Siegwart - Elisabeth Werner - E-Book

Siegwart E-Book

Elisabeth Werner

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Beschreibung

Siegwart ist ein spannender Roman von Elisabeth Werner. Auszug: Von der sonnigen Höhe kamen zwei Bergwanderer, den Rucksack über der Schulter, den Bergstock in der Hand, und die Ausrüstung des Führers, der mit Seil und Pickel folgte, zeigte, daß sie von einer Hochtour kamen. Jetzt schritten sie über eine grüne Alpenwiese, wo der Weg sich bequem abwärts senkte, und machten halt.

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Siegwart

Teil 1Teil 2Teil 3AnmerkungenImpressum

Teil 1

Von der sonnigen Höhe kamen zwei Bergwanderer, den Rucksack über der Schulter, den Bergstock in der Hand, und die Ausrüstung des Führers, der mit Seil und Pickel folgte, zeigte, daß sie von einer Hochtour kamen. Jetzt schritten sie über eine grüne Alpenwiese, wo der Weg sich bequem abwärts senkte, und machten halt.

»Dort geht es nach der Grasecker Alm hinunter,« sagte der Ältere. »Du willst ja doch nicht mit zum Wildsee.«

»Ein Umweg von mehr als zwei Stunden – nein, ich danke,« versetzte der andere. »Ich habe heut genug geleistet. Seit vier Uhr morgens da oben in den Gletschern und Eisklüften! Ich kann doch sonst etwas aushalten, und im Dienst werden wir auch nicht geschont, aber mit deiner Riesennatur halte ich nicht Schritt, Hermann, die ist unverwüstlich.«

»Ich bin nur ausdauernder als du,« entgegnete Hermann. »Also du nimmst den direkten Weg über die Grasecker Alm? Ich steige durch das Enstal ab. Es soll sehr schön sein.«

»Aber erst ruhen wir einmal aus!« Der junge Mann warf sich der Länge nach ins Gras. »Wir kommen noch immer früh genug hinunter in unser ›Palasthotel‹. Das war wieder ein Einfall von dir, sich in dem abgelegenen Dorfe festzusetzen! Herr Baumeister Siegwart ist so sehr für die Wildnis, sagte mir gestern abend der kleine Tourist, der anfangs mit uns hinaus wollte und dann absagte, weil er Angst bekam vor der Partie. Der Mann hat ganz recht. Wir sind da unten kaum eine Stunde von Interlaken entfernt und da ist die Saison schon im vollen Gange.«

Siegwart zuckte die Achseln und lagerte sich neben seinen Gefährten, während der Führer sich gleichfalls niederließ.

»Jawohl Interlaken, die große Frühjahrs- und Sommer-Promenade der Gesellschaft! Die vermissest du wohl schmerzlich? Meinetwegen geh doch hinüber, Adalbert, und flirte mit den Engländerinnen und Amerikanerinnen. Ich bleibe hier. Ich bin der Berge wegen da und die will ich genießen.«

»Und ich bin überhaupt nur deinetwegen hergekommen!« rief Adalbert ärgerlich. »Ein volles Jahr lang haben wir uns nicht gesehen, während du überall in Italien herumstudiertest, und gerade jetzt, wo du zurückkommst, werde ich nach Metz versetzt. Hätte ich nicht den gescheiten Einfall gehabt, noch vierzehn Tage Urlaub zu nehmen und dich hier in der Schweiz zu erwischen, wir hätten uns überhaupt nicht gesehen. Zum Dank dafür schleppst du mich auf allen möglichen Gipfeln und Gletschern herum und mutest mir ein Quartier und eine Verpflegung zu, die einfach schändlich sind. Ich finde, daß ich hier schlecht behandelt werde.«

»Und das ist Leutnant Guntram allerdings nicht gewohnt,« spottete der Baumeister. »Du wirst ja von aller Welt verzogen und verwöhnt. Ich war der einzige, der sich herausnehmen durfte, dir bisweilen den Text zu lesen.«

»Das hast du auch redlich getan und merkwürdig – von dir habe ich es mir immer gefallen lassen. Ich fürchte, deine Moralpredigten werden mir fehlen und ich stehe nicht für allerhand Dummheiten, wenn ich meinen gestrengen Mentor nicht mehr zur Seite habe.«

Adalbert Guntram, der bequem ausgestreckt im Grase lag, mochte ungefähr vierundzwanzig Jahre alt sein. Es war ein hübscher schlanker Junge, mit dunklen Haaren und Augen und einem Gesicht, aus dem der ganze sorglose Übermut der Jugend strahlte. Sein Touristenanzug, obgleich etwas mitgenommen von den Hochtouren, verleugnete doch nicht die Herkunft aus einem ersten Modegeschäft und trotz des Zivils und der zwanglosen Haltung verriet sich in seinem Äußeren der Offizier.

Sein Gefährte dagegen sah nichts weniger als elegant aus. Sein Reiseanzug hatte ersichtlich schon oft Wind und Wetter ausgehalten. Aus der ganzen Erscheinung sprach überhaupt eine volle Gleichgültigkeit gegen Äußerlichkeiten und doch war sie keine von den gewöhnlichen.

Siegwarts hohe, kraftvolle Gestalt, die selbst jetzt, in der halbliegenden Stellung zur Geltung kam, hatte ein echt germanisches Gepräge. Das von Sonne und Lust gebräunte Gesicht, mit den dichten blonden Haaren und den blauen Augen zeigte feste energische Linien. Es lag ein Zug trotziger, selbstbewußter Kraft darin, aber er ließ den Siebenundzwanzigjährigen älter erscheinen als er in der Tat war.

»Ja, Dummheiten wirst du genug machen, wenn ich nicht mehr als getreuer Eckart neben dir stehe,« sagte er trocken. »Was übrigens meine spartanischen Neigungen betrifft, so weißt du ja, daß sie für mich eine Notwendigkeit sind. Mein Studienpreis war nur für das Jahr in Italien berechnet. Ich habe es aber fertig gebracht, aus der Rücktour noch ein paar Wochen für die Schweiz zu erübrigen. Dabei kann man freilich nicht in einem Luxushotel in Interlaken wohnen. Du kannst dir das leisten.«

»Und nötigenfalls für uns beide,« fiel Adalbert ein. »Herrgott, da steigt schon wieder eine Donnerwolke auf deiner Stirn auf! Als wäre es eine Beleidigung, wenn ich dir zumute, auch einmal mein Gast zu sein. Ich bin doch oft genug der deinige gewesen in Berlin. Salons waren es gerade nicht, wo du haustest, die richtige Künstlerbude, aber wie lustig sind wir da gewesen! Doch sobald ich mich einmal revanchieren wollte, wurdest du grob. Das ist überhaupt deine stärkste Seite und dabei laufe ich dir noch treulich nach wie ein gehorsamer Pudel. Du machst dir freilich nicht viel daraus.«

»Doch Adalbert!« Es lag ein warmer Klang in der Stimme. »Ich freue mich sehr, daß du gekommen bist. Das war ein schöner Abschluß dieser sonnigen, glücklichen Reise. Jetzt geht es wieder hinein in die Arbeit!«

»Und nun wirst du dich Hals über Kopf hineinstürzen. Ich glaube, du freust dich gar darauf. Du bist gerade ein solcher Arbeitsfanatiker wie mein Papa. Der ist auch immer nur mit Not und Mühe fortzubringen von seinem Arbeitstisch.«

»Mit dem Unterschied, daß ich es nötig habe und er nicht.«

»Dahin wirst du auch einmal kommen. Bist ja sein bester Schüler. Die erste Kraft in seinem Baubureau.«

»Wenn er mir nur mehr Selbständigkeit ließe! Es wird schließlich Zeit, daß ich mich auf eigene Füße stelle, und davon will der Baurat nie etwas hören.«

»Das nimmst du ihm doch nicht etwa übel?« rief lachend der junge Guntram. »Er kann dich eben nicht entbehren und möchte dich festhalten um jeden Preis.«

»Ich halte es aber nicht länger aus, nur Handlanger zu sein für fremde Arbeit,« brach Siegwart aus. »Ich muß endlich einmal die eigenen Flügel regen, endlich selbst etwas schaffen. Da in meinen Mappen ist ein Entwurf – ich habe ihn erst kurz vor der Abreise vollendet –, der ist etwas wert, der würde mir vielleicht die Bahn öffnen, wenn er ins Leben tritt, aber da liegt's eben! Ein Maler schickt sein Bild auf die Ausstellung und läßt es zu der Welt sprechen: Das bin ich, das kann ich! Gebt mir Raum zum Schaffen! Ein Architekt braucht Aufträge, und wer vertraut einem jungen, unbekannten Menschen einen kostspieligen Bau an? Da fordert man Namen und Ruf oder wenigstens gewichtige Empfehlungen. Dein Vater könnte sie mir geben – wenn er wollte.«

»Nun dann wird er es tun, verlaß dich darauf. Übrigens steckt er jetzt auch tief in der Arbeit. Er baut die neue Villa im Tiergarten für den Kommerzienrat von Berndt und leitet den Bau persönlich. Sie sind ja alte Freunde.«

»Ich weiß, es war längst die Rede davon, aber den Plan selbst kenne ich noch nicht. Du schriebst mir, daß Berndt sich angekauft hat in meiner Heimat, ganz nahe bei Ravensberg? Wie kommt er denn darauf? Das ist doch sehr fern von Berlin.«

Adalbert zuckte die Achseln.

