Silfur - Die Nacht der silbernen Augen - Nina Blazon - E-Book
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Silfur - Die Nacht der silbernen Augen E-Book

Nina Blazon

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Beschreibung

Mit Speck fängt man Mäuse, mit Silber lockt man Elfen

Sommerferien in Island, einem Land, in dem die Menschen sich am Lagerfeuer Geschichten über Elfenwesen und Wiedergänger erzählen. Doch handelt es sich dabei wirklich nur um Geschichten? Die Brüder Fabio und Tom sind sich da zunehmend unsicher. Gemeinsam mit Elín, dem wilden isländischen Mädchen, das ihnen nicht nur die Hauptstadt Reykjavík zeigt, sondern sie auch mit zu einem Reiterhof in der Nähe der berühmten Hraunfossar-Wasserfälle nimmt, stoßen sie auf eine geheimnisvolle Welt im Verborgenen …

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© 2016 cbt Kinder- und Jugendbuchverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Geviert, Grafik & Typografie Umschlagmotiv: © Shutterstock (Vitalii Tiagunov, Tropper2000, nomadphoto, Robyn Mackenzie) Innenillustrationen: Felicitas Horstschäfer MI · Herstellung: kw Satz: Uhl + Massopust; Aalen ISBN: 978-3-641-16878-0V003
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Fabios Eltern hatten also keinen Witz gemacht. Die Isländer aßen tatsächlich vergammelten Haifisch! Fabios Bruder Tom schob die gelblichen Würfel schon seit fünf Minuten auf seinem Teller hin und her. Papa grinste. »Macht nicht solche Gesichter, Jungs, traut euch. Ja, es riecht ein bisschen ungewöhnlich. Aber hier in Island ist das eine Spezialität.«

Fabio und Tom sahen sich zweifelnd an und rümpften die Nasen. Ein bisschen ungewöhnlich? Das Zeug müffelte bestialisch – nach scharfem Putzmittel und ein bisschen sogar nach dem Jungsklo im Fußballverein, fand Fabio.

»Das Haifleisch wird ein paar Wochen lang im Boden eingegraben und danach getrocknet«, erklärte Papa. »Nur so wird es genießbar.«

Er spießte todesmutig einen Brocken auf die Gabel und aß. Mama folgte seinem Beispiel und kaute tapfer. Fabio wurde schon beim Zuschauen schlecht.

»Schmeckt interessant«, sagte Mama. »Und bestimmt ist dieser … ähm … Hákarl auch gesund. Oder, Björg?«

»Haukartl«, sagte Björg. »Man spricht es Haukartl aus. Sehr gesund!«

Tom zeigte Fabio sein irrsinnigstes Schielen, griff sich dramatisch an den Hals, als würde er sich selbst würgen. Fabio schoss das Blut in den Kopf, so sehr verbiss er sich das Lachen.

»Das habe ich gesehen, Tom«, mahnte Papa streng. »Aber man darf erst meckern, wenn man auch wirklich probiert hat!«

Tom und Fabio versuchten nun beide, nicht loszuplatzen. Auf den Stinkefisch hatte sich Toms Grimasse nämlich gar nicht bezogen, sondern auf den komischen Vornamen ihrer Vermieterin, die sich jetzt gut gelaunt noch ein Stück Roggenbrot abschnitt und dick mit Butter beschmierte. Sie hieß mit Vornamen tatsächlich Björg.

»Klingt ja wie Würg!«, hatte Tom Fabio feixend zugeflüstert. Dabei hätte schon Björgs Aussehen für eine ganze Reihe von Spitznamen gereicht. Vampira oder Batgirl zum Beispiel. Björg war nämlich ziemlich blasshäutig und trug schwarze weite Flatterklamotten. Ihre Augen waren dick mit schwarzer Schminke umrandet und sie hatte einen punkigen Haarschnitt. Schwarzes fransiges Haar, in das ein paar schneeweiße, flippige Strähnchen eingefärbt waren. An ihrem rechten Ohr baumelte zudem ein kleiner silberner Totenkopf. Kaum zu glauben, dass Björg und Mama gleichalt sein sollten. Björg erinnerte in ihrer Aufmachung eher an das Gothic-Mädchen, das in Fabios Schule in die Oberstufe ging.

»Jungs?« Mama deutete auffordernd auf die Teller und lächelte sehr breit. Das war nicht ihr normales Lächeln. Es war das LÄCHELN.

Meistens bedeutete es: Letzte-Warnung-oder-es-raucht! Im Moment konnte man es übersetzen mit: »Gammelhai schmeckt schlimmer als Krötensuppe, aber als Gäste müssen wir höflich sein, also esst gefälligst!«

Tom gab sich geschlagen, türmte ein paar Haiwürfel auf sein Brot, stopfte sich alles auf einmal in den Mund und kaute. »Schmeckt wie salziger Radiergummi«, nuschelte er.

Die Erwachsenen brachen in Gelächter aus und klatschten Beifall, als hätte Tom eine Schwertschluckernummer hingelegt. Typisch, dachte Fabio. T. T., der »Tolle Tom« hatte seinen Vorsprung wieder gesichert. Und prompt schweiften alle Blicke zu Fabio. »Hm, lecker, lecker!«, sagte Tom und grinste mies.

Vielen Dank, dachte Fabio. Aber er hatte keine Wahl, er musste Tom übertrumpfen. Wenigstens war das diesmal leichter zu schaffen als sonst. Also schob er nicht nur ein paar, sondern alle gelben Brocken auf einmal auf sein Brot. Der scharfe Gestank brannte schon in seiner Nase. Er versuchte, nicht einzuatmen, während die Grässlichkeit Kurs auf seinen Mund nahm.

Aber fürs Erste rettete ihn ein Türenknallen. Nein, es war eher ein Donnern. Es brachte die Scheiben zum Zittern und im Küchenregal klapperten leise die blau geblümten Tassen.

»Im Haus zieht es wohl«, bemerkte Mama.

Björg seufzte tief. »Nein, nein. Das ist nur Elín. Meine Tochter.«

»Oh, du hast eine Tochter?« Mama spähte erfreut zur Küchentür. »Wie alt ist sie denn?«

»Elf«, erwiderte Björg.

»Das ist ja toll«, rief Mama. »Dann ist sie fast im selben Alter wie unsere Söhne. Habt ihr gehört, ihr beiden? Vielleicht zeigt euch Elín ja, was Kinder hier in der Stadt alleine unternehmen können?«

Tom und Fabio wechselten nur einen vielsagenden Blick. Klar, ihre Mutter hoffte, sie nicht die ganzen drei Ferienwochen über ständig an der Backe zu haben. Nicht umsonst hatte sie ihr ganzes Malzeug mitgeschleppt, um – wie sie betonte – »endlich mal wieder in Ruhe kreativ sein zu können«.

Die Treppe knarrte unter ihren Schritten. Und dann begann ein Trampeln, als würde ein wütender Oger in den ersten Stock galoppieren.

»Kommt Elín denn nicht zu uns in die Küche?«, wollte Papa wissen.

Björg seufzte wieder. »Ich glaube nicht.«

Jetzt polterte es direkt über ihren Köpfen, als würde ein Elefant Samba tanzen. Ein bisschen Staub rieselte von der Decke. Fabio nutzte den Moment, als alle hochschauten, um die Haiwürfel vom Brot auf seine Serviette zu kippen und das ganze Bündel unter der Tischplatte verschwinden zu lassen. Dann stopfte er sich das Brot in den Mund und kaute.

Blöderweise fiel es nun niemandem mehr auf.

Denn jetzt schleifte etwas über ihnen, als würde jemand Möbelstücke herumschieben. Björg atmete sehr tief durch und stand auf. »Entschuldigt mich kurz.« Als sie süß lächelte, hörte sogar Tom auf zu grinsen. Denn das hier war eindeutig ein LÄCHELN. Fabio wollte lieber nicht in Elíns Haut stecken, als Björg nun aus der Küche rauschte. Kurz darauf klappte im oberen Stockwerk eine Tür und dann hörte das Schleifen schlagartig auf. Dafür hörte man dumpf Björgs Schimpfen. Das Haus war wirklich hellhörig.

»Na, wie gefällt es euch bis jetzt?«, wandte sich Papa munter an Fabio und Tom. »Jetzt sind wir also mehr als zweitausend Kilometer weit weg von zu Hause, auf der Insel der Gletscher und Vulkane.«

»Zweitausenddreihundertfünfundsiebzig Kilometer«, sagte Besserwisser Tom. »Luftlinie. Stand im Prospekt der Fluggesellschaft.«

Papa begann zu strahlen und hob den Zeigefinger. »Und der höchste Vulkan ist zweitausendeinhundertzehn Meter hoch.«

Typisch. Wenn er sich für eines begeistern konnte, dann waren es Zahlen.

»Und diese Farben«, schwärmte Mama. »Das Meer und diese hübschen Häuser – es gibt welche in Rot und Orange, Blau, Türkis und sogar Neongrün! Und wir müssen unbedingt einen Ausflug mit dem Boot zu diesen bunten Seevögeln machen. Papageientaucher heißen sie.«

»Ich will zu dem Vulkan, der letztes Jahr ausgebrochen ist«, verkündete Tom. »Der mit dem witzigen Namen. Irgendwas mit Joghurtle.«

»Moment, den Namen haben wir gleich«, sagte Papa und zückte seinen Taschen-Reiseführer. Er blätterte und runzelte dann die Stirn. »Hier steht er: Eyj … jaf …föj-alljö… Du meine Güte. Das kann ja kein Mensch aussprechen!«

Mama lachte. »Das lernen wir schon noch. Und vielleicht begegnen wir im Urlaub sogar ein paar Elfen?« Sie nickte Fabio verschwörerisch zu. »Die Isländer sind fest davon überzeugt, dass hier welche leben, versteckt in den Hügeln. Sie sind zarte, anmutige Wesen. Sie tanzen im Mondlicht und zeigen sich manchmal denen, die an sie glauben.«

Fabio seufzte insgeheim. Natürlich schauten ihn jetzt auch sein Vater und sein Bruder so an, als müsste er die Fäuste in die Luft recken und begeistert »Yay!« rufen. Aber nur weil er in seinem Lieblingscomputerspiel neuerdings als Elbenkrieger Tirias unterwegs war, hieß das ja noch lange nicht, dass er an Glitzerelfen mit Spitzohren und rosa Flatterkleidchen glaubte.

