Silva & Baal - Linea Harris - E-Book

Silva & Baal E-Book

Linea Harris

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Beschreibung

Entdecke die Macht der alten Magie! Als die junge Hexe Silva nach ihrem Schulabschluss nach Afrika geschickt wird, um einen alten Dämonenmythos zu erforschen, ahnt sie nicht, dass ihre Reise sie bis in die Unterwelt führen wird – und in die Arme des gut aussehenden Dämons Baal. Silva ist fasziniert von Baals Leben, der als Fürst mit dem impulsiven und aggressiven Verhalten seiner Untertanen zu kämpfen hat, während er versucht, den schlechten Ruf der Dämonen aus der Welt zu schaffen. Die junge Forscherin möchte Baal und den Kreaturen der Unterwelt eine Chance geben. Zwei vollkommen unterschiedliche Welten prallen aufeinander ... Ein Roman aus der Welt der erfolgreichen »Bitter & Sweet«-Reihe – dieser Einzelband ist der ideale Einstieg in die Welt von Linea Harris!

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© ivi, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2021

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Coverabbildung: arcangel/Rekha Garton; FinePic®, München

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Inhalt

Cover & Impressum

Widmung

Kongo

April 1990

1

Silva

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Silva

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Silva

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Silva

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Silva

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Silva

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Silva

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Silva

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Baal

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Silva

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Silva

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Silva

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Silva

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Silva

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Silva

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Silva

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Silva

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Silva

England

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Silva

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Silva

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Silva

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Silva

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Silva

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Baal

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Silva

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Silva

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Baal

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Silva

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Silva

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Silva

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Silva

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Baal

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Silva

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Silva

Für Anna – weil du mir hilfst, die Welt mit anderen Augen zu sehen.

Kongo

April 1990

1

Silva

»Wir haben keine Zeit für eine Pause!« Annabell Grants knurrende Stimme drang gedämpft durch das Unterholz, als Antwort auf eine Frage aus dem knackenden und rauschenden Funkgerät.

Silva löste sich seufzend von der glatten Steinplatte, die sie unter dem von Farnen überwucherten Boden entdeckt und eingehend studiert hatte. Auf den ersten Blick hatte es so ausgesehen, als wäre die Platte von Menschenhand hergestellt worden, aber es war nur ein flacher Stein, seine Konturen vom Regen verwaschen, die Farbe verblichen.

Ächzend richtete sie sich auf und strich sich die schweißnassen roten Locken aus der Stirn. Auch sie hätte eine Verschnaufpause gebraucht, um neue Energie zu sammeln.

Die Wärme und die Luftfeuchtigkeit im Dschungel waren unerträglich. Zum wiederholten Male schlug Silva nach einem Moskito, obwohl sie wusste, dass es zwecklos war, gegen diese Übermacht ankommen zu wollen. Hoffentlich lohnten sich die Strapazen. Alles hing von dieser einen, letzten Mission ab.

Drei Monate dauerte ihre Forschungsreise nun schon und vor etwa zwei Wochen hatte es sie vom Süden Afrikas weiter in die Mitte bis in den tiefsten Dschungel verschlagen. Der Rest des Forscherteams, bestehend aus zwei weiteren Wissenschaftlern, fünf kampferprobten Jägern und zwei Einheimischen, die ihnen den Weg weisen sollten, musste sich irgendwo in der Nähe befinden. Silva konnte das Knacken der Äste unter ihren Schuhen und gedämpfte Stimmen hören. Schon seit den frühen Morgenstunden war der Suchtrupp unterwegs, doch bisher hatten sie nichts als nur Lianen, Giftschlangen und Krabbeltiere gefunden.

Annabell hatte recht, sie sollten keine Zeit verlieren, jetzt, wo sie unbedingt fündig werden mussten, denn die Verborgenenorganisation in London übte zunehmend Druck auf das Forscherteam aus. Ursprünglich waren Annabell und Silva zusammen mit den Wissenschaftlern Jake und Wasil nach Südafrika geschickt worden, um während der dort stattfindenden Ausgrabungen eines Tempels anwesend zu sein und Informationen für die VO, der Organisation der übernatürlichen Wesen in England, zu sammeln. Es handelte sich um ein stinklangweiliges Projekt, denn der Tempel dort war nicht alt genug, um Informationen über alte Magie zu enthalten. Das war von vornherein klar gewesen.

Da die beiden jungen Frauen sich allerdings erhofft hatten, in Afrika neue Erkenntnisse zu ihren eigenen Forschungen zu ergattern, hatten sie ohne mit der Wimper zu zucken zugestimmt. Wann bekam man schon die Chance, für ein paar Wochen nach Afrika zu reisen und Kost und Logis vom Arbeitgeber bezahlt zu bekommen?

Seit zwei Jahren schon beschäftigten sich Silva und ihre Freundin mit der Prana, der Lebensenergie aller Lebewesen und dem Ursprung der Magie, sowie der Herkunft der Hexen, Vampire, Werwölfe und Dämonen.

Dämonen. Sie waren ein umstrittenes Thema und die meisten Menschen schliefen ruhiger, wenn sie die Tatsache ignorierten, dass Dämonen existierten. Schließlich lebten diese in der Unterwelt, einer eigenen Dimension, wenn man es so wollte, und hatten kaum Möglichkeiten, in die Realität zu gelangen. Doch wollte man wie Silva und Annabell den Ursprung der Magie erforschen, kam man einfach nicht daran vorbei, sich auch mit Dämonen zu befassen.

Zunächst war die Forschung der Freundinnen nahezu ergebnislos verlaufen, denn in Europa schien man alles, was an Dämonen erinnerte – oder Informationen, die auch nur ansatzweise mit ihnen zu tun hatten – weitestgehend ausgelöscht zu haben. Die Aussicht auf eine Reise nach Afrika allerdings war ihnen vielversprechend erschienen. Und tatsächlich hatten sie in Südafrika Hinweise gefunden, die darauf hindeuteten, dass die Einheimischen hier viel mehr über Dämonen und die Unterwelt wussten, als in Europa bekannt war. Während der Ausgrabungen des Tempels in Südafrika hatten die beiden jungen Frauen ihre Freizeit genutzt, um mit Einheimischen zu reden und sich alte Sagen und Legenden erzählen zu lassen. In Afrika war es kein Tabu, über Dämonen zu reden, und man versuchte nicht, das Thema totzuschweigen, auch wenn es lange Zeit gedauert hatte, bis Silva und Annabell das Vertrauen der Einheimischen erlangt hatten. Sie waren an allerhand brauchbare Informationen gelangt und beinahe alle Hinweise deuteten auf die Ureinwohner dieses Dschungels hin, die angeblich unendlich viel Wissen über Dämonen horteten.

Es war von einem Stamm die Rede, tief im Dschungel und fernab der Zivilisation. Von ihm wurde mit Ehrfurcht und nur in Verbindung mit inbrünstigen Gebeten gesprochen, denn laut einer Legende war der gesamte Stamm vor vielen Jahrzehnten von Dämonenhand ausgelöscht worden.

Als die Ausgrabungen des Tempels in Südafrika beendet waren, hatten Silva und Annabell mit Engelszungen auf den Leiter der Verborgenenorganisation in London, Mr. Gordon, eingeredet, bis dieser den beiden schlussendlich genehmigt hatte, die Forschungen im Kongo fortzuführen und sich auf die Suche nach Hinweisen zu besagtem Stamm zu machen. Und so hatte es sie tiefer ins Land hineingeführt, so weit in die Wildnis, dass Silva nicht im Traum gedacht hätte, dass jemals menschliches Leben bis hierher gedrungen war. Doch anscheinend hatte sie sich geirrt. Vor einigen Stunden hatte das Team Spuren vergangener Existenzen gefunden – und das keinen Tag zu früh.

Mr. Gordon, der VO-Leiter, war zunehmend mürrischer geworden und hatte ihnen schlussendlich eine Frist gesetzt, bis wann sie Ergebnisse erzielen mussten, bevor er ihnen die Geldmittel für diese, wie er es nannte, »sinnlosen Kinkerlitzchen« strich. Es war nie geplant gewesen, ein Team in den Kongo zu schicken, und nur Annabells Hartnäckigkeit hatten sie es zu verdanken, dass Gordon sich hatte überreden lassen. Er bereute die Entscheidung längst.

Silva verzog das Gesicht bei dem Gedanken an den festgefahrenen alten Mann, der kaum über den Tellerrand hinausschaute und den es nicht die Bohne interessierte, dass es neben der Realität noch eine weitere Welt gab, über die man bislang so gut wie nichts wusste.

Gerüchten zufolge bereitete sich Gordon bereits seit Jahren auf den Ruhestand vor und seine potenziellen Nachfolger standen Schlange. Insbesondere Henry Cole, ein ehrgeiziger Jungspund, galt als Favorit für den Posten des Leiters der Verborgenenorganisation. Silva war jedoch unsicher, ob dieser andere Ziele verfolgte als Mr. Gordon.