»Es war in erster Linie wohl Geschäftssache. Grafenau verkrachte und er wollte sich seine Hypotheken darauf sichern. Er hat das Gut spottbillig bekommen im Zwangsverkauf, und will es auch nur als Sommersitz für einige Monate benützen. Als Chef des großen Bankhauses muß er ja den größten Teil des Jahres in Berlin sein.«

»Ich kenne Grafenau, es ist das Nachbargut,« sagte Hermann. »Du warst ja wohl im vorigen Jahre dort?«

»Ja, Berndt hatte uns eingeladen. Mein Vater sollte sich das Schloß einmal ansehen für einen späteren Umbau. Es ist ein langweiliger alter Kasten, aber Papa meint, es ließe sich etwas daraus machen. Vorläufig ist noch keine Rede davon, denn die neue Villa kostet ein Heidengeld – sie wird aber auch danach! Ich habe ein paar prächtige Wochen in Grafenau verlebt. Ausgezeichnete Jagd und dabei entdeckte ich noch ein verwunschenes Schloß mit einer Märchenprinzessin.«

Siegwart verzog spöttisch die Lippen.

»Natürlich! Ein Liebesabenteuer muß dabei sein, sonst macht dir die Sache keinen Spaß.«

»Nun, diesmal war das Abenteuer harmlos genug, denn die betreffende Dame zählte gerade vierzehn Jahre. Baron Helfenstein ist nämlich gründlich verkracht mit seinem Grafenau. Nichts hat er übrig behalten. Hätte er nicht die Hauptmannspension von seiner Dienstzeit her, er müßte hungern mit dem Kinde – seiner kleinen Enkelin. Das reicht freilich gerade nur zum Sattessen und dabei wohnt er in Uhlenhorst.«

»In dem alten Jagdschlößchen? Das muß aber jetzt doch ganz verfallen sein.«

»Es ist wenigstens ein Dach über dem Kopfe und der Kommerzienrat hat es zugestanden. Ihm tat der alte Mann leid, der nun von Haus und Hof fort mußte und nur noch ein Fleckchen Erde braucht, wo er ruhig sterben kann. Er hat ihm Uhlenhorst auf Lebenszeit zugesichert. Ich wollte es mir einmal von außen ansehen und da lernte ich durch Zufall den alten Baron kennen und Klein-Rottraud.«

»Klein-Rottraud? Wer ist das?«

»Die besagte Prinzessin. Der Großvater nennt sie so. Ich habe auch niemals ein so leuchtendes, rotgoldenes Haar gesehen wie bei seiner Traudl. Ein frisches, reizendes Ding, dem ich ein höchst willkommener Spielkamerad war. Ich war fast täglich drüben und dann jagten wir uns herum, zankten uns und versöhnten uns wieder, wie die Kinder. Du siehst, Gefahr hatte die Sache durchaus nicht.«

»Ich bin lange nicht in meiner Heimat gewesen,« sagte Hermann, indem er sich erhob. »Aber jetzt muß ich aufbrechen. Du nimmst den Führer mit hinunter, ich gehe lieber allein und der Weg ist hinreichend markiert. Aus Wiedersehen!«

Er wandte sich seitwärts, wo an einem vereinzelten Felsblock die rote Markierung sichtbar war und hatte die Zurückbleibenden bald aus den Augen verloren. Der Wegführte vorläufig auf der Höhe hin. Von droben grüßten die Schneegipfel, die sie heute morgen erstiegen hatten, tiefer unten die felsigen Abstürze, Gestein und Geröll, nur hier und da von schmalen Grasbändern durchzogen. Auf einem derselben regte sich etwas, Siegwart blieb stehen und blickte hinüber. Sein scharfes Auge erkannte ein paar Gemsen, die aus ihrer sicheren Höhe furchtlos auf den einsamen Wanderer niederäugten, dessen Brust ein leiser Seufzer hob. Die Jagdlust regte sich in dem Förstersohne, der ja im grünen Walde aufgewachsen war.

Wer hier jagen könnte! Die Büchse im Arm und dann über Fels und Kluft dem flüchtigen Wilde nach – das müßte eine Wonne sein!

Er mußte sich förmlich losreißen von dem Anblick und schritt rasch weiter. Der Weg war in der Tat genügend markiert und nicht zu verfehlen. Jetzt endete er am Rande eines Felsenkessels, aus dessen Tiefe ein kleiner Alpensee, wie ein leuchtendes Juwel heraufschimmerte. Hier führte nur ein schmaler Jägersteig am Absturze der Wand steil hinunter. Es gehörte ein fester Tritt und ein schwindelfreies Auge dazu, um hier abzusteigen, aber Hermann besaß beides. Den Bergstock einsetzend, schritt er langsam, aber mit voller Sicherheit über Geröll und Spalten und stand endlich unten auf einer kleinen Matte, die den See begrenzte.

Er bemerkte erst jetzt, daß er nicht allein war. Kaum zwanzig Schritte entfernt, unter einer hohen, vom Winde zerzausten Wettertanne saß eine Dame, das Skizzenbuch auf den Knieen und zeichnete. Sie mußte den Niedersteigenden gesehen haben, nahm aber keine Notiz von seiner Ankunft. Er zog flüchtig den Hut, sie streifte ihn mit einem ebenso flüchtigen Blick und fragte dann in deutscher Sprache, aber mit unverkennbar englischer Betonung: »Kennen Sie den Weg in das Enstal? Ist er beschwerlich?« Um Siegwarts Lippen zuckte ein spöttischer Ausdruck. Er wurde offenbar für einen Führer oder dergleichen gehalten, das verriet ihm der Ton der Frage. Der Irrtum belustigte ihn, aber er befleißigte sich nun auch keiner besonderen Höflichkeit bei der Antwort: »Der Weg ist steil und beschwerlich. Jedenfalls nicht allein zu machen, Sie werden einen Führer –«

»Später!« unterbrach sie ihn mit einer vornehm abweisenden Handbewegung, als sei ihr eine weitere Auseinandersetzung lästig und wandte sich wieder ihren Skizzen zu.

Das ging dem Baumeister denn doch zu weit. Sie war augenscheinlich der Meinung, er habe sich als Führer anbieten wollen und ließ ihn nun stehen und warten, wie einen Lakaien, bis seine Dienste befohlen wurden. Er beschloß, dieser hochmütigen Engländerin eine Lehre zu geben. Sie hatte sich ja nicht einmal die Mühe genommen, seinen Gruß zu erwidern. Er trat dicht hinter sie, sah ihr über die Schulter und sagte dann in englischer Sprache: »Der Standpunkt ist schlecht gewählt, die Tannenzweige verdecken Ihnen ja die ganze Höhe.«

Das hatte Erfolg. Die Fremde wandte sich überrascht um. »Sie sprechen Englisch?«

»Einigermaßen.« Er sprach es ebenso geläufig wie sie das Deutsche. »Sie wollen die Felswände skizzieren, die den See so malerisch abschließen, ich sehe es, aber das wird nichts. Dort drüben, wo ich herunterkam, da ist der rechte Platz. Da haben Sie den ganzen Hintergrund frei.«

Die Dame schien jetzt ihren Irrtum über den vermeintlichen Führer einzusehen, aber sie hielt es offenbar für eine Anmaßung, daß ein Fremder sich unterstand, ihr Ratschläge zu geben. Ihre Lippen kräuselten sich hochmütig, während sie mit unverhehltem Spott sagte: »Wollen Sie das nicht besser selbst versuchen?«

»Wenn Sie es wünschen – darf ich um das Skizzenbuch bitten?« Er nahm ihr ruhig Buch und Stift aus der Hand, schritt nach dem vorhin bezeichneten Platze, schlug das Blatt um und begann auf dem nächsten eine neue Skizze.

Die Fremde sah etwas betroffen aus, als sie so augenblicklich beim Wort genommen wurde, erhob aber keine Einwendung. Sie wußte offenbar nicht, was sie aus diesem Manne machen sollte. Er sprach Englisch, gehörte also zu den Gebildeten, das verriet auch seine ganze Ausdrucksweise, aber sein Anzug ließ eher das Gegenteil vermuten. Die derben Bergschuhe, die abgetragene Joppe, der zerdrückte Filzhut, das alles war »shocking« in den Augen einer vornehmen Engländerin. Aber sie sah auch das energische Profil, die hohe Stirn und die Augen, deren Blick etwas Adlerartiges hatte, als sie sich so fest auf die Felsen dort hefteten. Hermann Siegwart war nicht schön, wenigstens nicht nach landläufigen Begriffen, aber seine Erscheinung war mehr als das – charaktervoll.

Er merkte sehr gut die Beobachtung, deren Gegenstand er war, kümmerte sich aber nicht darum, sondern warf mit raschen, festen Strichen die Zeichnung hin. So vergingen etwa zehn Minuten im völligen Schweigen, dann kam er zurück und übergab das Buch seiner Eigentümerin.

Es war nur eine flüchtige Skizze, aber der See, die Felsen, die ihn einschlossen, die Tannen, die seitwärts an den Wänden emporstrebten, waren so künstlerisch aufgefaßt, daß sie eine geübte Hand verrieten. Die Fremde sah das auf den ersten Blick.

