Silo 4 - Hugh Howey - E-Book

Silo 4 E-Book

Hugh Howey

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Beschreibung

Dies ist Teil 4 von SILO: Hugh Howeys verstörende Zukunftsvision ist rasanter Thriller und Gesellschaftsroman in einem. Silo handelt von Lüge und Verrat, Menschlichkeit und der großen Tragik unhinterfragter Regeln.

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Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel »Wool 4« bei CreateSpace, Charleston, South Carolina   Übersetzung aus dem Englischen von Gaby Wurster und Johanna Nickel

Vierter Teil des fünfteiligen E-Books zu der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

2. Auflage 2013

ISBN 978-3-492-96146-2

© 2011 Hugh Howey Deutschsprachige Ausgabe: © 2013 Piper Verlag GmbH, München Umschlaggestaltung: Hafen Werbeagentur Umschlagfoto & Abbildung Innentitel: Keystone-France / Gettyimages

31. KAPITEL

»Die tragische Geschichte von Romeus und Juliette«

Der Marsch war lang und für ihr kindliches Gemüt noch länger. Auch wenn Juliette nur wenige Stufen selbst gegangen war, fühlte es sich an, als wären sie und ihre Eltern schon seit Wochen auf Reisen.

Sie ritt auf den Schultern ihres Vaters, hielt sich an seinem Kinn fest und hatte die Beine um seinen Hals geschlungen. So weit oben saß sie, dass sie den Kopf einziehen musste, um nicht an die Treppenstufen über ihr zu stoßen. Sie konnte die Schritte der fremden Stiefel über sich hören, der Roststaub rieselte ihr in die Augen.

Juliette blinzelte und vergrub das Gesicht im Haar ihres Vaters. So aufgeregt sie auch war, das gleichmäßige Auf und Ab seiner Schultern machte es ihr unmöglich, noch länger wach zu bleiben. Als ihm der Rücken wehtat, ließ sie sich für ein paar Stockwerke auf der Hüfte ihrer Mutter tragen, die Hände hinter ihrem Hals verschränkt, Juliette schlummerte mit hängendem Kopf.

Sie mochte die Geräusche des Reisens, die Schritte und die rhythmisch singenden Sätze ihrer Eltern, die sich über Erwachsenendinge unterhielten, die vertrauten Stimmen, die in ihr Bewusstsein drangen und sich dann wieder entfernten.

Die Erinnerungen verschwammen zu einem Nebel. Sie wachte auf, weil hinter einer geöffneten Tür Schweine quiekten, registrierte so halb einen Garten, den ihre Eltern besichtigten, und wurde ganz wach, als etwas süß duftete und sie eine Mahlzeit zu sich nahmen – Mittag- oder Abendessen, sie war sich nicht sicher. In dieser Nacht rührte sie sich kaum, nachdem sie aus den Armen ihres Vaters in ein dunkles Bett geglitten war. Am nächsten Morgen wachte sie neben einer Cousine auf, die sie nicht kannte, in einer Wohnung, die fast genauso aussah wie ihre. Es war Wochenende, das hörte sie, weil im Flur ältere Kinder laut spielten, statt sich für die Schule fertig zu machen. Nach einem kalten Frühstück ging sie mit ihren Eltern zurück auf die Treppe und hatte abermals das Gefühl, sie würden schon ihr ganzes Leben lang reisen, nicht erst seit einem Tag.

Schließlich kamen sie im hundertsten Stockwerk unvorstellbar tief unten im Silo an. Die letzten Schritte ging sie selbst, ihre Mutter und ihr Vater hielten sie jeweils an einer Hand und erklärten ihr, was für ein bedeutender Moment dies für sie alle sei. Sie waren jetzt an einem Ort, der »unten« hieß. Das untere Drittel. Die Eltern hielten sie auf den schläfrigen Beinen fest, als sie die letzten Stufen vom neunundneunzigsten zum hundertsten Stock hinunterschwankte. Ihr Vater zeigte auf die großen Ziffern über der offenen Tür, eine Zahl, die überraschenderweise drei Stellen hatte:

100

Die beiden Kreise faszinierten Juliette. Die Nullen waren wie zwei weit geöffnete Augen, die zum ersten Mal die Welt sahen. Sie sagte zu ihrem Vater, dass sie bis hundert sogar schon zählen könne.

