Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Keiner in Deutschland hat den Umgang mit Sexualität mehr geprägt als Oswalt Kolle. Er scheut vor keinem Tabu zurück, auch nicht vor Sexualität im reiferen Alter. Lust an der Liebe und Zärtlichkeit sind kein Privileg der Jugend. Menschliche Wärme ist bis ins hohe Alter notwendig. Seinem unermüdlichen Einsatz ist es zu verdanken, dass seit einigen Jahren endlich auch öffentlich über Sexualität im Alter diskutiert wird. "So bleibt die Liebe jung" ist ein offenes Buch, das mit großem Einfühlungsvermögen Menschen ab 49 Jahren wichtige Ratschläge gibt.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 206
Veröffentlichungsjahr: 2013
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Oswalt Kolle
SO BLEIBT DIE LIEBE JUNG
> bei Facebook
> bei Facebook
Tief in der Krise – raus aus dem Loch
49+ was? Na dann!
Frauen zwischen Lust und Tabu
Männerlust und Männerlast
Die Sehnsucht der Frauen
Wie Männer sich die Liebe wünschen
Das alte Paar: Liebe auf dem Prüfstand
Singles: Einsamkeit oder neues Abenteuer?
Was ältere Menschen noch lernen können
Du verstehst mich nicht – ich verstehe dich nicht
Wenn die Hormone sparsam werden – die Sexualität von Frauen nach der Menopause
Die Angst der Männer vor dem letzten Mal
Diabetes – die tabuisierten Folgen
Viagra, Cialis und Levitra
Hilfe für die Männer von der schnellen Truppe – Zauberwort Priligy
Zu guter Letzt
Virulent ist ein Imprintwww.facebook.de/virulenz
ABW Wissenschaftsverlag GmbHKurfürstendamm 5710707 BerlinDeutschland
www.abw-verlag.de
© E-Book: 2012 ABW Wissenschaftsverlag GmbH
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes.
Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.
ISBN 978-3-86474-073-2
Produced in Germany
E-Book-Produktion: ABW Wissenschaftsverlag mit bookformer, BerlinUmschlaggestaltung: brandnewdesign, HamburgE-Book-Korrektorat: Alexandra Kellner, BerlinTitelabbildung: istockphoto (Polen Docks©diamirstudio)
P120042
Für meine José,die mir neuen Lebensmut gegeben hatDanke
In Krisen gerät man leider öfter im Leben. Die schwerste ereilt einen wohl, wenn man einen geliebten Menschen verliert. Vor allem, wenn man so lange mit seinem Partner zusammen war wie ich. Krisen muss man bewältigen, um daraus erstarkt hervorzukommen, sagt man. Aber wie machen?
Nach dem nicht unerwarteten Tod meiner Frau stürzte ich schwer in die Depression, ob ich wollte oder nicht. Meine Kinder kümmerten sich rührend um mich und versuchten, so oft sie konnten, mich abzulenken. Aber sie hatten auch einen Beruf und litten natürlich am Verlust der Mutter. Alle fragten oder sprachen über meine Frau. Wenn man dann allein ist, kommt immer wieder diese grenzenlose Melancholie auf. Ich durchsuchte das ganze Haus nach Schnaps, Whisky, Grappa und anderem Alkohol und schüttete ihn in den Ausguss. Jetzt nur nicht anfangen zu saufen. Eine Flasche Wein behielt ich, das war alles. Nachts schlief ich schlecht, manchmal fuhr ich aus dem Schlaf hoch und hoffte: Alles nur ein Alptraum! Morgens wachte ich auf, und da lag niemand neben mir. Wäre ich allein in Amsterdam gewesen, hätte ich mich am Deckenbalken erhängt. Diese große Einsamkeit und Leere, die ich in mir fühlte. Ich ging durch unser schönes Viertel nahe des Apollolaan, holte mir Zeitungen und Zigaretten, trank einen Kaffee in einem Bistro und trottete zurück in die einsame Wohnung. Was hatte meine verstorbene Frau noch zu mir gesagt? „Ich gebe dir drei Monate Zeit zum Trauern, aber dann arbeitest du wieder! Wenn du nicht arbeitest, fühle dich, wo auch immer du bist, in den Hintern getreten! Du kannst nicht allein leben, also such dir so schnell wie möglich eine neue Frau! Nicht zu jung, nicht zu alt. Zu heiraten brauchst du ja nicht!“ Aber eine neue Frau?