Sie wollte es nicht auf einen Versuch ankommen lassen. Vermutlich war diese Forschungsreise ihre letzte Möglichkeit, brauchbare Ergebnisse zu erzielen und mehr über die Unterwelt herauszufinden, bevor man sie wieder für langweilige Forschungen im Labor einsperren würde. Nach den letzten aufregenden Wochen konnte sie sich kaum vorstellen, wieder unverrichteter Dinge in ihre kleine Wohnung in London zurückzukehren und jeden Tag an die Arbeit zu gehen.

Was hatte sie in den zwei Jahren, die sie nun für Mr. Gordon arbeitete, schon Bahnbrechendes herausgefunden? Nichts! Eine Kerze, deren Duft während der Zeit des Vollmondes entspannend auf Werwölfe wirkte? Das war wohl kaum der Rede wert.

Silva schüttelte den Gedanken ab. Sie und Annabell waren kurz davor, etwas zu entdecken, das die Welt tatsächlich verändern konnte. Wenn die Hinweise, die sie gefunden hatten, wirklich stimmten, hatten sich die Menschen vor vielen Jahrzehnten der Magie der Dämonen bedient, auf welche Weise auch immer. Was das genau bedeutete, konnte sich Silva kaum ausmalen, aber es konnte ein Durchbruch werden, und sie würde versuchen, alles darüber herauszufinden, wenn ihr nur genug Zeit blieb. Und die hatte sie nicht.

Wenn dieser Stamm so viel Kontakt zu Dämonen gehabt hatte, wie die Gerüchte besagten, dann waren vielleicht noch unschätzbare Informationen erhalten geblieben.

Silva kletterte über einen Felsen und versuchte, unter dem lauten Gezwitscher exotischer Vögel und dem Geschrei von Affen auszumachen, wo sich ihre Freundin befand. Sie entdeckte Annabell ein paar Meter weiter. Sie starrte angestrengt auf eine Karte, als versuche sie, zwischen all dem Grün einen Hinweis darauf zu finden, dass sie auf dem richtigen Weg waren.

Silva nutzte den Moment, um ihre Freundin zu betrachten. Annabell war das exakte Gegenteil von Silva. Während Silva mit ihrem zarten Körper, der hellen Haut, den vielen Sommersprossen und den roten Haaren eher einer Porzellanpuppe glich, war Annabell sehnig und braun gebrannt. Ihre dunklen Locken verliehen ihr das exotische Aussehen, das zu ihrem Temperament passte. Nur die grünen Augen teilten sich die beiden Freundinnen, ein Hinweis auf ihre Hexenabstammung. Doch auch in ihren magischen Fähigkeiten unterschieden sich die beiden grundlegend, denn während Silva die Gabe des Feuers angeboren war, beherrschte Annabell den Wind und konnte ihre Magie zudem verwenden wie funkelnden Strom, der aus ihren Fingern floss – eine sehr seltene Gabe.

Annabell war in vielerlei Hinsicht perfekt und zog nicht selten die Blicke der Männer auf sich. Auch jetzt glich sie einer Amazone, als sie in einem bauchfreien Top und einer engen schwarzen Hose dastand und die Hände in die Hüften stemmte. Annabell wusste um ihr Aussehen und ihre magischen Fähigkeiten und nutzte sie nicht selten, um bei Männern Eindruck zu schinden oder schlicht und einfach ihren Willen durchzusetzen.

Sie war manchmal etwas impulsiv, doch Silva wusste damit umzugehen, und so war zwischen ihnen schon während der gemeinsamen Schulzeit an der Winterfold Akademie eine gute Freundschaft entstanden, bevor sie sich gemeinsam der Forschung gewidmet hatten. Silva schätzte es, dass Annabell kein Blatt vor den Mund nahm und ehrlich sagte, was sie dachte. Nicht viele Menschen taten das. In Annabell loderte ein Feuer, das Silva von Anfang an begeistert hatte. Durch ihre gemeinsame Hingabe an die Forschung und den unerschöpflichen Wissensdurst, den sie teilten, hatten sie zueinander gefunden. Annabell gehörte zu den Menschen, die für einen durchs Feuer gehen würden, wenn man einmal ihre Gunst erlangt hatte.

Als Silva jetzt näher kam, hob Annabell den Kopf.

»Wir müssten schon längst etwas gefunden haben«, murmelte sie mit einem ärgerlichen Stirnrunzeln. »Aber hier ist nichts außer diesem verdammten Gestrüpp!«

Wie zur Bestätigung knackte das Funkgerät an ihrer Hüfte erneut und leise Worte drangen durch das Rauschen. Auch der Rest des Suchtrupps war nicht fündig geworden.

»Wir könnten alle eine Pause gebrauchen, Annabell.«

Silva konnte nur zu gut verstehen, dass ihre Freundin keine Sekunde vergeuden wollte. Sie selbst wand sich bei dem Gedanken, am morgigen Tag abzureisen und vielleicht den größten Fund ihres Lebens zurückzulassen. Aber sie alle waren ausgelaugt von den letzten Wochen, demotiviert von den vielen Stunden ergebnisloser Suche an Orten wie diesem, an denen so viele Gefahren lauerten. Giftschlangen, Spinnen und Leoparden waren nur ihre geringsten Sorgen, schließlich hatte das Forscherteam die Jäger der Verborgenenorganisation nicht ohne Grund zum Schutz bereitgestellt bekommen.

Wie lange war es vertretbar, das Leben aller Mitglieder aus dem Team aufs Spiel zu setzen – für etwas, was es vielleicht gar nicht gab? Trotz der Anzeichen auf zivilisiertes Leben, die sie ausgemacht hatten, hätten sie schon viel mehr finden müssen. Wann war es an der Zeit, loszulassen und sich eine Niederlage einzugestehen?

Annabells Kiefermuskeln zuckten, als sie die Zähne zusammenbiss.

»Na schön, ich rufe alle zu einer Teambesprechung zusammen«, gab sie nach und entfernte sich ein paar Schritte, beschäftigt mit dem Funkgerät.

Kurz darauf fanden sich Silva und Annabell zeitgleich mit den beiden Wissenschaftlern Wasil und Jake auf der Lichtung ein, die sie zuvor als Sammelpunkt vereinbart hatten. Mit einem Kopfschütteln bedeutete Wasil, dass ihre Suche ebenfalls ergebnislos geblieben war.

Jake und Wasil hatten sich Silva und Annabell nach den Tempelausgrabungen im Süden Afrikas freiwillig angeschlossen, als die Reise weiter in den Kongo ging. Silva mochte die beiden Wissenschaftler, mit denen sie sich ein Büro in der VO in London teilte, auch wenn sie unterschiedlicher nicht sein konnten.

Während Wasil die Gabe hatte, Gegenstände mit seinen Gedanken umzuformen, und mit seinen buschigen Augenbrauen und dem düsteren Blick eher mürrisch wirkte, war Jake so etwas wie das Nesthäkchen der Gruppe. Der junge Hexer, der ein Jahr nach Silva zur VO gekommen war, beherrschte die Biokinese und konnte sein Aussehen verändern. Außerdem gehörte er zu den klügsten Köpfen, die Silva je kennengelernt hatte, auch wenn er manchmal etwas unbeholfen wirkte, wenn es um alltägliche Dinge ging. Jake war ein Genie, wahrscheinlich intelligenter als Silva, Annabell und Wasil zusammen, aber hier im Dschungel vollkommen fehl am Platz. Jetzt sahen die beiden Wissenschaftler genauso mitgenommen aus, wie Silva sich fühlte.

Sie ließen die schweren Rucksäcke von ihren Rücken gleiten und Wasil setzte sich ohne zu zögern in das Gras, während Jake den Platz noch nach Ameisen und Spinnen absuchte.

Silva lächelte müde, während sie ihn betrachtete. Allein seine Neugier hatte ihn dazu gebracht, sich der Gruppe anzuschließen, aber er hatte nicht gewusst, worauf er sich einließ. Jake hatte London vor dieser Mission noch nie verlassen. Schon die Reise nach Südafrika war ein großes Ereignis für ihn gewesen, aber dort hatte er sich in einer sicheren Zone befunden. Hier draußen in der Wildnis gab es keine medizinische Hilfe, keinen Supermarkt oder die Möglichkeit, mal schnell nach Hause zu telefonieren, was Jake am meisten zu schaffen machte. Er hatte sich in dieses Abenteuer gestürzt, doch schon am ersten Tag hatte sich die Euphorie in Selbstzweifel verwandelt.

Silva rechnete es ihm hoch an, dass er noch nicht das Handtuch geworfen hatte und sich weiter durchkämpfte, doch insgeheim wusste sie, dass dies seine letzte Forschungsreise sein würde. Keine zehn Pferde würden Jake mehr aus seinem Labor in England hinaus in die Wildnis bringen.

