allein die steilen Hänge hinunter, um Wasser zu suchen. Auch die nächsten drei Tage und Nächte waren nicht viel besser. Es ging durch trockene Föhrenwälder, die aber erfreulicherweise so einsam waren, daß wir nur ganz selten auf Inder trafen und eine Entdeckung vermeiden konnten.

Am zwölften Tage unserer Flucht kam endlich der große Augenblick: Wir standen am Ufer des Ganges! Auch der frömmste Hindu konnte nicht ergriffener beim Anblick des »heiligen Stromes« sein als wir. Freilich war die Bedeutung des Flusses für uns keine religiöse, sondern eine praktische. Wir konnten jetzt die Pilgerstraße, den Ganges aufwärts bis zu seiner Quelle, verfolgen, und das mußte die Strapazen des Marsches erheblich verringern. Wenigstens dachten wir uns das so … Ein Risiko, das nicht absolut unvermeidbar war, wollten wir, nachdem wir es nun einmal so weit geschafft hatten, nicht mehr eingehen. Das bedeutete: ausschließlich bei Nacht marschieren!

Mit unseren Lebensmitteln sah es inzwischen leider verzweifelt genug aus. Die Vorräte waren verbraucht, und der arme Marchese bestand nur noch aus Haut und Knochen; trotzdem tat er sein Bestes. Ich selbst fühlte mich zum Glück verhältnismäßig frisch und hatte noch genug Reserven.

Unsere ganze Hoffnung waren die Tee- und Lebensmittelgeschäfte, die es überall entlang der Pilgerstraße gab. Einige von ihnen hatten auch am späten Abend offen; ein mattes Öllämpchen machte sie dann kenntlich. Ich erneuerte mein »Make-up« und steuerte auf den ersten Laden zu … Aber ich hatte ihn noch nicht betreten, da jagte man mich schon mit wilden Schimpfreden davon. Offenbar hielt man mich für einen Dieb! So unangenehm das für den Augenblick auch sein mochte, es hatte, für die Zukunft gesehen, einen Vorteil: Meine Verkleidung wirkte echt!

Beim nächsten dieser primitiven Geschäfte hielt ich, schon als ich eintrat, mein ganzes Geld möglichst auffallend in der Hand. Das machte offensichtlich einen guten Eindruck. Und dann erzählte ich, daß ich für zehn Mann einkaufen müsse, um so die für einen einzelnen übertriebenen Mengen von vierzig Pfund Mehl, Rohrzucker und Zwiebeln glaubhaft zu machen.

Die Leute beschäftigten sich daraufhin mehr mit der Untersuchung der Geldscheine als mit meiner Person; und so konnte ich bald, schwer bepackt, aus dem Laden davonziehen. Wir verbrachten dann einen glücklichen Tag. Endlich hatten wir genügend zu essen, und die Pilgerstraße schien uns – nach den »Wegen«, die wir hinter uns hatten – wie die schönste Promenade.

Aber die Freude sollte nicht lange dauern. Schon am nächsten Rastplatz wurden wir von Holzsuchern aufgestöbert. Marchese lag, wegen der großen Hitze, halbnackt da; er war so mager geworden, daß man seine einzelnen Rippen zählen konnte. Er machte wirklich einen sehr kranken Eindruck. Trotzdem waren wir natürlich verdächtig, weil wir abseits von den üblichen Pilgerherbergen lagerten. Die Inder luden uns ein, sie zu ihrem Bauernhof zu begleiten, aber das wollten wir aus naheliegenden Gründen nicht und benutzten Marcheses schlechten Gesundheitszustand als Ausrede.

Die Leute verschwanden dann auch – aber leider kamen sie bald darauf wieder. Und diesmal konnte es keinen Zweifel geben, daß sie uns für Flüchtlinge hielten. Sie versuchten uns nämlich zu erpressen! Sie erzählten von einem Engländer, der mit acht Soldaten nach zwei Geflüchteten suche und ihnen für jede Mitteilung in diesem Zusammenhang eine gute Belohnung versprochen habe. Wenn aber wir ihnen Geld gäben – dann wollten sie schweigen … Ich blieb fest und bestand darauf, ein Arzt aus Kaschmir zu sein; als Beweis zeigte ich ihnen meinen Medizinkasten.