»Ich weiß«, sagte er. »Weil du so klug bist.«

Sie folgte ihrer Mutter auf den Markt. Alles war voller Menschen, es war laut, aber genau das war schön. Es war ein fröhlicher Lärm, der die Luft erfüllte, alle wollten gehört werden – wie in der Schule, wenn der Lehrer den Klassenraum verließ.

Juliette hatte Angst, verloren zu gehen, und klammerte sich an ihrem Vater fest. Sie warteten, während ihre Mutter das Mittagessen ertauschte. Dafür musste sie anscheinend Dutzende von Ständen besuchen, um die paar Dinge zu bekommen, die sie brauchte. Ihr Vater überredete einen Mann, dass er Juliette durch den Zaun sein Kaninchen streicheln ließ. Der Pelz war noch weicher als die Luft. Juliette zog ängstlich die Hand zurück, als das Tier den Kopf drehte, aber es kaute nur auf etwas Unsichtbarem herum und sah sie gelangweilt an.

Der Markt war riesig. Er zog sich hin, so weit man gucken konnte und noch weiter. An den Seiten befanden sich schmalere Gänge mit noch mehr Ständen und Zelten, ein Gewirr von Farben und Klängen. Juliette blieb brav bei ihren Eltern, bis sie an die erste eckige Treppe ihres Lebens kamen.

»Ganz ruhig«, sagte ihre Mutter und half ihr die Stufen hinauf.

»Ich kann das schon«, sagte sie stur, nahm die Hand ihrer Mutter aber trotzdem.

»Zwei und ein Kind«, sagte ihr Vater zu jemandem am oberen Ende der Treppe. Sie hörte ein paar Wertmarken in eine Dose fallen. Als ihr Vater durch das Tor ging, sah sie, dass der Dosenmann knallbunt gekleidet war und einen lustigen Schlapphut trug. Sie versuchte, noch mehr von ihm zu sehen, aber ihre Mutter schob sie durch das Tor, eine Hand in ihrem Rücken, und flüsterte ihr zu, sie solle hinter ihrem Vater bleiben. Der Mann wandte sich um, Glöckchen klingelten an seinem Hut, er schnitt ihr eine Grimasse mit seitlich herausgestreckter Zunge.

Juliette lachte, hatte aber gleichzeitig etwas Angst. Sie suchten sich einen Platz, wo sie sitzen und essen konnten. Ihr Vater hatte ein dünnes Bettlaken aus der Tasche gezogen und es auf einer der breiten Bänke ausgebreitet. Juliettes Mutter sagte, sie solle die Schuhe ausziehen und sich dann daraufstellen. Sie hielt sich an der Schulter ihres Vaters fest und schaute über die terrassenförmig angelegten Bänke hinunter auf einen großen freien Raum. Ihr Vater sagte, dieser Raum sei die »Bühne«. Ganz unten im Silo hatte offenbar alles einen eigenen Namen.

»Was machen die da?«, fragte sie ihren Vater. Ein paar Männer auf der Bühne, die genauso bunt gekleidet waren wie der Dosenmann, warfen Bälle in die Luft – eine unglaubliche Menge von Bällen – und fingen sie wieder auf, bevor sie auf den Boden fielen.

Ihr Vater lachte. »Sie jonglieren. Sie machen ein bisschen Spaß für uns, bis das Stück anfängt.«

Juliette wollte gar nicht unbedingt, dass das Stück anfing. Sie wollte nie mehr etwas anderes sehen als das hier. Die Jongleure warfen sich Bälle und Reifen zu, und Juliette merkte, dass sie beim Zuschauen ebenfalls die Arme kreisen ließ. Sie versuchte, die Reifen zu zählen, aber sie blieben nie lange genug an einer Stelle.

»Iss mal dein Mittagessen«, sagte ihre Mutter und reichte ihr ein Brot mit Obst.

Juliette war wie gebannt. Als die Jongleure ihre Bälle und Reifen weglegten und einander über die Bühne jagten und hinfielen und Quatsch machten, lachte sie genauso laut wie die anderen Kinder. Immer wieder sah sie zu ihren Eltern, ob sie auch zuguckten. Sie zupfte an ihren Ärmeln, aber sie nickten nur und redeten, aßen und tranken weiter. Als eine andere Familie sich in ihre Nähe setzte und ein Junge, der etwas älter war als sie, ebenfalls über die Jongleure lachte, hatte Juliette plötzlich das Gefühl, nicht mehr allein zu sein. Sie lachte noch lauter. Die Jongleure waren das Bunteste, was sie je gesehen hatte. Sie hätte ewig zuschauen mögen.