»Toll«, murmelte er nur.

Björg kam wieder in die Küche und machte sacht die Tür hinter sich zu. Ihr Blick fiel auf Fabios leergeputzten Teller und sie begann zu strahlen. »Na sowas! Dir schmeckt der Hákarl aber gut! Da wird sich mein Onkel Gunnar freuen. Er ist nämlich ganz stolz darauf, den Hai selbst gefangen zu haben.« Damit schaufelte sie Fabio einfach noch eine Portion vor die Nase. Sein Gesicht sprach wohl Bände, denn jetzt grinste sogar Mama.

»Guten Appetit«, frotzelte Tom.

Aber Fabio hatte Glück. Ein zweites Mal kam die Rettung, diesmal in Gestalt eines pummeligen Mannes, der gemächlich in die Küche watschelte. Er hatte freundliche braune Augen, die hinter seiner dicken Brille allerdings ziemlich klein wirkten. Seine Halbglatze zierte ein dünner grauer Haarkranz, passend zu seinem Opa-Outfit mit gestrickter grauer Wollweste und braunen Stoffhosen. Nur die grellgelben Gummistiefel passten nicht dazu.

»Gerade spreche ich von dir, Gunnar!«, rief Björg. »Darf ich vorstellen: Das ist mein Onkel, der Schrecken der Haie. Seit er in Rente ist, ist er fast nur noch auf seinem Fischerboot unterwegs.«

Fabio runzelte verdutzt die Stirn. Das sollte ein Hai-Jäger sein? Aber vielleicht lockte er die Biester ja an, indem er seine Brille mit Meerwasser putzte und so tat, als sei er leichte Beute?

»Gunnar, das ist Familie Siebert aus Deutschland«, fuhr Björg fort. »Sie werden drei Wochen hier im Haus wohnen.«

»Guten Tag!«, sagte der Onkel mit einem etwas vernuschelten Akzent. »Velkomin til Íslands! Ich hoffe, ihr hattet einen schönen Flug?«

»Danke, ja.« Mama gab dem alten Mann die Hand. »Ich heiße Heike. Und das ist mein Mann Jan.«

Gunnar schüttelte auch Papa die Hand. »Willkommen!«

»Du sprichst ja auch ganz wunderbar Deutsch, Gunnar«, bemerkte Papa. Er musste sich sichtlich überwinden, einen Wildfremden gleich vertraulich zu duzen. Aber Björg hatte ihnen gleich bei ihrer Ankunft klar gemacht, dass das in Island so üblich war.

»Unsere ganze Familie kann Deutsch«, antwortete Gunnar. »Ein Zweig unserer Familie lebte eine Weile in Deutschland. Und Björgs Bruder ist sogar mit einer Deutschen verheiratet. Ihr werdet die beiden noch kennenlernen. Sie heißt Julia. Und Björgs Bruder Örn.«

Tom, der gerade einen Schluck getrunken hatte, hätte um ein Haar seinen Orangensaft über den Tisch geprustet. Er hüstelte, als hätte er sich verschluckt, aber hinter der Hand flüsterte er Fabio zu: »Örni und Björt! Sesamstraße auf Isländisch.«

Jetzt wandte sich der Onkel Fabio und seinem Bruder zu. Sein Blick flog zwischen ihnen hin und her. Fabio konnte seine Gedanken fast hören: Zwei Jungs, unterschiedliche Haar- und Augenfarben. Völlig unterschiedlich gekleidet. Aber eindeutig sehr ähnliche Brüder – und beide genau gleich groß.

»Und ihr zwei seid bestimmt Zwill…«

»Das ist unser jüngerer Sohn Tom, er ist zehn«, beeilte sich Mama zu sagen. Wie immer betonte sie das Wort jüngerer etwas zu sehr. »Und Fabio ist sein älterer Bruder. Er wird im Herbst schon dreizehn.«

Fabios Mutter sagte nie großer Bruder. Das wäre ja auch glatt gelogen gewesen. Tom war zwar jünger als er, aber inzwischen hatte er Fabio auch in der Größe mühelos eingeholt. Zu Hause hatte Papa vorsichtshalber aufgehört, Wachstumsstriche an den Türrahmen zu zeichnen. Angeblich, weil die Türrahmen neu gestrichen werden sollten. Is klar, hatte sich Fabio gedacht.

»Aaah! Hm.« Björgs Onkel nickte mehrmals sehr betont, aber Fabio konnte ihm genau ansehen, dass er die FRAGE nur mühsam runterschluckte. Jetzt war seine Laune im Keller. In solchen Momenten musste er nämlich daran denken, wie sich die FRAGE vielleicht in einem Jahr anhören würde. Dann würde es nicht mehr dieses nervige: »Ihr seid wohl Zwillinge?« sein. Sondern: »Und Tom ist bestimmt der Ältere von euch beiden?«

Dabei war Tom nicht nur jünger als Fabio, sondern sogar der Kleinste in seiner Schulklasse. Von den Mädchen wurde er manchmal zwar scherzhaft Kleiner genannt, aber alle mochten ihn.

In Fabios Klasse dagegen wurde heimlich gekichert, keiner wählte ihn in die Basketballmannschaft und die Lehrer wachten eisern darüber, dass kein Schüler auch nur ein einziges Wort über Fabios Größe – beziehungsweise Nicht-Größe – verlor. Was es natürlich noch interessanter machte, ihn Bonsai, Gimli und Yoda zu nennen.

»Den Film kenne ich!« Gunnar deutete auf Fabios Sweatshirt. Es war schwarz, und vorne prangte ein Star Wars-Logo. »Dieser Luke Skywalker ist schon echt ein cooler Space-Cowboy, was?« Er zwinkerte Fabio verschwörerisch zu. »Bestimmt hast du deshalb dieselbe Frisur wie er?«

»Ähm, eigentlich nicht«, sagte Fabio und strich sich verlegen die Haare hinter die Ohren. Sie waren zwar glatt und honigbraun wie die von Luke und wirklich ziemlich lang, aber abgesehen von der Tatsache, dass er ganz bestimmt nicht wie Föhnkopf Skywalker aussah … Welcher Erwachsene sagte denn Sachen wie Echt ein cooler Space-Cowboy?

Gunnar wandte sich nun Tom zu. »Und du bist von euch beiden der coole Rapper.« Er streckte seine Hand aus und verwuschelte Toms sorgfältig gestylte Frisur.

»He!«, empörte sich Tom und duckte sich. Zu spät. Jetzt musste Fabio doch wieder grinsen. Toms schwarzbraunes Haar war an den Seiten kurz geschnitten, aber oben war es länger und mit Haargel zu einem Iro betoniert, als hätte Tom in eine Steckdose gelangt. Doch jetzt sah es aus, als hätte er ein explodiertes Krähennest auf dem Kopf.

Hinter Fabio ertönte ein ersticktes Prusten und Glucksen, als würde sich jemand draußen vor dem Fenster nicht mehr einkriegen. Doch als er über die Schulter schaute, war da niemand. Und es war komisch, dass sowohl Björg als auch Gunnar so taten, als hätten sie gar nichts gehört. »Noch Brot?«, fragte Björg freundlich. Im selben Moment ertönte ein Klappern und Riesengerumpel, als würde ein Fass über das Dach rollen. Unwillkürlich zog Fabio die Schultern bis zu den Ohren. Das Gerumpel hörte auf. Oben machte es »Uff«, als hätte jemand eine fiese Bauchlandung hingelegt. Fast im selben Moment gab es einen Schlag und es knackte und raschelte unten direkt vor dem Haus. Ein Hund fing an zu bellen. Björg stand auf und schloss ganz beiläufig das Fenster.

»Vielleicht noch etwas Orangensaft?«, fragte sie.

»Da draußen ist wohl etwas runtergefallen?«, bemerkte Mama. »Sollte man nicht nachsehen, ob alles in Ordnung ist?«

»Nein«, sagten Gunnar und Björgwie aus einem Mund.

»Das war nur Elín«, ergänzte Björg und lächelte munter. Doch ihre Augen hatten plötzlich ein Funkeln, das Fabio auch von seiner Mutter kannte. Dann, wenn sie langsam richtig sauer wurde. Gunnar seufzte nur abgrundtief und schüttelte ein wenig den Kopf.

Fabio schielte nach draußen. Langsam wurde er wirklich neugierig. Er kannte kein Mädchen, das Erwachsene so oft zum Seufzen brachte wie diese Elín. Und warum machte ihre Mutter einfach nur das Fenster zu, statt nachzusehen, ob Elín vielleicht vom Dach gefallen war? »Möchte jemand noch Hai?«, fragte Björg freundlich in die Runde.

»Nein!«, riefen alle wie aus einem Mund.