Ob es nun Marcheses leider durchaus echtes Stöhnen war oder ob das Theater, das ich ihnen vormachte, so überzeugend wirkte – jedenfalls verschwanden die Inder wieder. Wir verbrachten nun die nächste Zeit in ständiger Furcht vor ihrer Rückkehr, womöglich mit irgendwelchen Amtspersonen. Doch blieben wir unbehelligt.

Auf diese Weise waren die Tage aber nicht nur ohne Erholung, sondern häufig noch anstrengender als die Nächte. Nicht für die Muskeln, wohl aber für die Nerven, die in ununterbrochener Spannung blieben. Mittags war die Wasserflasche gewöhnlich schon leer, und der Rest des Tages dehnte sich dann endlos. Jeden Abend aber marschierte Marchese heroisch weiter, und bis Mitternacht ging es – so erschöpft er auch durch seinen Gewichtsverlust war – immer sehr gut. Dann aber brauchte er seine zwei Stunden Schlaf, um noch ein Stück weiter zu können. Gegen Morgen biwakierten wir, und von unseren versteckten Lagerplätzen aus konnten wir meist auf die große Pilgerstraße hinuntersehen, auf der in fast ununterbrochenem Strom die Frommen dahinwanderten. Oft recht seltsam gekleidet – immer aber ohne sich vor irgend jemand verstecken zu müssen. Die Glücklichen! Es sollen jährlich, nur während der Sommermonate, etwa 60 000 Menschen sein, die hier vorbeikommen … Das hatten wir noch im Lager gehört, und wir glaubten es gerne.

Strapazen und Entbehrungen – alles umsonst

Nach langem Wandern erreichten wir gegen Mitternacht die Tempelstadt Uttar Kaschi. In ihren engen Gassen verloren wir bald die Richtung. Marchese setzte sich daher mit den Rucksäcken in einen dunklen Winkel, und ich versuchte auf eigene Faust, mich zu orientieren. Durch die offenen Tempeltüren sah man Lichter vor glotzenden Götterstatuen brennen, und oft mußte ich rasch zurückspringen und mich verstecken, weil Mönche von einem ihrer Heiligtümer zum andern gingen. Wir hatten über eine Stunde Zeit verloren, als wir endlich hinter der Stadt, den Pilgerweg wiederfanden  …

Aus den vielen Expeditionsbüchern, die ich gelesen hatte, wußte ich, daß wir nun bald die sogenannte »innere Grenzlinie« überschreiten mußten. Sie verläuft in einem Abstand von hundert bis zweihundert Kilometern parallel zur wirklichen Landesgrenze, und zum Betreten des ganzen Gebietes zwischen diesen beiden Linien muß – mit Ausnahme der dort ansässigen Bevölkerung – jedermann einen Paß besitzen. Da wir den nicht hatten, mußten wir nun besonders scharf darauf achten, der Polizeistelle und ihren Streifen auszuweichen.

Das Tal, durch das wir jetzt aufwärts stiegen, war, je weiter wir kamen, immer spärlicher besiedelt. Tagsüber hatten wir keine Schwierigkeit, geeignete Lagerplätze zu finden. Oft konnte ich unbesorgt mein Versteck verlassen, um Wasser zu holen. Einmal machte ich sogar ein kleines Feuer und kochte Haferflocken; es war die erste warme Mahlzeit seit vierzehn Tagen.

Wir befanden uns bereits in ungefähr 2000 m Höhe, und in der Nacht passierten wir oft Lager der Bhutia. Das sind tibetische Händler, die im Sommer in Südtibet ihre kleinen Geschäfte betreiben und im Winter nach Indien gehen. Viele von ihnen verbringen die warme Jahreszeit in kleinen, 3000 bis 4000 m hoch gelegenen Dörfern, wo sie Gerste anbauen. Diese Lager, die wir in der Nacht sahen, hatten eine sehr unangenehme Seite: Wir bekamen es in ihrer Nähe immer mit den sehr kräftigen und angriffslustigen tibetischen Hunden zu tun, einer mittelgroßen, langhaarigen Rasse, die wir hier zum erstenmal kennenlernen.