Er hatte in den letzten Wochen etwas abgenommen und dank seiner so schon schmalen Statur in Verbindung mit dem jungenhaften, pausbäckigen Gesicht und den blonden Haaren, die nun lockig in alle Richtungen abstanden, wirkte er sehr viel jünger, als er war.

Silva setzte sich zu den beiden Männern und kramte in ihrem eigenen Rucksack nach einem Verbandskasten.

»Lass mich das säubern, bevor es sich entzündet«, sagte sie und deutete auf einen langen Kratzer, der sich über Jakes Wange zog. Sie tränkte eines der sterilen Tücher mit Desinfektionsmittel und beugte sich zu ihm. Jake zog zischend die Luft ein, als sie über den Kratzer fuhr.

»Es brennt«, verteidigt er sich, als Wasil schmunzelte.

Trotz ihrer Gegensätzlichkeit kamen die beiden gut miteinander aus, schließlich war es schwer, Jake nicht zu mögen. Insgeheim vermutete Silva, dass Wasil einen Beschützerinstinkt ihm gegenüber entwickelt hatte. Das hielt ihn allerdings nicht davon ab, Jake ab und zu wegen seiner übertriebenen Furcht und seinem Gejammer aufzuziehen.

Wasil war ein ruhiger und bodenständiger Mann mittleren Alters, aus dem Silva manchmal nicht so richtig schlau wurde. Die meiste Zeit wirkte er ernst und sein düsterer Gesichtsausdruck mit den zwei Falten zwischen den kräftigen, dunklen Augenbrauen konnte auf den ersten Blick abweisend und einschüchternd wirken. Silva hatte ihn jedoch als einen gutmütigen Menschen kennengelernt, der mit seinem trockenen Humor durchaus gesellschaftsfähig war.

»Bist du auch verletzt?«, fragte ihn Silva, weil sie unter der Schmutzschicht auf seinen Händen ein bisschen Blut erkannte.

»Nicht der Rede wert«, brummte Wasil mit seinem leichten russischen Akzent. »Kümmere dich um Jake, bevor er verblutet.«

»So schlimm ist es doch gar nicht«, antwortete dieser vollkommen verständnislos und Silva presste die Lippen aufeinander, um nicht zu lachen und ihn zu kränken.

Doch während sie erst Jake und dann Wasil behandelte, blieb ihr Blick immer wieder an Annabell hängen, die ruhelos am Rand ihres Lagerplatzes auf und ab ging.

Erst als nach und nach die fünf Jäger der VO eintrudelten, die während der Reise für die Sicherheit der Wissenschaftler sorgen sollten, setzte Annabell sich mit an den provisorischen Lagerplatz und verteilte Wasserflaschen, Fladenbrote und für jeden eine Banane.

Die beiden einheimischen Reiseführer standen stumm am Rande der Lichtung und beobachteten die Gruppe. Annabell hatte sie gut dafür bezahlt, dass sie das Team durch den Dschungel lotsten, denn die Forschergruppe war auf ihre Ortskenntnisse angewiesen. Die Reiseführer warnten vor unbefestigten Hängen, hatten sie schon mehrmals vor giftigen Pflanzen und einmal vor dem Giftstachel eines Skorpions bewahrt und alle sicher wieder zurück in das Dorf gebracht, das das Forscherteam freundlicherweise und natürlich gegen gute Bezahlung aufgenommen hatte.

»Ist rundrum alles sicher?«, erkundigte sich Annabell kühl bei Davin, einem der beiden Werwölfe, die das Forscherteam vor Halbdämonen schützen sollten – sogenannten Mairas, die, durch ihren Futterrausch angetrieben, versuchten, Lebensenergie aus allem zu ziehen, das ein Herz und einen Puls hatte. Der ausgebildete Jäger war Experte darin, Mairaspuren ausfindig zu machen.

Der muskulöse Mann mit dem buschigen Vollbart und den goldgelben Augen nickte düster. »Es deutet nichts darauf hin, dass Mairas in der Gegend sind.«

Annabells Gesichtszüge entspannen sich etwas. »Wie viel Zeit haben wir noch, bis wir zurückmüssen?«

Davin wedelte vage mit der Hand. »Vielleicht zwei Stunden, bis wir den Rückweg antreten müssen, um vor der Dunkelheit ins Dorf zurückzukommen.«

Annabell knirschte mit den Zähnen. »Wenn keine Mairas in der Nähe sind, können wir auch im Dunkeln zurücklaufen«, kommentierte sie harsch. »Dann können wir die Suche noch ein bisschen länger fortsetzen.«

Davin wechselte einen Blick mit Leander, einem großen und breit gebauten Werwolf mit Glatze, langer Nase und verschlagenem Gesichtsausdruck.

»Die Einheimischen brechen auf, wann sie es für richtig halten. Sie werden sich nicht für uns den Gefahren aussetzen, die der Dschungel bei Dunkelheit bereithält«, antwortete Leander mit seiner tiefen Stimme, die Silva Schauer über den Rücken jagte. Die beiden Werwölfe waren fast zwanzig Jahre älter als sie und erfahrene Jäger, deren Urteil sie vertraute, sowenig es ihr gefallen mochte. Aber Annabell war nicht bereit, aufzugeben.

»Wir werden den Weg zurück auch alleine finden«, bestimmte sie.

Davin neigte verständnisvoll den Kopf, blieb aber unnachgiebig. »Ich werde nicht die Sicherheit meines Teams für eine aussichtslose Suche riskieren. Es ist zu gefährlich.«

Wütend stand Annabell auf und ging einige Schritte hin und her. »Wenn wir heute nichts finden, müssen wir abreisen. Dann war alles umsonst.«

»Vielleicht ist es auch einfach an der Zeit, zu akzeptieren, dass es hier nichts gibt«, antwortete Jules vorsichtig. Der junge Vampir mit den dunklen Haaren und den Grübchen gehörte ebenfalls zu den Jägern der VO, doch er mischte sich nur selten in solche Gespräche ein, was sehr viel darüber verriet, wie sehr er nun das Ende der Forschungsreise herbeisehnte. Genau wie die beiden anderen Jäger, Richard und Shane, die zustimmend nickten.

Annabell warf ihnen einen giftigen Blick zu und Silva wusste, dass gleich eine hitzige Diskussion entfachen würde. Sie kannte diese Stimmung bei Annabell.

»Ich weiß, dass ihr alle am Ende eurer Geduld seid und am liebsten nach Hause fahren würdet«, versuchte Silva, die Situation zu entschärfen, »aber uns ist diese Forschung wirklich wichtig.« Jules unnachgiebiger Blick wurde weicher, als er sich Silva zuwandte. Sie versuchte, sich nicht von dem makellosen Teint und den durchaus hübschen Gesichtszügen des Vampirs ablenken zu lassen, und sagte: »Annabell hat recht, es ist unsere letzte Chance, diese Mission mit Erfolg zu krönen.«

Jules sah aus, als wäre er geneigt, sich von Silva umstimmen zu lassen. Sie schätzt ihn als draufgängerisch genug ein, um den Aufbruch zu verschieben. Annabell wartete mit verschränkten Armen schweigend ab, während ihr Blick zwischen Jules und Silva hin- und herhuschte. Sie überließ Silva das diplomatische Gespräch.

Aber es war Davin, der sich vorbeugte, die Hände verschränkte und mit leiser Stimme sagte: »Bist du schon einmal einem Maira bei Dunkelheit begegnet?«

Silva zögerte, bevor sie stumm verneinte.

»Ich bin seit zwanzig Jahren Jäger«, fuhr Davin ungerührt fort, seine Stimme rau wie Schmirgelpapier. Silva bekam eine Gänsehaut. »In diesen zwanzig Jahren habe ich gegen Dutzende dieser Kreaturen gekämpft. Ich weiß, wie sie sich verhalten, weiß, wie ich sie töten kann, ohne verletzt zu werden.« Er zog vorsichtig am Kragen seines T-Shirts und entblößte einen Teil seiner Brust. Silva biss sich auf die Lippe und Jake schnappte neben ihr bestürzt nach Luft. Über Davins Brust zogen sich drei wulstige Narben. Die Klauen, von denen sie stammten, mussten das Fleisch förmlich zerrissen haben.

»Nur ein einziges Mal bin ich einem von ihnen im Dunkeln begegnet. Nachdem ich es jahrelang mit mehreren Mairas gleichzeitig aufnehmen konnte, war ich diesem hier weit unterlegen, und er hätte mich getötet, wenn Leander mir nicht zu Hilfe gekommen wäre.«

Silva schluckte hart.

»Diese Kreaturen vereinen sich mit der Dunkelheit. Sie bewegen sich lautlos, verschmelzen mit der Nacht. Sie sind der geflügelte Tod, der dich von hinten angreift, bevor du überhaupt registrierst, dass er da ist. Also brechen wir früh genug auf, um vor der Dunkelheit zurück im Dorf zu sein.« Selbst Annabell war bei Davins Erzählung erbleicht und wagte es nicht, zu widersprechen.