Ich war zweiundsiebzig und fühlte mich wie neunzig. Ich las meine E-Mails, es kamen Aufträge für Vorträge und Fernsehen, ich stellte mich, war diszipliniert, arbeitete streng nach Dienstplan und war dadurch viel auf Reisen. Aber kaum war ich zu Hause, kam sie wieder, diese Traurigkeit! Aber der erste Teil des Auftrages meiner Frau war wohl erfüllt, wenn das auch viel länger dauerte, als sie dachte. Aber eine neue Frau? Wie schon gesagt, ich fand mich nicht mehr attraktiv. Ich dachte, da passiert wohl nichts mehr, vielleicht noch mal in Weinstimmung, á la carte, wie man so sagt. Oder manche sagen auch Quickie. Vielleicht passiert in Alkoholstimmung so etwas, das alles rosiger erscheinen lässt, aber was ist am Morgen danach? So ging es fast zwei Jahre! Eine nicht enden wollende Zeit, bis man sich selbst gepackt hat! Ich ging jeden Abend zum gleichen Italiener um die Ecke, hatte dort meinen Tisch, aß dort meist eine halbe Portion Spaghetti, trank mein Viertel Wein. Eines Abends sah ich dort eine hübsche blonde Frau alleine am Tisch sitzen, die ich erst dank meiner nicht mehr so guten Augenstärke und des Tischabstandes für eine mir bekannte niederländische Fernsehmoderatorin hielt. Ich nickte ihr freundlich zu. Sie nickte zurück und schenkte mir ein bezauberndes Lächeln, sagte aber nichts. Ich war verwundert, denn wenn sie diejenige gewesen wäre, für die ich sie hielt, hätte sie mich doch an ihren Tisch gebeten, zumal sie ja alleine war. Am nächsten Abend, auf dem Weg ins Bistro, fragte ich mich, ob diese schöne Frau mit dem bezaubernden Lächeln wieder da sein würde. Sie saß da. Ich nickte, sie lächelte. So ging das viele Tage.
José, so heißt die Dame, dachte auf dem Weg in dieses Lokal: ‚Vielleicht ist heute dieser traurige Vogel wieder da, eigentlich ein ganz sympathischer Kerl.‘ Das erzählte sie mir später. Ich hätte aufstehen und mich vorstellen können, das hatte ich aber noch nie gekonnt, schon gar nicht in meinem damaligen seelischen Zustand. So war sie es, die die Initiative ergriff. Sie kam an meinen Tisch und bat um Feuer, um sich eine Zigarette anzuzünden. Sie hätte auch dem Kellner winken oder eines der drei Feuerzeuge in ihrer Handtasche benutzen können. Als sie fertig geraucht hatte, trat sie an die Theke und wollte bezahlen. Da nahm ich endlich all meinen Mut zusammen: „Verzeihen Sie. Ich finde, wir sollten niemals mehr alleine an getrennten Tischen essen. Was halten Sie von dieser Idee?“
„Die finde ich wirklich gut!“, sagte sie und strahlte mich an. An der Bar standen wir dann anderthalb Stunden, tranken Rotwein, Grappa, qualmten und redeten.
José Del Ferro, Niederländerin, war seit zwölf Jahren Witwe. Und fast so lange brauchte sie auch, um über den Verlust hinwegzukommen. Sie lebte seither, nicht weit von mir entfernt, allein. Ihr Mann war der weltbekannte amerikanische Operntenor Leonard Del Ferro, der an der Met, an der Scala, der Wiener Staatsoper und anderen berühmten Opernhäusern gesungen hat. Später zog er sich zurück und entwickelte die Del-Ferro-Methode gegen das Stottern. Er starb an einem Herzinfarkt.
Mit einem Schlag hatte mein Leben eine neue Wende genommen, und ich verliebte mich wie ein Teenager.
Ab neunundvierzig wird man nervös. Gleich fünfzig – sind die besten Jahre vorbei? Was kommt noch? Quoten in den Medien gelten nur in der Altersgruppe bis neunundvierzig als erfolgreich. Gehört man nun zum alten Eisen? Das deprimiert. Eigentlich hat man doch noch viel Saft, erlebte Erfahrungen mühsam verarbeitet und fühlt sich endlich weise. Nur noch ein paar Jahre bis zur Rente. Sich jetzt auf diese und den Tod vorbereiten? Was die Medien auch verbreiten, wir bleiben stark, wenn wir uns selbst helfen!