Einmal kamen wir in der Nacht in eines dieser Bhutiadörfer, die nur im Sommer bewohnt sind. Es machte einen ganz heimeligen Eindruck mit seinen niedrigen Häusern, deren Dächer mit Schindeln bedeckt und mit Steinen beschwert waren. Gleich hinter dem Dorf erwartete uns aber eine unangenehme Überraschung: Die Gegend war vermurt wie nach einer Überschwemmung, und an dem reißenden Bach, der Ursache dieser Verwüstung, suchten wir vergeblich nach einer Brücke. Es war auch ganz unmöglich, den Bach auf irgendeine andere Art zu überqueren. Schließlich gaben wir das Suchen auf und beschlossen, die Stelle aus einem Versteck zu beobachten, denn wir konnten nicht glauben, daß die Pilgerstraße hier plötzlich abbrechen sollte. Richtig setzte der Pilgerstrom bereits am frühen Morgen ein und überquerte zu unserem größten Erstaunen gerade dort den Bach, wo wir es in der Nacht viele Stunden hindurch vergeblich versucht hatten. Wie das zuging, konnten wir leider nicht ausmachen, denn ein Wald nahm uns die Sicht. Ebenso merkwürdig und unerklärlich schien es uns, daß der Pilgerstrom schon am frühen Vormittag wieder abbrach.

Am nächsten Abend versuchten wir wieder an derselben Stelle hinüberzukommen. Und wieder war es unmöglich! Endlich ging mir ein Licht auf: Es mußte sich hier um einen Bach handeln, der das Wasser der Schneeschmelze führte. Diese Bäche werden von Schnee und Eis der Gletscher gespeist und führen ihre größte Wassermenge vom Vormittag bis spät in die Nacht hinein. Am frühen Morgen haben sie ihren niedrigsten Stand.

Es war, wie ich vermutet hatte: Als wir im ersten Morgengrauen wieder vor unserem Bach standen, sahen wir die Baumstämme einer primitiven Brücke aus dem Wasser treten. Vorsichtig balancierten wir über sie hinweg und erreichten das andere Ufer. Leider tauchten aber immer wieder neue Wasserarme vor uns auf, die ebenso mühsam überquert werden mußten. Ich hatte schließlich das letzte Rinnsal glücklich hinter mir, als Marchese ausrutschte und ins Wasser fiel. Zum Glück oberhalb des Baumstammes, sonst hätte ihn die Strömung mitgerissen. Als er völlig durchnäßt und erschöpft wieder neben mir stand, war er nicht zu bewegen, weiterzugehen. Trotz meines Drängens, mit mir doch bis in den Wald zu kommen, breitete er seine Sachen aus und begann ein Feuer zu machen. Zum erstenmal bereute ich, seinen wiederholten Bitten, die Flucht allein fortzusetzen, nicht gefolgt zu sein. Immer hatte ich darauf bestanden, daß wir gemeinsam durchhalten müßten …

Da stand auch schon ein Inder vor uns, und mit einem Blick auf die europäischen Gegenstände, die auf dem Boden lagen, begann er uns auszufragen. Jetzt erst begriff Marchese, wie gefährlich unsere Lage war. Rasch packte er seine Sachen zusammen, aber wir hatten kaum ein paar Schritte getan, als ein zweiter, sehr stattlicher Inder uns entgegentrat, dem zehn handfeste Männer folgten. In perfektem Englisch verlangte er unsere Pässe. Wir taten, als ob wir ihn nicht verstünden, und gaben uns als Pilger aus Kaschmir aus. Er überlegte eine Weile und traf dann eine sehr kluge Entscheidung, die für uns leider das Ende bedeutete. Zwei Kaschmiri, sagte er, seien im nächsten Haus. Wenn wir uns mit ihnen verständigen könnten, dürften wir weitergehen. Welcher verteufelte Zufall mußte gerade jetzt zwei Kaschmiri in die Gegend fuhren? Ich hatte diese Ausrede nur benutzt, da es zu den größten Seltenheiten gehört, hier Leute aus Kaschmir anzutreffen.

Die zwei, von denen er sprach, waren als Fachleute für Überschwemmungsschäden hierher gerufen worden. Als wir ihnen gegenüberstanden, sahen wir ein, daß der Augenblick unserer Entlarvung gekommen war. Wie für diesen Fall ausgemacht war, begann ich mit Marchese Französisch zu sprechen. Sofort fiel uns der Inder in derselben Sprache ins Wort und forderte uns auf, unsere Rucksäcke zu öffnen. Als er meine englisch-tibetische Grammatik sah, meinte er, es wäre besser, uns zu erkennen zu geben. Wir gaben nun zu, Flüchtlinge zu sein, verrieten jedoch unsere Nationalität nicht und sprachen Englisch mit ihm.