»Fabio auch nicht?« Björg hob verwundert die Brauen. »Dann stelle ich deinen Teller in den Kühlschrank. Bestimmt isst du den Fisch noch später.«

Klar, dachte Fabio. Aber nur, wenn ein Vulkan ausbricht und Elfen auf der Lava surfen.

Björg griff in die Tiefen ihres Batgirl-Kleides und beförderte einen Schlüsselbund ans Tageslicht. »Das sind die Hausschlüssel, die Ersatzschlüssel sind noch bei mir im Laden, die bekommt ihr morgen. Und … ähm … jetzt habe ich draußen noch etwas zu erledigen. Gunnar wird euch alles im Haus zeigen.«

Ihr Onkel nickte freundlich. Aber Fabio entging nicht, wie er beim Hinausgehen noch einmal einen genervten, finsteren Blick zum Fenster warf.

Fabio fragte sich, wie man die Treppe in den oberen Stock so zum Knarren bringen konnte, wie Elín es vorhin geschafft hatte. Bei ihnen gab das Holz keinen Mucks von sich. Der Einzige, der ächzte, als müsste er den Mount Everest besteigen, war Gunnar.

»Euer Schlafzimmer ist hier gleich links«, sagte er oben angekommen zu Fabios Eltern. Alle folgten ihm im Gänsemarsch in den großen Raum mit einem riesigen weiß lackierten Holzbett. Björg schien ein Fan von Blümchenmustern zu sein. Auf der Tapete und sogar auf der Bettwäsche wucherten blaue Vergissmeinnicht und lila Veilchen. Vorhänge gab es nicht. »Wie schön!«, rief Mama begeistert aus. Sie ging sofort zu einem Fenster und versuchte es zu öffnen. »Das ist ja angeschraubt«, sagte sie verwundert.

»Ja, das muss sein«, erklärte Gunnar. »Hier ist es oft so stürmisch, dass der Wind die Fenster sonst so heftig zuschlägt, dass das Glas zerbrechen kann. Du musst die Sperre abschrauben, dann kannst du es ganz aufmachen. Ich zeige es euch.« Tom war sofort bei ihm.

Fabio fand dagegen die vielen Fotos, die neben dem Fenster an der Wand hingen, viel interessanter. Eindeutig Familienfotos. Hochzeiten, Geburtstage, Urlaubsbilder. Und die meisten Leute darauf waren so dunkelhaarig wie Björg und sahen ihr ein wenig ähnlich. Komisch war allerdings, dass die Fotoreihen Lücken hatten. Nägel in der Wand zeigten, dass jemand einzelne Bilder abgenommen hatte.

»Die Durchgangstür führt direkt in das Arbeitszimmer«, erklärte Gunnar. »Dort hast du auch Internet, Jan.«

Beim Stichwort Internet horchte Fabio sofort auf. Seine Eltern hatten darauf bestanden, dass er sein Tablet zu Hause ließ, aber vielleicht gab es ja doch eine Chance, dass er sich hier zwischendurch in sein Computerspiel einloggen konnte?

»Björg sagte, du bist geschäftlich hier in Reykjavík?«, fragte Gunnar.

Fabios Vater nickte. »Ja, ich bin Informatiker und meine Firma hat eine neue Software für eure isländischen Stromwerke entwickelt. Ich soll vor Ort beraten und die Installation überwachen. Deshalb werde ich leider nicht viel Zeit haben. Aber meine Frau und die Jungs haben Sommerferien.«

»Ich bin Lehrerin«, erklärte Mama. »Deshalb habe ich zusammen mit meinen Söhnen Ferien.«

Gunnar schien beeindruckt zu sein. »Welche Fächer unterrichtest du denn?«

»Kunst und Englisch«, rief Tom vom Fenster. »Und in Englisch ist sie Fabis Lehrerin!«

Mama legte Fabio die Hand auf die Schulter, drückte sie kurz. Das war auch eine von diesen komischen neuen Gesten. Sie wirkte irgendwie … tröstend.

»Das stimmt«, sagte sie munter. »Aber jetzt haben wir einfach Ferien und reden nicht über die Schule, nicht wahr, Fabi?«

Fabio lächelte höflich. Dabei sank seine Laune gerade wieder ein Stück in Richtung Keller. Nicht darüber reden hieß nämlich, das THEMA stand sogar hier wie ein Elefant im Raum. Und trotzdem taten alle so, als wäre da kein Elefant, auf dessen Bauch mit Neonschrift die Frage gepinselt war: »Wird Tom bald auf Fabios Schule gehen?«

»Wir werden uns hier sehr wohl fühlen«, sagte Mama. »Aber eine Frage habe ich mir schon beim Reinkommen gestellt: Das hier ist keine Ferienwohnung, sondern Björgs Wohnhaus. Ist es wirklich in Ordnung, dass wir es in Beschlag nehmen? Ich komme mir schon ein bisschen komisch vor.« Sie lachte verlegen und schaute zu den Fotolücken an der Wand. »Wie ein Eindringling.«

»Ach was!« Gunnar winkte ab. »Björg vermietet ihr Haus jeden August an Touristen. In dieser Zeit fährt sie mit Elín nämlich immer in den Urlaub. Aber in diesem Jahr hat Björg ihren Schmuckladen eröffnet und kann nur über das Wochenende verreisen. Deshalb wohnt sie jetzt im Zimmer über dem Laden und Elín zieht solange bei mir ein. Ich freue mich, wenn ich Gesellschaft habe.«

Ob Elín sich auch freut?, dachte Fabio. Er suchte auf den Fotos nach einem elfjährigen Mädchen mit dunklem Haar. Sicher sah sie ja Björg ähnlich. Aber es schien fast so, als hätte jemand alle Hinweise auf Elín absichtlich von den Wänden gepflückt. Sämtliche Bilder, die noch dort hingen, waren vor Elíns Zeit aufgenommen worden, das zeigten die Zahlen, die unten rechts auf jedem Bild hingemalt waren. Auf einem Foto stand die Jahreszahl 1972. Darauf sah man einen dünnen Mann mit dicker Brille und dichtem schwarzem Wuschelhaar an einem Fluss stehen. Er hatte den Arm um die Schultern eines Mädchens gelegt. Sie war blasshäutig, hatte ein herzförmiges Gesicht und dunkle lange Strähnen und kam Fabio bekannt vor. Ihr blau geblümtes Sommerkleid war nass, aber ihre blauen Augen strahlten und sie grinste stolz in die Kamera. In der einen Hand hielt sie eine Angel, in der anderen einen gewaltigen toten Fisch. Immerhin kein Hai, dachte Fabio. »Ist das Björg?«, fragte er.

»Du hast aber eine gute Beobachtungsgabe!« Gunnar nickte anerkennend. »Ja, da war sie dreizehn. Sie hat eine riesige Forelle gefangen und ist dabei ziemlich nass geworden. Der Mann neben ihr bin ich. Naja – das war ich. Als ich noch Haare hatte.« Er grinste und rubbelte mit dem Ärmel über seine Halbglatze, als würde er sie polieren. Seine braunen Augen funkelten verschmitzt. Irgendwie ließ ihn das ziemlich nett wirken, fand Fabio. Und auch Tom kicherte.

»Ihr Jungs werdet im Zimmer unter dem kleinen Erkerdach schlafen«, fuhr Gunnar dann fort. »Die Stiege rechts führt dorthin. Dort müssen allerdings noch die Betten bezogen werden. Und die Bettwäsche ist noch in meinem Haus. Kommt mit.«

*

Gunnar führte sie quer über den kleinen Spielplatz mit Parkbänken, der sich direkt vor Björgs Haus befand, und ging die Straße entlang, die Njálsgata hieß. Fabio sah sich um. Ein wenig fühlte er sich wie in Legoland gelandet: Wohin er auch blickte, überall reihten sich kleine bunte Häuser. Viele hatten nur ein Stockwerk und wirkten wie farbenfrohe Würfel mit Dächern. Björgs Haus war größer und thronte wie ein kleines Schloss am Schnittpunkt mehrerer Straßen. Ein Zaun mit schneeweißen Latten umgab es. Den Zaun überwucherten Büsche und blühende Winden und direkt neben der Haustür wuchs eine hohe Eberesche. Ihre untersten Zweige ragten bis zum kleinen Dacherker, die Krone ragte über das Dach hinaus in den Himmel. Anders als die Legoland-Würfel war dieses Haus fast eine kleine Pippi-Langstrumpf-Villa, nur dass sie nicht kunterbunt war. Sie hatte eine Veranda mit einer weißen Holztreppe, die zur Haustür und zum überdachten Vorbau führte. In dem Vorbau befand sich die Küche. So schneeweiß wie der Zaun waren auch das Dach und die Fensterläden des Hauses. Aber das Ungewöhnlichste war die Farbe der Fassade. Ein Blau, so dunkel und leuchtend, als wäre ein Stück leuchtender Sommernacht aus dem Himmel geschnitten worden. Mitternachtshaus, so taufte Fabio das Haus nun im Stillen. Ob das Zimmer mit dem Dacherker wohl sein und Toms Zimmer sein würde?

Gunnar war schon in eine Straße abgebogen, die Frakkastígur hieß und schnurgerade bergab in Richtung Meer führte. Es wurde zwar schon leicht dämmrig, aber von hier oben aus konnte man das helle Glänzen von Wasser in der Ferne sehen.