Zu meinem fünfzigsten Geburtstag schickte mir ein Leser ein dickes Buch mit dem Titel ‚Sex mit fünfzig‘. Es enthielt rund zweihundert leere weiße Seiten. Das sollte witzig sein, aber ich konnte nicht darüber lachen. Es ist diese Art ranziger Sexualhumor, die mir nicht liegt. Dennoch steckt mehr hinter diesem Buch, das man in jedem Schreibwarenladen kaufen kann. Vielleicht können Menschen darüber lachen, deren Sexualität nach dem fünfzigsten Lebensjahr noch gut funktioniert, die ihre Sexualität noch ausleben können – aber auf all die Menschen, die aus irgendeinem Grund, wie Krankheit und Einsamkeit, das schönste aller Spiele nicht mehr spielen können, muss so ein Buch wie ein diskriminierender Witz über Behinderte wirken. Damals wie heute habe ich sehr viel mit solchen Frauen und Männern zu tun: Auf meinem Schreibtisch häufen sich die Briefe älterer Menschen, die sich gerne lustvoll lieben wollen, aber nicht immer oder gar nicht mehr so können, wie sie wollen. Oft sind es nur kleine Störungen des Lustempfindens oder der Potenz, manchmal stecken aber auch grundsätzliche Missverständnisse über Sexualität und Verlustängste dahinter, weil man dem Partner nicht mehr das geben kann, was man gerne möchte. Oft beginnen die Briefe mit einem Satz wie diesem: „Sie werden sich sicher wundern, dass ein älteres Paar wie wir sich noch mit solchen Problemen herumschlägt ...“ Nein, ich habe mich in all diesen Jahren nie darüber gewundert, dass auch ältere Menschen sexuelle Bedürfnisse haben. Gewundert habe ich mich nur darüber, wie wenig die Öffentlichkeit bereit war, dieses Problem überhaupt zu sehen.
Ich erinnere mich deshalb voller Zorn an eine ZDF-Serie über Sexualität, in der mein Freund, der Sexualtherapeut Dr. Klaus Pacharzina, in der ersten Folge die zärtliche, liebevolle Sexualität zwischen alten Menschen zeigte: Die Serie wurde sofort abgesetzt, weil die Reaktionen der Zuschauer angeblich zu negativ waren. Tatsächlich hatte diese erste Folge rund vier Millionen Zuschauer, von denen kaum mehr als dreihundert böse Briefe schrieben. Da musste also mehr dahinterstecken. Dieses Buch will auch darüber berichten, woher das Tabu Alterssexualität stammt. Viel wichtiger aber scheint es mir zu sein, allen älteren Menschen Mut zur Sexualität zu machen, sie dabei zu unterstützen, ihre Scham abzubauen, und ihnen Rat zu geben, wenn sie in der Krise stecken. Zugleich soll damit allen jungen Menschen gesagt werden: „Habt keine Angst vor diesem Aspekt des Alters, auch ihr könnt noch lange genießen! Aber gönnt es jetzt ebenso den Alten, die euch den Weg zur sexuellen Freiheit geöffnet haben ...“
Mein besonderer Dank gilt der Ärztin Dr. Sabine zur Nieden, die mich aus ihrer Praxiserfahrung heraus immer wieder ermuntert hat, dieses wichtige Thema anzupacken. Ich freue mich, dass Sabine zur Nieden mit ihren lebendigen, einfühlsamen Beiträgen in diesem Buch direkte Hilfe leisten kann für alle Menschen.