Obwohl wir bald darauf in einem gemütlichen Zimmer beim Tee saßen, fühlte ich mich grenzenlos enttäuscht. Es war der achtzehnte Tag unserer Flucht, und alle Entbehrungen und Strapazen, die wir erduldet hatten, waren umsonst gewesen. Der Mann, der uns ausgefragt hatte, war der oberste Chef des Forstwesens im Staate Tehri-Gharwal. Er hatte auf den Hochschulen Englands, Frankreichs und Deutschlands Forstwissenschaft studiert und beherrschte daher alle drei Sprachen. Wegen der Überschwemmung – einer in dieser Gegend seit hundert Jahren nicht mehr erlebten Katastrophe – war er zur Inspektion hierher gekommen. Lächelnd bedauerte er seine Anwesenheit. Aber da ihm die Meldung nun einmal erstattet worden war, mußte er seine Pflicht tun.

Wenn ich heute das Zusammentreffen aller Umstände bedenke, die zu unserer Festnahme führten, muß ich sagen, daß es wirklich mehr als Pech war, dem wir machtlos gegenüberstanden. Trotzdem zweifelte ich keine Minute daran, daß ich auch diesmal wieder ausbrechen würde. Marchese war jedoch so sehr erschöpft, daß er nicht mehr mitmachen wollte. Kameradschaftlich überließ er mir den größten Teil seines Geldes, da er wußte, wie knapp ich daran war. Ich nützte den Tag tüchtig aus und aß, was nur Platz hatte, denn wir waren schon mehrere Tage vorher fast ohne Nahrung marschiert. Der Koch des Forstmeisters schleppte ununterbrochen Eßbares herbei, und ich ließ immer die Hälfte davon in meinen Rucksack verschwinden. Es war noch früh am Abend, als wir vorgaben, müde zu sein und schlafen zu wollen. Die Tür unseres Zimmers wurde hinter uns zugesperrt, und auf der Veranda vor unserem Fenster ließ der Forstmeister, um uns auch diesen Fluchtweg zu versperren, sein Bett aufstellen. Als er einen Augenblick abwesend war, markierten wir einen Streit, den wir vorher genau besprochen hatten: Marchese polterte laut im Zimmer und schrie und schimpfte abwechselnd mit hoher und tiefer Stimme, als ob wir beide wild miteinander stritten. Währenddessen schwang ich mich mit dem Rucksack durch das Fenster auf das Bett des Forstmeisters und lief an das Ende der Veranda. Es war inzwischen dunkel geworden. Ich wartete einige Sekunden, bis die patrouillierende Wache um die Hausecke verschwunden war. Dann sprang ich die vier Meter hinunter, den vierzig Kilogramm schweren Rucksack in der Hand. Der Boden war nicht sehr hart und der Aufprall nicht allzu heftig. Ich erholte mich rasch vom Fall und verschwand über die Gartenmauer im pechschwarzen Wald.

Ich war frei …

Alles blieb still. Trotz der Aufregung mußte ich lächeln, wenn ich an Marchese dachte, der verabredungsgemäß in seinem Zimmer weiterschimpfte, oder an den Forstmeister, der in seinem Bett vor dem Fenster Wache hielt …

Doch ich mußte weiter und rannte in meiner Aufregung in eine rastende Schafherde. Ehe ich zurück konnte, hatte mich auch schon ein Hund am Hosenboden gefaßt und ließ erst los, als er ein Stück davon herausgerissen hatte. In meinem Schreck lief ich den erstbesten Weg entlang, merkte aber bald, daß er viel zu steil aufwärts führte. Nein, hier konnte es nicht weitergehen! Also zurück, um die Schafherde herumgeschlichen und auf dem anderen Weg weiter. Bald nach Mitternacht aber mußte ich feststellen, daß ich mich wiederum verirrt hatte. Also nochmals in atemloser Eile ein paar Kilometer zurück. Durch diese Irrwege hatte ich vier Stunden verloren, und es begann bereits zu tagen. Als ich um eine Wegecke bog, erblickte ich in etwa zwanzig Meter Entfernung einen Bären, der aber zum Glück davontrollte, ohne von mir Notiz zu nehmen. Als es Tag geworden war, versteckte ich mich wieder, obwohl die Gegend noch keine Spur einer menschlichen Besiedlung zeigte. Ich wußte indes, daß vor der tibetischen Grenze ein Dorf kommen mußte. Dahinter erst lag endlich die Freiheit! Ich marschierte die ganze nächste Nacht und war schon auf 3000 m Höhe gekommen. Langsam begann ich mich zu wundern, daß ich das Dorf noch nicht passiert hatte. Nach meinen Aufzeichnungen mußte es am anderen Flußufer liegen, und eine Brücke sollte hinüberführen. War ich vielleicht schon daran vorbei? Aber ein Dorf war doch kaum zu übersehen – tröstete ich mich und marschierte sorglos weiter, auch als es heller wurde.