Fabio wollte gerade loslaufen und zu Gunnar aufholen, aber an der Straßenecke stutzte er und blieb wieder stehen. In seinem Nacken kribbelte es unbehaglich, als würde jemand direkt hinter ihm stehen und ihm in den Nacken starren. Er drehte sich um. Niemand beobachtete ihn. Die Fenster des blauen Hauses schienen Fabio wie große, gläserne Augen anzuschauen. Aber an den Fenstern stand niemand. Die Straße und der kleine Platz waren menschenleer, nicht mal ein Auto fuhr vorbei. Nur ganz am Ende der Straße saß ein dünner Mann auf einer kleinen Bank vor einem Haus, aber er war völlig in seine Zeitung vertieft. Doch trotzdem war Fabio ganz sicher, dass jemand ihn jetzt gerade anstarrte. Und zwar nicht sehr freundlich.

Vielleicht Elín? Fabio suchte jedes Fenster und jeden Winkel noch einmal genau ab. Aber alles, was ihm auffiel, waren ein paar Schlieren und Schmutzflecken auf dem weißen Dach. Er kniff die Augen zusammen. Manche Flecken wirkten seltsam regelmäßig. Und er hätte schwören können, dass sie ein bisschen aussahen wie … Fußspuren?

»Fabio?«, rief Gunnar aus der Ferne. »Wo bleibst du?«

Als Fabio atemlos aufgeholt hatte, bog Gunnar mit Tom bereits in die nächste Straße ein. Dort hielt er auf ein feuerwehrrotes Haus zu. Auf dem Bürgersteig davor war ein Kinderwagen geparkt, der leicht wackelte. Ein Baby gluckste zufrieden darin und Fabio sah ein Paar kleine Fäustchen in der Luft fuchteln. Aber von den Eltern war weit und breit keine Spur. Gunnar schien das ausgesetzte Baby nicht zu stören, er ging einfach daran vorbei zu einem kleinen Gartentor. »Kommt schon!«

»Ähm, und das Baby?«, fragte Fabio. »Muss man nicht die Polizei rufen oder so?«

»Unsinn, das ist der Sohn meiner Nachbarn. Er schnappt nur frische Luft. Keine Sorge, dass Kinderwagen im Freien herumstehen, ist hier völlig normal. In unserer Stadt muss sich ja keiner vor Baby-Kidnappern fürchten. Hier entlang.«

Fabio und Tom wechselten einen verdutzten Blick, aber schließlich folgten sie Gunnar zwischen mehreren Häusern hindurch bis zu einem winzigen Hof. Auch hier wuchs ein großer Baum. Aber seine Blätter und die grüne Farbe von Gunnars Häuschen waren auch schon alles, was an einen hübschen Garten erinnerte. Ansonsten glich das Gelände einem verwilderten Mini-Schrottplatz. Ein halbes Auto lag dort halb in die Erde eingesunken, außerdem ein kaputtes Ruderboot und Rohre. Mehrere Haufen alter Zaunlatten lagen halb überwuchert im Gras. Neben dem Baum stapelten sich alte Autoreifen zu einem Turm. Toms Augen leuchteten sofort auf. »Da hängen Seile im Baum«, flüsterte er Fabio zu.

»Denk nicht mal dran«, gab Fabio zurück.

»Schaut euch ruhig um«, sagte Gunnar. »Ich bin gleich wieder da.«

Damit stieß er die Tür auf und verschwand im grünen Haus.

»Halt!«, rief Fabio. Aber es war zu spät. Sein kleiner Bruder sprintete einfach los. Mit einem Satz war er bei den Autoreifen und kletterte flink daran hoch. Der Turm schwankte bedenklich, aber Tom balancierte die Bewegung mühelos aus. Fabio wurde schon beim Zuschauen ganz anders.

»Komm sofort wieder runter!«, befahl er mit aller Autorität, die er als Älterer aufbringen konnte. Aber Tom war auf diesem Ohr mal wieder taub.

»Wieso denn?« Er erklomm den obersten Reifen, breitete die Arme aus und grinste. »Komm rauf, Fabi, das ist ganz leicht!«

Genau das war das Problem mit Tom.

Für ihn war es wirklich ganz leicht. Genauer gesagt, war alles für ihn leicht. Er kletterte geschickt wie ein Affe und spielte Fußball wie Podolski. Und außerdem war er schlau wie Einstein. Seine schlechteste Note in der Schule war mal eine Zwei gewesen. In Religion. Er hatte nie zwei linke Hände und vor allem wurde ihm nie schwindelig, wenn er von einem Klettergerüst nach unten schaute.

»Ist mir egal, komm runter oder ich hole dich!«, brüllte Fabio. Das war glatt gelogen. Aber es klang besser, als würdelos damit zu drohen, bei ihren Eltern zu petzen. Und offenbar glaubte Tom ihm, denn er maulte zwar, aber dann schnaubte er ein genervtes »Okaaay!«

Und sprang einfach.

Fabio hielt erschrocken die Luft an. An Toms Stelle wäre er wie ein Komet in das alte Auto eingeschlagen und hätte sich wahrscheinlich mit alter Sitzpolsterwolle zwischen den Zähnen aus dem Schrott graben müssen. Aber Tom kam federnd wie ein Parkour-Sportler am Rand der Motorhaube auf und stieß sich wieder ab, um mit einem eleganten Spiderman-Sprung neben Fabio zu landen. Stolz grinsend richtete er sich auf und streckte sich gut gelaunt. »Island ist cool«, sagte er.

Gunnar kam mit einem Stapel Bettwäsche aus dem Haus. Keine blauen Blümchen diesmal. Sondern Kinderbettwäsche mit lustigen Teddybären und … rosa Elfen. »Hier«, sagte er und wuchtete Fabio den Wäscheberg auf die Arme. »Den Weg zurück findet ihr ja.«

Mama kam aus dem Lachen nicht mehr raus. »Die Bettwäsche ist ja schrecklich«, gab sie kichernd zu. »Ich weiß nicht, was kitschiger ist: Elfchen oder Bärchen.«

»Ich fürchte, da hilft nur auslosen, wer das kleinere Übel bekommt: die Bärchen«, bestimmte Papa. Er zückte eine isländische Münze. »Oh, Kopf oder Zahl gibt es nicht. Also, Fabio: Fisch oder bärtiger Wikinger?«

»Wikinger«, antwortete Fabio.

Leider wurde es Fisch.

»Tja, tut mir leid.« Papa grinste und rief im Stil eines Sportkommentators: »Meine Damen und Herren, die Entscheidung ist gefallen. Die Elfen machen das Rennen und spielen im Team des fabelhaften Fabio, auch bekannt als der schreckliche Elbenkrieger Tirias!«

Fabio grinste schief. Aber gerade als er die Laken an sich nehmen wollte, schob Tom ihm die Bärenbettwäsche rüber.

»Ich nehme die Elfen«, sagte er fröhlich. »Ist schon okay. Nachts sehe ich sie ja nicht.«

Er strahlte Fabio an, als seien kitschige Elfen ein Hauptpreis. Fabio wurde ganz warm und weich in der Brust. Tja, auch das war sein Bruder Tom: Man musste ihn einfach gern haben. Er war großzügig, aufrichtig und so nett, dass man ein Blödmann wäre, ihn nicht ganz fest ins Herz zu schließen. »Danke«, sagte Fabio.

»Aber ich darf mir das Bett aussuchen!«, rief Tom und rannte aus dem Zimmer.

*

Das Zimmer unter dem Dacherker lag im vorderen Teil des Hauses, der zur Straße und zum Spielplatz zeigte. Um nach oben zu gelangen, musste man eine schmale, steile Holztreppe erklimmen. In dem Moment, als Fabio das kleine Dachzimmer betrat, war ihm klar, warum Elín so wütend herumgetrampelt hatte. Hier wohnte sie. Und offensichtlich hatte sie so etwas wie einen Prinzessinnen-Tick. Das Bett, das an der linken Wand quer zum Fenster stand, hatte einen verschnörkelten Metallrahmen in Hellrosa. Der Spiegel, der an der Wand gegenüber vom Fenster über einer zierlichen weißen Kommode hing, war lila. Und an der Wand, die in einem zarten Hellblau gestrichen war, prangten silberne Punkte, die mit einem runden Pinsel aufgetupft worden waren. Fabio konnte sich gut vorstellen, dass Elín in diesem Raum wirkte wie Schneewittchen. Allerdings war es schon bemerkenswert, dass Schneewittchen so trampeln konnte.

Das einfache Feldbett, das neben dem Kleiderschrank aufgestellt worden war, wirkte in diesem Zimmer völlig fehl am Platz. Tom kniete schon darauf und versuchte, das Kissen mit Boxhieben in den Bezug zu stopfen. Fabio warf sein Bettzeug auf die Kommode, streifte seine Schuhe von den Füßen und warf sich auf das rosa Bett. Dann sah er sich genauer um. Aber Elín hatte wohl versucht, alles wegzuräumen, was an sie erinnerte. Die Bücherregale waren leer und an den Wänden steckten Reißnägel in der Wand. Da hatten wohl Poster gehangen. Vermutlich von Einhörnern, dachte Fabio. Unter einigen Reißnägeln klemmten sogar noch die abgerissenen Papierecken. Elín hatte alle Bilder abgenommen. Oder wohl eher wütend runtergefetzt. Aber ehrlich gesagt konnte Fabio das sogar verstehen. Wenn einer wusste, wie man sich fühlte, wenn ein Fremder, den man nicht bestellt hatte, einfach ins Zimmer fegte und alles kaperte, was einem bisher allein gehört hatte, dann war das ja wohl er.