»Na schön, dann sollten wir die letzten beiden Stunden nutzen und auf ein Wunder hoffen«, gab sie tonlos zurück und kehrte der Gruppe den Rücken, um wieder im Dschungel zu verschwinden.

Davin lehnte sich erleichtert zurück. »Das ist die richtige Entscheidung.«

»Wahrscheinlich«, gab Silva zu. »Aber es macht sie nicht leichter. Wir haben all unsere Hoffnungen in diese Reise gesteckt.«

Jake sackte neben ihr in sich zusammen. »Ich weiß nicht, wieso sich Annabell noch etwas vormacht. Wir hätten längst etwas finden müssen, wenn es hier einmal Menschen gelebt hätten.«

»Der Dschungel ist groß«, gab der etwa fünfundzwanzigjährige Shane zu bedenken. »Vielleicht waren eure Berechnungen falsch.« Auf den ersten Blick wirkten seine Augen wie von der Dunkelheit geküsst, ein rauchiges und verheißungsvolles Nachtschwarz. Aber bei genauerem Hinsehen erkannte man bei ihm einen veilchenblauen, schmalen Ring, der die Pupille umschloss. Silva fand die Augen der Vampire schon immer faszinierend, wie die glatte Oberfläche eines Sees, in dem sich der Sternenhimmel spiegelte. Der rothaarige Vampir ließ echte Neugier erkennen.

»Ziemlich unwahrscheinlich«, begann Jake sofort, zu erklären. Innerhalb von Sekunden verstrickte er sich in der Erklärung seiner Theorien. Er hatte den Ort durch Angaben von Einheimischen berechnet. Außerdem hatte er die Landschaft analysiert und herausgefunden, dass die Lage aufgrund des stark abfallenden Geländes und des Flusses, der sich in der Nähe befand, im weiten Umkreis die einzige Stelle war, die zur Errichtung eines Dorfes infrage kam.

Silva vertraute seinem Wissen und seinen Analysen. Dennoch hatte die Natur in diesem Gebiet definitiv keinen menschlichen Einfluss erfahren. Sie hatte nichts gefunden außer dieser vom Regen glatt gewaschenen, flachen Steinplatte.

Silva blickte hinauf zu den Baumwipfeln, in denen man, wenn man Glück hatte, manchmal Papageien oder Affen sehen konnte.

Wieso war ihr diese Steinplatte überhaupt aufgefallen? Sie nagte gedankenverloren an ihrem Fingernagel und eine plötzliche Unruhe überkam sie.

»Wo willst du hin?«, fragte Jake, als Silva aufsprang.

»Ich … ich muss nur etwas überprüfen«, antwortete sie geistesabwesend. Irgendetwas in ihr hatte sich verändert. Vielleicht war es dieser kleine Hoffnungsschimmer, der gerade durch die dichte Nebelwand der Enttäuschung geblitzt war. Vielleicht aber auch der letzte, verzweifelte Versuch, der unausweichlichen Rückreise nach London zu entgehen. Die plötzliche Aufregung hatte mit dem glatten Stein zu tun. Aber warum? Er ist mir aufgefallen, weil er der einzige seiner Art hier ist, schoss ist Silva durch den Kopf. Weil keiner der Felsen, die sie bisher gesehen hatte, solch eine Form und so eine glatte Oberfläche gehabt hatte.

2

Silva

Silva verließ die Lichtung, wurde von Farnen verschluckt und schlug die Richtung ein, aus der sie gekommen war. Den Blick auf den Boden geheftet versuchte sie, die Stelle wiederzufinden, an der ihr der Stein aufgefallen war. Sie fand ihn eine Viertelstunde später. Eine flache Platte, die unter der harten Erde lag und von der nur ein kleiner Teil sichtbar war.

Silva kniete sich auf den Boden und tastete nach dem Meißel, der am Gürtel an ihrer Hüfte angebracht war.

Die Spitze des Meißels setzte sie am Rand der Steinplatte an. Sie fluchte, weil sie den Rucksack mit den Werkzeugen auf der Lichtung vergessen hatte. Also verwendete sie ein Stück Holz, um hinten auf den Meißel zu schlagen und die feste Erde von der Steinplatte abzutragen.

Die Platte war größer, als sie erwartet hatte. Silvas Gesicht schwebte dicht über dem Boden, ihr Atem wirbelte trockenen Staub auf, der sich auf ihrer feuchten Haut niederließ.

»Annabell!« Ihr lauter Ruf schreckte ein paar Vögel hoch oben in den Wipfeln auf. »Annabell!«

Silva machte sich nicht die Mühe, aufzublicken, als sie die knackenden Äste einer herannahenden Person hörte. Die Stiefel ihrer Freundin gelangten in ihr Sichtfeld. Silvas Augen leuchteten vor Aufregung, als Annabell sich ihr gegenüber hinkniete.

»Sag mir, dass ich mir das nicht nur einbilde«, hauchte Silva, richtete sich auf und strich wieder und wieder über den Stein, der dort, wo sie ihn freigelegt hatte, feine Rillen aufwies.

Annabells Augen waren weit aufgerissen. Mechanisch nahm sie ihr Funkgerät hoch.

»Silva hat etwas gefunden«, rief sie laut hinein. Es rauschte und knackte.

»Verstehe. Und was?«, fragte Wasil, nur schlecht zu verstehen.

»Einen Stein mit … Symbolen oder so etwas in der Art.«

Silva ließ den Finger über die Rillen in dem Stein gleiten, über Kreise und Spiralen, Dreiecke und Vierecke. Sie konnte ihr Glück kaum glauben.

»Mit diesem Fund kann ich Gordon vielleicht überreden, uns einen weiteren Tag zu gewähren«, überlegte Annabell laut und sah Silva an. Einen Augenblick später lagen sie sich in den Armen, erleichtert und aufgeregt zugleich.

»Nun bewegt eure Hintern schon hierher!«, rief Annabell lachend ins Funkgerät und das verräterische Glänzen in ihren Augen ließ Silva das Herz aufgehen. »Wir haben jede Menge zu tun!«

Als Wasil, Jake und die fünf Jäger eintrafen, hatten Silva und Annabell weitere Teile der Steinplatte freigelegt. Sie hatte gut einen Meter Kantenlänge und steckte tief im Boden.

Selbst die Jäger, die eigentlich für ihre Sicherheit verantwortlich waren, beugten sich interessiert vor.

»Braucht ihr unsere Hilfe?«, bot Davin höflich an, vielleicht, um Annabell wieder zu besänftigen, nachdem er ihren Wunsch nach mehr Forschungszeit auf der Lichtung abgeschlagen hatte.

Annabell musterte den bärtigen Muskelprotz eingehend. »So viele Männer, wie du entbehren kannst.«

Davin nickte zustimmend. »Es reicht, wenn Jules und Richard die Gegend im Auge behalten.«

Die beiden jungen Vampire gehorchten dem Befehl ohne zu zögern und verschwanden im Gebüsch, der hübsche Jules jedoch erst, nachdem er Silva zugezwinkert hatte.

»Davin, Leander, könnt ihr die Steinplatte weiter ausgraben?«, fragte Silva die beiden Werwölfe. »In der Zeit können Jake, Wasil, Annabell und ich nach weiteren Steinen suchen. Jetzt wissen wir ja, dass wir nur ein bisschen unter der Oberfläche graben müssen. Shane, würdest du uns dabei helfen?«

Der rothaarige Vampir verbeugte sich theatralisch.

»Stets zu Diensten«, spöttelte er albern, aber Silva war schon damit beschäftigt, zwischen den Bäumen nach weiteren Bodenplatten zu suchen.

»Vielleicht suchen wir doch an der falschen Stelle«, murmelte Silva einige Zeit später in Gedanken vertieft.

Annabell, die ihr mit Jake und Wasil gefolgt war, schüttelte energisch den Kopf.

»Wir haben alles im Umkreis von drei Kilometern abgesucht. Laut Jakes Karte müssen wir am richtigen Ort sein. Bis auf diese Steinplatte ist es, als wären sämtliche Hinweise wie vom Erdboden verschluckt. Das hier ist der erste richtige Fund – und wir sollten hoffen, dass es nicht der letzte ist.«

Grimmig betrachtete Annabell eine giftgrüne Schlange, die sich an einem Baumstamm neben ihr herabschlängelte, als könne sie das Tier mit einem drohenden Blick verjagen. Silva hätte schwören können, dass die Schlange zurückwich. Doch etwas an dem, was Annabell gerade gesagt hatte, ließ sie innehalten.

Sie standen wieder auf der großen Lichtung, auf der sie Rast gemacht hatten und auf der nur vereinzelte kleine Bäume wuchsen. Rechts von ihnen erstreckte sich ein steiler Hang nach oben, während das Gelände zur linken Seite hin abschüssig war.