Aber dann wurde das Licht gedimmt, das Stück begann, und im Vergleich zum Vorprogramm war es langweilig. Es fing ganz gut an, mit einem Schwertkampf, aber dann wurden seltsame Wörter gesprochen, ein Mann und eine Frau guckten sich so an, wie ihre Eltern sich oft anguckten, und betonten ihre Sätze irgendwie komisch.

Juliette schlief ein. Sie träumte, sie würde mit hundert bunten Bällen und Reifen zusammen durch den Silo fliegen. Sie bekam die Bälle immer gerade eben nicht zu packen, und die Reifen waren so rund wie die Ziffern der Stockwerksnummer vor dem Markt. Schließlich wachte sie von lauten Pfiffen und begeistertem Applaus wieder auf.

Ihre Eltern waren aufgestanden und jubelten, während die Leute auf der Bühne in ihren komischen Kostümen sich mehrmals verbeugten. Juliette gähnte und sah zu dem Jungen auf der Bank neben ihr. Er schlief mit offenem Mund, den Kopf auf dem Schoß seiner Mutter, seine Schultern bebten, als sie applaudierte.

Sie legten das Laken zusammen, und ihr Vater trug sie hinunter zur Bühne, wo die Schwertkämpfer und die Leute, die so komisch gesprochen hatten, mit den Zuschauern redeten und ihnen die Hände gaben. Juliette wollte gern die Jongleure kennenlernen. Sie wollte lernen, wie man die Reifen in die Luft warf und wieder auffangen konnte. Aber ihre Eltern warteten stattdessen, bis eine der Damen kam und mit ihnen sprach. Es war die, die ihre Haare geflochten und zu Schaukeln gebunden hatte.

»Juliette«, sagte ihr Vater und hob sie auf die Bühne, »das hier ist … Juliette.«

»Heißt du wirklich so?«, fragte die Dame, kniete sich hin und griff nach Juliettes Hand.

Juliette zog sie zurück, wie bei dem Kaninchen, nickte aber.

»Sie waren wundervoll«, sagte ihre Mutter zu der Dame. Sie schüttelten sich die Hände und stellten sich vor.

»Hat dir das Stück gefallen?«, fragte die Dame mit der Frisur.

Juliette nickte. Sie hatte das Gefühl, das würde so von ihr erwartet, und deswegen sei es in Ordnung zu lügen.

»Mein Mann und ich waren vor Jahren schon einmal hier, als wir uns gerade kennengelernt hatten«, sagte ihre Mutter. Sie strich Juliette über den Kopf. »Damals haben wir beschlossen, unser erstes Kind entweder Romeus oder Juliette zu nennen.«

»Na, dann freue ich mich, dass es ein Mädchen geworden ist«, sagte die Frau.

Ihre Eltern lachten, und Juliette hatte nicht mehr so viel Angst vor der Frau, die genauso hieß wie sie.

»Ob wir wohl ein Autogramm haben könnten?« Ihr Vater ließ ihre Schulter los und wühlte in seiner Tasche. »Irgendwo habe ich das Programm.«

»Warum denn nicht ein Textheft für die kleine Juliette?« Die Dame lächelte sie an. »Lernst du schon schreiben?«

»Ich kann bis hundert zählen«, sagte Juliette stolz.

Die Frau stutzte, dann lächelte sie. Juliette sah ihr zu, wie sie aufstand und über die Bühne ging, wobei ihr Kleid so schön schwang, wie sie es bei einem Overall noch nie gesehen hatte. Die Dame kam hinter einem Vorhang wieder hervor und brachte ein winziges Heft aus Papierblättern mit, die von Messingklammern zusammengehalten wurden. Sie nahm das Kohlestück von Juliettes Vater entgegen und schrieb in großen, geschwungenen Buchstaben ihren Namen auf den Umschlag.

Dann drückte sie ihr die Seiten in die Hand und sagte: »Das ist für dich, Silo-Juliette.«

Ihre Mutter protestierte. »Das können wir doch nicht annehmen. So viel Papier …«

»Sie ist erst fünf«, sagte ihr Vater.

