Silvaplana Blue II - Wir Kinder des Grauens - Heide Fritsche - E-Book

Silvaplana Blue II - Wir Kinder des Grauens E-Book

Heide Fritsche

0,0

Beschreibung

"Wir Kinder des Grauens" begann als eine schonungslose Abrechnung mit mir und meinen Traumata. Damit wurde es aber auch eine Erzählung über das Leben der Frauen im 20. Jahrhundert. Lohnt es sich, ein ganzes Leben zu opfern, um von sich selbst und seiner Lebensangst befreit zu werden? Es lohnt sich! Ich habe Menschen sterben gesehen, die haben alle Lügen Ihres Lebens mit ins Grab genommen. Sie haben mein tiefstes Mitleid. Ich möchte mit keinem von ihnen tauschen. Die Schönheit des Lebens liegt nicht im Nichtstun, sondern im Bessertun. "Wir Kinder des Grauens" handelt von den größten Niederlagen meines Lebens. Ich musste bei einer totalen Auslöschung meiner Existenz anlangen, um noch einmal von vorne anfangen zu können. Das aber habe ich mit allen Menschen gemeinsam, die nach dem Zweiten Weltkrieg vor dem Nichts standen und aus dem Nichts ein neues Leben aufbauen mussten. Doch wie man aus dem Nichts ein neues Leben aufbaut, davon handelt das dritte Buch von "Silvaplana Blue", "Masken göttlicher Heiterkeit". In "Wir Kinder des Grauens" gehe ich nur eine Stufe nach der anderen in die totale Vernichtung.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 284

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Silvaplana Blue II - Wir Kinder des Grauens

von

Fritsche

Dieses E-Book wurde erstellt für Heide Marie Herstad ([email protected])

am 28.12.2014 um 9:49 Uhr, IP: 80.212.67.4

Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1

Kapitel 2

Die Flucht

Deutschlands letzte Verteidiger

Ingeborg

Das Schönfelder Militärgefängnis

Angstpsychosen

Sucht

Kreuzberger Nächte sind lang

Überleben

Berliner Bürgerinitiative

Norwegen

Die Schuldzuweisung

Impressum

Kapitel 1

Silvaplana Blue II

-

Wir Kinder des Grauens

Heide Fritsc

Kapitel 2

Inhaltsverzeichnis

Die Flucht

Deutschlands letzte Verteidiger

Ingeborg

Das Schönfelder Militärgefängnis

Angstpsychosen

Sucht

Kreuzberger Nächte sind lang

Überleben

Berliner Bürgerinitiative

Norwegen

Die Schuldzuweisung

Die Flucht

Die Flucht

I.

„Der totale Krieg ist der totale Blödsinn.“, sagte Goebbels im September 1944 zum Reichsarbeitsminister Konstantin Hierl. Es war manchmal viel Wahrheit in seinen Worten, so phantastisch sie sich anhörten.

Der totale Blödsinn war die totale Zerstörung aller ethischen Werte, aller Zivilisation und aller Menschlichkeit.

Wir sind die Kinder der totalen Zerstörung. Wir sind die Erben des totalen Wahnsinns.

II.

Wir, die Kinder des Krieges, wurden in der Hölle geboren. Diese Hölle war Morden auf Befehl. Morden wurde zur Routine. Morden war ein Job. Der Mord gehörte zur Tagesordnung. Gemordet wurde mit Taktik und Raffinesse. Gemordet wurde als Strategie. Gemordet wurde mit einem Federstrich. Gemordet wurde aus Lust, Liebe, Langeweile, Rache, Größenwahn und Angst. Gemordet wurde im Rausch. Gemordet wurde in der Gleichgültigkeit der abgestumpften Seele.

Wir sind die Kinder der Ermordeten. Wir sind die Kinder des Grauens. Das ist unser Erbe. Das ist unsere Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit hat viele Facetten.

Wie weit geht unser Bewusstsein? Es reicht so weit, wie wir diese Facetten erfassen, erkennen und begreifen können. Aber dieses Begreifen wird blockiert vom Entsetzen. Dieses Begreifen ist verschüttet unter Traumata.

Denn der Zweite Weltkrieg war in Deutschland am achten Mai 1945 noch lange nicht zu ende. In Westdeutschland wurde weiter gebombt. In Ostdeutschland herrschte der Terror des Mordens. Wohin wir Kinder des Krieges kamen, kamen wir in ein zynisches Morden, das sich selber feierte und mit Orden schmückte.

Unser Erbe waren Angst, Hunger und Not. Unsere Eltern waren physisch tot oder sie waren seelisch tot, sie waren ermordet oder sie waren für den Rest ihres Lebens auf der Flucht vor sich selber und ihren Erinnerungen.

Unsere Wirklichkeit war die verkrüppelte Seele der Sieger. Der Sieger schmückte sich mit seinen Morden. Der Sieger kultivierte seinen Hass. Der Sieger veredelte das Blut an seinen Händen mit Siegesparaden, Ehrensaluts, Medaillen, Denkmälern und großen Worten.

Um diesen Blutrausch, Siegesrausch, Plünderungsrausch und Mordrausch zu rechtfertigen, wurde mit großen Worten der Spieß umgekehrt, jetzt wurden alle zu Opfern erklärt – Opfer der Nazis. Laut Propaganda der Sieger waren alle Deutschen Nazis. Der Witz funktioniert auch heute noch. Wir, die Kinder des Krieges, wurden in dieser Rechnung vergessen. Entweder gibt es uns nicht oder wir sind auch Nazis. Das ist durch die genetische Anlage bedingt, sagt der Sieger.