Zehn Jahre lang hat Barbara nach dem Tod ihres Mannes allein gelebt. Dieser Mann war die einzige große Liebe ihres Lebens. Sie hat drei Kinder mit ihm. In diesen zehn Jahren hat Barbara die Tatsache verdrängt, dass sie auch eine Frau mit eigenen Wünschen und Begehren ist: Sie war nur noch aufopfernde Mutter und Großmutter. Wirklich schwer ist ihr dieses Alleinsein auch nicht geworden, da sie sich einfach nicht vorstellen konnte, nach der großen Liebe überhaupt noch mit einem anderen Mann intim werden zu können. „Wir waren so aufeinander eingespielt“, sagt sie selbst. Außerdem hatte sie das Gefühl, in ihrem Alter für einen Mann nicht mehr begehrenswert zu sein: „Wer will denn noch so ein altes Mädchen mit Falten?“
Und dann geschah etwas, das Barbara erst einmal total aus der Bahn warf und ihr Leben veränderte: Ihre beiden Söhne und ihre Tochter schenkten ihr zum Geburtstag eine vierzehntägige Reise nach Spanien. Schon am ersten Urlaubstag auf Mallorca näherte sich ihr auf einer Terrasse ein charmanter, liebenswürdiger älterer Herr, Albert. Voller Misstrauen hörte sich Barbara seine Komplimente über ihr Aussehen an. Was wollte der Mann, hielt er sie vielleicht für eine reiche Witwe? Anders konnte sie sich nach all den Jahren ohne Beziehung zu Männern seinen Flirt nicht erklären. Aber nach ein paar Tagen war sie überzeugt, dass dieser Mann sie einfach gut fand, gern mit ihr zusammen war, ihre Art zu sprechen mochte. Er gefiel ihr, aber mehr auch nicht. Keine Rede von Verliebtheit oder gar Liebe. „Ich war nicht allein, das gefiel mir.“
Das Letzte, an das Barbara in diesen Tagen dachte, war Sexualität. Für sie ist, wie für so viele Frauen dieser Generation, Sexualität unlösbar mit Liebe verbunden. Ohne Liebe mit großem L geht gar nichts – dachte sie damals. Doch dann geschah das für Barbara Unfassbare. Am vierten Tag lud Albert sie zu einem romantischen Diner bei Kerzenschein in einem Hafenrestaurant ein. Die ‚Zarzuela‘ wurde mit viel rotem Rioja heruntergespült. „Fisch muss schwimmen ...“ Ein bisschen angeheitert und beschwingt ging Barbara mit Albert unter dem Sternenhimmel am Strand spazieren. Als Albert den Arm um Barbara legte, schmiegte sie sich an ihn. Bei seinem ersten Kuss wurde sie ganz weich in seinen Armen. „Und dann zitterte ich wie ein ganz junges Mädchen ...“ Wie in Trance ging sie mit ihm auf sein Hotelzimmer. Plötzlich waren all die Ängste weg, die sie jahrelang beim geringsten Gedanken an Sex hatte: ‚Ich bin alt, ich bin nicht mehr anziehend, ich muss mich meines verblühten Körpers schämen, ich werde mich ungeschickt anstellen, ich weiß gar nicht mehr, wie das geht ...‘ Der Mann entpuppte sich als ein geschickter, geduldiger und außerordentlich zärtlicher Liebhaber. Mit seiner Zunge brachte er Barbara zum ersten Mal zum Orgasmus. Das hatte sie in ihrer Ehe nie erlebt – einen solch heftigen Orgasmus jedenfalls noch nicht. Sie fürchtete, ohnmächtig zu werden, so wild zuckte es in ihr. Als Albert später, viel später, in sie eindrang, wurde sie zum zweiten Mal geschüttelt. „Das war etwas Neues für mich. Bei meinem Mann hatte ich ganz selten einen Orgasmus und dann sehr leise.“
Sie genoss diese Nacht. Aber am nächsten Morgen fragte sie sich immer wieder, wie das hatte geschehen können. Sie hatte einfach Sex genossen, ohne Liebe, ja sogar ohne Verliebtheit. Sie hatte sich einfach einem fremden Mann hingegeben. Ihr ganzes Weltbild geriet ins Wanken.