Jahrhundertealte Bäume säumten die Lichtung und ragten bis weit in den Himmel hinauf, während der Boden direkt unter ihren Füßen eher spärlich bewachsen war. Eine so große Lichtung wie diese hier war tief im Dschungel eher ungewöhnlich. Es schien, als wäre sie erst vor einigen Jahren entstanden. Vielleicht durch einen Erdrutsch? Zur Regenzeit kamen große Wassermassen vom Himmel herab, die nicht selten auch die größten Bäume entwurzelten und alles unter sich begruben.

»Vom Erdboden verschluckt …«, wiederholte Silva leise Annabells Worte und kniff die Augen zusammen. Dann brach sie plötzlich in Gelächter aus. Wasil zog seine buschigen Augenbrauen in die Höhe. Annabell verschränkte die Arme und schürzte die Lippen.

»Habe ich einen Witz verpasst? Lässt du mich an der Pointe teilhaben?«, fragte sie genervt und schüttelte den Kopf, während Silva über das ganze Gesicht strahlte.

»Ich glaube, ich habe gefunden, wonach wir suchen«, antwortete Silva atemlos, ohne auf die schlechte Laune ihrer Freundin einzugehen.

Verblüfft blinzelte Annabell. »Wo?«

Silva schmunzelte. »Wir stehen darauf.«

»Wir stehen darauf?«, fragt Annabell verständnislos, doch als sie den felsigen Hang zu ihrer Rechten betrachtete, dämmerte ihr so langsam, was Silva meinte.

»Ich verwette mein gesamtes Hab und Gut darauf, dass hier einmal Menschen gelebt haben und die Natur sich ihr Gebiet im Laufe der Jahre einfach wieder zurückgeholt hat. Was auch immer sich hier befunden hat, ist vermutlich durch einen Erdrutsch verschüttet – und mit der Zeit sind hier wieder Pflanzen gewachsen.« Silva war stolz auf ihre Theorie.

Jake strahlte über das ganze Gesicht und Wasil stieß anerkennend einen Pfiff aus.

»Da brat mir doch einer einen Storch …«, murmelte Annabell kopfschüttelnd, doch auch ihr war die Aufregung an den leuchtenden Augen anzusehen. »Ich hoffe für dich, dass du recht hast, denn ansonsten ist unsere Reise vermutlich an dieser Stelle vorbei.«

Annabell begann, den Boden genauer unter die Lupe zu nehmen, und hielt Ausschau nach verräterischen Anzeichen, während sie das abschüssige Gelände links von ihnen hinabstieg.

»Ich hoffe es auch«, seufzte Silva, als sie ihrer Freundin folgte. »Andernfalls wird uns Gordon ewig vorhalten, dass wir seine Gelder verschwendet haben.«

Gemeinsam suchten sie nach weichem Untergrund oder einer anderen Möglichkeit, herauszufinden, was sich unter den Erdmassen befand. Hatten die Ureinwohner ihre Behausung vielleicht direkt als Höhlen in den Stein gehauen? Oder suchten sie hier nach Holzhütten, die seit Jahren unter Geröll und Schlammmassen vergraben waren? In diesem Fall würden sie kaum mehr als verrottetes Holz finden.

Doch die Steinplatte, die Silva entdeckt hatte, sprach eine andere Sprache. Konnte darunter etwas verborgen sein? Silva führte Annabell zu der Stelle am Hang, unter der sie mehr als nur Erde und Gestein vermutete. Sie untersuchten den Boden genauer, doch die Erde war steinhart. Wasil und Jake prüften schweigend eine andere Stelle in der Nähe.

»Weißt du, was ich mich in den letzten Stunden dauernd gefragt habe? Was, wenn wir falschliegen? Und doch noch nach Hause beordert werden?«, fragte Annabell, während sie mit den Händen versuchte, einen weiteren glatten Stein freizulegen, den sie entdeckt hatte. Mit Hammer und Meißel schlug sie auf die harte Erde rundherum ein. »Was willst du dann machen?«

Silva ließ sich Zeit, um darüber nachzudenken. »Ich glaube nicht, dass Gordon uns eine weitere Reise gewährt. Vielleicht setze ich die Forschungen auf eigene Faust fort.« Doch insgeheim wusste sie, dass dies der beste Anhaltspunkt war, den sie je gehabt hatte, und dass es Jahre dauern konnte, bis sie wieder so eine Spur finden würde.

»Möglicherweise widme ich mich auch etwas ganz anderem«, fügte sie achselzuckend hinzu. »Aber ins Labor zurückzukehren, wo wir uns mit sinnlosen Experimenten aufhalten, erscheint mir wenig reizvoll.«

»Und was genau hast du vor?«, schnaubte Annabell. »Willst du Duftkerzen auf dem Markt verschachern wie Amalia?«

»Am ist glücklich damit«, verteidigte Silva ihre Schwester, die eine esoterische Veranlagung hatte und vor einigen Jahren in eine Kleinstadt gezogen war, um sich in einem weihrauchgeschwängerten, kleinen, mit allerhand Tand zugestellten Haus niederzulassen. Ein bisschen beneidete Silva ihre ältere Schwester, die einfach zufrieden mit dem war, was sie hatte. Silva war in dieser Beziehung anders. Sie wollte mehr in ihrem Leben erreichen und strebte von jeher nach Wissen.

»Was ist mit dir?«, rief sie Annabell zu, während sie einen beinahe völlig entwurzelten Baum näher untersuchte, der ein Stück von der Steinplatte entfernt lag. »Wirst du zur VO zurückkehren?«

Silva wusste, dass Annabell genauso unzufrieden sein würde, wenn sie nur im Labor arbeiten durfte, um Möglichkeiten zu erforschen, das Leben für die Verborgenen zu erleichtern. Nach ihrem Schulabschluss waren die Freundinnen voller Euphorie gewesen, glücklich, beide in der Forschungsabteilung der VO angenommen worden zu sein. Aber die Freude hatte schnell einen Dämpfer bekommen, als sie einen Blick hinter die Kulissen geworfen hatten. Statt aufregender Forschungsreisen, Ausgrabungen und finanziellen Mitteln für bahnbrechende Magieexperimente wurde der Abteilung nicht der Wert zugestanden, den sie in Silvas Augen verdient hätte. Stattdessen verbrachten die Wissenschaftler die meiste Zeit damit, langweilige Berechnungen über die Auswirkungen des Vollmondes auf die Magie anzustellen, den Einfluss von Düften und Kräutern auf den Verwandlungsvorgang von Werwölfen zu erforschen oder bluthaltige Nahrungsmittel für Vampire herzustellen.

Dass Gordon Silva und Annabell nach Südafrika geschickt hatte, auf ihre erste richtige Reise, hatte nur den Grund gehabt, dass ein Engländer den Tempel dort gefunden hatte und alle wertvollen Ausgrabungsgegenstände damit der Regierung zustanden.

Was die Forschung anging, war die Verborgenenorganisation sehr festgefahren, denn ihre Hauptaufgabe lag darin, die Existenz von übernatürlichen Wesen wie Hexen, Vampiren und Werwölfen vor den Normalsterblichen geheim zu halten. Da die Übernatürlichen, allgemein Verborgene genannt, mitten unter den normalsterblichen Menschen lebten, hatte die VO auch so etwas wie eine Aufsichtsfunktion und fungierte als Polizei. Innerhalb der VO gab es zudem eine Abteilung für Jäger, die regelmäßig Jagd auf Mairas machten. Die Jäger schützten bewohnte Gebiete durch magische Schilde vor den Übergriffen der abscheulichen Halbdämonen.

Damit blieb der VO für Forschungen über Dinge, die für die Realität momentan unerheblich waren, kaum Geld übrig.

Annabell zögerte, bevor sie antwortete. »Ich werde nicht zur VO zurückkehren, wenn diese Mission ergebnislos bleibt«, gab sie schließlich zu und bestätigte Silvas Verdacht. Annabell hatte sich in den letzten Monaten mehrfach darüber ausgelassen, welch sinnlose Zeitverschwendung die Laborarbeit geworden war.

»Und wo willst du stattdessen hin?«

Annabell grinste. »Zurück zur Winterfold Akademie.«

Silva blinzelte ihre Freundin an. »Du willst zur Schule zurückkehren?«

An der Winterfold Akademie hatten sie und Annabell gemeinsam ihre Ausbildung abgeschlossen. Das Internat für Hexen, Werwölfe und Vampire lag tief verborgen im Wald und war während der Jahre ihrer Ausbildung zu einem zweiten Zuhause geworden. Annabell hatte es schon immer zu dieser Schule hingezogen, da sie bis auf einen Bruder keine näheren Verwandten hatte.

»Du willst Lehrerin werden«, erkannte Silva. Annabell zuckte mit den Achseln.

»Wie ich höre, sucht die Winterfold Akademie Personal. Und seien wir ehrlich, wenn diese Reise hier erfolglos bleibt, ist die Schule eindeutig die bessere Option.«

Silva kam nicht umhin, ihr zuzustimmen.