»Ich habe noch eines«, sagte die Dame. »Wir binden die Hefte hier unten selbst. Ich möchte, dass sie es bekommt.«

Sie streichelte ihr die Wange, und diesmal zuckte Juliette nicht zurück. Sie war zu beschäftigt damit, durch die Seiten zu blättern und sich die geschwungenen handschriftlichen Notizen neben den gedruckten Wörtern anzusehen. Ein Wort, merkte sie, war zwischen den anderen immer wieder eingekreist. Sie konnte nicht viele Wörter lesen, aber dieses eine schon. Es war ihr Name. Er stand am Anfang ganz vieler Sätze:

Juliette.

Das war sie. Sie sah zu der Dame auf und verstand jetzt, warum ihre Eltern sie hergebracht hatten, warum sie so lange und so weit gegangen waren.

»Danke«, sagte sie höflich.

Und dann, nach einer kleinen Denkpause: »Tut mir leid, dass ich eingeschlafen bin.«

32. KAPITEL

»Nur düstern Frieden bringt uns dieser Morgen;

Die Sonne scheint, verhüllt vor Weh, zu weilen.

Kommt, offenbart mir ferner, was verborgen,

Ich will dann strafen oder Gnad erteilen.«

Es war der Morgen nach der schlimmsten Reinigung in Lukas’ Leben – und er dachte darüber nach, einfach zur Arbeit zu gehen, den bezahlten Urlaubstag zu ignorieren, so zu tun, als wäre es ein Tag wie jeder andere. Er saß am Fußende seines Bettes und nahm all seine Kraft zusammen, um sich überhaupt zu bewegen. Er hielt eine seiner Sternenkarten in der Hand. Mit einem Finger strich er über die Zeichnung eines speziellen Sterns, vorsichtig, um die Kohle nicht zu verschmieren.

Es war kein Stern wie die anderen. Die anderen waren einfache Punkte auf einem akkurat angelegten Gitter, dazu kamen Details wie das Datum der Sichtung, die genaue Lage und Helligkeit. Aber dies war kein Stern vom Nachthimmel – keiner, der auch nur annähernd so alt war wie die anderen. Es war ein Stern mit fünf Zacken, der Umriss des Sheriffabzeichens. Er erinnerte sich noch, wie er ihn gezeichnet hatte, als sie sich an jenem Abend unterhielten und der Stahl auf ihrer Brust matt im schwachen Licht aus dem Treppenhaus schimmerte. Er erinnerte sich an ihre Stimme, wie sie ihn hypnotisiert hatte.

Er erinnerte sich auch, wie sie sich in der vorletzten Nacht in ihrer Zelle von ihm abgewandt hatte, wie sie seine Gefühle hatte schonen wollen, indem sie ihn wegschickte.

Er hatte fast die ganze Nacht um diese Frau geweint, die er kaum kannte. Und jetzt überlegte er, was er mit seinem Tag anfangen sollte, mit seinem Leben. Beim Gedanken an Juliette da draußen, wie sie noch eine letzte Aufgabe für die Silobewohner übernahm – die Reinigung der Linsen –, wurde ihm ganz übel. Er überlegte, ob er deswegen vielleicht seit zwei Tagen keinen Appetit mehr hatte. Sein Magen wusste vermutlich, dass er nichts würde bei sich behalten können, selbst wenn er sich zum Essen zwang.

Er legte die Sternentafel beiseite und ließ das Gesicht in seine Hände sinken. Dann blieb er regungslos sitzen, todmüde, und versuchte, sich selbst zum Aufstehen und zur Arbeit zu überreden. Er versuchte sich zu erinnern, womit er in der vergangenen Woche zuletzt beschäftigt gewesen war. Server Nummer acht war wieder einmal abgestürzt, und Sammi hatte vorgeschlagen, die Steuerplatine auszutauschen. Lukas nahm jedoch an, dass sie es eher mit einem defekten Kabel zu tun hatten. Daran hatte er gearbeitet, fiel ihm jetzt ein: Er hatte die Ethernetkabel überprüft. Und das würde er auch jetzt tun, an diesem Tag. Alles, nur nicht tatenlos herumsitzen und sich körperlich krank fühlen wegen einer Frau, mit der ihn eigentlich nichts weiter verband, als dass er seiner Mutter von ihr erzählt hatte.

Lukas zog den Overall vom Vortag noch einmal an. Dann stand er einen Moment lang da, starrte auf seine nackten Füße und fragte sich, warum er eigentlich aufgestanden war. Wo wollte er noch gleich hin? Sein Kopf war total leer, sein Körper taub. Er überlegte, ob er einfach so stehen bleiben könnte, mit diesem Knoten im Bauch, für den Rest seines Lebens. Irgendwann würde man ihn finden. Tot und steif, eine Leichenstatue.