»Sie sind Maler?« fragte sie rasch.

»Nein, aber ich habe wenigstens Zeichnen gelernt.«

Die Dame biß sich auf die Lippen. Sie fühlte den versteckten Spott über ihre eigene, sehr dilettantenhafte Zeichnung, äußerte aber keine Silbe darüber, sondern schloß das Buch und sagte im kühlen Gesprächston: »Ich habe mein Pferd mit dem Führer auf der Grasecker Alm zurückgelassen. Die Gegenwart solcher Leute ist unglaublich störend für mich.«

Siegwart lächelte etwas boshaft, sie hatte ihn ja auch anfangs zu »solchen Leuten« gerechnet.

»Ja, es ist immer störend, wenn man allein zu sein wünscht und dann Gesellschaft findet,« entgegnete er. »Aber man hat doch nicht das Alleinrecht auf solche Punkte und muß sich damit abfinden.«

Er sah sich jetzt zum erstenmal die Fremde genauer an, mit der der Zufall ihn hier zusammengeführt hatte. Es war ein Mädchen von etwa zwanzig Jahren, eine schlanke, vornehme Erscheinung, mit einem regelmäßigen, etwas bleichen Gesicht, dessen dunkle Augen in einem eigentümlichen Gegensatz standen zu dem aschblonden Haar. Sie wären schön gewesen, wenn sie nur etwas mehr Wärme und Leben gehabt hätten, aber das kalte überlegene Selbstbewußtsein, das sich in der ganzen Haltung aussprach, lag auch in dem Blick. Die junge Dame war es offenbar gewohnt, die Welt nur von oben herab anzusehen.

Sie trug einen grauen Reiseanzug und einen Filzhut mit blauem Schleier, aber das Jäckchen, das sie ausgezogen und neben sich gelegt hatte, zeigte ein Futter von schwerem, weißen Atlas, die Handschuhe daneben waren vom feinsten schwedischen Leder und an der Rechten blitzte ein kostbarer Brillantring.

Siegwart sah das alles, ohne daß es besonderen Eindruck auf ihn machte, er war in dieser Hinsicht wenig empfänglich. Er legte Rucksack und Bergstock ab und ließ sich auf eins der bemoosten Felsstücke nieder, ohne den halbentrüsteten Blick zu bemerken, der ihn dabei traf. Der jungen Dame mochte es neu sein, daß sich jemand mit ihrer Gesellschaft »abfand«. Der Mann dachte gar nicht daran, das Gespräch fortzusetzen, sondern hatte nur Augen für die Berglandschaft und schwieg sich völlig aus.

Der Wildsee lag ziemlich hoch, aber noch nicht in der eigentlichen Gletscherregion. Man konnte über die Grasecker Alm bequem heraufreiten. Übrigens lag er abseits von den gewöhnlichen Touristenwegen und war in den Reisebüchern nur als Nebenpartie genannt. Deshalb wurde er nicht oft besucht, zumal jetzt, wo die eigentliche Reisezeit noch nicht begonnen hatte.

Es war im Anfange des Juni, für das Hochgebirge noch Frühling. Aber hier kam er nicht mit tausendfachem Blühen und Duften, mit dem jubelnden Lied all der erwachenden Vogelstimmen. Hier oben wirkte schon die Nähe der eisigen Hochgipfel. Ernst und schroff standen die Felshäupter, die den See wie eine Mauer umschlossen, dunkel und düster die Tannen. Kein Vogel flatterte in den Zweigen, kein Fisch regte sich in der Flut. Das Rauschen eines Gletscherbaches, der sich funkelnd und schäumend von den Zacken dort herabstürzte und in den Klüften verschwand, war der einzige Laut in dieser mächtigen, schweigenden Einsamkeit.

Und doch wehte auch hier der Atem des Lenzes. Hoch oben am Himmel schifften weiße Frühlingswolken, die Tannen trugen zarte, grüne Spitzen und aus der kleinen Matte schimmerte überall das tiefe Blau der Genzianen. Der See lag da, tiefgrün an den Ufern, aber in der Mitte, wo die Sonnenstrahlen ihn trafen, wurde er zum leuchtenden Smaragd. Da glänzte er geheimnisvoll, als berge sich in seiner Tiefe irgend ein leuchtendes Wunder, das heraussteigen möchte ans Tageslicht – das Auferstehungswunder, das der Frühling in jedem Menschenherzen vollbringt, mit seinen Verheißungen, seinem Sehnen und Hoffen: Nun muß sich alles, alles wenden!

Ein fernes, dumpfes Donnern schreckte die beiden am Wildsee aus aus ihrem Schweigen. Die junge Dame blickte befremdet zu der Höhe empor, aus der es kam, und Siegwart sagte halblaut: »Da geht eine Lawine nieder! Hier unten sieht man nichts davon, aber oben bei den Gletschern, da habe ich es heute morgen gesehen, wie der Schnee sich löste, wie er sich zusammenballte und dann stäubend und sausend in die Klüfte niederfuhr – es war ein prachtvoller Anblick!«

»Sie haben heute eine Gletschertour unternommen?« fragte die Fremde, die sich jetzt doch zu einer Unterhaltung herbeiließ.

»Ja, heute morgen. Es fing eben erst an zu dämmern als wir ausbrachen, und dann kam allmählich der Tag. Unter uns wogte ein weißes, brandendes Nebelmeer und über und um uns glühte es auf, als sei die ganze Bergeswelt ein flammendes Zauberreich, bis die Sonne aufging und den Purpurschein in leuchtendes Gold wandelte. Das sind Stunden – da versinkt das ganze Alltagsdasein mit all seinen Fesseln, da spürt man etwas Gottähnliches in sich, da geht alles andere unter in einer einzigen Empfindung – dem Hochgefühl des Lebens!«

Die Erinnerung riß ihn fort, aber er brach plötzlich ab, als er sah, daß die dunklen Augen fest auf seinem Gesichte ruhten, und fügte mit leichtem Spott hinzu: »Das erlebt man freilich nicht, wenn man im Coupé der Bergbahn hinauffährt, sich im Hotel an die Table d'hote setzt und auf der Terrasse, von einer ganzen Touristenschar umgeben, die Aussicht genießt. Das fordert Einsamkeit.«

»Haben Sie schon oft solche Stunden erlebt?« Die Frage klang wie in erwachendem Interesse.

»Oft? Nein! Märchenstunden kommen nicht oft im Leben, aber man trinkt sich satt daran für Monden und Jahre. Wir haben das nötig in dem ewigen Lärm, dem rastlosen Getriebe der Großstadt. Auch mich wird es in wenigen Tagen wieder gefangen nehmen und festhalten – wer weiß auf wie lange!«

»Sie lieben also die Großstadt nicht?«

»Doch, ich liebe sie,« sagte Siegwart rasch. »Es ist der Kampfplatz für jeden, der auf die eigene Kraft angewiesen ist und sie erproben muß. Und es liegt doch schließlich etwas Mächtiges in diesem brausenden Strom des Lebens, der alles mit sich fortreißt. Er verschlingt ja so manchen, aber die Flut trägt den kühnen Schwimmer, der ihr vertraut – man muß eben vertrauen.«

Es lag eine energische Zuversicht in den Worten. Seine Brust hob sich und seine Augen blitzten in dem stolzen Kraftgefühl der Jugend, der noch die ganze Welt gehört. Die junge Dame sah ihn noch immer an, als sei ihr dies Aufflammen, dieser feurige Lebensmut eine unfaßbare Merkwürdigkeit. Da ließ sich in einiger Entfernung ein Ruf hören und aus dem Walde, der nach unten hin den Felsenkessel abschloß, tauchte die Gestalt eines Mannes aus, der ein Bergpferd am Zügel führte.

»Das ist vermutlich Ihr Führer!« sagte der Baumeister abbrechend. »Er will sich bemerkbar machen.«

»Ja, er sollte mich hier abholen,« der Ton verriet, daß die Unterbrechung nicht grade willkommen war. »Sie würden mir also den Rückweg durch das Enstal nicht anraten?«

»Auf keinen Fall, denn reiten können Sie da nicht. Ich nehme ja den Abstieg dort, aber in meinem Reisebuch wird er ausdrücklich nur für ›Geübte‹ empfohlen. Ohne Bergschuhe und Alpenstock kommen Sie schwerlich hinunter.«

»Das meinte der Führer auch. Ich werde also über die Alm zurück müssen.«

Sie zog das Jäckchen und die Handschuhe an und nahm einen Strauß Genzianen, die sie wohl vorhin gepflückt hatte. Der Führer war inzwischen herbeigekommen und führte sein Tier vor. Hermann trat heran, um der Dame beim Aussteigen zu helfen.

»Und Ihre Skizze?« fragte sie halblaut. »Soll ich dafür in Ihrer Schuld bleiben?«

Er verneigte sich leicht.

»Wenn Sie es so nennen wollen – ich bitte darum.«

»So nehmen Sie wenigstens dies als Dank dafür.« Sie reichte ihm das Sträußchen und neigte abschiednehmend das Haupt. Dann lenkte sie das Pferd abwärts, der Führer folgte, und schon nach wenigen Minuten verschwand der wehende blaue Schleier zwischen den Tannen.

Hermann stand allein und blickte auf die Genzianen nieder, die er in der Hand hielt.