»Du kannst dich doch auch dort bewerben«, schlug Annabell vor, doch Silva schüttelte energisch den Kopf.

»Und zusammen mit Sheffield arbeiten? Nie im Leben!«

Der junge Lehrer hatte zu Silvas Schulzeit keine Gelegenheit ausgelassen, ihr das Leben schwer zu machen, nachdem sie es gewagt hatte, ihm einmal im Unterricht zu widersprechen. Dabei hatte sie nur darauf hinweisen wollen, dass das, was er seinen Schülern in dieser Stunde beibrachte, nicht gänzlich der Wahrheit entsprach. Silva hatte es nicht böse gemeint, doch anstatt seinen Fehler einzusehen, war Sheffield hochrot angelaufen und hatte alles darangesetzt, Silva als unwissend und naiv darzustellen.

Annabell kommentierte den Einwurf lediglich mit einem bedauernden Seufzer, dann suchten sie schweigend weiter. Plötzlich rauschte und knackte Annabells Funkgerät.

»Was sagen sie?«, fragte Silva, da sie die Worte nicht verstehen konnte.

»Dass wir uns beeilen sollen. Es wird bald dunkel«, antwortete Annabell. Sie hatten einen langen Rückweg und bei Nacht konnte man sich im Dschungel leicht verirren. Deshalb mussten sie bald zum Lager zurückgehen, ehe die Nacht sie verschluckte.

Silva fluchte leise und widmete sich wieder der Baumwurzel, die mehr aus der Erde ragte, als dass sie darin verankert war. Sie schaufelte mit der Hand den Dreck beiseite, der sich erstaunlich leicht entfernen ließ.

»Ich glaube, ich habe einen Hohlraum entdeckt«, rief Silva ihrer Freundin zu. »Wenn wir …«

Ihre Worte endeten in einem erstickten Schrei, als der Boden unter ihr nachgab und sie in die Tiefe stürzte. Silva schlug dumpf auf und Dreck und Staub rieselten auf sie herab. Sie hustete, dann befreite sie sich von einigen Steinen und einer großen Wurzel, die ihr Bein unter sich begraben hatte. Silva biss die Zähne zusammen, als sie versuchte, das Bein zu bewegen. Es war nichts gebrochen, doch sie hatte einige Abschürfungen davongetragen. Als sie sich aufrichtete, wurde ihr bewusst, dass sie mehrere Meter tief unter der Erde gelandet war. Jeden Moment konnte die Decke über ihr zusammenbrechen. Sofort überrollte sie eine Welle der Panik, während ihre Augen versuchten, sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Instinktiv zapfte sie die Quelle der Magie in ihrer Brust an und konzentrierte sich darauf, einen kleinen schwebenden Feuerball zu erschaffen. Durch die Prana, die in ihrer Brust pulsierte, verstärkte sie ihre Gedanken und innerhalb einer Sekunde flackerte ein faustgroßer Feuerball auf ihrer Handfläche. Endlich konnte sie etwas sehen. Erschrocken hielt sie den Atem an.

Ihr erster Gedanke war, dass sie im unterirdischen Bau eines Tieres gelandet war, doch als ihre Augen sich mehr an die Dunkelheit gewöhnten, konnte sie vermoderte Steinwände erkennen. Vor ihr breitete sich ein Tunnel aus. An den Wänden und der Decke drangen Wurzeln zwischen den Steinen hervor. Silva tastete sich langsam voran und versuchte, den Gedanken daran zu verdrängen, welche Erdmassen sich über ihr befanden.

Nach einigen Schritten erreichte sie einen großen Raum. Ihr Herz begann, schneller zu schlagen. Sie war in einer Art Tempel – nein, in einer Kultstätte – gelandet, die die Natur im Laufe vieler Jahre beinahe vollends verschlungen hatte.

3

Silva

»Silva? Geht es dir gut?« Annabells erschrockene Stimme drang dumpf zu ihr herunter. Silva riss sich vom Anblick der großen unterirdischen Halle los und ging ein paar Schritte zu dem Loch zurück, durch das sie gestürzt war. Sie musste gut fünf Meter in die Tiefe gefallen sein und das Erdreich an den Wänden war zu brüchig, um hinauszuklettern.

»Ich bin in Ordnung«, rief sie nach oben. »Allerdings stecke ich hier unten fest.«

»Gott sei Dank«, antwortete ihre Freundin erleichtert. »Halte noch ein bisschen durch, wir holen dich da raus!«

»Wieso bist du denn in das Loch gefallen?«, rief Jake ungläubig von oben herab.

Silva rollte mit den Augen. »Es hat sich so nett vor mir aufgetan, da konnte ich einfach nicht widerstehen!«, antwortete sie und bereute es sogleich. Jake hatte meist Schwierigkeiten, Sarkasmus zu verstehen. Er konnte nichts dafür, sein genialer Geist funktionierte einfach anders als der der meisten Menschen.

»Ihr werdet es nicht glauben, aber ich bin in einem steinernen Gebäude gelandet! Ich glaube, es ist eine Kultstätte. Wir haben gefunden, wonach wir gesucht haben!« Silvas Stimme klang trotz der misslichen Lage begeistert und auch Annabells Überraschung war bis in die Tiefen des feuchten Erdreiches zu hören. Das aufgeregte Kribbeln in Silvas Bauch verscheuchte das mulmige Gefühl, obwohl es bestimmt noch einen Moment dauern würde, bis der Rest des Teams eingetroffen war und sie befreien konnte.

»Ich sehe mich ein wenig um«, rief sie daher nach oben.

»Sei vorsichtig! Und entferne dich am besten nicht zu weit«, warnte Annabell. »Es wird bald dunkel und wir müssen zurück. Je schneller du hier raus bist, umso besser.«

Silva fluchte leise. Jetzt, wo sie endlich einen grandiosen Fund gemacht hatte, sollte sie zum Lager zurück und sich die ganze Nacht gedulden, bis sie am nächsten Tag alles untersuchen konnte.

»Ich beeile mich«, rief sie nach oben und erhielt noch eine Warnung der Freundin, dass sie aufpassen solle, weil die Höhle noch nicht gesichert war und das Erdreich jeden Moment zusammenstürzen konnte.

Silva hastete zurück zur unterirdischen Halle und ließ den Feuerball in ihrer Hand heller leuchten.

»Wahnsinn«, hauchte sie.

Die Wände der Kultstätte waren gut zu erkennen, obwohl sie mit vertrockneten Ranken und Wurzeln bedeckt waren. In der Mitte der Halle befand sich eine steinerne Statue, die beinahe gänzlich zerstört, aber noch als eine Art Priester mit zwei Stierhörnern erkennbar war. Silva erschaudere bei dem Anblick und ihre anfängliche Euphorie wich zögerlicher Vorsicht. Durch den Feuerball, der flackernd über ihrer Hand schwebte, schienen die langen Schatten, die dieses Monstrum warf, an den Wänden zu tanzen.

Silva entdeckte alte Fackeln zu beiden Seiten des Raums, bedeckt von Spinnweben und vertrockneten Blätterranken, doch sie zu entzünden würde zu viel Zeit in Anspruch nehmen. Jeden Moment konnten Davin und seine Männer bereit sein, sie zu befreien, und bis dahin wollte sie sich so gut wie möglich umgesehen haben.

Von der Halle gingen mehrere Portale ab, die in verschiedene Kammern zu führen schienen. Manche Eingänge waren verschüttet, doch die linke Seite der Halle schien noch halbwegs intakt zu sein.

Silva spähte in die erste der Kammern und fand sich in einem kleinen Raum mit einem großen runden Steintisch und etwa zwanzig Steinhockern rundherum wieder. An den Wänden gab es zahlreiche Malereien und es waren Symbole und Wörter in einer fremdartigen Sprache eingemeißelt. Silva versuchte vergeblich, sie zu entziffern. Sie vermutete, dass es sich um die Sprache Kikongo handelte, die hier vereinzelt gesprochen wurde. Vielleicht würde es einer ihrer einheimischen Reiseführer übersetzen können.

Silva ging zurück in die Halle, um zum nächsten Raum zu gelangen. Sie tastete sich an der Wand entlang und ihre Finger strichen über den rauen Stein. Als sie ein paar tiefe Rillen erfühlte, betrachtete sie die Wand genauer. Die Furchen sahen aus, als seien sie von einer gewaltigen Klaue gezogen worden. Silvas innere Alarmglocken schrillten und sie spannte sämtliche Muskeln an, bereit, sofort die Flucht anzutreten, sollte es nötig werden. Doch dann siegte die Vernunft. Diese Spuren waren mehrere Jahrzehnte, wenn nicht sogar Jahrhunderte alt. Was auch immer sie verursacht hatte, war sicher längst nicht mehr hier.