Das war mein Unglück. Denn als ich um den Schuttkegel einer Geröllhalde bog, stand ich direkt vor den Häusern des Dorfes und vor einer ganzen Schar wild gestikulierender Leute! Der Ort war auf meinen Karten falsch eingezeichnet gewesen, und durch mein zweimaliges Verlaufen in der Nacht war es meinen Verfolgern gelungen, mich zu überholen. Sofort war ich umringt, das ganze Dorf stand um mich herum. Ich wurde aufgefordert, mich freiwillig zu fügen, dann führte man mich in ein Haus und bewirtete mich.

Hier traf ich auch zum erstenmal mit tibetischen Nomaden zusammen, die mit ihren Schafherden Salz nach Indien bringen und dafür Gerste zurück nehmen. Zum erstenmal wurde mir der tibetische Buttertee mit Tsampa gereicht, die Hauptnahrung dieses Volkes, von der auch ich später jahrelang leben sollte. Diesmal aber protestierten Magen und Darm noch ziemlich energisch gegen die ungewohnte Speise.

Zwei Nächte verbrachte ich in diesem Dorf, das Nelang hieß. Obwohl ich mit neuen Fluchtgedanken spielte und auch manche Möglichkeit dazu feststellte, war ich zum erstenmal viel zu müde und entmutigt, um sie in die Tat umzusetzen.

Die Rückreise war, verglichen mit den bisher ausgestandenen Strapazen, ein Vergnügen. Ich brauchte nichts zu tragen und wurde sehr gut und regelmäßig verpflegt. Unterwegs traf ich auch wieder mit Marchese zusammen, der sich noch immer als Gast des Forstmeisters in dessen privatem Bungalow aufhielt. Auch ich wurde dazu eingeladen. Und wer beschreibt meine Überraschung, als wenige Tage später noch zwei weitere aus unserem Lager ausgebrochene Internierte eingeliefert wurden und ich in dem einen meinen alten Expeditionskameraden Peter Aufschnaiter wiederfand. Der andere war ein Pater Calenberg.

Inzwischen hatte ich erneut begonnen, mich ernsthaft mit dem Gedanken einer Flucht zu beschäftigen. Ich schloß Freundschaft mit einem Inder unserer Bewachungsmannschaft, der für uns kochte und mir vertrauenerweckend schien. Ihm übergab ich meine Landkarten, den Kompaß und mein Geld, da ich wußte, daß die uns bevorstehende Leibesvisitation es mir unmöglich machen würde, diese Dinge wieder in das Camp einzuschmuggeln. Ich besprach also mit dem Inder, daß ich im nächsten Frühjahr wiederkommen und alles abholen würde. Er sollte sich im Mai Urlaub nehmen und auf mich warten. Das alles versprach er mir hoch und heilig. Nun ging es also zurück ins Camp – ein bitterer Weg, den ich nur im Gedanken an einen neuerlichen und baldigen Fluchtversuch ertrug.

Marchese war noch immer krank und konnte daher die Reise nur zu Pferd zurücklegen. Noch einmal gab es eine angenehme Unterbrechung: Wir wurden vom Maharadscha von Tehri-Gharwal freundlichst zu Gast geladen und glänzend bewirtet. Dann ging es wieder dem Stacheldraht entgegen.

Eine sichtbare Spur hatte diese Fluchtepisode aber doch an mir hinterlassen: Als wir auf unserer Weiterreise einmal an einer heißen Quelle vorbeikamen und darin ein Bad nahmen, hielt ich plötzlich meine Kopfhaare büschelweise zwischen den Fingern. Die Farbe, die ich benutzt hatte, um mich in einen Inder zu verwandeln, war offenbar schädlich gewesen.