Tom gab es auf, das Kissen zu quälen, flitzte zum Fenster und kurbelte an der Schraube, bis er das Fenster ganz aufmachen konnte. Kühler Nachtwind fuhr ins Zimmer und zerzauste sein Haar, als er sich weit hinauslehnte. »Unten am Zaun stehen Fahrräder«, sagte er über die Schulter. »Vielleicht können wir uns die ja ausleihen?«

»Bestimmt.« Fabio stand auf und trat zu ihm. Er hatte richtig vermutet, als er vorhin auf der Straße zurückgeschaut hatte. Sie hatten das Zimmer genau über dem überdachten Vorbau. Darunter befand sich die Küche und links der große Baum. Dann ist vorhin also etwas über genau dieses Dach gerumpelt, dachte Fabio. Er lehnte sich etwas weiter vor und spähte auf das schräg abfallende Weiß.

»Da drüben lehnt ein Skateboard am Zaun!« Tom deutete nach rechts. »Das müssen wir uns unbedingt schnappen. Auf den steilen Straßen kann man bestimmt gut fahren.«

»Mhm«, machte Fabio, aber er sah kaum hin, wie elektrisiert starrte er auf das Vordach unter ihnen. Im Licht, das aus ihrem Fenster auf das Dach fiel, konnte man tatsächlich eine Reihe leicht verwischter Fußabdrücke erahnen. Sie führten nach links – und hörten dann einfach auf. Stattdessen sah man ein paar dünne Schlieren und Kratzer, die bis zur Dachkante gingen. Fabio spähte nach links zum Baum und zur Dachkante. Unten in der Küche brannte Licht, eckige gelbliche Lichtflecken fielen auf Zaun und Gebüsch. Und … eine Leiter?

Fabio riss überrascht die Augen auf. Da unten lag tatsächlich eine wuchtige aufklappbare Holzleiter, sie musste ziemlich schwer sein. Jedenfalls hatte sie das Gebüsch an dieser Stelle plattgewalzt, eine Zaunlatte glatt pulverisiert und eine tiefe Schneise ins Gras gehauen.

Dafür musste sie allerdings mit großer Wucht aufgekommen sein. In Fabios Gehirn klickerten die Dominosteine los. Auf jedem von ihnen stand der Code für eine mögliche Kombination, man musste sie nur in die richtige Reihenfolge bringen. Die Kratzer, das Poltern und Rutschen, der Aufschlag …

Er zupfte Tom am Ärmel. »Schau mal! Die Leiter ist vom Dach gefallen.«

»Was?« Tom fuhr herum. »Welche Leiter?«

»Die da unten. Jemand hat sie ein Stück übers Dach geschleppt, dann ist sie ihm wohl aus den Händen gerutscht und dachabwärts geschlittert – und dann über den Dachrand nach unten gefallen.«

Toms Augen begannen zu funkeln. »Wie bei einer Sprungschanze! Ich wette, wenn wir das mit dem Skateboard machen, fliegt es bis auf den Spielplatz.«

Fabio rollte mit den Augen. Typisch Tom. Wäre ja auch zuviel verlangt, von ihm zu erwarten, dass er sich wunderte, warum jemand eine schwere Leiter über ein Dach schleppte. Und das Ganze auch noch barfuß.

»Das war bestimmt Elín«, kombinierte Fabio weiter. »Vorhin, als es in der Küche über uns so gerumpelt hat.«

Er sah auf den Holzboden im Zimmer und der nächste Dominostein fand seinen Platz.

»Da!«, rief er triumphierend aus. Er deutete auf parallele Kratzer in der Bohnerschicht des Holzfußbodens. »Elín muss die Leiter bis zum Fenster gezogen haben. Das war das Schleifen und Rumpeln.«

»Aber was hat sie im Zimmer mit der Leiter gemacht?« Jetzt war auch Tom Feuer und Flamme.

Gemeinsam folgten sie der Spur bis dorthin, wo die Kratzer anfingen. Dann schauten sie beide gleichzeitig hoch. Bingo! Fabios Mundwinkel zuckten in die Höhe. Wenn man nicht genau hinschaute, fiel es nicht auf, aber …

»Eine Klappe in der Decke«, rief Tom. »Da geht es bestimmt zum Dachboden. Los, schieben wir den Kleiderschrank darunter.«

Zum Glück war der schmale weiße Schrank nicht besonders schwer, aber es machte einen ziemlichen Lärm, ihn von den Wand wegzurücken.

»Jungs, alles in Ordnung?«, rief Mama aus dem Schlafzimmer.

»Ja!«, gab Fabio zurück. »Wir stellen nur das Zimmer ein bisschen um!«

Er bildete mit seinen Händen eine Räuberleiter. Drei Sekunden später war Tom auf dem Schrank und stemmte die Klappe im Dach auf. Staub rieselte auf sein Gesicht und ließ ihn husten. »Gib mir die Jedi-Lampe«, flüsterte er.

Fabio hakte seine kleine LED-Leuchte in Form eines Lichtschwerts von seinem Gürtel los. Das war sein Schatz, das Geburtstagsgeschenk von seinem Vater. Eine solche Lampe hatte niemand sonst und der Einzige, der sie sich ausleihen durfte, war Tom. Er nahm sie, richtete sich auf und verschwand bis zur Brust in der Decke. Dann gleißte oben kaltes bläuliches Licht. Es sah aus, als wäre Tom gerade dabei, das Opfer einer Ufo-Entführung zu werden, das durch eine Luke in blaues Licht nach oben gesogen wurde.

»Was ist da oben?«, wollte Fabio wissen.

»Nur altes Gerümpel«, kam es dumpf zurück. »Kartons und Holzleisten, eine alte Wiege und Angelzeug.«

Toms Sneakers quietschten, als er sich auf die Zehenspitzen stellte und etwas heranzog. Dann kippte ein Karton über den Rand der Öffnung. Tom machte »Uff«, als das schwere Ding ihm gegen die Brust kippte, und taumelte zurück, gefährlich nah an den Rand des Schranks.

»Vorsicht!«, japste Fabio. Die Jedi-Lampe fiel Tom aus der Hand und traf Fabio schmerzhaft fest an der Stirn. Der Schrank ächzte und wackelte, dann kam der Karton mit einem dumpfen Knall auf dem Schrank auf. Tom kniete daneben. Fabio atmete auf und rieb sich die Stirn. Glück gehabt!

»Puh«, sagte Tom und grinste. »Da hätte dich ja fast eine Buchlawine begraben.«

Er beugte sich über den Karton, es rumpelte, als er darin herumsuchte. »Kinderbücher, noch mehr Bücher, Comics, eine Tasse, ein Mäppchen, ein alter Teddy, Lineale …«

Fabio wurde nun doch unbehaglich zumute. Das waren bestimmt Elíns Sachen. Und sie hatte sie auf dem Dachboden versteckt, damit keiner sie finden sollte.

»Tom, das geht uns nichts an. Hör auf herumzuwühlen und stell den Karton wieder hoch.«

Aber Tom hörte ihn in der Kiste wohl nicht. »… und ein gerahmtes Bild ist auch drin«, sagte er und richtete sich auf, in den Händen einen silbernen Bilderrahmen.

Jetzt schlug Fabio das Herz bis zum Hals und seine pochende Stirn war vergessen. Er hätte sagen müssen, dass Tom das Bild zurücklegen sollte, aber jetzt siegte seine Neugier doch. »Ist … vielleicht Elín auf dem Foto?«

»Auf jeden Fall Björg«, antwortete Tom. »Sie hat ein Kind im Arm.«

Fabio wurde ganz aufgeregt. »Dann ist das bestimmt ein Bild aus dem Schlafzimmer. Dort fehlen welche und ich glaube, Elín hat sie versteckt.«

Tom schaute sich das Bild genauer an und blies die Backen auf. »Boah«, sagte er. »Wenn das Elín ist, dann verstehe ich aber, warum sie das Bild versteckt hat.«

Er kicherte und machte eine Trollgrimasse. Jetzt konnte Fabio sich nicht mehr beherrschen. »Gib her!«, flüsterte er aufgeregt. Wir schauen es ja nur an, beruhigte er sein schlechtes Gewissen. Und legen es gleich wieder zurück. Elín wird es nie erfahren.

Vor Aufregung hätte er das Bild fast fallen gelassen. Er drehte sich um, damit das Licht der Deckenlampe genau darauf fiel.

Au weia.

Björgs Tochter war alles andere als ein Schneewittchen. Eher einer von den sieben Zwergen. Zumindest als Baby hatte Elín so ausgesehen. Auf dem Bild saß Björg auf dem Spielplatz vor dem Haus auf der Parkbank. Sie wirkte noch jünger, aber auch damals hatte sie schon schwarze Sachen und die punkige Frisur gehabt. Sie strahlte glücklich in die Kamera und hielt ein kleines Mädchen in den Armen, das auf ihrem Schoß saß. Und das war wirklich ein kleines Mädchen. Es war mager und winzig und hatte die Ärmchen trotzig verschränkt. Seine Stirn lag in düsteren, tiefen Falten. Finster und schlecht gelaunt schien es Fabio direkt anzufunkeln. Mürrisch war der Mund zu einem kleinen Strich zusammengepresst. Es hatte auch kein niedliches Baby-Pummelgesicht, sondern ein spitzes Kinn und ziemlich große Segelohren. Aber das Fieseste waren die Haare. Sie waren nicht schwarz und glatt wie die von Björg, sondern rotbraun und lockig. Naja, lockig stimmte auch nicht ganz. Es waren eher verstrubbelte und zerzauste Zickzack-Strähnen. Sie standen vom Kopf des Kindes ab, als hätte man ihm erst zuckrige Cola über den Kopf geleert und es dann zum Trocknen kopfüber an den Füßen hängend in eine Windmaschine gehalten.