Doch jetzt, da Silva ihren Blick dafür geschärft hatte, konnte sie weitere Spuren der Verwüstung entdecken. Einige der schwarzen Schlieren an den Wänden stammten augenscheinlich von einem Feuer. Die zerstörte Priesterstatue wies ebenfalls Kratzspuren auf und am Ende der Halle musste so etwas wie ein Steinthron gestanden haben, der jedoch so zertrümmert war, dass man es kaum erkennen konnte. Was mochte hier geschehen sein? Hatte es einen Kampf gegeben? Vielleicht mit Mairas? War das Volk, das hier gelebt hatte, gänzlich von diesen Kreaturen ausgelöscht worden?

Silva trat näher an die Trümmer des Throns heran, angezogen von einem kaum wahrnehmbaren bläulichen Funkeln zwischen den Gesteinsbrocken. Nichts in dieser Halle zeugte davon, dass die Menschen, die hier gelebt hatten, Wert auf Gold oder Edelsteine gelegt hatten. Bis auf die eingemeißelten Worte und Wandmalereien waren die Wände leer. Silva wusste, dass der Schmuck der Ureinwohner aus kleinen Stöcken und Knöchelchen bestanden hatte, aus denen man Ketten knüpfte, die besondere Kräfte haben sollten. Das Schimmern, das Silva unter dem Thron wahrnahm, schien nicht in diese verloren geglaubte Welt zu gehören.

Sie kniff die Augen zusammen, denn immer wieder verschwand das Glitzern, als sie darauf zuging. Silva war so darauf konzentriert, den Lichtschein nicht aus den Augen zu lassen, dass sie erst aufmerksam wurde, als Knochen unter ihren Füßen knirschten. Automatisch wanderte ihr Blick nach unten und mit einem lauten Aufschrei stolperte sie zurück. Entsetzt starrte Silva auf die Knochen, auf die sie getreten war.

Überall um den Thron herum lagen die letzten Überreste der Menschen, die vor vielen Jahrzehnten hier gelebt hatten. Silva konnte den Blick nur mit Mühe abwenden, doch das Bild hatte sich in ihr Gehirn gebrannt. Es war keine Frage mehr, dass hier ein Kampf stattgefunden haben musste. Die Knochen lagen um den Thron verteilt, als hätte man versucht, ihn oder besser denjenigen, der darauf gesessen hatte, bis zur letzten Sekunde zu verteidigen. Dieser Ort war zu einem unterirdischen Grab geworden.

Als sie sich angewidert zurückzog, blitzte noch einmal das blaue Funkeln auf, doch nichts auf der Welt hätte Silva in diesem Moment dazu gebracht, noch einmal den knochenübersäten Bereich der Halle zu betreten.

Morgen würde das Forscherteam hier so viele Informationen wie möglich sammeln und auch dem Geheimnis um den Kampf in der Höhle auf die Spur kommen. Für heute hatte Silva genug gesehen. Sie musste zurück zu Annabell und dem restlichen Team.

Auf dem Rückweg kam Silva an weiteren steinernen Kammern vorbei. Manche enthielten bettähnliche Steinvorschläge, andere mussten als Vorratslager gedient haben. Noch immer hingen getrocknete Kräuter von der Decke, doch die Feuerstelle in der angrenzenden Küche war längst erkaltet.

Als Silva wieder an dem runden Steintisch vorbeikam, blieb sie noch einmal stehen. Die Symbole an den Wänden dieser Kammer schienen sie beinahe magisch anzuziehen. Silvas Wissensdurst erwachte, wie bei jedem ungelösten Rätsel, das ihr begegnete. Was mochte hier geschrieben stehen? Waren es längst vergessene Erkenntnisse? Hinweise auf alte Magie?

Auf den ersten Blick schien der Raum keine Knochen oder Skelette zu enthalten, also wagte sie einige Schritte in die Kammer. Dabei fiel ihr Blick zuerst auf die Steinplatte des Tisches, die keineswegs so glatt war, wie es zunächst den Anschein gehabt hatte. Stattdessen fand sich Silva einem komplizierten Muster aus Linien und Symbolen gegenüber, die in einem Kreis angeordnet waren. Silva hatte ähnliche Kreise in alten Büchern gesehen, doch keiner von ihnen war so mit Mustern verschlungen und so vollkommen wie dieser. Rund um den Kreis waren Worte in den Stein gemeißelt und nur mit Mühe schaffte es Silva, den Blick abzuwenden. In ihrer Hosentasche kramte sie nach dem Notizbuch und dem Bleistift, die sie immer bei sich trug, und begann, mit schnellen und geschickten Bewegungen die Linien und das Muster des Kreises abzuzeichnen.

Als sie fertig war, betrachtete sie die eingemeißelten Wörter und riss nach kurzer Überlegung einige Seiten aus ihrem Notizbuch heraus. Diese legte sie über die Rillen auf der Steinplatte und ließ den Bleistift mit der flachen Seite über die Worte streichen, sodass sie auf das Papier gepaust wurden.

Silva war so in ihre Arbeit vertieft, dass sie die Stimmen, die vom Höhleneingang nach ihr riefen, erst nach einigen Minuten hörte. Schnell stopfte sie ihre Aufzeichnungen in die Hosentasche und machte sich auf den Rückweg.

Als sie wieder an der Stelle ankam, an der sie durch das Loch in der Decke gestürzt war, sah sie bereits ein langes Seil herunterhängen.

»Umbinden!«, rief einer der beiden einheimischen Reiseführer, ein dunkelhäutiger Werwolf, mit starkem Akzent.

Silva tat wie geheißen und kurz darauf wurde sie ruckartig in die Höhe gezogen. Der Mann hielt ihr Gewicht mühelos – einer der Vorteile, wenn man übermenschlich stark war.

Sobald sie wieder das schwindende Tageslicht um sich herum hatte, stand Annabell an ihrer Seite.

»Geht es dir gut?«, fragte sie. »Ich will alles über diese Kultstätte wissen!«

»Zuerst Rückweg«, knurrte der Werwolf, der Silva gerettet hatte.

»Wir hätten schon vor einer halben Stunde aufbrechen sollen«, gab auch Davin zerknirscht zu verstehen.

Einige vorwurfsvolle Blicke von den Einheimischen streiften Silva, als wäre sie mit Absicht in das Loch gestürzt.

»Blöde Köter«, murmelte Annabell, sodass nur Silva sie verstehen konnte. Annabell hatte nicht viel für Werwölfe und Vampire übrig. Doch Silva konnte den Mann verstehen. Die einheimischen Reiseführer hatten kein persönliches Interesse an dem wissenschaftlichen Erfolg der VO. Vermutlich hatten sie gehofft, die Suche bliebe erfolglos. Dass Silva nun doch fündig geworden war, bedeutete nur, dass die Forschungen noch einige weitere Tage, wenn nicht gar Wochen dauern würden. Und die heraufziehende Dunkelheit im Dschungel schien auch den alteingesessenen Männern tierischen Respekt einzuflößen.

»Was war dort unten?«, drängte Annabell wieder leise, als sich der Trupp endlich Richtung Lager aufmachte.

»Eine uralte, verschüttete Kultstätte«, antwortete Silva, während sie einer gewaltigen Wurzel auswich.

»So viel war mir schon klar«, entgegnete ihre Freundin augenrollend. »Ich meine, was genau hast du gefunden?«

Silva verzog das Gesicht. »Spuren von einem Kampf. Es stimmt, das Volk, das dort gelebt hat, wurde gewaltsam ausgelöscht.«

Annabells Augen weiteten sich erschrocken, leuchteten dann aber auf. »Von Dämonen?«

Silva hob zögernd die Arme. »Gut möglich. Da waren viele Wandmalereien, die dämonenartige Kreaturen zeigten, und einige Inschriften in fremder Sprache. Aber ich hatte keine Zeit, sie mir genauer anzusehen.«

Und außerdem ein riesiger Beschwörungskreis auf einem Tisch, dachte sie im Stillen, behielt diese Information aber vorerst für sich, ebenso die Tatsache, dass sie Kopien von einigen Inschriften gemacht hatte. Irgendetwas sagte ihr, dass sie zunächst alleine einen Blick darauf werfen sollte.

»Also haben die Stämme hier früher tatsächlich mit Dämonen zusammengearbeitet«, kommentierte Annabell knapp, als wäre damit eine ihrer Theorien bestätigt worden.

Silva blieb stehen. »Zusammengearbeitet? Annabell, sie wurden von ihnen getötet. Dämonen sind Monster. Du hättest dieses Grab sehen sollen.«

Sie schauderte und schlang die Arme um ihren Körper.

Annabell schnalzte mit der Zunge. »Mag sein. Doch ich verwette meinen Hintern darauf, dass sich die Menschen hier die Kraft der Dämonen zunutze gemacht haben. Das ist, wonach wir gesucht haben! Weißt du eigentlich, dass du gerade unsere Expedition gerettet hast?«

Silva sah ihre Freundin skeptisch an, doch die schien nichts davon zu bemerken und kämpfte sich weiter durch den Dschungel.