Damit wurde unsere Zukunft zum Schmutz, den sich der Sieger aus seiner Seele grub, um seine eigene Schuld zu vertuschen, um sie immer wieder auf „DIE Deutschen“ zu schmeißen. Sie waren das große Übel der Welt. Sie waren der Satan, die Inkarnation des Bösen. Das Böse, sprich die „Deutschen“ musste man mit allen Wurzeln ausrotten und vernichten. Das wurde in Teheran, Jalta und Potsdam schriftlich formuliert. Europa sollte, nein Europa musste von allem, was deutsch war, gereinigt werden. Deutschland wurde mit Papier und Tinte ausradiert. Danach gab es Deutschland nicht mehr, also konnte man auch keine Deutsche ermorden. Was es per Definition nicht gibt, kann man auch nicht umbringen. Die Millionen, die auf den Fluchtwegen starben, waren Dreck, den man mit den Füssen wegtrat.

Wir wurden im Trauma des Mordens geboren. Wir wuchsen im Trauma des Grauens auf. Jetzt feiern wir mit Fahnen und Trompeten den fünfzigsten, sechzigsten, siebzigsten … hundertsten Jubiläumstag unseres Grauens und unserer Traumata.

III.

„Wo warst du Adam?“, fragte Heinrich Böll. Adam war im Krieg. Wo war ich? Ich lag in Bochum unter den Terrorbomben der Engländer und lutschte am Daumen.

Wo war meine Mutter? Sie lief in den Kessel der russischen Armee hinein. Ich fragte sie:

„Was geschah, als die Russen kamen?“

„Ach…“,sie schwieg.

Ich ließ nicht locker.

„Darüber kann man nicht sprechen.“, sie stierte vor sich hin. Ich bohrte weiter:

„Kannst du dich an gar nichts erinnern?“

„Ach … nein ….“.Meine Mutter verschwand im Schweigen ihres eigenen Infernos.

IV.

Zu Weihnachten 1944 hatte meine Mutter Heimaturlaub. Am 2. Januar 1945 fuhr sie von Bochum nach Polen zurück. Sie sollte sich bei ihrer Dienststelle in Warta melden.

Durch die Truppentransporte und die Flüchtlingsströme war die Situation auf den Zügen und Straßen chaotisch. Flüchtende Kinder und Frauen, Truppenverschiebungen, Kranken-, Verletzten- und Gefangenentransporte. Dieses Chaos von Menschen, Verzweiflung, Schmerzen und Tod hatte die Kanonen, Panzer und Gewehre der Russen hinter sich, die Bomben der Engländer und Amerikaner über sich, die Knute der Gestapo vor sich und Angst, Grauen und Entsetzen in sich.

Meine Mutter kam am 12. Januar 1945 bis Kalisch. Auf dem Bahnhof in Kalisch kamen die letzten Züge aus Sieradz an. Die russische Armee war bereits in Warta. Eine Dienststelle gab es hier nicht mehr. Ihre nächste Dienststelle war Schützensorge bei Landsberg an der Warthe.

Die Familie meines Vaters besaß seit Generationen einen Bauernhof in Schützensorge. Nach dem totalen Krieg war mein Vater für die Lebensmittelversorgung der Armee zuständig und meine Mutter für den Hof in Schützensorge.

V.

Vom 12. bis zum 30. Januar hatte die Rote Armee die gesamte deutsche Abwehrfront zerschlagen. Das Finale der Götterdämmerung des Dritten Reiches hatte begonnen: Die Marschälle Tscherniakowski und Rokossowski überrannten Ostpreußen, Marschall Zhukow den Warthegau und Marschall Konjew Schlesien.

Am 31. Januar 1945 wurden Kämpfe bei Landsberg an der Warthe gemeldet. Die Rote Armee war jetzt bis Schützensorge vorgedrungen. Da lag der Hof meines Vaters. Eine russische Welle nach der anderen fegte über den Hof hinweg. Alle organisierte Verwaltung brach zusammen, auch das Transportwesen. Millionen von Menschen starben auf den Straßen und in den Wäldern. Das war eine Zerstörung, wie sie Europa niemals zuvor und die Welt niemals danach erlebt hat.

Zerstört wurden in diesem Inferno nicht nur Häuser, Gebäude, Fabriken, Tiere und Äcker, zerstört wurden die Menschen. Alle Menschen, die in diese Hölle hinein kamen, wurden zerstört. Alle Menschen, die aus dieser Hölle heraus kamen, waren zerstört, Sieger wie Besiegte. Die einen verloren ihr Leben, die anderen verloren ihre Seele.

Am 1. Februar wurde in Posen noch immer heftig gekämpft. Die Rote Armee sollte hier gestoppt werden. Trotzdem wurde der Tirschtiegel-Riegel von den Russen durchbrochen. Die Erste Weißrussische Front stieß bis zum Oder-Warthe-Riegel vor. Meseritz und Schwerin wurden genommen. Bei Küstrin wurde gekämpft.

Mein Vater saß in der Festung Frankfurt an der Oder, vorläufig noch sicher.

Am 2. Februar erstreckte sich der Kampf entlang der Oder von Nordosten bis nach Bischofssee. Nordwestlich ging die Rote Armee bei Zielenzig über die Oder.

Die deutsche Zivilbevölkerung flüchtete vor dieser Maschinerie des Mordens. Der Flüchtlingsstrom ging in die Millionen. Er kam aus Ostpreußen, Pommern, Schlesien. Allein aus Swinemünde wurden 40.000 bis 45.000 Flüchtlinge gemeldet.

Posen, Graudenz und Breslau hatten sich noch nicht ergeben. Um Landsberg an der Warthe wurde gekämpft. Zhukows Einheiten waren dabei, sich im Oderbruch festzusetzen. Sie mussten versuchen, so schnell wie möglich über die Oder zu kommen. Wenn Tauwetter einsetzte, war die Oder ein schwieriges Hindernis, zu schwierig, um hier mit Panzern, schwerer Artillerie und Armeeeinheiten rüber zu kommen.