Nach dieser unfreiwilligen Enthaarungskur und allen Strapazen, die ich ausgestanden hatte, fiel es manchem von meinen Kameraden schwer, mich wiederzuerkennen, als wir endlich im Lager eintrafen.

Eine gewagte Maskerade

»You made a daring escape. I am sorry, I have to give you twentyeight days!« sagte der englische Oberst, der uns im Lager in Empfang nahm.

Achtunddreißig Tage hatte ich die Freiheit genossen, nun mußte ich in einer Einzelzelle achtundzwanzig Tage lang die für Fluchtversuche vorgesehene Strafe abbüßen. Doch da man auf englischer Seite dem »kühnen Fluchtversuch« eine gewisse ritterliche Anerkennung nicht versagte, wurde die Strafzeit nicht so streng gehandhabt, wie es sonst üblich war.

Als ich meine Einzelhaft verbüßt hatte, hörte ich, daß Marchese die gleiche Strafe in einem anderen Teil des Lagers hatte absitzen müssen. Er versprach, mir bei meinem nächsten Fluchtversuch behilflich zu sein; er selbst aber wollte nichts mehr davon wissen. Ohne auch nur einen Tag zu verlieren, begann ich sofort wieder neue Karten zu zeichnen und meine auf der Flucht gemachten Erfahrungen zu verwerten. Vom Gelingen meines neuen Fluchtversuches war ich fest überzeugt. Diesmal wollte ich allein gehen.

Mit meinen Vorbereitungen beschäftigt, verging der Winter rasch, und die neue »Fluchtsaison« fand mich wohlgerüstet. Ich wollte diesmal früher starten, um das Dorf Nelang noch zu passieren, solange es unbewohnt war. Auf die Rückgabe meiner dem Inder anvertrauten Sachen hatte ich mich nicht verlassen, sondern die wichtigsten Gegenstände neu beschafft. Ein rührender Beweis von Kameradschaft im Lager waren die Geldspenden, mit denen man mir zu Hilfe kam, obwohl jeder seine kleine Barschaft selbst gut gebrauchen konnte.

Ich war nicht der einzige, der ausreißen wollte. Meine zwei besten Freunde, Rolf Magener und Heins von Have, bereiteten ebenfalls ihre Flucht vor. Beide sprachen fließend Englisch und wollten den Weg durch Indien zur Burma-Front nehmen. Have hatte schon zwei Jahre vorher bei einem Fluchtversuch mit einem Kameraden Burma fast erreicht, doch waren sie kurz vor der Grenze erwischt worden. Bei einem zweiten Versuch verunglückte sein Freund tödlich. Auch andere Lagerinsassen – drei oder vier, so hieß es – hatten Fluchtabsichten. Zu siebt fanden wir uns schließlich zusammen und beschlossen, den Ausbruch aus dem Lager gemeinsam zu unternehmen, denn bei mehreren Einzelversuchen wäre der Alarmzustand verschärft und die Flucht für die Nachfolgenden sehr erschwert worden. War der Ausbruch geglückt, dann konnte jeder seinen eigenen Plänen folgen. Peter Aufschnaiter, der diesmal den Salzburger Bruno Treipel zum Partner hatte, und die Berliner Hans Kopp und Sattler wollten wie ich nach Tibet fliehen.

Am 29. April 1944 nach dem Mittagessen sollte es losgehen. Unser Plan war, als Stacheldraht-Reparaturgruppe verkleidet, die Freiheit zu gewinnen. Solche Arbeitsgruppen waren ein gewohnter Anblick. Denn die weißen Ameisen nagten ständig an den zahllosen Pfosten, die unser Lager umgaben, und die Umzäunung mußte daher immer wieder ausgebessert werden. Ein solcher Arbeitstrupp bestand aus einigen Indern und einem Engländer, der die Aufsicht hatte.

Zum besprochenen Zeitpunkt trafen wir uns in einer kleinen Hütte in der Nähe eines – wie wir genau erkundet hatten – meist unbewachten Stacheldrahtkorridors, und Schminkexperten aus dem Lager verwandelten uns im Nu in dunkelhäutige Inder.