»Du glaubst, die Menschen hätten sich der Macht der Dämonen bedient?«, hakte Silva nach. »Wozu?«

»Ich glaube, dass die Hexen hier einiges von den Dämonen lernen konnten.« Annabell warf wieder einen Blick auf die Vampire und Werwölfe ihrer Gruppe und Silva fragte sich, was in ihrem Kopf vorging.

Früher hatten Vampire und Werwölfe gesellschaftlich unter den Hexen gestanden und man hatte geglaubt, Hexen wären mächtiger, weil sie Magie wirken konnten. In gewissem Maße mochte das auch stimmen, doch im Laufe der letzten Jahrzehnte hatte man die Vampire und Werwölfe relativ gut in die Gesellschaft integriert. Sie mochten keine Magie anwenden, doch sie hatten andere Vorzüge. In Anbetracht dessen wunderte es Silva allerdings nicht, dass Davin und seinen Männern weniger daran gelegen war, die Magie im Kongo zu erforschen, die sie sowieso nicht anwenden konnten, als heil wieder aus dem Dschungel hinauszufinden. Für sie war es dieses Risiko nicht wert, weil die Magie in ihrem Leben nur eine passive Rolle spielte.

Für Annabell und Silva jedoch, und auch für Wasil und Jake, die sich mit Leib und Seele dieser Arbeit widmeten, bedeutete die Magie weitaus mehr.

Im Prinzip war die Prana, die Lebensenergie, für alles verantwortlich, was die Verborgenen von den Normalsterblichen unterschied. Jedes Lebewesen hatte diese Magie in sich. Bei Normalsterblichen fiel sie sehr gering aus und hatte daher kaum Auswirkungen. Hexen dagegen hatten die Möglichkeit, mithilfe der Prana ihre Gedanken zu verstärken und somit Magie zu wirken. Ihre Macht konzentrierte sich auf ein einzelnes Spezialgebiet, wie es bei Silva das Feuer war. Diese Form der Magie nannte sich Pyrokinese. Annabell beherrschte den Wind, die Aerokinese, andere wiederum konnten über die Kryokinese Eis erzeugen oder mit der Ferrokinese Metall manipulieren. Die Hexen, die die Biokinese beherrschten, konnten ihre eigenen Zellen und damit ihr Aussehen verändern, so wie Jake. Andere wiederum konnten Gegenstände gedanklich umformen, wie Wasil. Das nannte sich Makropsychokinese. Die Mikropsychokinese dagegen erlaubte dem Anwender die beeinflussung von Elektrizität.

Und dann gab es noch die Telekinese, das gedankliche Bewegen von Gegenständen, was Silva persönlich am interessantesten fand – aber man konnte sich sein Spezialgebiet leider nicht aussuchen.

Bei Werwölfen dagegen hatte die Prana eine ganz andere Auswirkung. Ihre tierischen Instinkte wurden verstärkt, was sie stärker und schneller werden ließ, allerdings auch wilder. Bei Vollmond, der eine besonders starke Auswirkung auf die Prana hatte, veränderten sich die Körper der Werwölfe und es sprossen Fell und Klauen. Zudem wurden sie von ihren tierischen Instinkten geleitet und waren zu dieser Zeit nicht ungefährlich. Das war einer der Gründe, wieso man Werwölfe lange Zeit aus der Gesellschaft ausgeschlossen hatte.

Mit den Vampiren verhielt es sich ähnlich, sie waren stark, schnell und brauchten nur wenig Schlaf. Sie verwandelten sich nicht wie die Werwölfe, aber in ihrem Blut fehlte ein Wirkstoff, den sie sich durch das Trinken von menschlichem Blut aneigneten. Allerdings war das Beißen von Menschen schon seit Jahren verboten und die Vampire ernährten sich ausschließlich über Spenden von Blutbanken. Die Prana veränderte das Leben von Werwölfen und Vampiren, aber es war etwas anderes, richtige Hexenmagie zur Verfügung zu haben.

Dass Annabell jedoch darüber nachgedacht hatte, Dämonen und Hexen hätten einst zusammengearbeitet, und dass dieser Gedanke ihr keine Furcht einflößte, war Silva neu. Umso überzeugter war sie nun, dass es richtig war, ihrem Team das Wissen um den Beschwörungskreis der Kultstätte zunächst vorzuenthalten. Denn wenn sie richtiglag, dann war dieses Wissen so gefährlich, dass es die Welt verändern konnte.

4

Silva

Das Forscherteam musste einen strammen Schritt anschlagen, um rechtzeitig vor Einbruch der Nacht zum Lager zurückzukommen. Zur Frustration aller verdunkelte sich zudem noch der Himmel und es begann, in Strömen zu regnen.

Jake, der immer wieder nervöse Blicke in die zusehends düster werdende Umgebung warf, stellte Silva unablässig Fragen über die unterirdische Kultstätte, um sich abzulenken. Silva beantwortete sie müde, wobei sie immer wieder beteuerte, dass ihr nicht genug Zeit geblieben war, alles eingehend zu studieren. Wasil dagegen schien in Gedanken versunken und starrte schweigend auf den Weg vor sich.

Als Silva ihn auf seine Zurückhaltung ansprach, verdüsterte sich sein Blick.

»Mir gefällt das nicht«, antwortete er knapp.

Silva legte überrascht den Kopf schief. Wasil war generell wortkarg und Silva akzeptierte das. Sie genoss es, mit ihm im Labor der VO zusammenzuarbeiten, denn es war in der Regel kein unangenehmes Schweigen. Wasil strahlte immer eine Ruhe aus, die Silva dazu brachte, sich zu entspannen. Aber heute bohrte sie etwas nach.

»Was gefällt dir nicht?«

Er strich sich die tropfnassen schwarzen Haare aus der Stirn. »Die Kultstätte. Die Knochen. Dass die Menschen hier früher offensichtlich tiefer in Dämonenbeschwörungen verstrickt waren, als wir angenommen haben. Wir waren auf der Suche nach Informationen über alte Magie, nicht nach Dämonen.«

Er vergrub seine Hände in den Hosentaschen und stapfte mitten durch eine Schlammpfütze, ohne sich darum zu kümmern. Alle waren sowieso nass bis auf die Knochen.

»Du meinst, wir sollten die Suche abbrechen?«, fragte Jake fassungslos. Silva musste bei dem Entsetzen in seiner Stimme schmunzeln.

»Ich meine damit, dass vielleicht nicht alle Informationen dazu bestimmt sind, an die Öffentlichkeit zu gelangen. Sonst nichts«, brummte Wasil.

Daraufhin wussten auch Silva und Jake nichts mehr zu sagen.

Die Nacht war fast gänzlich hereingebrochen, als sie das Dorf erreichten, in dem sie ihr Lager aufgeschlagen hatten. Alle waren müde, hungrig und durchnässt. Insbesondere die einheimischen Reiseführer blickten finster drein und verbargen kaum ihre schlechte Laune.

Die Einwohner des Dorfs hatten den Forschern mehrere stabile Holzhütten zur Verfügung gestellt, die zwar spartanisch eingerichtet, dafür aber sehr heimelig und gemütlich waren. Während Annabell sich verabschiedete, um sich umzuziehen, stürmten die meisten Männer des Teams schnurstracks auf die Gemeinschaftshalle zu, um ihre leeren Mägen zu füllen.

Silva verspürte keinen Hunger. Sie war viel zu aufgewühlt, um ans Essen zu denken, und die ungelesenen Aufzeichnungen in ihrer Hosentasche ließen ihr keine Ruhe.

Bevor sie sich in ihre Hütte zurückzog, bat sie einen der Reiseführer um sein Wörterbuch, mit der Ausrede, die lokale Sprache besser kennenlernen zu wollen. Vielleicht half es ihr, wenigstens einen Teil der Schriften zu übersetzen.

Als sie sich gerade von Jake und Wasil verabschieden wollte, trat eine große, stämmige Gestalt aus der Gemeinschaftsunterkunft auf sie zu. Als sie näher kam, erkannte Silva Matayo, das Stammesoberhaupt der Dorfbewohner. Er war eine dieser Personen, die auf den ersten Blick sehr einschüchternd wirkten, was nicht zuletzt an den vielen Narben auf dem dunkelhäutigen, muskulösen Oberkörper lag. Sie stammten von zahlreichen Kämpfen mit Mairas, aber auch von dem harten Leben im Dschungel, der Jagd und den Schaukämpfen, die das Volk regelmäßig austrug. Auf Matayos Oberarm prangte eine Narbe, die Silva an eine sich windende Schlange erinnerte. In seinen onyxschwarzen Augen, in denen nur ein Schimmer Grün in Form von kleinen Sprenkeln zu sehen war, wenn die Sonne hoch am Himmel stand, schimmerten nun die Lichter des Lagers.

Ende der Leseprobe