Die Oder ist ein Urstrom. Je nach Widerstand und Wasserführung bahnt sie sich ihren Weg wie es gerade möglich ist. Einen festen Stromverlauf gibt es nicht, dafür aber mehrere Oder-Arme, kilometerweit Sumpfland und Überschwemmungen.

Die Sümpfe zwischen der Oder und Berlin sollten die größte Katastrophe der Roten Armee werden.

Die Wehrmacht hatte sich auf die andere Seite des Oderufers zurückgezogen. Die Rote Armee hatte sich im Oderbruch etabliert, auch in Schützensorge. In Landsberg an der Warthe wurde das russische Hauptquartier von Marschall Zhukow errichtet.

In Schützensorge war die Familie meines Vaters auf dem Hof versammelt. Meine Mutter war auch da. Während mein Vater in Frankfurt an der Oder in der Falle saß, war draußen auf dem Lande die Bevölkerung der Willkür des Siegers ausgeliefert. Das ging stereotyp nach Schema: Tortur, Massenvergewaltigung, Mord und Tot.

Goebbels schrie sich noch immer das Maul wund. Er forderte die Deutschen auf, gegen dieses Inferno stehen zu bleiben und sich in den ‚Heimatboden einzukrallen’.“

Den Deutschen blieb nicht einmal ein Grab, wo sie sich hätten festkrallen können.

Goebbels sagte, wir müssen uns „Gegen diesen blutdurstigen und rachsüchtigen Feind ... mit allen Mitteln, die uns zu Gebote stehen verteidigen, und mit einem Hass, der keine Grenzen kennt.“

Welche Mittel? Welchen Hass? Keiner wusste, wie viele Minuten, wie viele Sekunden er noch leben konnte. Keiner wusste, unter welchen unmenschlichen Qualen er sterben musste. Der Sieger kannte keine Gnade, kein Mitleid und keine Barmherzigkeit.

VI.

Was geschah mit meiner Mutter als die russische Armee über den Oderbruch hinweg rollte? Wo blieb sie, als sich Zhukow in Landsberg an der Warthe etablierte?

„Wo warst du als die Russen kamen?“, fragte ich meine Mutter.

„Die Russen hielten mich für eine Polin.“,sagte sie.

Meine Mutter eine Polin? Ich habe nie ein einziges polnisches Wort von ihr gehört. Aber das kann Verdrängung gewesen sein. Was weiß ich? Wenig.

Diese wenigen Informationen, die ich hatte, bekam ich von den Einwohnern von Warta. Als ich 1986 in Warta war, sprach mich eine Frau an:

„Ich habe ihre Mutter gekannt. Wir waren jeden Tag auf dem Hof.Wir waren vier Schwestern. Wir hatten keine Eltern mehr. Niemand kümmerte sich um uns. Meine älteste Schwester arbeitete auf dem Hof ihres Vaters in Warta. Sie war die beste Freundin von Hilde. Darum waren wir jeden Tag auf dem Hof. Hier bekamen wir zu essen. Hier haben wir überlebt. Als die SS kam und den Hof beschlagnahmte, mussten wir den Hof verlassen. Meine älteste Schwester kam als Dienstmädchen auf den Hof nach Schützensorge.“

Diese Schwester lebte 1986 in Posen. Sie schrieb mir, sie möchte meine Mutter gerne wiedersehen. Als ich den Brief bekam, war meine Mutter schon tot.

Eine solche Freundschaft hält auch durch die schlimmsten Katastrophen. Als die sowjetische Armee nach Schützensorge kam, wurde meine Mutter wahrscheinlich von ihren polnischen Freunden aus Warta gedeckt und als Polin ausgegeben.

Aber diese polnischen Mädchen hätten ihr keinen Job als Köchin im Hauptlager von Zhukows Armee verschaffen können. Diese polnischen Dienstmädchen waren für die Russen Material. Sie konnten ihren Dienst in den polnischen Streitkräften der russischen Armee verrichten. Doch mit Lügen über die Identität von Deutschen wären sie weder bei den Russen noch bei den Polen weit gekommen

Meine Mutter wurde aber Köchin für die sowjetische Armee. Sie machte den Feldzug der Eroberung von Berlin auf russischer Seite mit. Das erzählte mir eine Rote Kreuz Schwester 1961 in Briesen/Mark.

Ich war in den Ferien bei meinen Großeltern. Eines Tages kam eine mir unbekannte Dame zum Hause meines Großvaters. Sie wollte mich sprechen.

„Sie sehen genau wie ihre Mutter aus“, sagte sie. Ich fühlte mich gar nicht geschmeichelt. Meine Mutter war kein Vorbild für mich. Derartige Gleichsetzungen beleidigten mich empfindlich. Außerdem war dies eine Zeit, wo ich schon dabei war, alle Verbindungen zu meiner Mutter abzubrechen. Aber das ging niemanden etwas an. Darüber sprach ich nicht. Ich wollte mich schnellsten von dieser Dame verabschieden. Ich stand auf, um zu gehen, da sprach die Dame hastig weiter:

Ich habe ihre Mutter gekannt.Sie hat uns das Leben gerettet. Ich war als Rote Kreuz Schwester für ein Flüchtlingslager verantwortlich. Ihre Mutter war in Landsberg an der Warthe Köchin für die russischen Soldaten. Jeden Abend hat sie alle Essensreste in Papier eingepackt und am Lagerzaun eingegraben. Nachts haben wir von der anderen Seite einen Tunnel gegraben und uns diese Essensreste herausgeholt. Das war in Wochen und Monaten das einzige Essen, das wir hatten. Damit haben wir überleben können.“

Wie und warum wurde meine Mutter Köchin in Zhukows Armee in Landsberg an der Warthe? Es ist möglich, dass meine Mutter in Schützensorge die Überlebenden der polnischen Heimatarmee wieder fand. Mit denen hatte sie jahrelang in Warta kollaboriert.