»Das sah ja beinahe aus wie eine Abbitte!« sagte er spöttisch. »Es klang doch etwas anders als dies: Später! im Anfang. Die Lehre, die ich ihr gab, scheint verstanden worden zu sein. ›Wieder der richtige Bär!‹ würde Adalbert sagen. Der wäre natürlich mitgelaufen bis zur Alm. Was geht mich diese hochmütige Lady an! Schön war sie freilich, aber auch mehr als selbstbewußt.«

Er befestigte den Strauß an seinem Hute und umfaßte noch einmal mit einem langen Abschiedsblick die ganze Umgebung, die dunklen Tannen, die starren Schroffen der Felsen und den See, der in ihrem Schoße lag wie ein schimmerndes Kleinod, das sie hüteten und schützten in seiner weltfernen Einsamkeit. Dann nahm er Rucksack und Bergstock wieder auf und wandte sich seitwärts, wo der Weg ins Enstal hinabführte.

»Ist Mr. Morland schon zurückgekehrt?«

»Schon vor einer Stunde, Herr Kommerzienrat.«

»Und die gnädige Frau?«

»Soeben vorgefahren mit Miß Morland – und hier sind auch zwei Briefe eingelaufen.«

Der Kommerzienrat nahm die Briefe an sich und schritt durch die große Eingangshalle, die mit ihren Marmorsäulen, den Teppichen und Blumengruppen das Hotel als eines der ersten in Interlaken kennzeichneten. Der Portier machte noch nachträglich eine Verbeugung, denn es waren reiche Gäste, die seit vierzehn Tagen hier wohnten. Kommerzienrat von Berndt aus Berlin, nebst Gemahlin und Mr. Morland aus Neuyork mit Tochter. Sie bewohnten im ersten Stock eine ganze Reihe von Zimmern mit dem Hauptsalon und reisten mit eigener Bedienung.

Herr von Berndt trat in das Zimmer seiner Frau, die am Balkon stand und auf den »Höhenweg« hinausblickte, wo sich ein für die Frühjahrsaison schon recht reges Leben entfaltete.

»Du bist ausgefahren am Vormittag?« fragte er.

»Nur eine kurze Spazierfahrt mit Alice,« war die Antwort.

»Allein? Hat Euch Graf Ravensberg nicht begleitet?«

»Nein. Er ließ sich bei William melden und ist noch bei ihm. Ich glaube, wir tun besser, da nicht zu stören. Es wird sich wohl um die Entscheidung handeln.«

»Schon jetzt? Das wäre doch etwas früh. Er ist seit kaum acht Tagen hier.«

»Hat aber täglich mit Alice verkehrt. Man sieht sich ja hier bei jeder Mahlzeit und jedem Spaziergange in völliger Zwanglosigkeit. Deshalb grade brachte ich Interlaken in Vorschlag für die Zusammenkunft.«

Der Kommerzienrat hatte Hut und Handschuhe abgelegt und ließ sich nieder.

»Es war wohl auch das Beste,« bemerkte er. »Im Grunde ist dies ›Sichkennenlernen‹ ja eine bloße Form. Sehen mußten sie sich natürlich vorher.«

»Gewiß,« stimmte seine Frau bei. »Aber in dieser Hinsicht habe ich nie Bedenken gehabt. Der junge Ravensberg ist eine angenehme Persönlichkeit und Alice ist wie geboren für eine solche Stellung. Mein Bruder wird allerdings Opfer bringen müssen, aber darüber hast du ihn hinreichend aufgeklärt.«

»Allerdings. Du weißt ja, der alte Graf hatte sich auch an mich gewandt um finanzielle Hilfe. Ich versagte sie natürlich, da er nicht die geringste Sicherheit mehr bieten konnte. Aber ich habe dabei einen Einblick in die Verhältnisse erhalten, die wohl überhaupt kein Geheimnis mehr sind in der Umgegend. Die Ravensberger sind grade so weit wie mein Vorgänger in Grafenau. Ihre Herrschaft ist über und über verschuldet und der völlige Zusammenbruch kaum mehr länger aufzuhalten. Es wird viel kosten das alles zu ordnen, und dann handelt es sich noch um die Mitgift.«

»Die wohl sehr hoch sein muß?« warf Frau von Berndt ein. Ihr Gatte zuckte die Achseln.

»Es ist ein altes Grafengeschlecht, ehemals reichsunmittelbar und hat mehr als einmal eine Rolle gespielt in der Geschichte unseres Landes. Das will erkauft sein. Übrigens wird William schon dafür sorgen, daß er die Zügel in der Hand behält. Man muß vorsichtig sein mit Verwandten, die gewohnt sind als große Standesherrn zu leben, sonst gehen die Ansprüche ins Ungemessene. Alice wird überhaupt keinen leichten Stand haben, wenigstens mit dem alten Grafen nicht – ein eingefleischter Aristokrat!«

»Alice wird ihre Selbständigkeit zu behaupten wissen – daran zweifle ich nicht.«

»Ja, ihr Amerikanerinnen versteht das ausgezeichnet,« bemerkte scherzend der Kommerzienrat, der Erfahrung darin hatte. Er hatte als junger Mann bei einem längeren Aufenthalt in Neuyork seine Frau kennen gelernt und heimgeführt. »Aber die Erörterung da drüben scheint sich in die Länge zu ziehen. Ich denke, wir gehen noch etwas auf die Terrasse. Darf ich dich bitten, Ellen.«

Die betreffende Unterredung war in der Tat noch nicht beendet. Drüben im Salon, der mit der glänzenden und im Grunde doch nüchternen Pracht der großen Hotels eingerichtet war, saß William Morland und ihm gegenüber Graf Ravensberg. Aber es sah mehr aus wie eine geschäftliche Zusammenkunft als wie eine Werbung, denn der Amerikaner hatte ein Notizbuch in der Hand und machte dort verschiedene Eintragungen.

Es war ein Mann in vorgerückten Jahren, mit grauen Haaren und kalten, verschlossenen Zügen. Das Gesicht hatte etwas Undurchdringliches, aber der wachsame Blick der scharfen, grauen Augen verriet, daß ihnen nichts entging, was sie der Beachtung wert hielten.

Graf Bertold Ravensberg, ein junger Mann von vierundzwanzig Jahren, machte auf den ersten Blick einen ziemlich unbedeutenden Eindruck mit seiner schmächtigen, nur mittelgroßen Gestalt, aber das Gesicht hatte etwas Fesselndes. Es lag ein Zug von Schwermut darin und in den Augen. Sie waren wirklich schön, diese braunen Augen, mit ihrem träumerischen Ausdruck. Er schien erregt, wenn er sich auch Mühe gab, das zu verbergen, während Morlands Gesicht eine unbewegte Ruhe zeigte, als er jetzt sagte: »Das wären also die Hauptpunkte. Ich übernehme die sämtlichen Hypotheken von Ravensberg – sie werden selbstverständlich auf den Namen von Miß Morland eingetragen. Außerdem verpflichte ich mich zu der bereits besprochenen Mitgift, deren Zinsen zu Ihrer freien Verfügung stehen – das Kapital selbst bleibt gesichert. Mein Vermögen, dessen einzige Erbin meine Tochter ist, bleibt, wenn es dereinst an sie fällt, gleichfalls ihr persönliches Eigentum. Die Gütergemeinschaft wird ja überhaupt aufgehoben in diesem Ehevertrag.«

Der junge Graf hatte schweigend zugehört, jetzt aber fragte er langsam: »Und was bleibt meinem Vater und mir dann?«

»Ihnen? Nun, der Graf erhält die Verfügung über seine Herrschaft zurück, die alsdann schuldenfrei sein wird, und Sie eine Rente, die wohl ausreichen wird für ein standesmäßiges Leben.«

»Aber uns wäre damit jede selbständige Verfügung über das Vermögen meiner Frau genommen. Selbst Ravensberg bliebe ausschließlich in ihren Händen.«

»Jetzt ist es in den Händen Ihrer Gläubiger, das ist doch wohl ein Unterschied,« war die trockene Antwort. »Wenn, wie wir ja wohl annehmen dürfen, das Einvernehmen in dieser Ehe ungestört bleibt, ist es überhaupt eine bloße Form, die von gar keiner Bedeutung ist.«

»Die aber für uns etwas Verletzendes hat und die wir deshalb unmöglich annehmen können.«

»Ich bedauere,« sagte Morland gelassen. »Ich habe als Vater die Pflicht, die Zukunft meiner Tochter zu sichern, und nach dem Einblick, den ich in Ihre Verhältnisse erhalten habe, kann und werde ich größere Kapitalien nicht zur Disposition Ihres Herrn Vaters stellen.«

»Mr. Morland!« fuhr Bertold beleidigt auf.

»Herr Graf Ravensberg?«

Die kühle, scharfe Stimme erinnerte den jungen Grafen daran, daß er hier nichts zu wollen, sondern nur zu empfangen hatte. Er bezwang sich.

»Ich habe nicht geglaubt, daß uns solche Bedingungen gestellt werden, daß mir eine derartige Abhängigkeit von meiner künftigen Gemahlin zugemutet wird,« sagte er mit vollster Bitterkeit.