Er schüttelte den Kopf, um die schwarzen Gedanken loszuwerden, dann suchte er seine Stiefel.

Er verließ sein Zimmer und stolperte zum Treppenabsatz, an den Kindern vorbei, die sich freuten, dass sie schon wieder schulfrei hatten, und an ihren Eltern, die versuchten, ihnen Schuhe und Overalls anzuziehen. Für Lukas war das Durcheinander nur ein Hintergrundgeräusch. Wie ein Summen, wie der Schmerz in seinen Beinen, den er von dem langen Abstieg zu Juliettes Zelle noch spürte. Er trat auf den Treppenabsatz und wollte sofort nach oben, in die Kantine. Alles, woran er denken konnte, war das, woran er die letzten Wochen nahezu ununterbrochen gedacht hatte: den Tag hinter sich zu bringen, damit er hinaufgehen und sie eventuell sehen könnte.

Plötzlich ging ihm auf, dass dem noch immer nichts im Wege stand. Er interessierte sich nicht sonderlich für Sonnenaufgänge – eher für die Dämmerung und die Sterne –, aber wenn er sie sehen wollte, musste er nur in die Kantine gehen und sie auf dem Monitor suchen. Sie würde dort draußen liegen, eine Leiche mehr, ein neuer Anzug, der noch glänzte, auch wenn das Sonnenlicht nur schwach durch die Wolken drang.

Im Kopf sah er es klar vor sich: wie sie dalag, Arme und Beine verdreht, den Helm auf der Seite, den Blick zum Silo gewandt. Er sah sich selbst, Jahrzehnte später, als alten Mann vor einem grauen Monitor, und er würde nicht Sternentafeln, sondern Landschaften malen. Dieselbe Landschaft, wieder und wieder, im Kopf ein trauriges Hätte-sein-können, die immer gleiche Pose, während seine Tränen auf das Blatt tropften und die Kohle verschmierten.

So wie es Marnes ergangen war, dem armen Mann. Er dachte an Marnes, um den niemand wirklich getrauert hatte, einfach weil es niemanden mehr gegeben hatte. Lukas fiel ein, was Juliette als Letztes zu ihm gesagt hatte. Sie hatte ihn gebeten, sich jemanden zu suchen, nicht wie sie zu werden, nicht allein zu bleiben.

Er griff nach dem kalten Stahlgeländer im fünfzigsten Stock und beugte sich darüber. Wenn er nach unten schaute, konnte er sehen, wie sich die Treppe tief in die Erde bohrte. Er erkannte den Treppenabsatz des Sechsundfünfzigsten unter sich, die Entfernung war schwer abzuschätzen, aber es würde auf jeden Fall reichen. Man brauchte nicht bis auf den Zweiundachtzigsten hinunterzugehen, was die meisten Selbstmörder taten, weil man von dort aus schnurstracks bis auf den Neunundneunzigsten fiel.

Er sah sich fliegen, dort hinuntertrudeln, Arme und Beine ausgebreitet. Er nahm an, dass er den Treppenabsatz einfach verfehlen würde. Eines der Geländer würde ihn abfangen und in zwei Teile schneiden. Oder vielleicht, wenn er etwas weiter sprang, mit dem Kopf voran, dann konnte er es kurz und schmerzlos machen.

Er straffte sich, weil er vor lauter Angst plötzlich einen Adrenalinstoß bekam. Er sah sich im morgendlichen Verkehr um, ob ihn jemand beobachtete. Er hatte schon andere Erwachsene über das Geländer gucken sehen und war immer davon ausgegangen, dass ihnen düstere Gedanken durch den Kopf gegangen waren. Schließlich war er im Silo aufgewachsen und wusste, dass nur Kinder versehentlich etwas über das Geländer fallen ließen.

Der Treppenabsatz erzitterte vom Schritt eines eiligen Trägers, dann kam das Geräusch nackter Füße auf Stahlstufen näher. Lukas trat vom Geländer zurück und versuchte, endlich zu entscheiden, was er an diesem Tag tun würde. Vielleicht sollte er doch wieder ins Bett kriechen und schlafen, ein paar Stunden totschlagen.

Er war noch immer dabei, sich wenigstens ein bisschen zu motivieren, als der Träger geradezu an ihm vorbeiflog, und Lukas erhaschte einen Blick auf das vollkommen konsternierte Gesicht des Jungen. Selbst als er schon außer Sichtweite war – er war wirklich ungewöhnlich schnell –, blieb sein Gesichtsausdruck Lukas im Gedächtnis.