Tante Ingeborg, die dritte Frau meines Vaters, sagte verächtlich: „Sie lebte mit einem Russen zusammen.“

„Einem Offizier, sagte sie mir.“

„Ach was, das soll ein ganz gemeiner Soldat gewesen sein, sagt dein Vater.“

Möglicherweise war dieser „ganz gemeine Soldat“ ein Mitglied der polnischen Heimatarmee, den sie schon von Warta her kannte. Ihr Haus in Warta war das Hauptquartier des polnischen Widerstands gewesen.

Ich wurde in Warta in der Bruchstraße Nummer eins geboren. 1986 hatte ich auf meiner Reise nach Warta ein Bild von diesem Haus bei mir. Ich habe die Einwohner gefragt, was sie mir hiervon erzählen konnten. Die einzigen Informationen, die ich bekam, waren verlegende Bemerkungen:

„Das war das Hauptquartier des polnischen Widerstands.“Die Frauen flüsterten. Die Angst schnürte ihnen noch immer die Kehle zu.

„Da hauste der Widerstand.“Die Blicke streiften verlegen nach rechts und links. Hoffentlich hörte das niemand.

„Ach das da, da wohnte ein Russe.“ Das war von einer wegwerfenden Handbewegung begleitet. An solche Dinge zu rühren war unbehaglich und peinlich.

Der Abstand zwischen dem Haus in der Bruchstraße Nummer eins und dem Hauptportal der Psychiatrischen Anstalt aus der deutschen Besatzungszeit betrug kaum fünfzig Meter. Dieses Hauptportal wurde von der SS bewacht. Zwischen der SS und der Bruchstraße Nummer eins waren keine Sträucher und Bäume. Die SS hatte damit über dieses Grundstück eine totale Aufsicht und Kontrolle – glaubte sie.

Dass sich hier das Hauptquartier des polnischen Widerstands etabliert hatte, direkt vor den Augen der SS, soviel Frechheit hatten nicht einmal Himmlers Schergen für möglich gehalten!

Um zu verstehen, warum meine Mutter als Polin in Zhukows Armee integriert werden konnte, muss man die Geschichte der polnischen Widerstandsbewegung kennen.

VII.

Die Geschichte des polnischen Widerstands ist eine Tragödie. Am 1. September 1939 wurde Polen von deutschen Truppen besetzt. Am 27. September 1939 gründete eine Gruppe von polnischen Offizieren unter General Korasievicz-Tokarzewski die „Polnische Sieges Partei“. Der Kampf sollte im Untergrund fortgesetzt werden.

Im November 1939 wurde von der neuen polnischen Exilregierung in London die „Union des bewaffneten Kampfes“ gegründet. Diese beiden Organisationen waren die Grundlage der polnischen Widerstandsbewegung, der „Armia Krajowa“.

Die „Armia Krajowa“ wurde durch rechtsgerichtete Gruppen verstärkt. Dazu gehörten die „Nationale bewaffnete Streitmacht“, die “Nationale Militär Organisation“ und der ehemalige polnische Pfadfinderverein. Die Pfadfinder formten einen eigenen geheimen Sturm-Trupp. Außerdem gab es eine kommunistisch geleitete polnische Widerstandsgruppe, die „Gwardia Ludowa“.

Mehr als fünfundsiebzig Prozent der Widerstandsgruppen gehörten zur „Armia Krajowa“, zur polnischen Heimatarmee. Die Heimatarmee hatte zusammen mit den Bauernbataillonen vierhundert Tausend Mitglieder. Sie bildete damit die absolute Mehrheit. Die „Gwardia Ludowa“ war verschwindend klein und unbedeutend. Zusammen mit den kleineren Widerstandsverbänden und Partisanengruppen kontrollierte sie über zehntausend Mann.

Die „Gwardia Ludowa“ war in Großstädten etabliert. Unterstützung hatte sie bei den Arbeitern. Auf dem Lande hatte die kommunistische Widerstandsbewegung keine sicheren Zufluchtsorte. Sie war hier nicht repräsentiert. Darum ist es unwahrscheinlich, dass die „Gwardia Ludowa“ ihren Hauptsitz in Warta hatte, denn Warta war und ist ein kleines verschlafenes Städtchen auf dem Lande. Das war kein Milieu für die „Gwardia Ludowa“.

Warta lag abseits von den großen Truppentransportwegen nach Warschau und zur Ostfront. Die waren gut bewacht. Hier hatte die deutsche Armee eine totale Kontrolle. Demgegenüber lag Warta strategisch günstig zwischen den großen Truppenansammlungen der SS wie dem Hauptquartiert der SS in Posen, dem Auffanglager der SS in Zdunska Wola und den großen Konzentrationslager von Lódz, Warschau und Konin. Von Warta aus konnte man über das Flüsschen die Warthe kleine, halb zugewachsenen Wasserwege erreichen. Dieses Wasserwegsystem ermöglichte eine geschützte und von den von Deutschen kontrollierten Straßen unabhängige Verbindung nach Posen und Warschau.

Das Haus in der Bruchstraße Nummer eins lag nicht einmal zweihundert Meter von der Warthe entfernt. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte die „Armia Krajowa“ ihr Hauptquartiert in Warta in der Bruchstraße Nummer eins.

Die Heimatarmee vertrat in Polen die konstitutionelle Exilregierung in London. Das galt sowohl für das Generalgouvernement als auch für die Reichsgaue. Von London und Washington wurden sie aufgefordert, mit Moskau zusammen zu arbeiten. Moskau weigerte sich, ihre Existenz überhaupt anzuerkennen. Eine Zusammenarbeit war unter solchen Bedingungen unmöglich. Das führte zu katastrophalen Niederlagen für die Heimatarmee.