Für Barbara, wie für so viele Frauen ihrer Generation, ist Sexualität eine Angelegenheit, die nur in der Liebe ihre wahre Erfüllung finden kann, alles andere gilt als schmutzig. Liebe veredelt das ‚tierische‘ Geschehen, Verlobung adelt die Sexualität, Ehe setzt ihr die Krone auf. Barbara war auf dem Land aufgewachsen, in einer katholischen Gemeinde. Es herrschte dort eine strenge Doppelmoral: Was ihren Brüdern erlaubt war, wurde ihr verboten. Die Jungen sollten sich ruhig mit ‚schlechten‘ Mädchen die Hörner abstoßen, die guten Mädchen hingegen taten so etwas nicht, frühestens nach der Verlobung, am besten aber erst in der Ehe. Barbaras Aufklärung über Sexualität bestand darin, dass ihre Mutter nach der ersten Menstruation sagte: „Jetzt hast du die Schweinerei auch. Jetzt musst du aufpassen mit den Jungs, sonst kriegst du ein Kind.“ Sie erinnert sich an ein katholisches Aufklärungstraktat, das ihr beim Kommunionsunterricht gegeben wurde. Darin stand zum Beispiel der Satz: „Wenn du dich als Mädchen beim Tanz von einem Burschen nach draußen führen lässt, ist das der erste Schritt in die Hölle der Unzucht.“
Wie Millionen anderer Frauen ihrer Generation auch stolperte Barbara dann in eine Ehe mit dem ersten Mann, mit dem sie stets voller Angst geschlafen hatte. Sie war mit der Idee aufgewachsen, dass sich sexuell schon alles regeln würde, wenn nur die Liebe stimmt. Schließlich galt Sexualität in ihren kleinbürgerlich-katholischen Kreisen auch nicht als Vergnügen, sondern als Instrument Gottes, um Kinder zu zeugen. Vergnügen schon gar nicht für Frauen, das hatte ihre Mutter sie gelehrt. Es war eine Sache, die Männern Spaß machte, und die Frau hatte dieser sonderbaren Lust zu dienen, der Liebe, der Ehe und der Kinder wegen. So war ihre Ehe sexuell freudlos geblieben. Weder Barbaras Mann noch Barbara konnten je über ihre sexuellen Empfindungen sprechen. Man hatte Sex, aber man redete nicht darüber. Die öffentliche Sexualdiskussion am Ende der sechziger Jahre kam für sie, wie für viele andere, zu spät: Zwar verbesserte sich das sexuelle Verhältnis zu ihrem Mann etwas, weil er ‚neue Griffe ausprobierte‘, aber ihre sexuelle Beziehung war doch längst zur Routine geworden, sie konnten sich beide nicht von ihrem Tabu befreien, konnten nicht über ihre eigenen Grenzen springen, waren erstarrt in dem Gesetz, mit dem sie einst ihre Ehe begonnen hatten. Und dann Mallorca! Roter Wein und Rausch. Ein nie geahntes Glücksgefühl. Das Leben begann von neuem.
In unseren langen Gesprächen hat mir Barbara ihre Gefühle dieser Urlaubswoche geschildert: „Ich wollte, dass es nie enden würde. Aber gleichzeitig bohrte es in mir: Das schickt sich doch nicht, mit diesem fremden Mann solche Empfindungen zu haben. Ich sagte mir: Darüber kannst du mit niemandem sprechen, man würde dich nur auslachen. Ich war Oma von drei Enkelkindern, lag nun hier auf einem zerwühlten Hotelbett und sehnte mich nach mehr.“
Um diese Kluft zwischen Tabu und Lust zu schließen und damit das rein sexuelle Erlebnis nachträglich auf eine höhere Ebene zu heben, erklärte Barbara für sich selbst Albert in diesem Moment zu ihrer zweiten großen Liebe. Ein folgenschwerer Irrtum, wie sich bald zeigen sollte: Denn außer dem gemeinsamen erotischen Vergnügen verband die beiden Menschen überhaupt nichts. Als Barbara dann in ihre Heimatstadt zurückkam, musste sie ihren drei erwachsenen Kindern sagen, sie habe sich verliebt. Sie werde mit diesem Mann zusammenziehen und mit ihm leben, ja ihn vielleicht sogar heiraten.
Hatte sie bisher nur ihr eigenes Tabu, ihre eigenen Moralvorstellungen verletzt – nun verletzte sie das Tabu der jungen Generation. Die waren fassungslos, empfanden diese angebliche Liebe als Verrat am toten Vater und waren tief enttäuscht, dass die Oma sich plötzlich als ein lebendiges Wesen mit eigenen Wünschen und Sehnsüchten entpuppte: So hatte man nicht gewettet. Bevor Albert auch nur auftauchte, wurde er von den drei Kindern schlechtgemacht: Barbara habe eine gute Pension, der alte Mann wolle nur von ihr profitieren, und überhaupt: Was sie denn in ihrem Alter noch von einem Mann wolle!