»Vielleicht gibt es ja noch mehr Bilder von ihr.« Tom hängte sich wieder in den Karton. »Hier sind keine. Aber vielleicht in dem anderen Karton, der noch auf dem Dachboden steht? Gib mir die Lampe!«

»Nein, hör auf«, murmelte Fabio. »Leg das Bild wieder zurück.«

»Wieso? Jetzt wird es doch gerade erst spannend!«

»Ja, schon. Aber du würdest doch auch nicht wollen, dass jemand in deinen Sachen herumschnüffelt, oder?«

Er wollte seinem Bruder das Bild wieder hinaufreichen, als ihn etwas mit einem Plopp! am Hinterkopf traf. Er fuhr herum und rieb sich den Kopf. In seinem Haar hing etwas, das sich anfühlte wie ein kleiner, gummiartiger Brocken. Aber noch bevor er ihn betrachten konnte, stieg ihm schon der Gestank in die Nase. »Igitt!«, rief er. »Stinkefisch.«

»Hä?«, fragte Tom. Aber da wurde Fabio schon mit weiteren Haibrocken beschossen. Sie zischten vom Fenster heran und ploppten gegen seine Stirn, seine Brust, seine Hände. Gestank nebelte ihn ein. »Hey!«, schrie er.

Er riss das Bild hoch und hielt es wie einen Schild vor sein Gesicht, dann sprintete er zum Fenster. Aber das Vordach war leer und der Beschuss hatte schlagartig aufgehört. Doch über sich hörte er ein Schleifen. Er sprang zurück, hob seine Lampe vom Boden auf und wollte damit aus dem Fenster leuchten, als etwas direkt vor ihm von oben herunterklappte. Mit einem erschrockenen Schrei prallte er zurück. Vor ihm pendelte ein schmales Gesicht mit spitzem Kinn. Es hing verkehrt herum, als würde das Mädchen wie eine Fledermaus oben am Dach hängen. Langes rotbraunes Haar streifte die Fensterbank. Blassgraue Augen funkelten Fabio wütend aus einem mit dunkler Farbe beschmiertem Gesicht an. »Gib das her«, zischte die Fledermaus. »Das ist meines.« Sie schwang ins Zimmer und entriss ihm mit der rechten Hand das Bild – und mit der Linken seine Taschenlampe. Das blaue Licht ging kurz an und tauchte Kinn und Nasenlöcher des hängenden Mädchens in bläulichen Schein. »Cool«, sagte sie und grinste fies. Blitzschnell ließ sie die Taschenlampe irgendwo in ihrer Kleidung verschwinden.

Bisher war Fabio starr vor Schreck gewesen, aber jetzt stieg ihn ihm eine heiße Welle von Empörung auf. »Gib die Lampe her«, fuhr er sie an. »Die gehört mir.«

»Jetzt nicht mehr«, kam es mit einem frechen Lachen zurück. »Danke, Dvergur!«

Fabio sprang vor, aber er erwischte nur noch den Zipfel einer dunklen Fleece-Jacke, so schnell hatte sich das Mädchen nach unten gehangelt und war mit einem Satz außer Reichweite aufs Dach gesprungen. Im Dunkeln konnte er nur noch ihren Umriss sehen. Vor allem das lange Haar, buschiger als die Mähne eines Ponys.

»Hey!«, brüllte Tom vom Schrank. »Du klaust meinem Bruder nicht seine Jedi-Lampe!«

»Dann hol sie dir doch, Gelkopf!«, kam es von draußen.

Oh nein, dachte Fabio. Böser Fehler, Elín! Doch dann geschah schon alles auf einmal. Mit einem Kampfschrei stieß sich Tom vom Schrank ab und sprang. Donnernd kam er auf dem Boden auf und fegte zum Fenster. »Vorsicht!«, schrie Fabio. Und dann kippte schon der Schrank um – zum Glück nach hinten zur Wand. Allerdings rumpelte er dort mit Karacho auf die Kommode und riss auch noch den Spiegel von der Wand. Es klirrte und schepperte. Der Karton kippte, ein Wasserfall von Büchern und Elíns Krimskrams ergoss sich auf den Boden.

»Jungs?«, donnerte Papa von unten.

Fabio wurde es kalt und siedend heiß. »Alles okay!«, schrie er. »Schnell«, sagte er dann zu Tom. »Wir müssen wenigstens den Schrank …«

Aber sein Bruder war nicht mehr da. Fabio brach der Schweiß aus, als er aus dem Fenster schaute. Da draußen stand Tom direkt an der Dachkante und sah nach unten.

»Spinnst du? Komm wieder rein!«, zischte Fabio.

Tom kam dachaufwärts zum Fenster zurück. »Mist. Sie war einfach weg. Wo ist sie bloß hin?«

Ein Rascheln kam von unten. Im Licht, das aus der Küche auf den Zaun und das Gebüsch fiel, huschte eine dünne Gestalt zu dem Skateboard im Vorgarten.

Tom klappte der Mund auf. »Wie ist sie da runtergekommen?«

Verblüfft sahen sie zu, wie Elín das Skateboard nahm. Sie warf das Board nach draußen auf den Bürgersteig, wo es langsam davonrollte.

Elín kletterte auf den Zaun, richtete sich auf und balancierte mit ausgestreckten Armen ein paar Schritte. Fabio und Tom blinzelten, als blaues Licht sie mehrmals anblinkte wie ein höhnisches Zwinkern.

»Na warte«, grollte Tom.

Im selben Moment sprang Elín auf das rollende Skateboard und sauste darauf pfeilschnell über den Spielplatz. Im Licht einer Laterne konnte man erkennen, dass sie zwar dünn wie eine Heuschrecke war, aber bestimmt nicht mehr klein. Sie hatte sogar ziemlich lange Beine und Arme. Sie war barfuß, ihre Schuhe hatte sie sich an den Gürtel gebunden. Sie trug Leggings und darüber einen kurzen hellen Rock. Ihr Haar flatterte mit ihrer schwarzen Jacke um die Wette, als sie vom Bürgersteig schanzte und straßabwärts nun richtig an Fahrt aufnahm.

»Wow«, sagte Tom mit widerwilliger Bewunderung. »Die ist gut!«

Auf die Tür trampelten Schritte zu.

»Fabi? Tom!«, brüllte ihr Vater.

»Rein, schnell!«, wisperte Fabio.

Das ließ sich Tom nicht zweimal sagen. Blitzschnell zog er sich hoch. Fabio zerrte ihn am Shirt wieder ins Zimmer. Keine Sekunde zu früh.

Die Tür flog auf und Papa stürmte ins Zimmer und sah sich um. »Was ist denn hier los?«

»Ich wars«, sagte Tom sofort. »’tschuldigung. Wir wollten nur schauen, was auf dem Dachboden ist. Und als ich vom Schrank runtergeklettert bin …«

»Du meine Güte!« Mama war nun auch aufgetaucht und schlug die Hände vor den Mund. »Keiner von euch beiden rührt sich vom Fleck!«, befahl sie dann streng und wandte sich an Papa. »Jan, ich sammle die Spiegelscherben auf, du suchst den Staubsauger. Wir müssen die kleinen Splitter wegsaugen, bevor jemand hineintritt.«

»Ich hole eine Mülltüte, ich habe noch Schuhe an«, sagte Tom hastig und witschte eilig an Mama vorbei nach draußen.

Sehr geschickt, dachte Fabio. Raus aus der Kampfzone.

»He, Tom, Moment mal!«, rief sein Vater ziemlich sauer und stürmte ihm nach. Mama tastete sich vorsichtig auf Zehenspitzen zum Schrank und begutachtete das Chaos. »Die Scherben liegen sogar auf deiner Bettwäsche!«, rief sie. »Björg wird begeistert sein. Kaum sind wir zwei Stunden hier, demolieren wir ihre halbe Wohnung.«

»Es war ja keine Absicht«, murmelte Fabio.

Seine Mutter schnupperte misstrauisch. Dann entdeckte sie die Haiwürfel auf dem Boden.

Sie fuhr zu Fabio herum und holte tief Luft, als müsste sie sich mühsam beherrschen, nicht loszuschreien. Aber ihre Nasenflügel bebten und auf ihren Wangen leuchteten hektische Flecken. »Jetzt hör mir mal zu«, sagte sie sehr deutlich. »Ich will eigentlich gar nicht wissen, was hier gerade los war und was das Getrampel sollte. Ihr zwei haltet ja ohnehin zusammen und werdet mir irgendeine von deinen tollen Fantasiegeschichten auftischen. Aber erinnerst du dich ganz zufällig noch daran, was wir besprochen haben, bevor die Reise losging?«

Fabio schluckte. »Mhm.« Er nickte zaghaft.

»Ich hatte dich gebeten, im Urlaub ein bisschen aufzupassen, dass Tom keinen Unsinn anstellt«, schimpfte seine Mutter los. »Aber kaum lassen wir euch fünf Minuten aus den Augen, sieht es im Zimmer aus, als wäre hier drin ein Hai explodiert!«

»Es war …«

»… ein Unfall, ich weiß«, rief Mama wütend. »Keine Absicht. Reiner Zufall. Der Schrank hat angefangen. Weißt du was? Ich bin es langsam LEID!« Sie schüttelte den Kopf. »Was ist denn so schwierig daran, ein Auge auf deinen Bruder zu haben?«

Dazu hätte Fabio einiges sagen können. Doch diesmal war es ja gar nicht Tom allein gewesen. Aber sollte er seiner Mutter wirklich erklären, dass sie Elín nachspioniert hatten und Tom dann auch noch aufs Dach hinausgeklettert war?

»Ich kann doch nicht immer Toms Babysitter sein«, murmelte er.