Am 4. Januar 1944 marschierte die Rote Armee in Wolhynien ein. Die Wehrmacht war im Rückzug. Hier begann die Befreiung Polens. Aber die Sowjetunion betrachtete Wolhynien als sowjetisches Eigentum, denn im November 1943 war auf der Konferenz in Teheran Europa in Ost und West eingeteilt worden. West- und Süd-Europa fielen unter angloamerikanischen Einfluss und Ost-Europa unter russischen. Ganz Ost-Europa schwamm in einem politischen Vakuum. Polen fiel unter russische Okkupation und Kontrolle. Polen gab es per Definition nicht mehr. Die polnische Exilregierung in London wurde hierüber nicht informiert.

Als die Rote Armee in Polen einmarschierte, hatte sie eine eigene polnische Regierung mitgebracht. Sie war nicht von den Polen gewählt. Sie hatte keine Verbindung mit der Exilregierung in London. Diese Regierung war von den Sowjets zusammengesetzt und ernannt worden. Das waren Schaufensterpuppen für die sowjetische Machtübernahme.

1939 hatten die Engländer und Franzosen den Krieg an Deutschland erklärt, weil die Deutschen Polen überfallen hatten. Die Engländer und Franzosen kamen ihren polnischen Freunden zur Hilfe. Sie wollten Polen verteidigen. Das wurde über alle Medien in den Äther trompetet.

Zum Schluss führten die Engländer und Amerikaner den Krieg um des Krieges willen. Zum Schluss wollten sie die absolute Vernichtung, wollte sie Opfer, Rache und Vergeltung. So wurde es in alle Welt hinausposaunt.

Opfer, Rache und Vergeltung für was? Jedenfalls nicht für den Einfall der Deutschen Armee in Polen, denn Polen wurde in diesem Siegesgeschrei vergessen. Vergessen wurde sein Schicksal in Teheran, Jalta und Potsdam. Vergessen wurden die Überlebenden, vergessen wurde die polnische Exilregierung in London.

Nach dem Krieg wurde die polnische Exilregierung in London von den Russen nach Warschau eingeladen. Mit der von den Sowjets eingerichteten provisorischen Regierung sollten sie zusammen eine neue Regierung der Polnischen Republik etablieren. Das versicherten die Sowjets.

Die polnische Exilregierung wurde in London in ein Flugzeug gesetzt und nach Polen abgeschoben. Als die Repräsentanten der polnischen Exilregierung in Warschau landeten, wurden sie verhaftet und nach Moskau transportiert. In Moskau wurde ein öffentlicher Schauprozess inszeniert. Die Presseagenturen der ganzen Welt und alle großen Zeitungen aus England, Amerika und Frankreich waren im Gerichtssaal anwesend. Die Repräsentanten der polnischen Exilregierung von London wurden als Verräter und Kollaborateure mit den Nazis bezeichnet. Sie wurden wie Kriminelle behandelt, auch Jan Stanislaw Jankowski, der ehemalige Präsident der Exilregierung und General Okulicki, der letzte Kommandant der Heimatarmee.

Sechs Jahre lang hatte die polnische Exilregierung mit den Alliierten zusammen gekämpft, sechs Jahre lang hatten die Alliierten durch die Zusammenarbeit der polnischen Exilregierung in London polnische Fallschirmtruppen an allen Fronten eingesetzt, dann wurde die polnische Exilregierung mit dem Segen der Engländer, Amerikaner und Franzosen als Verräter und Kollaborateure der Deutschen nach Sibirien geschickt.

In Polen aber kamen mit dem Einmarsch der Roten Armee auch die Spezialeinheiten der Militärpolizei und des Sicherheitsdienstes. Diese Spezialeinheiten entfernten aus der Bevölkerung alle im Widerstand aktiven Elemente. In den von den sowjetischen Einheiten eroberten Gebieten sollte sowjetisches Recht und sowjetische Ordnung errichtet werden.

Alle Mitglieder der Widerstandsgruppen wurden verhaftet und entwaffnet. Sie hatten keine Wahl, entweder sie arbeiteten mit den Sowjets zusammen oder sie wurden sofort abgeschrieben. „Abgeschrieben“ bedeutete, sie wurden zu Kriegsopfer erklärt und inhaftiert. Die Juden wurden aus den Konzentrationslagern der SS rausgeschmissen. Hier wurden jetzt die Mitglieder der Heimatarmee interniert. Viele verschwanden im russischen Gulag.

Aus den Mitgliedern der Heimatarmee, die mit den Russen zusammenarbeiteten, wurde die „Polnischen Armee“ gebildet. Die „Polnische Armee“ war eine integrierte Einheit der Roten Armee. Die politische Organisation der „Polnischen Armee“ war dem PKWN untergeordnet. Diese Armee stand immer in erster Linie des Kampfes. In Berlin hat sie die polnische Fahne auf dem Brandenburger Tor gehisst.

Wahrscheinlich hat meine Mutter mit der „Polnischen Armee“ den Feldzug nach Berlin als Köchin mitgemacht. Sie wird hier viele alte Bekannte aus Warta wieder getroffen haben. Ob sie mit einem dieser alten Freunde aus Warta zusammenlebte? Ich weiß es nicht. Sicher ist, dass sie mit diesen Truppen bis nach Thüringen marschiert ist.

In Thüringen begann die Auflösung der „Polnischen Armee“. Die Russen hatten keinen Bedarf mehr für das polnische Kanonenfutter. Die „Polnische Armee“ hatte ihre Schuldigkeit getan, „Die Polnische Armee“ konnte gehen. Meine Mutter flüchtete von Thüringen zurück nach Bochum

VIII.

Nach dem Waffenstillstand wollten die Amerikaner und Engländer auch einen Schimmer vom Glanz und Gloria des Dritten Reiches haben. Berlin war das Machtsymbol des Dritten Reiches gewesen. Um den Sieg über das Dritte Reich zu feiern und zu demonstrieren, brauchte man ein Stück von Berlin. Nur hier konnte man seine eigene Größe zur Schau zur stellen. Wenn die Amerikaner und Engländer an der Elbe saßen, bewies das noch gar nichts, aber wenn sie in Berlin saßen, bewies das alles. Erst hier begriffen alle, wer der Sieger war.