»Eben deshalb legte ich Wert darauf, zuerst das Geschäftliche zwischen uns zu erledigen. Einigen wir uns nicht, so betrachten wir einfach diese Verhandlungen als nicht geschehen. Meine Bedingungen stehen fest, eine Änderung ist da ausgeschlossen. Es hängt ganz von Ihnen ab, ob Sie annehmen oder ablehnen wollen.«

»Ablehnen? Ich werde Alice nicht aufgeben – niemals!«

Es war ein Klang verhaltener Leidenschaft in den Worten, der dem Amerikaner nicht entging. Er nahm aber keine Notiz davon.

»Nun so entscheiden Sie sich! Ich bin mit der Partie einverstanden und meine Tochter ist bereit, ihr Jawort zu geben. Aber erst muß volle Klarheit zwischen uns geschaffen werden. Das sehen Sie doch ein, Herr Graf.«

Ravensberg schwieg, er schien mit sich selbst zu kämpfen, endlich fragte er: »Kennt Miß Morland diese Verhandlungen und die Bedingungen, die mir gestellt werden?«

»Ja,« sagte Morland kurz.

»Und sie ist damit einverstanden?«

»Ja.«

Um die Lippen des jungen Grafen zuckte ein bitteres Lächeln. »Sie ist Amerikanerin – allerdings.«

»Allerdings. Bei uns wird eine junge Dame, um deren Vermählung es sich handelt, als durchaus mündig betrachtet. Bei Ihnen ist das vielfach anders, ich weiß es. Wo aber größere Interessen auf dem Spiele stehen, muß man ihnen nach allen Seiten hin Rechnung tragen.«

Morland erhob sich und gab damit das Zeichen zur Beendigung des Gespräches.

»Ich lasse Ihnen natürlich Bedenkzeit. Es sind noch einige Nebenpunkte zu erledigen, aber darin werden Sie mich entgegenkommend finden. Ich bin bereit, allen sonstigen Wünschen Rechnung zu tragen, sobald die Hauptsache geordnet ist. Ich erwarte demnächst Ihren Entschluß.«

Graf Bertold verneigte sich und ging. Er hatte sich den Ausgang seiner Werbung doch anders gedacht. In seinem Zimmer angelangt, das natürlich in dem gleichen Hotel lag, begann er unruhig auf und nieder zu schreiten. Jetzt, wo er allein war, sah man es, wie tief ihn diese Unterredung gedemütigt und gepeinigt hatte. Es war ja doch nur im Grunde ein Handelsgeschäft, bei dem man ihm die Bedingungen diktierte, die er anzunehmen hatte, und er empfand das in seiner ganzen Schwere.

Sein Stolz bäumte sich dagegen auf, daß man ihn in dieser Art bevormunden wollte. Ihn, der mit seiner Hand eine Grafenkrone zu vergeben hatte! Kaufen wollte der Emporkömmling diese Krone allerdings für seine Tochter, wie er ihr irgendeinen kostbaren Diamantschmuck kaufte, aber der gräfliche Schwiegersohn imponierte ihm offenbar nicht im geringsten. Dem stellte er im kühlen Geschäftston ein unwiderrufliches Entweder – Oder.

Eine Wahl gab es hier nicht für die Ravensberger. Sie wußten es nur zu gut, daß sie unmittelbar vor dem Ruin standen, daß der völlige Zusammenbruch nur noch eine Frage von Monaten war, wenn keine Hilfe kam. Dann teilten sie das Schicksal ihres früheren Gutsnachbarn, des Baron Helfenstein. Dann mußten auch sie herabsteigen zu Armut und Dunkelheit oder – ein Ende machen.

Bertold wußte es, sein Vater würde empört sein über die gestellten Bedingungen. Er setzte voraus, sein Sohn werde mit der Hand der reichen Erbin ein Vermögen empfangen, das auch ihm die vollste Freiheit und Unabhängigkeit zurückgab. Nun bot man ihnen eine allerdings glänzende Rente und nahm ihnen jede Verfügung über das Vermögen selbst. Es nützte nichts, sich erst mit dem Vater darüber ins Einvernehmen zu setzen, Morland blieb jedenfalls bei seinen Bestimmungen.

Für den jungen Grafen spielte noch etwas anderes mit, wenn er es nicht auf einen Bruch ankommen ließ. Er war nicht gleichgültig geblieben gegen das schöne Mädchen, das man ihm als seine künftige Braut zeigte. Sie verlieren, deren Hand allein ihm und Ravensberg die Rettung bringen konnte – nein! Der Vater würde sich ja schließlich beugen, mußte es tun, wie er selbst sich beugte. Es war der einzige Ausweg für sie beide.

Graf Bertold machte keinen Gebrauch von der ihm gewährten Bedenkzeit. Schon beim Lunch ersuchte er seinen künftigen Schwiegervater um eine nochmalige kurze Unterredung. Er erklärte sich bereit, die ihm gestellten Bedingungen anzunehmen, und bat um Erlaubnis, Miß Morland seinen Antrag machen zu dürfen, und das wurde bereitwillig zugestanden.

Es war am Spätnachmittag. Alice Morland stand in ihrem Zimmer vor dem großen Spiegel und musterte prüfend ihre Toilette. Sie war bereits für das Diner angekleidet, die blaßgrüne Seide mit den weißen Spitzen stand ihr vorzüglich und in dem mattblonden Haare schimmerte ein Diamantstern. Es war eine sehr vornehme, kühle Erscheinung, selbst in dieser Stunde, wo sie ihren künftigen Gemahl erwartete.

Das hatte freilich nichts besonderes Aufregendes für sie, die ja seit Wochen eingeweiht war in die Verhandlungen darüber. Ihr Onkel Berndt hatte im Verein mit seiner Frau diese Verbindung geplant und sie dem Schwager und der Nichte vorgeschlagen. Er fand bei ihnen bereitwilliges Entgegenkommen und der alte Graf Ravensberg hatte auch sofort begriffen, wo die Hilfe zu suchen sei, als man ihm die ersten Andeutungen machte.

Alice war ehrgeizig, und es gehörte jetzt zum Ton bei den jungen, reichen Amerikanerinnen in die europäische Aristokratie zu heiraten. Eine ihrer Jugendfreundinnen hatte sich mit einem englischen Lord vermählt, die andere mit einem italienischen Fürsten, da konnte sie es nicht unter einem deutschen Grafen tun. Als die beiden künftigen Gatten sich kennen lernten, war die Sache bereits abgemacht, und da auch die persönliche Bekanntschaft befriedigend ausfiel, stand der Verlobung nichts mehr im Wege.

Die junge Dame trat an ihren Schreibtisch, wo eine große Photographie stand, ein altertümliches Schloß, mit Türmen und Erkern, der Stammsitz der Ravensberger. Der Graf hatte es ihr gestern überreicht. Ein stattlicher, stolzer Bau, der sich malerisch von dem waldigen Hintergrunde abhob. Sie sah einige Minuten lang darauf nieder und begann dann zerstreut in ihrem Skizzenbuch zu blättern, das daneben lag.

Da war das Blatt mit der Skizze von der Hand des Unbekannten. Ein merkwürdiger Mensch! So zwanglos, ja nachlässig in den äußeren Formen und doch voll Feuer und Temperament, das sich in jedem seiner Worte verriet. Sie wußte nichts weiter von ihm, so wenig wie er von ihr – wozu auch? Sie begegneten sich ja doch nie wieder im Leben, aber er hatte die Ehre gehabt, Miß Morland eine Stunde lang zu interessieren, und das kam nicht mehr oft vor. Kein Wunder, wenn sie blasiert war. Das Schicksal hatte ihr, der Zwanzigjährigen, ja schon alles gegeben. Nun gab es ihr auch noch eine Grafenkrone und ein uraltes Adelswappen, das einzige, was sie noch nicht besaß.

Jetzt wurde Graf Ravensberg gemeldet und trat ein. Er hielt einen kostbaren Blumenstrauß in der Hand, den er der jungen Dame überreichte. Dabei fiel sein Blick auf das noch offen daliegende Buch und er schien überrascht.

»Ihr Skizzenbuch, Miß Morland?« fragte er. »Ich weiß, daß Sie zeichnen, aber das verrät ja ein ganz hervorragendes Talent!«

»Die Skizze ist nicht von meiner Hand,« erklärte Alice kurz, beinahe schroff, indem sie das Buch schloß und beiseite schob. Sie lud ihn mit einer Handbewegung zum Sitzen ein, schien aber doch zu fühlen, daß ihre Antwort wenig verbindlich war, denn sie lenkte ein.

»Ich habe Ihnen noch zu danken für das Bild Ihres Schlosses. Es sieht sehr malerisch aus.«

»Das ist es auch,« bestätigte der Graf. »Ein Stück Mittelalter, das sich noch in die Gegenwart hinüber gerettet hat. Ihr Vaterland ist noch jung, Miß Morland, es kennt nicht diese alten Rittersitze mit ihren historischen Erinnerungen. Für uns ruht dort die Geschichte von Jahrhunderten, die Vergangenheit eines ganzen Geschlechtes. Wir sind sehr stolz auf unseren Stammsitz, aber seit dem Tode meiner Mutter, seit mehr als zehn Jahren, ist er halb verwaist – mein Vater hat ihm keine neue Herrin gegeben.«

»Das stand doch nur bei dem Grafen,« warf Miß Morland ein.