Barbara gibt zu, dass sie in diesem Augenblick die Wahrheit hätte sagen sollen: „Dies ist mein Leben, dies ist meine Sexualität – ich will mit diesem Mann nicht Hand in Hand durchs Leben laufen, aber ich mag ihn, ich liebe ihn, ich gehe gern mit ihm ins Bett.“
Aber das Tabu war stärker: Sex hat man, aber man redet nicht darüber, schon gar nicht mit seinen Kindern. Nach ein paar Wochen verschwand Albert wieder aus ihrem Leben. Die regelmäßigen Missverständnisse über die Lebenseinstellung und die sehr verschiedenartigen Interessen machten den Alltag der beiden zu einem ständigen Kampfplatz. Dagegen konnten die gemeinsamen sexuellen Interessen und Freuden nicht ankommen. Die ständige Feindschaft der Kinder gegen den Eindringling beschleunigte den Prozess des Auseinanderlebens. Das Tabu hatte die Lust besiegt.
Barbaras Geschichte ist nicht ungewöhnlich. Die meisten Frauen dieser Generation sind in dumpfen Verhältnissen aufgewachsen und standen, was ihre Sexualität betrifft, unter ständigem moralischen Druck. Die Hemmungen so mancher älteren Frau, Sexualität wirklich zu genießen, kann man nur verstehen, wenn man tief in die Zeit ihrer Jugend zurückgeht. Und erst wenn es diesen Frauen gelingt, die Last der Vergangenheit abzuschütteln, ist es ihnen möglich, sich selbst auch im späten Alter noch zu befreien.
Wichtig ist in diesem Zusammenhang zu wissen, wie die Zeiten für die jungen Mädchen ihrer Generation waren. Im Vordergrund stand damals für jede junge Frau die Angst vor einer ungewollten Schwangerschaft, da diese für sie eine menschliche und gesellschaftliche Katastrophe bedeutete. Menschlich, weil es praktisch keine Möglichkeit gab, eine legale Abtreibung vorzunehmen. Man rechnete damals zwar pro Jahr mit rund zwei Millionen illegalen Abtreibungen, aber die wurden meist von den Frauen selbst vorgenommen – mit Stricknadeln und Giften. Eine andere Möglichkeit waren die so genannten Engelmacherinnen, die auf irgendwelchen Küchentischen in den Frauen herumbohrten. Für die meisten Schwangeren waren illegale Abtreibungsärzte entweder unerreichbar mangels Beziehungen oder zu teuer. Also blieb vielen nur die Möglichkeit, das unerwünschte Kind auszutragen. Da jedoch drohte die gesellschaftliche Katastrophe. Ich habe aus jener Zeit Hunderte von Briefen, in denen junge Mädchen mir schildern, wie sie mit ihren unehelichen Kindern von der Gesellschaft ausgegrenzt wurden – ja, wie sogar viele Eltern sagten: „Mit dem Bankert brauchst du nie mehr nach Hause zu kommen.“ Ein uneheliches Kind, das hieß für junge Mädchen immer: das Ende der Schulzeit, das Ende der Ausbildung, oft das Ende der Hoffnung auf einen netten Ehemann. Die Angst vor einer Schwangerschaft begann bei vielen Mädchen, unaufgeklärt wie sie waren, schon bei Küssen und zärtlichen Berührungen. Für unverheiratete Frauen gab es praktisch keine Verhütungsmethoden. Die meisten Ärzte lehnten es etwa ab, einem ledigen Mädchen ein Pessar anzupassen – falls das Mädchen überhaupt so mutig war, deshalb einen Arzt aufzusuchen. Es war die Zeit, in der Beate Uhse gezwungen war, Kondome nur an verheiratete Paare abzugeben. Zudem war jede öffentliche Werbung, und dazu gehörte die Besprechung von Verhütungsmethoden beispielsweise in Illustrierten oder anderen Medien, gesetzlich verboten – ein Paragraphenrudiment aus der Zeit des Nationalsozialismus, als Hitler die Frauen zu Gebärmaschinen machen wollte. Wenn diese Mädchen sich also vor der Ehe verliebten und mit ihrem Freund schlafen wollten, mussten sie sich ganz und gar auf den Mann verlassen, der meist auch keine Kondome gebrauchte, sondern die höchst unsichere Methode des Rückziehers anwendete, nach dem Sprichwort: ‚Vor dem Singen aus der Kirche gehen‘.