Die Amerikaner und Engländer verhandelten mit Stalin. Ein kleines Stückchen von Berlin wurde gegen Thüringen, Sachsen und Teilen von Mecklenburg eingetauscht. Stalin liebte diesen Kuhhandel. Seine Macht wurde damit bemerkenswert nach dem Westen verschoben.

Am 14. Juni teilten die Westmächte der Sowjetunion mit, dass die amerikanischen Truppen Sachsen und Thüringen räumen würden und die Engländer Teile von Mecklenburg. Am 1. Juli zogen die amerikanischen Truppen aus Sachsen und Thüringen ab und am selben Tag in Berlin ein. Am gleichen Tag marschierten die Engländer aus Mecklenburg ab und in Berlin ein.

Am 1. Juli marschierten die russischen Einheiten von Berlin ab und besetzen noch am selben Tag Thüringen, Sachsen und Teile von Mecklenburg. Das war das totale Chaos. Die Einheiten der Roten Armee gerieten mitten in die Truppenbewegungen der Amerikaner, die aus Thüringen und Sachsen abzogen und in die Truppenbewegungen der Engländer, die aus Mecklenburg abzogen hinein. Keiner hatte einen Überblick über die Situation, nicht die Lokalbevölkerung, nicht die einmarschierenden Russen und nicht die abmarschierenden Amerikaner und Engländer.

Meine Mutter nutzte dieses Chaos aus, um sich bescheiden und leise aus der großen Weltgeschichte abzumelden.

„Wie bist du von den Russen weggekommen?“, fragte ich sie.

„Ich bin in Thüringen geflüchtet.“, erzählte mir meine Mutter.

Sie brauchte Wochen und Monate, um zu Fuß durch die Hölle, die sich jetzt nicht mehr Deutschland nannte, nach Bochum zu kommen. Als sie in Bochum ankam, war sie halb verhungert und blind.

Als einziges Gepäck schleppte sie ihren Hass, ihre Angst und ihre Alpträume mit sich. Die prügelte sie sich von der Seele. Ihr einziger Besitz waren wir, ihre Kinder.

„Kinder gehören zur Mutter“, erklärte sie vor Gericht. Das Gericht gab ihr Recht. Also konnte sie mit uns machen, was sie wollte. Wenn sie von Angst gejagt wurde, warum sollten wir es besser haben?

Das war eine Mutter, die mir fremd war, weil ich nicht bei ihr aufgewachsen war. Das war eine Frau, vor der ich Angst hatte, weil sie mich mit allem schlug, was ihr gerade in die Hände kam. Als Kind habe ich sie gehasst. Ich lief weg. Ich verließ Bochum für immer. Ich vergaß. Meine Mutter interessierte mich nicht mehr. Sie war mir gleichgültig.

1986 bin ich von Warta aus nach Berlin gefahren. Von Berlin wollte ich über Saßnitz nach Norwegen zurückfahren. Ich rief meine Mutter in Bochum an. Meine Mutter rauchte und hatte ein Raucherbein und Durchblutungsprobleme. Ein Bein sollte amputiert werden, aber zuerst wollte man eine Baipaß-Operation durchführen. Ihre Adern waren so verkalkt und kaputt, dass der Baipaß nicht durchgeführt werden konnte. Nach der Operation hatte sie im Krankenhaus einen Herzinfarkt bekommen. Dieser Herzinfarkt veränderte ihren Charakter total. Früher hatte sie weder mich, noch meine Kinder sehen wollen, jetzt bettelte sie:

„Heidi, du kannst doch deine Mutter besuchen.“

Statt nach Norwegen fuhr ich nach Bochum. Sie saß im Rollstuhl, ein jämmerliches Häufchen Elend. Sie sprach selten. Sie dämmerte vor sich hin. Der erste Herzinfarkt ließ sie langsam in ein anderes Leben hinübergleiten. Ich aber kam aus Warta, ich war brennend daran interessiert zu erfahren, wie ihr Leben während des Krieges war:

„Erzähl mir von Polen.“

„Ach Heidi, das waren andere Zeiten…“

„Was meinst du mit anderen Zeiten?“

„Darüber kann man nicht sprechen.“

Darüber konnte sie nicht sprechen, also gab es das nicht. Ihre Vergangenheit gehörte nicht zu ihrem Leben. Das war nicht sie, das war irgendetwas ganz anderes. Sie konnte nicht in ihre eigene Seele schauen. Sie war psychisch desintegriert.

Bei ihrem Tod empfand ich nichts als Trauer über ein Leben, das sie verloren hatte.

Ich will nicht in die gleiche Falle laufen. Ich will nicht den Schmutz, ich will nicht den Hass, ich will nicht die toten Seelen der Mörder mit mir ins Grab nehmen.

Deutschlands letzte Verteidiger

Deutschlands letzte Verteidiger

I.

Was geschah mit meinem Vater als die sowjetische Armee über Deutschland hinweg rollte?

Am Anfang des Krieges musste er einen von der Wehrmacht beschlagnahmten Hof verwalten. Außerdem war er Berater der Neusiedler und Umsiedler in Polen. Das war er auch später in West-Deutschland im Lande Niedersachsen. Das war sozusagen sein Lebenswerk.

Nach der verlorenen Schlacht von Stalingrad wurden alle wehrfähigen Männer in den Kriegsdienst eingezogen, auch mein Vater. Was er in diesen Kriegsjahren gemacht hat, darüber habe ich nur ungenaue Angaben und vereinzelte Andeutungen von meiner Mutter und von den Einwohnern von Warta. Nach diesen Aussagen arbeitete er für Greifelts Dienststelle. Er war damit für die Beschaffung von Lebensmittel für die Wehrmacht und die hierzu gehörenden Dienststellen zuständig.