Have und Magener erhielten englische Offiziersuniformen, die heimlich im Lager angefertigt worden waren. Uns »Indern« wurden die Köpfe geschoren und Turbane aufgesetzt. Trotz des Ernstes der Situation mußten wir lachen, als wir uns gegenseitig betrachteten. Denn wir sahen wie Maskierte aus, die zu einem Faschingsball gehen. Zwei von uns trugen eine Leiter, die schon in der vorhergehenden Nacht in den unbewachten Stacheldrahtkorridor geschafft worden war. Außerdem hatten wir ein langes Stück Stacheldraht »organisiert« und auf einen Pfosten aufgerollt. Unsere Habseligkeiten verstauten wir in unseren weiten Gewändern und in Bündeln. Das fiel nicht weiter auf, denn die Inder schleppten immer etwas mit sich herum.

Täuschend echt wirkten unsere beiden »englischen Offiziere«. Sie hielten Rollen mit Bauplänen unter den Arm geklemmt und spielten arrogant mit ihren Offiziersstäbchen. In die Umzäunung hatten wir schon vorher ein Loch gemacht, durch das wir jetzt der Reihe nach in den unbewachten Gang schlüpften, der die verschiedenen Flügel voneinander trennte. Von hier aus waren es noch ungefähr dreihundert Meter bis zum Haupttor. Wir fielen in keiner Weise auf. Nur einmal verhielten wir den Schritt, und die »Offiziere« inspizierten eifrig den Stacheldraht, als am Haupttor der englische Hauptfeldwebel auf seinem Fahrrad vorbeifuhr. Doch dann passierten wir, ohne mit der Wimper zu zucken, die Wachen, die vor den Offizieren stramm salutierten und uns Kulis keines Blickes würdigten. Unser siebenter Mann, Sattler, der etwas verspätet seine Baracke verlassen hatte, kam, höchst drastisch einen Teertopf schwingend und schwarzbeschmiert, nachgelaufen. Erst außerhalb des Tores holte er uns ein.

Kaum waren wir außer Sicht der Wachen, so schlugen wir uns in die Büsche und entledigten uns rasch der Verkleidung. Darunter trugen wir das übliche Khaki, das auch bei Ausflügen unsere Kleidung war. Ohne viele Worte verabschiedeten wir uns voneinander. Have, Magener und ich rannten noch einige Meilen weit zusammen, dann trennten sich auch unsere Wege. Ich wollte dieselbe Route nehmen wie bei meiner letzten Flucht. Rasch machte ich mich auf die Beine, um bis zum nächsten Morgen einen möglichst großen Abstand zwischen mich und das Lager zu legen. Denn diesmal wollte ich meinen Vorsatz, nur in der Nacht zu marschieren und beim ersten Morgengrauen ein Versteck aufzusuchen, einhalten. Nein, bei dieser Flucht wollte ich nichts riskieren! Die vier Kameraden, die sich gleichfalls Tibet zum Ziel gesetzt hatten, blieben zusammen und benutzten ganz frech den Hauptweg, der über Mussoorie in das Gangestal führte. Ich wagte dies nicht und zog meinen früheren Weg durch das Dschamna- und Aglartal vor. Nicht weniger als vierzigmal mußte ich in der ersten Nacht den Aglar durchwaten; trotzdem lagerte ich, als es Morgen wurde, genau an derselben Stelle, die wir im Voijahr erst nach vier Tagen erreicht hatten. So rasch war ich allein vorangekommen. Glücklich, frei zu sein, fühlte ich mich zufrieden mit meiner Leistung, wenn ich auch mit Schrammen und Wunden bedeckt war und bereits in dieser einen Nacht infolge der schweren Last, mit der ich bepackt war, ein Paar neue Tennisschuhe durchgelaufen hatte.