»Damals – aber jetzt steht es bei Ihnen, Alice!«

Er erhob sich plötzlich und trat ihr ganz nahe.

»Wollen Sie mich anhören? Vielleicht habe ich noch kein Recht, zu werben nach so kurzer Zeit, aber wer wird zögern, wenn er sich ein Glück sichern will. Darf ich sprechen?«

Sie neigte leicht das Haupt. »Ich höre, Graf Ravensberg.«

Nun folgte der Antrag in jener ritterlich vornehmen Art, die Bertold Ravensberg nie verleugnete. Es war eine Werbung, keine Liebeserklärung, und doch wehte auch hier jener leidenschaftliche Klang hindurch, der sich schon vorhin im Gespräch mit Morland verraten hatte, aber das fand keinen Widerhall.

Alice hörte zu und sah dabei auf den Orchideenstrauß nieder, den sie in der Hand hielt. Kostbare Blüten, zart und bunt wie Schmetterlinge, und seltsamerweise kam ihr dabei die Erinnerung an die Genzianen, die sie vorgestern droben auf der Höhe gepflückt hatte. Einsame, wilde Bergblumen, aber sie waren so schön gewesen in ihrem tiefen, märchenhaften Blau! Und da tauchte auch das ganze Bild wieder vor ihr auf. Der leuchtende See, die starren Felsen, der schäumende Sturz des Gletscherbaches und die Gestalt des Mannes, der ihr dort begegnet war – tauchte auf und verschwand wie ein flüchtiges Traumbild, denn jetzt klang die Stimme Bertolds: »Und Ihre Antwort, Alice? Werde ich ein Ja von Ihren Lippen hören?«

Er hörte es. Sie gab ihr Jawort in aller Form und duldete es, daß er sie in die Arme schloß und küßte. Das war jetzt sein Bräutigamsrecht, das sie ihm bereitwillig zugestand, dann aber entzog sie sich ihm rasch.

»Genug, Bertold. Wir müssen uns jetzt wohl meinem Vater und den Verwandten als Verlobte vorstellen. Sie warten darauf.«

Bertold trat erkaltet zurück. Er hatte, als er sie in die Arme schloß, es auf Minuten vergessen, wie diese Verbindung zustande gekommen war, und es war die Braut, die ihn daran mahnte.

»Haben Sie nicht einmal Zeit für mich in dieser Stunde?« fragte er vorwurfsvoll. Da sie englisch sprachen, war das erste traute Du ausgeschlossen.

Alice lächelte. »Gern, wenn Sie es wünschen. Was wollten Sie mir noch sagen?«

Es war eine merkwürdige Frage in der Stunde der Verlobung. Aber für Miß Morland schien die Sache mit der Erklärung und dem Jawort völlig abgemacht zu sein. Sie ihrerseits hatte dem Bräutigam nichts mehr zu sagen.

»Sie werden künftig meinen Namen tragen,« hob er wieder an. »Sie werden in Umgebungen und Verhältnissen leben, die vielfach abweichen von denen Ihrer Heimat.«

»Das weiß ich,« entgegnete sie gelassen. »Ich kenne vollkommen meine künftige Stellung in der deutschen Gesellschaft und werde ihr Rechnung tragen.«

Bertold biß sich auf die Lippen. Es verletzte ihn doch, daß er für seine Braut nur der Träger der Grafenkrone war, die sie mit ihm teilen wollte.

»Daran zweifle ich durchaus nicht,« versetzte er. »Aber der Gemahl hat doch auch seine Rechte und wird sie fordern. Ich will Sie, Alice, Sie selbst, nicht nur Ihre Hand. Wir müssen uns doch verstehen und lieben lernen. Wenn ich nicht darauf hoffen dürfte – aber wir werden es lernen. Nicht wahr, Alice?«

Sie sah ihn mit ruhigem Erstaunen an.

»Aber gewiß. Sich verstehen und den gegenseitigen Wünschen Rechnung tragen, darauf beruht ja das Glück einer Ehe. Man erleichtert sich sehr das Leben damit.«

Das klang so vernünftig, so selbstverständlich und so nüchtern. Bertold schwieg, aber die Worte legten sich wie ein Eishauch auf seine warm ausbrechende Empfindung, und ein halb schmerzlicher Blick traf das schöne Mädchen, das in solcher Stunde davon sprach, daß man sich das Leben gegenseitig »erleichtern« müsse. Immerhin! Er mußte sich damit abfinden, wie mit so manchem in dieser Verbindung.

»Sie haben vollkommen recht,« sagte er, nun auch seinerseits kühler. Und nun müssen wir wohl in der Tat Ihren Vater aufsuchen – bitte!«

Er reichte ihr den Arm, um sie nach dem Salon zu führen. Es war doch ein Ausdruck höchster Genugtuung, mit der sie an seinem Arme hinausschritt. Gräfin Ravensberg! Ein schöner, stolzer Name! Ein Geschlecht, dessen Stammbaum weit in die Jahrhunderte zurückreichte, dessen Frauen schon zweimal eine Fürstenkrone in ihrem Wappen geführt hatten. Aber keine dieser Frauen war eine so stolze, königliche Erscheinung gewesen, hatte das Haupt so hoch und selbstbewußt getragen, wie Miß Alice Morland, die nun eintreten sollte in diesen erlauchten Kreis.

Die Wohnung des Baurat Guntram lag im Westen Berlins, in einer der vornehmsten Straßen, und die Einrichtung zeigte einen Luxus, der durch einen feinen Kunstgeschmack geläutert und gemildert war. Guntram führte überhaupt ein glänzendes, gastfreies Haus, wo alle Welt verkehrte. Er war einer der bekanntesten und beliebtesten Architekten Berlins, das zahlreiche Privatbauten nach seinen Entwürfen aufwies und, zumal in früheren Jahren, war er so mit Aufträgen überhäuft gewesen, daß er sie kaum bewältigen konnte.

Am Schreibtisch, in seinem Arbeitszimmer saß der Baurat, ein angehender Sechziger, aber früh gealtert, mit einem Ausdruck nervöser Überreizung in den Zügen. Neben ihm stand seine Gattin, bedeutend jünger als er, eine noch schöne, stattliche Frau, in sehr eleganter Toilette. Aber das Gespräch der beiden schien erregt gewesen zu sein. Die Dame sagte in gereiztem Tone: »Ich habe vorher gewußt, daß es wieder einen Sturm geben würde, aber darauf war ich nicht gefaßt. Du bist ja ganz außer dir und die Sache ist doch nicht von solcher Bedeutung.«

»Nicht von Bedeutung?« fuhr Guntram auf. »Wenn ich wieder Tausende zahlen soll, weil mein Herr Sohn das Geld mit vollen Händen wegwirft! Seit drei Jahren ist er hier auf der Kriegschule und ich habe ihn schon einmal losgemacht von den Schulden. Jetzt ist es wieder so weit! Da dampft er seelenruhig nach Metz und überläßt es dir, mir die erbauliche Eröffnung zu machen. Ich sage dir aber, Berta, jetzt reißt mir die Geduld. Ich kann nicht länger solche Opfer bringen, und werde es auch nicht.«

»Du wirst es doch müssen,« versetzte Frau Berta, mit einer Ruhe, die verriet, daß ihr solche Szenen nichts Neues waren. »Wenn Adalberts Oberst von der Sache erfährt, ist seine Karriere hin. Mein Gott, er ist jung und lebensfroh, vielleicht auch etwas leichtsinnig. Warum hast du ihn Offizier werden lassen?«

»Ich? Du wolltest deinen Sohn durchaus im bunten Rock sehen. Ich war von Anfang an dagegen, denn bei Adalberts Charakter ist das eine Gefahr. Er erhält eine überreiche Zulage, mehr als seine Kameraden. Er muß damit auskommen.«

»Nun, das wird er ja auch in Zukunft,« beschwichtigte die Mutter, die es doch geraten fand, diesmal nicht schärfer aufzutreten. »Er hat es mir versprochen, als er mir vor der Abreise die Beichte ablegte. Ganz zerknirscht war er, der arme Junge! Du baust ja grade jetzt die Villa für den Kommerzienrat Berndt und der Plan ist glänzend honoriert worden. Adalbert ist ja doch unser Einziger. Wozu denn da sparen?«

»Sparen?« Der Baurat lachte bitter auf. »Dazu müßtest du weniger brauchen und Adalbert müßte bescheidener sein in seinen Ansprüchen. Unser Haushalt verschlingt Unsummen, ihr beide ruiniert mich noch!«

Frau Berta zuckte kaltblütig die Achseln.

»Wir leben in der Berliner Gesellschaft und haben ein offenes Haus für unsere Freunde – das kostet Geld. Du solltest froh sein, daß ich dir die gesellschaftlichen Pflichten abnehme, die doch nun einmal eine Notwendigkeit sind in unserer Stellung. Du bist nie zu haben dafür. Du kommst immer erst im letzten Augenblick in den Salon.«

Ein leises Klopfen an der Tür unterbrach das Gespräch. Der Diener trat ein und meldete Herrn Baumeister Siegwart, der den Herrn Baurat zu sprechen wünsche. Dieser zuckte nervös zusammen.