Genauere Auskunft habe ich von seiner Rolle während der Flucht. Als sich die Verteidiger des Dritten Reiches im Osten in die letzten Festungen verschanzten, landete mein Vater in der Festung Frankfurt an der Oder. Das Gebiet um Frankfurt an der Oder war sein Heimatboden. Hier war er aufgewachsen, hier lag der Hof seiner Vorväter. Mein Vater kannte im Landkreis Landsberg an der Warthe jeden Bauern, jedes Wirtschaftsunternehmen, jeden Hof, jede Klitsche, jedes Huhn und jedes versteckte Schwein im Wald. Darum bekam er die Aufgabe, die nötigen Vorräte für eine längere Belagerung der Festung Frankfurt an der Oder aufzutreiben. Er ging mit Eifer ans Werk, rigoros. Wo was zu holen war, wusste er.

Dieses skrupellose Vorgehen verbitterte meine Mutter. Laut Kriegserlass war sie für die Verwaltung des Hofes in Schützensorge zuständig. Ob sie dazu fähig war oder nicht, spielte keine Rolle. Sie durfte ihre Einsatzstelle nicht verlassen. Aber alle Vorräte wurden nach Frankfurt an der Oder geschaffen, auch vom Familien- und Erbhof meines Vaters. Meine Mutter und die Familie meines Vaters saßen draußen auf dem Lande und hungerten.

Mein Vater verschanzte sich mit seinen Kameraden in Frankfurt an der Oder. Meine Mutter aber war wie alle anderen Menschen gnadenlos der Mordlust der russischen Armee ausgeliefert.

Als die Rote Armee reichsdeutsches Gebiet betrat, veränderte sie ihre Taktik, Moral und Ethik. Es begann ein bestialisches Morden, Plündern und Vergewaltigen. Jeder menschliche Maßstab ging verloren. Die Russen und Polen überfielen die Flüchtlingskolonnen. Sie schossen wild in die Flüchtlingskolonnen hinein. Sie schlugen alle tot, die ihnen in den Weg kamen. Alle Frauen wurden vergewaltigt, gleichgültig, wie alt sie waren, gleichgültig ob das kleine Kinder oder alte Frauen waren.

Alles, was meiner Mutter blieb, waren ihre Angst, ihre Schmerzen, ihr Hunger und ihr Hass

Ihren Hass hat meine Mutter nicht verdrängt. Den hat sie kultiviert. „Die saßen sicher in ihrer Festung. Die hatten genug zu essen. Für ein Butterbrot konnten die jede Frau bekommen.“

Die Rote Armee bereitete sich unterdessen auf den letzten Ansturm von Berlin vor. Marschall Zhukow stand immer noch im Warthebruch und Oderbruch. Am liebsten hätte er sowohl Küstrin als auch Frankfurt an der Oder links liegen gelassen. Er hatte Lust, direkt nach Berlin zu marschieren. Er hätte gerne die Hauptstadt des Deutschen Reiches noch vor Marschall Konjew erreicht. Die beiden Marschälle lagen im Wettstreit miteinander. Stalin wusste dies auszunutzen. Sein Befehl an Marschall Zhukow lautete: Er solle zuerst im Oderbruch aufräumen.

Während dessen saß man in der Festung Frankfurt an der Oder und wartete auf die Russen. Die Verteidigung dieser Festung wurde sorgfältig vorbereitet. Von Frankfurt an der Oder führte eine gut ausgebaute Autobahn direkt nach Berlin. Auf dieser Autobahn hätte die gesamte Rote Armee in ein paar Stunden nach Berlin vorrücken können.

General Busse leitete in Frankfurt an der Oder die deutsche Neunte Armee. Goebbels als Reichsverteidigungskommissar zeigte besonderes Interesse für diese Festung. Er legte im Februar 1945 General Busse einen offiziellen Besuch ab.

Am 3. März 1945 kam Hitler persönlich. Der Oberste Befehlshaber der Wehrmacht hatte eine Lagebesprechung mit General Busse. Im gewohnten Elan plante Hitler im Oderbruch. Mit wilden Handbewegungen führte er Angriffe mit Armeen durch, die nicht mehr existierten. Er erteilte aberwitzige Befehle, die den örtlichen Gegebenheiten keine Rechnung trugen. Viele Soldaten starben unnötig.

II.

In Frankfurt an der Oder aber bereitete man sich psychisch und physisch auf die rote Armee vor. Noch immer kontrollierte man die letzten Brücken über die Oder, noch immer beseelte alle ein letzter Optimismus, noch immer herrschten hektische Aktivitäten. Alle Kräfte wurden zur letzten Verteidigung aufgeboten.

Aber die Motive zum Kampf waren so buntscheckig wie die Verteidigungsreihen des Volkssturms. Selbst noch in der letzten Verteidigung konnten nicht alle Emotionen unter Kontrolle gebracht werden. Jeder beobachtete jeden. Jeder beargwöhnte jeden. Jeder verdächtigte jeden. Nicht einmal innerhalb der einzelnen Führungskommandos herrschte Einheit, auch nicht in den Reihen der SS, besonders hier nicht.

Vor dem Untergang hatten sich alle Kampfhähne der Nazikommandos noch einmal in Frankfurt an der Oder versammelt. Mit Anpöbeleien, rüden Anpfiffen, Lümmeleien, Kompetenzkabalen, weltanschaulichem Geschwafel und mystifizierenden Sentimentalitäten flohen sie vor einer Wirklichkeit, die sie nicht ertrugen und die sie nicht akzeptieren konnten.