Mein erstes Lager wählte ich zwischen den Geröllblöcken des Flußbettes. Kaum hatte ich jedoch meine Sachen ausgepackt, als über mir eine Herde Affen auftauchte. Sie entdeckten mich und begannen unter schrillem Gekreisch Erdklumpen auf mich zu werfen. Durch ihren Lärm abgelenkt, bemerkte ich nicht, daß plötzlich dreißig Inder das Flußbett heraufgerannt kamen, und sah sie erst, als sie sich meinem Versteck schon ganz bedenklich näherten. Ich weiß bis heute nicht, ob es nur Fischer waren, die zufällig vorbeikamen, oder ob sie es tatsächlich auf uns Flüchtlinge abgesehen hatten. Jedenfalls konnte ich es kaum glauben, daß sie mich nicht entdeckt hatten, als sie in einer Entfernung von wenigen Metern an mir vorbeiliefen. Ich atmete auf … Durch diesen Vorfall gewarnt, blieb ich aber bis zum Abend in meinem Lager und machte mich erst nach Einbruch der Dunkelheit wieder auf den Weg. Die ganze Nacht hindurch benutzte ich den Aglar als Wegweiser und kam gut vorwärts. Das nächste Lager verlief ohne Aufregungen. Ich konnte mich gut ausruhen und erholen. Am Abend brach ich vor Ungeduld etwas zu früh auf, und kaum hatte ich einige hundert Meter zurückgelegt, als ich eine Inderin beim Wasserholen aufschreckte. Mit einem entsetzten Schrei ließ sie ihren Tontopf fallen und rannte zu den nahen Häusern. Ich selbst war nicht weniger erschrocken und lief von der Hauptroute weg in ein Seitental. Es ging steil aufwärts, und obwohl ich wußte, daß ich auch hier zu meinem Ziel kommen mußte, war es doch ein beschwerlicher Umweg von vielen Stunden. Ich mußte den mehr als 3000 m hohen Nag Tibba übersteigen, der in seinem oberen Teil völlig unbesiedelt und von dichten Wäldern bedeckt ist.

Als ich im Morgengrauen schon ziemlich müde dahintrottete, sah ich mich plötzlich dem ersten Panther meines Lebens gegenüber. Mir blieb fast das Herz stehen, denn ich war völlig wehrlos. Meine einzige Waffe war ein langes Messer, das der Lagerschmied eigens für mich gemacht hatte und das ich an einem Stock befestigt trug. Der Panther saß sprungbereit auf dem dicken Ast eines Baumes, etwa fünf Meter über dem Erdboden. Blitzschnell überlegte ich, was ich tun sollte, dann bezwang ich meine Furcht und setzte ruhig meinen Weg fort. Nichts geschah. Aber noch lange Zeit hatte ich ein ungemütliches Gefühl in meinem Rücken.

Bisher war ich dem Grat des Nag Tibba gefolgt, nun stieß ich endlich wieder auf den Hauptweg. Ich hatte kaum ein paar Kilometer hinter mich gebracht, da gab es wieder eine Überraschung: Mitten auf dem Pfad lagen ein paar Männer und schnarchten – es waren Peter Aufschnaiter und die drei anderen Kameraden aus dem Lager! Ich rüttelte sie wach, und wir bezogen gemeinsam ein Versteck, wo wir unsere bisherigen Erlebnisse austauschten und die landschaftlich herrliche Lage unseres Rastplatzes genossen. Wir waren alle in ausgezeichneter Verfassung und glaubten fest daran, nach Tibet durchzukommen. Nach diesem Tag in Gesellschaft meiner Freunde fiel es mir recht schwer, allein weiteizuwandern. Doch blieb ich meinem Vorsatz treu. Nach der Trennung von den Kameraden erreichte ich noch in derselben Nacht den Ganges. Es war der fünfte Tag, seit ich aus dem Lager ausgebrochen war.

Vor der Tempelstadt Uttar Kaschi, von der ich schon gelegentlich während meines ersten Fluchtversuches gesprochen hatte, mußte ich wieder einmal um meine Freiheit rennen. Ich hatte eben ein Haus passiert, als zwei Männer herauskamen und mir nachliefen. Hals über Kopf eilte ich durch Felder und Büsche zum Ganges hinunter und versteckte mich dort zwischen Geröllblöcken. Alles blieb still – ich war meinen Verfolgern glücklich entkommen. Aber erst nach geraumer Zeit wagte ich mich wieder in das helle Mondlicht hinaus. Nun war es ein Vergnügen, den mir schon bekannten Weg dahinzuwandern, und die Freude über das schnelle Vorwärtskommen ließ mich meinen schweren Rucksack vergessen. Wohl waren meine Füße wundgelaufen, aber während der Rasten erholte ich mich immer wieder. Oft schlief ich zehn Stunden, ohne nur ein einziges Mal aufzuwachen.

So gelangte ich ohne Zwischenfall bis zum Bauernhof meines indischen Freundes, der vor einem Jahr mein Geld und meine Sachen in Verwahrung genommen hatte. Es war bereits Mai, und wir hatten ausgemacht, daß er diesen Monat jede Mitternacht auf mich warten sollte. Absichtlich ging ich nicht gleich hinein und versteckte zuerst meinen Rucksack, denn ein Verrat lag ja immerhin im Bereich der Möglichkeit.