»Ich bin augenblicklich – doch ja – bitten Sie ihn, ein paar Minuten zu warten.«

»Siegwart?« fragte Frau Berta befremdet. »Es ist ja acht Uhr und das Bureau längst geschlossen. Was kann er denn wollen?«

Guntram beugte sich über die Papiere auf dem Schreibtisch und schob sie durcheinander.

»Ich weiß nicht, vermutlich etwas Geschäftliches.«

»So spät noch? Du wirst dich noch ganz aufreiben mit diesem Geschäftlichen! Aber die Sache mit Adalbert? Du weißt es, seine ganze Zukunft steht dabei auf dem Spiel.«

,,Ja – ja!« stieß der Baurat krampfhaft hervor. »Ich werde sie wohl ordnen müssen. Laß mich nur jetzt allein.«

Die Dame ging, sehr befriedigt. Das war der gewöhnliche Ausgang solcher Auseinandersetzungen, ihr Gatte gab, nach mehr oder weniger heftigen Protesten, immer nach. Sie sah es nicht, daß er sich in den Stuhl zurücklehnte und die Hand über die Augen legte, als überkomme ihn ein plötzlicher Schwindel. Doch das dauerte nur ein paar Minuten, dann richtete er sich mit einem Ruck empor. Es dämmerte schon in dem großen, tiefen Gemach, aber er schob den Stuhl noch weiter zurück, so daß sein Gesicht im Schatten blieb. Dann klingelte er und gab Weisung, den Baumeister eintreten zu lassen.

»Was bringen Sie denn so spät noch, Siegwart?« empfing er ihn. »Sie sind ja erst um fünf Uhr aus dem Bureau fortgegangen. Ist irgend etwas vorgefallen?«

»Ja – etwas mir Unerklärliches.« Die Stimme Siegwarts, der sich kurz und hastig verbeugte, klang erregt und gepreßt und auf seinem Gesicht lag eine dunkle Röte. »Ein Rätsel, Herr Baurat, dessen Lösung ich mir bei Ihnen holen muß.«

»Das klingt ja merkwürdig! Nun?«

»Sie wissen, ich bin erst vor acht Tagen zurückgekehrt. Bei meiner Abreise ließ ich meine sämtlichen Mappen mit meinen Plänen und Studien hier in der Obhut Ihres Bureaus, denn meine Wohnung hatte ich selbstverständlich aufgegeben.«

»Jawohl, ich erinnere mich, wenigstens sprachen Sie davon. Sie haben die Mappen doch zurückerhalten?«

»Ich holte sie mir gleich nach der Ankunft, fand aber in den ersten Tagen keine Zeit, sie zu öffnen. Ich hatte so vieles aus Italien mitgebracht, das erst gesichtet und geordnet werden mußte.«

Guntram nickte. »Ja, das kenne ich aus Erfahrung. Solch ein Studienjahr in Italien bringt reiche Ausbeute und Sie sind jedenfalls sehr fleißig gewesen.«

»Darum handelt es sich nicht,« unterbrach ihn der junge Baumeister scharf und bestimmt, »sondern um eine Entdeckung, die ich soeben gemacht habe. Ich war heute abend im Tiergarten, in dem neuen Villenviertel, und da sah ich ein Bauwerk, schon zur Hälfte vollendet, das ich sehr genau kannte. Ich hielt sofort Nachfrage und hörte, daß Sie die Villa bauten – für den Herrn Kommerzienrat von Berndt.«

»Gewiß! Was fällt Ihnen denn auf dabei? Ich bin seit Jahren befreundet mit Herrn von Berndt und führe nun den Bau aus, den er längst schon plante.«

»Der Plan stammt aber aus meiner Mappe und ist mein Werk!« brach Siegwart jetzt mit vollster Heftigkeit aus. »Was soll das heißen? Ich bitte mir eine Erklärung darüber aus!«

Guntram schüttelte erstaunt den Kopf.

»Ihr Werk? Was meinen Sie denn damit? Ich verstehe Sie gar nicht.«

»Nun, ich habe es auch nicht verstanden!« rief der junge Mann mit steigender Gereiztheit. »Ich war wie vor den Kopf geschlagen! Ich stürzte nach Hause und riß die Mappe auf – die betreffenden Blätter fehlten. Wer hat sie entwendet? Wer hat sie ohne mein Wissen benutzt?«

Er trat dicht vor den Baurat hin, der seinen Stuhl noch weiter zurückschob.

»Was ist das für ein Ton? Sie vergessen sich, Siegwart! Haben Sie den Verstand verloren? Das ist ja unerhört!«

Das klang sehr entrüstet und doch lag ein Zittern in der Stimme, aber die Haltung des Baumeisters wurde noch drohender.

»Unerhört – jawohl! Ich hatte den Plan erst kurz vor meiner Abreise vollendet und bis in die Details ausgeführt. Es war mein Lieblingswerk, auf das ich allerlei Hoffnungen baute. Ich hatte es noch niemand gezeigt, und habe es wie ein Geheimnis gehütet.«

In den matten Augen Guntrams blitzte etwas aus bei den letzten Worten. Seine Haltung änderte sich auf einmal, sie wurde kühl und überlegen.

»Ich glaube, Sie haben einen Anfall von Größenwahn,« sagte er achselzuckend. »Was gehen mich denn Ihre Mappen und Studien an? Wenn da irgend etwas fehlt, so wenden Sie sich an den Bureauvorstand. Ich habe mehr zu tun, als mich darum zu kümmern. Wenn ich Sie nicht seit Jahren beschäftigte und wüßte, daß Sie ein exzentrischer Kopf sind, der, weil er vielleicht ein ähnliches Motiv behandelt hat, imstande ist, sich die tollsten Dinge einzubilden, ich würde Ihnen ganz anders antworten. Dergleichen beleidigende Andeutungen verbitte ich mir. Unser Gespräch ist zu Ende – gehen Sie!«

Siegwart stand wie erstarrt. Es kam ihm noch gar nicht zum Bewußtsein, was er mit jenen unvorsichtigen Worten getan hatte. Sie gestanden es ja zu, daß keine Zeugen und keine Beweise vorhanden waren. Dann aber flammte er auf in maßloser Empörung.

»Und Sie haben die Stirn, mir das zu sagen? Mir, den Sie betrogen und bestohlen haben? Ja, zucken Sie nur zusammen! Gestohlen ist der Plan zu der Berndtschen Villa. Das soll der Kommerzienrat, das wird alle Welt erfahren. Und jetzt werden Sie den schändlichen Streich eingestehen. Sie werden, sage ich, oder –«

Er vertrat dem Baurat, der sich wie zur Flucht erhoben hatte, den Weg, und den schmächtigen Mann bei der Schulter fassend, schüttelte er ihn mit vollster Gewalt. Guntram suchte sich los zu machen, und dabei gelang es ihm, die Klingel aus dem Schreibtische zu erreichen. Er läutete Sturm damit, während er zugleich laut und gellend um Hilfe schrie. Die Tür öffnete sich und der Diener stürzte herein, ihm folgte das Stubenmädchen, das draußen aus dem Korridor gleichfalls den Lärm gehört hatte. Von der anderen Seite kam die Frau Baurätin mit ihrer Jungfer. Sie sahen nun allerdings etwas, das wie ein Überfall aussah und eilten mit Ausrufen des Schreckens und der Entrüstung herbei, um den Hausherrn zu schützen. In der nächsten Minute war er von ihnen umgeben und sank, wie es schien, halb ohnmächtig in den Stuhl zurück.

»Um Gottes willen, was ist das!« rief Frau Berta ganz außer sich. »Sind Sie wahnsinnig geworden, Herr Baumeister?«

Siegwart hatte abgelassen, in seinem Antlitz zuckte eine bittere Verachtung, aber seine Augen blitzten drohend, als er antwortete: »Ich bin leider nur zu sehr bei Verstand, gnädige Frau, das werden Sie erfahren, aber vor Ihren Dienstboten können wir das nicht erörtern. Wir sprechen uns noch, Herr Baurat! Ich werde mein Recht verfechten – verlassen Sie sich daraus!«

Damit ging er und schmetterte mit voller Gewalt die Tür hinter sich zu.

Die Provinzialstadt Ebershofen lag im Osten des Reiches, ein kleines Nest, das noch nicht einmal den Anschluß an die Bahnlinien hatte, sondern auf Postverbindung angewiesen war. Die Umgebung war einförmig, ihr größter Reiz bestand in dem Waldreichtum, der in diesem Teile des Landes noch vorherrschte. Meilenweit zogen sich die tiefen, dunklen Forsten hin, die trotz ihrer Schönheit der Gegend etwas Abgeschiedenes gaben. Man lebte hier wie außerhalb der Welt.

Vor dem Tore des Städtchens lag eine kleine Besitzung, inmitten eines umfangreichen Gartens. Das Haus war einfach und altmodisch, machte aber mit seinen blitzblanken Fenstern und weißen Vorhängen einen freundlichen, behaglichen Eindruck. Vor dem Eingange unter einer großen Buche war mit Tisch und Stühlen ein Ruheplatz hergerichtet und aus dem kühlen Schatten des Laubdaches blickte man hinaus über grüne Wiesen, zu den Wäldern, die wie eine einzige dunkle Masse den Horizont säumten.

Unter der Buche saß eine ältere Dame und strickte an einem langen, grauwollenen Strumpfe. Sie hatte in Haltung und Sprache etwas Resolutes und sah mit ihrer weißen Haube, der schwarzseidenen Schürze und dem Schlüsselbund am Gürtel äußerst respektabel aus.