Und Lukas wusste sofort Bescheid. Er wusste, dass an diesem Morgen etwas passiert war, und zwar ganz oben, etwas Interessantes, das mit der Reinigung zu tun hatte.

Tief in ihm begann ein Samen der Hoffnung zu sprießen, ein Gefühl, das er kaum zulassen konnte, weil er Angst hatte, daran zu ersticken. Vielleicht hatte die Reinigung nicht stattgefunden. Hatten sie das Urteil womöglich zurückgezogen? Die Leute aus der Mechanik hatten eine Petition geschickt. Mehrere Hundert Unterschriften von Leuten, die ihren eigenen Kopf riskierten, um Juliette zu retten. Hatte diese wahnsinnige Geste die Richter überzeugt?

Die Hoffnung erfüllte ihn mit dem Drang, nach oben zu rennen und sich mit eigenen Augen zu überzeugen, was vorgefallen war. Er verließ den Treppenabsatz, verwarf die Idee, seinen Sorgen hinterherzuspringen, und schob sich durch den morgendlichen Verkehr. Überall auf den Stufen wurde getuschelt. Lukas war nicht der Einzige, dem der bedeutungsvolle Gesichtsausdruck des Trägers aufgefallen war.

Als er sich in den Aufwärtsverkehr eingereiht hatte, stellte er fest, dass die Schmerzen in seinen Beinen verflogen waren. Er wollte gerade eine Familie vor sich überholen, als er hinter sich das laute Krächzen eines Funkgeräts hörte.

Lukas drehte sich um und entdeckte Deputy Marsh, der ein paar Schritte hinter ihm stand und an dem Funkgerät an seinem Gürtel herumfummelte. Er presste mit der anderen Hand einen kleinen Pappkarton an seine Brust, und auf seiner Stirn stand der Schweiß.

Lukas blieb stehen, hielt sich am Geländer fest und wartete auf den Deputy der mittleren Stockwerke.

»Marsh!«

Der Deputy nickte Lukas zu. Die beiden drückten sich ans Geländer, während ein Arbeiter und sein Schatten sich auf dem Weg nach oben an ihnen vorbeischoben.

»Was gibt’s Neues?«, fragte Lukas. Er kannte den Deputy gut und wusste, dass er ihm vielleicht kostenlos von den Neuigkeiten berichten würde.

Marsh wischte sich über die Stirn und schob sich den Pappkarton in den anderen Arm. »Dieser Bernard macht mich wahnsinnig«, schimpfte er. »Als wäre ich diese Woche nicht schon genug Treppen gestiegen!«

»Nein, wegen der Reinigung, meine ich«, sagte Lukas. »Hier ist gerade ein Träger vorbeigekommen, der sah aus, als hätte er ein Gespenst gesehen.«

Deputy Marsh blinzelte die Treppe hinauf. »Ich soll Juliettes Sachen so schnell wie möglich auf die Vierunddreißig bringen. Hank hat sich fast ein Bein ausgerissen, um sie mir ein Stück entgegenzubringen.« Er wandte sich zum Gehen. »Ehrlich, ich muss weiter, wenn ich meinen Job behalten will.«

Lukas hielt ihn am Arm fest. »Hat sie die Reinigung jetzt erledigt oder nicht?«

Marsh sackte ans Geländer. Aus seinem Funkgerät drang leises Knistern.

»Nein«, flüsterte er, und Lukas hatte das Gefühl, er könnte fliegen. Er könnte einfach hinauffliegen, durch den Schacht im Inneren der Wendeltreppe, mitten durch das Betonherz des Silos, könnte um die Treppenabsätze schweben, fünfzig Stockwerke auf einmal …

»Sie ist rausgegangen, hat aber die Reinigung nicht gemacht«, sagte Marsh mit gesenkter Stimme. »Sie ist über die Hügel gegangen …«

»Sie ist was?«

Marsh nickte, und ihm tropfte der Schweiß von der Nase. »Sie ist nicht mehr zu sehen«, zischte er, wie ein leise gestelltes Funkgerät. »Und jetzt muss ich wirklich ihre Sachen zu Bernard bringen.«

»Ich mach das«, sagte Lukas und streckte die Hand aus. »Ich gehe sowieso zur Vierunddreißig.«

Ende der Leseprobe