»Du bist ja auch nicht sein Babysitter, sondern sein älterer Bruder«, gab Mama unwillig zurück. »Und wir reden hier nicht von immer, sondern von ein paar Tagen. Und in diesen Tagen von ab und zu, damit ich auch ein bisschen was vom Urlaub habe und in Ruhe malen kann, ohne zu fürchten, dass ihr in der Zwischenzeit das Haus zerlegt. Ist das zuviel verlangt?«

Vermutlich nicht, dachte Fabio. »Okaaaay«, sagte er gedehnt. »Ich passe besser auf.«

Mama atmete auf und nickte. »Danke«, sagte sie aus vollem Herzen. Dann kam sie zu ihm und fuhr ihm liebevoll durchs Haar. »Tut mir leid, aber du bist nun mal der Vernünftigere und der Ältere von euch beiden«, sagte sie. »Und ich weiß, das ist nicht immer leicht. Ich bin ja auch älter als deine Tante Gitti und dein Onkel Micha. Und glaube mir, als junges Mädchen habe ich oft darüber geflucht, wenn ich diesen Flohzirkus hüten musste. Aber so ist es nun mal: Wir Älteren tragen auch immer Verantwortung für die Jüngeren.« Sie deutete auf den Schrank und das Chaos. »Bei so etwas kann man sich schließlich auch verletzen.«

Das klang nun wirklich besorgt. Fabio biss sich auf die Unterlippe und nickte. Was würde sie erst sagen, wenn sie wüsste, dass Tom heute schon auf einem schwankenden Reifenstapel und auf dem Dach herumgeklettert war? Und er fragte sich, wie seine Mutter es wohl fände, eine Tochter wie Elín zu haben. Die mir außerdem mein Geburtstagsgeschenk geklaut hat.

Seine Mutter lächelte, umarmte ihn ganz fest und gab ihm auch noch einen Kuss auf die Nase. »Mach doch nicht so ein finsteres Gesicht!« Sie zwinkerte ihm zu. »So, und jetzt gehe ich nach unten und verdonnere unseren Kleinen dazu, die ganzen Bücher und den Krimskrams aufzuräumen.«

Es war ein seltsames Bild, das sich Fabio und Tom am nächsten Morgen in der Küche bot. Ihr Vater trug einen dunklen Anzug und ein weißes Hemd mit dunkler Krawatte. Sein schwarzes Haar war streng zurückgekämmt und seine Aktentasche mitsamt seinem Laptop stand schon bereit. Im Stehen trank er seinen Kaffee. »Guten Morgen, Jungs!«, rief er ihnen fröhlich entgegen.

»Gooou–than-daj-inn«, korrigierte ihn Mama ebenso gut gelaunt. »So sagt man Guten Morgen auf Isländisch.«

Sie tippte auf das kleine gelbe Wörterbuch, das vor ihr auf dem Frühstückstisch lag.

»Und was heißt Kostümparty auf Isländisch?«, murmelte Tom Fabio zu. Stimmt, das hätte gepasst. Papa sah aus wie einer der Men in Black und ihre Mutter hatte sich in eine schrille Künstlerin verwandelt. Sie trug ein weites Kleid mit einem knallbunten Tupfenmuster und hatte sogar die Lippen grellrot geschminkt. Ihr sonst glattgeföhntes hellbraunes Haar war wild toupiert und hochgesteckt. Die Frisur wurde von einem bunten Stoffband zusammengehalten. So kannte Fabio seine Mutter nur von alten Fotos, als sie noch eine junge Kunststudentin gewesen war. Offenbar war sie wirklich fest entschlossen, dieses Maler-Ding durchzuziehen, jedenfalls lagen Stifte und ein Stück Papier vor ihr auf dem Tisch. »Ich hoffe, ich habe das richtig ausgesprochen«, sagte sie nun mit einem Stirnrunzeln. »Schaut mal, so schreibt man Guten Morgen auf Isländisch.«

Sie hob das Papier hoch. Góðan daginn stand in großen Buchstaben darauf. »Dieses komische gebogene d mit dem Querstrich spricht man so ähnlich wie das englische th aus«, erklärte sie. »Dieselbe Ausspracheregel gilt für dieses verrutschte P.« Sie deutete auf den Buchstaben Þ. »Überhaupt erinnert die Sprache an eine Mischung aus Englisch und Altdeutsch …«

»Lass deine Schüler doch erst einmal frühstücken, Frau Lehrerin.« Papa grinste und gab ihr einen Kuss auf die Wange.

Mama wurde tatsächlich rot und lachte ein wenig ertappt. »Du hast recht, Jan. Keine Unterrichtsstunden in Island.«

»Aber dafür Arbeit«, sagte Papa. »Ich muss bald los, hoffentlich habe ich mir die Abfahrtszeiten für den Bus richtig gemerkt.«

»Soll ich schnell nochmal im Internet nachschauen?«, fragte Fabio sofort.

»Netter Versuch«, sagten seine Eltern wie aus einem Mund und schüttelten die Köpfe.

»Nein. Du wirst nicht die ganze Zeit wie ein blasser Nerd vor dem Monitor hocken und im Computerspiel Orks niedermetzeln«, sagte Mama. »Draußen scheint die Sonne und hier in den Vulkanbergen gibt es echte Trolle, die du aufspüren kannst.«

»Soll das heißen, ich muss die ganzen Ferien ohne Telefon und Internet auskommen?«, sagte Fabio. »Dann steckt mich doch gleich ins Steinzeit-Camp.«

»Gut, dass du es erwähnst!« Sein Vater griff in seine Aktentasche und hangelte ein Uralt-Handy hervor. »Das ist zwar kein Smartphone und es hat kein Internet, aber telefonieren kann man damit wunderbar. So erreichen wir euch immer und ihr könnt uns jederzeit anrufen. Falls ihr mal alleine draußen seid.«

»Das hat ja noch Tasten«, sagte Tom fasziniert. »Das ist ja so, als würde man sich eine Fernbedienung ans Ohr halten.«

»Ja, und steinalte Leute wie wir haben damit jahrelang wunderbar telefoniert und sogar Fotos gemacht, bevor es Smartphones gab«, sagte Mama ungerührt. »Also ist es auch für euch gut genug als Notfalltelefon. Fabio, du steckst es ein.«

LÄCHELN.

Widerstand war zwecklos. Fabio schob das Ding widerwillig in die Tasche seiner Jeans. Es war klobig und schwarz und wog bestimmt eine Tonne.

»Wenn ich heute Abend wieder da bin, kannst du ins Internet, Elb Tirias«, erklärte Papa etwas gnädiger. »Vorausgesetzt«, warnend hob er den Zeigefinger, »es gehen bis dahin keine weiteren Spiegel zu Bruch.«

»Keine Sorge.« Mama lächelte süß. »Und etwas Gutes hatte das Chaos gestern ja auch. Zur Strafe werden meine zwei Sklaven mich heute den ganzen Tag begleiten und ohne Mucks und Maulerei brav die Einkäufe tragen. Der Kühlschrank muss gefüllt werden und ich muss irgendwo einen großen Skizzenblock, ein paar Ölfarben, Terpentin und eine Leinwand auftreiben. Vorher werden wir bei Björg die Ersatzschlüssel abholen. Dann kann Tom ihr auch persönlich erklären, warum wir heute auch noch einen neuen Spiegel kaufen werden.« Sie strubbelte Tom durch das Haar. »Nicht wahr, Schätzchen?«

Fabio rollte insgeheim mit den Augen. Was war bloß mit seiner Mutter los? So aufgekratzt hatte er sie selten erlebt. Tom grunzte nur etwas Unverständliches und griff nach dem Glas mit der Aufschrift Appelsínumarmelaði.

»Und vielleicht begleiten meine Jungs mich dann auch noch ohne Widerrede in ein Museum«, fuhr Mama fort. »Große isländische Kunst betrachten. Freust du dich schon, Fabi?«

Sie kniff ihm in die Wange und grinste ein bisschen schadenfroh. Fabio verzog das Gesicht und seine Eltern brachen in Gelächter aus.

»Das wird ja ein schöner, zivilisierter Tag für unsere Trolle.« Papa grinste und schaute auf die Uhr, dann trank er hastig seinen Kaffee aus und küsste Mama zum Abschied. »Warte nicht mit dem Abendessen, ich weiß nicht, wie spät es wird.«

Mama sprang auf, was mit dem Kleid ein ziemliches Geflatter war. »Ich bring dich zur Tür, Jan.«

»Na toll«, murmelte Tom, kaum dass ihre Eltern draußen waren. »Langweilige Einkaufstour. Kein Fahrradfahren. Und das Skateboard hat Elín.«

»Vor allem hat sie meine Jedi-Leuchte«, sagte Fabio. Allein beim Gedanken daran wurde ihm wieder ganz elend zumute. Warum hatte er sich die Leuchte einfach wegschnappen lassen!

»Keine Sorge, die holen wir uns wieder«, sagte Tom fest entschlossen.

Mama kam summend und gut gelaunt wieder in die Küche. »Wisst ihr was? Wir schreiben einen isländischen Einkaufszettel«, bestimmte sie. »Wo ist denn das Wort für Butter?« Eifrig begann sie im Wörterbuch zu blättern.

»Was heißt eigentlich Dvergur?«, fragte Fabio beiläufig. So hatte Elín ihn gestern genannt.

Es bimmelte und Mama holte ihr Smartphone hervor. »Oh, das ist Tante Gitti!« Sie schob Fabio das Wörterbuch hin. »Schau selbst nach«, flüsterte sie. Mit dem Smartphone in der Hand schlenderte sie zur Kaffeemaschine.