»Jetzt frage ich Sie, was soll aus der Geschichte werden?« sagte sie in einer Art von Kommandoton. »Wenn das so fortgeht, endigt sie doch noch mit einem Krach! Sie überwerfen sich ja mit dem Bürgermeister und der ganzen Stadt deswegen. Siegwart, Sie sind der ausgemachteste Starrkopf, der mir im Leben vorgekommen ist!«

Baumeister Siegwart, dem diese Worte galten, lehnte in sehr bequemer Haltung im Gartenstuhl und hörte die Standrede an, die ihm gehalten wurde. Jetzt versetzte er ruhig: »Das stimmt, Frau Gerold!«

»So, also sehen Sie das wenigstens ein,« eiferte Frau Gerold. »Warum richten Sie sich dann nicht ein mit den vorhandenen Mitteln und lassen die Sache gehen, wie sie eben geht?«

»Weil ich dafür verantwortlich bin, wenn die Geschichte eines Tages den Vätern der Stadt auf ihre weisen Köpfe fällt. Ich habe doch nun einmal den Aufsichtsposten dabei.«

»Aufsichtsposten? Sie sind ja doch –«

»Leitender Baumeister bei dem Rathausbau in Ebershofen,« ergänzte Siegwart mit vollster Bitterkeit. »Ja, so nennen sie es großartig! Ein höherer Aufseher bin ich, weiter nichts. Den Plan hat natürlich ein anderer gemacht. Ein unglaublicher Kasten, den wir da hinstellen, und ich muß mich daran halten, wie der Schuljunge an sein Pensum. Aber wenigstens will ich dafür sorgen, daß er stehen bleibt. Ich habe es dem Bürgermeister schon bei der Übernahme gesagt, daß der Kostenanschlag viel zu niedrig ist, daß die Stadt bedeutend mehr aufwenden muß, wenn sie solides Material haben will. Seit einem Jahre raufe ich mich deswegen herum mit den hochmögenden Herren. Geht das so fort, dann werfe ich ihnen doch noch einmal die ganze Geschichte vor die Füße.«

Frau Gerold schüttelte entrüstet den Kopf.

»Das sieht Ihnen ähnlich! Immer mit dem Kopf durch die Wand! Warum haben Sie denn die Stellung hier überhaupt angenommen?«

»Weil ich irgend eine Stellung brauchte, um zu leben,« sagte der Baumeister herb. »Eine, die mir außerdem Zeit läßt zu anderweitigen Arbeiten.«

»Nun, das haben Sie auch redlich benutzt. Den ganzen Winter lang haben Sie zu Haus gesessen, wie der Dachs im Bau. Nacht für Nacht hat das Licht in Ihrem Arbeitszimmer gebrannt, manchmal bis an den Morgen.«

»Ich hatte eine größere Arbeit vor, die fertig werden mußte.«

»Meinetwegen. Aber deshalb brauchten Sie nicht zu leben wie ein Menschenfeind. Jede Einladung haben Sie ausgeschlagen. Nie sind Sie beim Abendschoppen in der ›Sonne‹ gewesen, wo all die anderen Herren sich zusammenfinden. Aller Welt haben Sie vor den Kopf gestoßen damit. Aber stundenlang umherrennen in den Wäldern, mitten im Winter, im Schnee und Eis, dazu hatten Sie Zeit. Und jetzt sind Sie vollends draußen in jeder freien Stunde.«

Es lag trotz des derben Tones doch etwas Mütterliches in diesen Vorwürfen. Siegwart ließ sich auch ganz ruhig abkanzeln, er war das noch von seiner Knabenzeit her gewohnt. Da hatte Frau Gerold dem wilden Jungen des Oberförsters, der die Stadtschule besuchte und regelmäßig der Anführer der Stadtjugend war bei allen tollen Streichen, oft genug den Text gelesen. Sie war dieser freundlichen Gewohnheit treu geblieben, auch dem Manne gegenüber, der sich nur selten dagegen wehrte. Bei den letzten Worten aber richtete er sich mit einer raschen Bewegung empor.

»Frau Gerold – das verstehen Sie nicht! Irgend etwas muß der Mensch haben, wenn er nicht verkommen soll, und ich bin nahe genug daran, hier in Ebershofen. Wenn ich nicht diese stundenlangen, einsamen Waldspaziergange hätte, wo ich mich darauf besinne, daß ich doch eigentlich ein Mensch bin und eine gewisse Daseinsberechtigung habe – ich wäre längst auf und davon!«

Die alte Dame begann mit so grimmiger Energie zu stricken, daß die Nadeln klapperten.

»Natürlich, Ebershofen findet keine Gnade vor Ihren Augen, das wissen wir längst. Und unser Ebershofen ist eine Stadt –«

»Mit ganzen achttausend Einwohnern und allen möglichen sozialen, monumentalen und idealen Vorzügen – selbstverständlich!«

»Hören Sie auf!« rief Frau Gerold gereizt. »Ich lasse meine Vaterstadt nicht verunglimpfen in meinem eigenen Hause. Wenn Sie mich immer wieder ärgern mit diesen Spöttereien –«

»Dann setzen Sie mich hinaus,« ergänzte der Baumeister. »Dann muß ich mein Bündel schnüren und auswandern. Hinaus in die Welt, immer hinein ins Blaue! Vielleicht wäre es das Gescheiteste.«

»Das Dümmste wäre es, was Sie überhaupt tun könnten!« rief die alte Dame zornig. »Wenn Sie es in Ebershofen nicht aushalten, warum wenden Sie sich nicht an den Grafen Ravensberg? Der hat überall Einfluß und Verbindungen, dem kostet es nur ein Wort, Ihnen irgend eine Stellung zu öffnen. Aber daran denken Sie natürlich nicht.«

»Nein!« sagte Siegwart kurz und bestimmt.

»Warum nicht?«

»Ich will nicht!«

Frau Gerold strickte auf Tod und Leben, als wollte sie all ihren Arger in die Touren hineinstricken.

»Recht dankbar gegen den Mann, dessen Schützling Sie so lange gewesen sind! Was haben Sie gegen den Grafen? Sie verdanken ihm ja doch alles, Ihre ganze Erziehung, das Studium. Wie ein Vater hat er für Sie gesorgt nach dem Tode des Oberförsters.«

»Ich weiß, was ich dem Grafen schuldig bin,« unterbrach sie der Baumeister. »Eben deshalb will ich ihm mit keiner Bitte lästig fallen. Das ist ausgeschlossen – ein für allemal.«

Es lag eine eigentümliche Härte und Schroffheit in den Worten, die Frau Gerold vollends aus dem Häuschen brachten. Sie warf das Strickzeug auf den Tisch mit einer solchen Heftigkeit, daß der Knäuel zu Boden rollte.

»Punktum! Und nun kann sich die ganze Welt auf den Kopf stellen – es geschieht nicht! Nun, dann sehen Sie zu, wie Sie sich allein durchschlagen. Ich rede kein Wort mehr.«

Sie kehrte ihm den Rücken und steuerte in einem wahren Sturmschritt durch den Garten, dem Hause zu.

Siegwart blieb allein. Er hatte sich verändert in den beiden letzten Jahren. Auf seiner Stirn stand eine tiefe Falte und um den Mund lag ein Zug von Bitterkeit, der früher nicht dagewesen war. Es war noch die alte Erscheinung, voll trotziger Kraft, aber der noch nicht dreißigjährige Mann sah aus, als hätte er schon schwere Erfahrungen hinter sich.

Sie waren allerdings bitter gewesen, diese Erfahrungen. Fast ein Jahr hatte er gekämpft um sein Recht und war schließlich doch unterlegen, weil er keine Beweise dafür bringen konnte. Guntram hatte ihm gegenüber leichtes Spiel gehabt. Totzuschweigen war die Sache nicht mehr nach jener letzten, stürmischen Szene, also kam er zuvor und brachte sie selbst zur Sprache in seinen Kreisen. Er denunzierte seinen ehemaligen Schüler, der offenbar vom Größenwahn besessen war und Ansprüche auf das Werk seines Meisters erhob, weil er zufällig ein ähnliches Motiv behandelt hatte. Ihm glaubte man natürlich, dem anerkannten Architekten, dem ehrenwerten Manne mit den grauen Haaren traute niemand einen Betrug zu. Wer war Hermann Siegwart? Ein junger Mensch, den niemand kannte, der vielleicht Geld erpressen wollte mit seiner kecken Behauptung, für die er auch nicht den Schatten eines Beweises hatte.

Der junge Baumeister war gerichtet, ohne auch nur gehört zu werden. Er fand überall verschlossene Türen oder beleidigende Abweisung. Bis aufs Blut hatte er gekämpft. Er wollte nicht weichen, wollte sich sein Recht erzwingen, aber ihn zwang schließlich die Not. Seine Stellung war selbstverständlich verloren und Guntram sorgte dafür, daß sich keine andere fand. Wer nahm denn auch einen Menschen, der die Güte seines Lehrers mit so krassem Undank lohnte. Das verschloß ihm jede Tätigkeit in Berlin. Da hatte er endlich den Posten in Ebershofen genommen und leistete nun seit einem Jahre hier Frondienste – ums liebe Brot!