Doch die Duodezfürsten der Hauptämter fehlten in der letzten Verteidigungslinie. Sie versuchten, sich auf ihre Art zu retten. Typen wie Bormann und Eichmann verschwanden klammheimlich. Der Gauleiter vom Warthegau, Greiser setzte sich geschickt nach Oberbayern ab. Er glaubte, die amerikanische Gefangenschaft wäre vorteilhafter als die russische. Er sollte sich täuschen. Die Amerikaner lieferten ihn nach Warschau aus, wo er nackend in einem Käfig herumgefahren wurde. Himmler und Göring feilschten mit den Alliierten. Der eine bot seine Juden als Zahlungsmittel an, der andere imaginäre Wehrmachtseinheiten.

Für wieder andere gab es nichts mehr zu feilschen. Sein oder Nichtsein, das war die Frage. Goebbels und Hitler wünschten lieber das Nichtsein aller Deutschen als ihr eigenes. Zum Schluss blieb ihnen nur die Wahl der Todesart. In der Götterdämmerung waren die Großen des Dritten Reiches nur noch eine aufgelöste, gesichtslose Herde von Unpersönlichkeiten, leeren Existenzen und ausgelaugten Typen.

In den letzten Festungen aber stand die zweite und dritte Garde, standen die letzten Enthusiasten, Fanatiker, Unbelehrbaren und Verzweifelten. Hier standen die, die nichts mehr zum Feilschen hatten, nicht einmal ihre aufgeblasene Phantasie.

Versammelt waren die mittleren und kleinen Parteifürsten, die mittleren und kleinen Sultane der SS-Ämter. Die Welt im Diminutiv. Das war der aufgeblasene Popanz des Tausendjährigen Reiches. Das waren charakterliche Durchschnittstypen, kleine Schweinehunde mit kleinen Schwächen, kleinen Trieben und kleinen Verstiegenheiten. Die Kleinheit der Göttertypen des germanischen Himmels winselte vor der Größe der Katastrophe, die sie heraufbeschworen hatten. Die Multiplikation aller dieser Nullen führte zum großen Desaster.

In Frankfurt an der Oder saßen sie nun und warteten auf den Feind. Sie vertrieben sich die Zeit mit Intrigen, Klüngel und Affären.

Inzwischen strömten die Flüchtlinge herein. Mit den Flüchtlingen kamen die Nachrichten von den unsagbaren Grausamkeiten der Roten Armee und der zivilen polnischen Bevölkerung. Die Deutschen der Ostgebiete wurden tierisch misshandelt, ermordet, verschleppt, ausgeplündert. Alles Essbare, aller Besitz und alle Kleidung wurden ihnen weggenommen. Einige Flüchtlinge wurden sofort erschossen, erschlagen und zu Tode gemartert. Die anderen starben langsam an bestialischen Quälereien, manchmal über Jahre hinaus. Sie starben an Seuchen, Ruhr, Typhus, Ungeziefer, Hunger, Vergewaltigungen und täglichen Prügeln und Misshandlungen.

Millionen kamen um. Rechnungen wurden nicht geführt. Tote ließ man liegen. Tote wurden nicht registriert. Es gab keine Namen, keine Listen, keine Totenscheine. Sie gelten als verschollen, verschleppt, vermisst.

Über zwei Millionen Deutsche wurden nach dem Krieg als vermisst gemeldet, über sechshundert Tausend Deutsche wurden als verstorben gemeldet. Die Zahlen sind ungenau. Präzise Karteiführungen gibt es hierfür nicht. Sicher ist, dass es nur ein geringer Bruchteil der vertriebenen Deutschen war, die es schafften, über die Oder und Neiße zu kommen. Aber dieser geringe Bruchteil beläuft sich auf eine Ziffer von zwölf bis fünfzehn Millionen. Mit ihnen kam das Grauen.

Die sich als Sieger gebärdeten, hatten sich menschlich noch eine Stufe unter die Bestialität der Deutschen gestellt. Die Überfälle und Verschleppungen der flüchtenden Trecks waren ein millionenfaches viehisches Morden. Nicht einer der Täter hat sich jemals freigesprochen. Man fand nicht einmal mehr die Sprache, dies mit Worten zu belegen. Es gab keinen Versuch, sich zu rechtfertigen, nicht einmal mit Lügen, nicht mit Verdrängungen, nicht mit Selbstmitleid, nicht mit Wehleidigkeit.

Die Mörder brüsteten sich damit, wie viele sie erschlagen, erschossen, zu Tode geprügelt, vergewaltigt und gequält hätten. Die Massenmorde der Sieger übersteigen menschliche Vorstellungskraft. Den Menschen wurden die Eingeweide herausgerissen, als sie noch lebten. Sie wurden lebendig begraben oder einfach liegen gelassen. Gräber gab es nicht, Gräber gibt es nicht, nicht einmal Massengräber. Für diese Millionen von Flüchtlingen, von Frauen, Kindern, Kranken und Verwundeten wurde nicht ein einziges Denkmal errichtet. Nicht ein einziges Kreuz zeugt von ihren Leiden.

Diese Bestialität wurde ausgeführt von Menschen an Menschen, täglich, tausendfach, millionenfach. Das Ende des Krieges war kein Ende vom Inferno, es war ein neuer Anfang von Höllenqualen, die kein menschliches Gehirn mehr fassen kann.

Der Sieger aber feiert noch heute sein jahrelanges, bestialisches Morden mit Fahnen, Musik, Blumen und Festreden.

Die Verteidiger der Festung Frankfurt an der Oder wussten, was ihnen bevorstand. Über sich hatten sie Hitlers Befehl, bis zum letzten Mann auszuhalten. In ihrem Rücken hatten sie Himmlers Schergen, die jeden umbrachte, der zurückwich. Um Frankfurt herum standen die Einheiten der Roten Armee. Dahinter kamen die Nachhut der Sowjets und die zivile polnische Bevölkerung, gierig darauf, am Morden teilhaben zu können. Sie wollten sich auch amüsieren.

In Frankfurt an der Oder saß das Grauen in allen Winkeln. Die Angst kam mit jedem Lufthauch. Die Furcht vibrierte in jedem Atemzug.