Tom rutschte zu Fabio, bis sie Schulter an Schulter saßen. »Dúkur heißt Tischdecke«, las er leise vor. »Dúx bedeutetKlassenbester … da ist es! Dvergur heißt … ähm … oh.«

Fabio schoss das Blut ins Gesicht und seine Hände krallten sich um das Wörterbuch. Am liebsten hätte er die Seite rausgefetzt und zerknüllt.

»Zwerg«, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Diese dürre Fledermaus hat mich Zwerg genannt!«

»Cheese!«, rief Mama. Sie schauten beide zur Kaffeemaschine. Mamas Smartphone klickte. »Das Bild muss ich Tante Gitti schicken«, sagte sie verschmitzt. »Ihr seid irgendwie süß, wenn ihr so stinksauer dreinblickt.«

*

Fabio hatte gehofft, dass ihre Mutter sich wenigstens für den Einkauf wieder normal anziehen würde. Normal hieß: Jeans und eine Bluse in Braun oder Grau, dazu eine passende Kette und ihre beige, schlichte Jacke, die prima zu ihrem glatten Bob-Haarschnitt passte. Stattdessen zog sie den roten Lippenstift nach und ging in dem Flatterkleid und einem ebenso bunt gestreiften Schaltuch um die Schultern auf die Straße. Mit dem Stadtplan vor der Nase bestimmte sie die Marschrichtung. »Wir müssen bergab in Richtung Meer. Die Straße heißt Laugavegur. Da ist das Zentrum, die große Einkaufsmeile der Stadt.«

»Da hinten wohnt Gunnar«, sagte Tom und deutete nach rechts. »Dürfen wir ihn heute besuchen?«

»Wieso wollt ihr denn zu Gunnar?«, fragte Mama verwundert.

»Er hat einen tollen Garten«, erwiderte Tom völlig glaubwürdig. Fabio musste sich ein Grinsen verkneifen.

»Mal sehen«, sagte Mama. »Huch, wir sind ja schon da!«

Fabio sah sich verdutzt um. Er wäre glatt weitergelaufen, aber auf dem Straßenschild stand tatsächlich Laugavegur. Aber wenn dieses Sträßchen eine große Einkaufsmeile war, dann war der winzige Spielplatz vor dem Mitternachtshaus ein Freizeitpark.

Zwar gab es hier ein paar größere Villen mit Erkern und zwei Stockwerken, die meisten Gebäude waren aber auch hier kleine Schachteln – mit Schaufenstern, vor denen sich Touristen mit Stadtplänen und Kameras scharten. Bäume säumten den Bürgersteig. Ab und zu sah man zwischen den Läden hindurch auf Baustellen in Hinterhöfe. An manchen Hauswänden hatten sich Sprayer verewigt. Auf einer Wand prangte eine Graffiti-Giraffe mit Sonnenbrille und daneben der Spruch: »I came here to have fun and kick ass.« Quer über die Straße waren Leinen mit bunten Wimpeln gespannt. Sie flatterten mit Mamas Kleid um die Wette, als sie nun auf einen Souvenirladen zuhielt. Vor dem Laden lungerten zwei riesige Eisbären auf dem Bürgersteig herum. Sie waren nicht ausgestopft, aber trotzdem täuschend echt gemacht. Im Schaufenster stand dagegen ein echtes ausgestopftes Rentier und glotzte vorwurfsvoll auf die Straße. Kein Wunder, wenn man als Kleiderständer herhalten musste. An seinem Geweih waren dicke gestrickte Socken aufgehängt und auf seinem Rücken stapelten sich Wollpullis. Mama blieb vor dem Eisbären stehen, der drohend auf seinen Hinterbeinen stand und nun so aussah, als würde er sie hinterrücks anfallen. Das war wirklich ein schrilles Bild. Ein Tourist machte prompt ein Foto und Mama lächelte geschmeichelt. Fabio schämte sich ein bisschen für seine Mutter. Aber komischerweise beachtete sie sonst keiner. Die Leute, die mit vollen Einkaufstüten nach Hause eilten, fanden wohl nichts an ihrem schrägen Outfit. Ehrlich gesagt sahen einige von ihnen auch ganz schön seltsam aus. Fabio entdeckte Tattoos, pink gefärbte Haare, knallbunt geringelte Strümpfe und Jacken mit Metallnieten. »Björgs Schmuckladen muss dahinten sein!« Mama schlenderte mit Tom im Schlepptau los. Fabio folgte ihnen nur langsam. Denn auf der anderen Straßenseite befand sich ein Café mit einer Glasfront. Das Interessante darin waren die Internet-Plätze mit großen Bildschirmen. An jedem der Rechner saß ein Tourist und rief Mails ab. Sehnsüchtig trat Fabio heran und starrte durch die Scheibe. Ob man hier achtzehn sein musste, um an einen der Rechner zu dürfen?

Er seufzte und wollte gerade weitergehen, als etwas ihn stutzen ließ. Noch ein Eisbär?

Aber als er die Stirn an die Scheibe presste und genau hinschaute, klappte ihm vor Verblüffung der Mund auf. An dem Tisch neben der Theke saß ein weißer Wolf!

Von hier aus sah Fabio nur den Wolfskopf mit den bernsteingelben Augen und darunter gefletschte Zähne. Das Maul wippte leicht im Takt, als würde der Wolf Musik hören. Der Rest von ihm war hinter einem riesigen silbernen Laptop verborgen. Ein surfender Wolf?, dachte Fabio fassungslos. Bin ich in einem Computerspiel? Das Seltsamste aber war, niemand im Café schien den Wolf überhaupt zu bemerken. Ein Mädchen setzte sich sogar einfach zu ihm an den Tisch, stellte seinen Kaffee ab und checkte Nachrichten auf ihrem Smartphone, ohne das Tier auch nur anzusehen. Fabios Dominosteine verklickerten sich endgültig zu einem Chaos. Es gab keine logische Erklärung. Nicht einmal eine Ahnung, was für ein Laptop das war. So eines hatte Fabio nämlich noch nie gesehen. Es hätte aus einem Science-Fiction-Film stammen können, die Beschichtung leuchtete bläulich. Aber als jetzt eine kleine Hand am oberen Rand erschien, erlosch das Leuchten. Die Hand klappte das Laptop zu – und Fabio seinen Mund. Das, was er für einen Wolf gehalten hatte, war ein etwa siebenjähriger Junge. Er hatte eine verspiegelte Sonnenbrille auf der Nase und auf seinem Kopf trug er den ausgestopften Wolfskopf wie einen Helm. Der Oberkiefer mit den Fangzähnen ragte über seine Stirn hinaus wie der Schirm einer Mütze. Fabio blinzelte ungläubig und drückte das Gesicht noch mehr an die Scheibe. Der Junge rutschte von Stuhl und klemmte sich das Laptop unter den Arm. Er war ganz weiß angezogen. Allerdings sah es aus, als trüge der Junge eine weiße Pyjamahose und drüber eine Jacke aus einem glänzenden weißen Stoff.

Das muss Tom sehen, dachte Fabio. Aber ein Seitenblick auf die Straße verriet ihm, dass sein Bruder schon zu weit vorausgegangen war, um ihn herzurufen. Also holte er das Steinzeit-Handy aus seiner Hosentasche und suchte hektisch nach der Funktion für Fotografieren. Mann, war das kompliziert! Als er kurz hochblickte, zuckte er erschrocken zurück. Der Junge hatte sich ihm zugewandt. Der Wolf starrte Fabio aus gelben Augen an, die verspiegelten Gläser darunter verrieten dagegen nicht, ob der Wolfsjunge Fabio musterte. Vielleicht betrachtete er nur sein eigenes Spiegelbild in der Scheibe. Er hob den Arm. Im ersten Moment glaubte Fabio, er würde ihm zuwinken wollen, aber er griff nur nach oben und fasste an den rechten Fangzahn des Wolfes, als wollte er seinen seltsamen Hut zurechtrücken. Jetzt oder nie! Fabio linste ein paar Sekunden aufs Display und fand endlich die Foto-Funktion. Aber als er wieder hochschaute, war der Junge verschwunden.

Silfur & Hraun prangte in silberner Schrift über der Tür von Björgs Laden. Länger hätte der Name auch nicht sein dürfen, sonst wäre das Schild zu breit für das winzige Gebäude gewesen. Es sah aus, als hätte ein Riese es wie ein Sandwich zusammengedrückt, um es in die schmale Lücke zwischen einen Plattenladen und einen Drogeriemarkt quetschen zu können.

Eine helle Glocke bimmelte, als sie nun zu dritt den Laden betraten. Hier drin leuchtete Mama bunt wie ein Tulpenfeld, denn die Wände waren schwarz gestrichen. Der Laden war ein schmaler, aber tiefer Raum mit einer Glastheke und ein paar Vitrinen, in denen es silbern glänzte. Hinter der Theke befand sich eine Tür, durch die man in eine Werkstatt blicken konnte: Schalen mit schwarzen Steinbrocken und Silberdrähten standen auf Tischen, Fabio entdeckte außerdem Schraubstöcke und Lupen, Zangen und Feilen. Auf das Bimmeln hin knarzte eine Holztreppe und Börg kam durch diese Hintertür nach vorne zur Theke.

»Da sind ja meine Gäste«, rief sie erfreut. »Du willst bestimmt die Zweitschlüssel abholen, Heike? Du meine Güte, was für ein sensationelles Kleid!«

»Danke.« Mama wurde rot und zupfte an ihrem Rock. »Es tut einfach gut, einmal etwas anderes anziehen zu können. Zu Hause kennt mich ja jeder. Wo ich auch hingehe, ich begegne immer meinen Schülern oder ihren Eltern. Da kann ich so etwas natürlich nicht tragen, sondern muss immer korrekt gekleidet sein.«