Die wenigen Aufklärungsfilme der fünfziger Jahre behandelten außerdem niemals das Thema Verhütungsmittel, sondern ausschließlich das Thema ‚ungewollte Schwangerschaft‘ mit allem daraus folgenden Elend samt Geschlechtskrankheiten. So wurde für die damals junge Generation ein Bild der Sexualität gezeichnet, das mehr einer ansteckenden Krankheit als einer erfreulichen Erscheinung glich. Gestützt wurden diese Ängste durch eine Moral, die rigide und sexualfeindlich war. In Umfragen jener Tage fanden mehr als siebzig Prozent der Menschen voreheliche Sexualität per se verwerflich, und – nebenbei bemerkt – neunzig Prozent waren sich einig, dass Homosexualität krankhaft, pervers und strafwürdig sei. Es war ‚ganz natürlich‘, dass sich trotzdem unzählige Mädchen nicht an diese Moral hielten, aus Liebe, aus Zuneigung, weil sie die Ehe schon planten oder im ‚hormonellen Überschwang‘, wie ein Frauenarzt es einmal ausdrückte. Doch wie war das dann, beim sagenumwobenen ersten Mal?
Ich habe Anfang der sechziger Jahre in einer Illustrierten die Leserinnen aufgefordert, mir genau zu beschreiben, was sich da abgespielt hatte. Es kamen rund zehntausend ausführliche Briefe – im Buch ‚Deine Frau, das unbekannte Wesen‘ von mir zitiert –, aus denen ein erschreckendes Bild hervorging: Für ungefähr neunzig Prozent der Briefschreiberinnen war das erste Mal die reine Qual, ein hilfloses, lustloses Gefummel mit anschließendem Reinstecken und Rausziehen, das bei den Mädchen mehr Ekel als Freude hervorrief. Die Ausnahmen waren fast ausschließlich Mädchen, die von älteren, erfahrenen Liebhabern entjungfert wurden, denen es gelungen war, eine romantische Atmosphäre zu schaffen und den Mädchen die Angst zu nehmen. Es war also im Allgemeinen ein schlechter Start für ein erfülltes Liebesleben – und viele der Frauen aus allen Generationen waren über diese Enttäuschung nie hinweggekommen. Sie blieben auch während ihrer Ehen verkrampft, orgasmusunfähig und frigide. Sie konnten das erste Erlebnis weder vergessen noch verarbeiten – allein deshalb nicht, weil sie mit niemandem darüber sprechen durften, schon gar nicht mit ihren Eltern. Diesen Eltern hatte der Gesetzgeber zur Unterstützung der Moral nämlich mehrere Instrumente an die Hand gegeben.
1.
Da die jungen Menschen damals erst mit einundzwanzig Jahren mündig wurden, konnte jeder Vater den Liebhaber seiner Tochter wegen Verführung Minderjähriger anklagen – und auf die Anklage wieder verzichten, wenn der Galan die Tochter heiratete.
2.
Die Eltern konnten durch Gerichtsbeschluss bewirken, dass die Beziehung beendet wurde. Das geschah nicht selten in diesen Jahren.
3.
Mit dem Paragraphen-Schwert wurden alle Eltern bedroht, die ihre noch minderjährigen Kinder mit einem andersgeschlechtlichen Partner in der elterlichen Wohnung übernachten ließen, da sie ‚nach der Lebenserfahrung‘ wissen mussten, dass geschlechtsreife Kinder bei gemeinsamer Übernachtung zu ‚Unzucht‘ neigten. Das hieß in Gesetzesdeutsch dann ‚schwere Eltern-Kuppelei‘ und wurde mit Zuchthaus bis zu sechs Jahren bestraft.
Es gab pro Jahr mehrere hundert solcher Verfahren in der Bundesrepublik – als warnendes Beispiel für alle liberalen Eltern, die es lieber sahen, wenn ihre Söhne und Töchter im beschützten Raum des Elternhauses Liebe machten als auf einer Parkbank im Dunkeln. Dieser Paragraph fiel erst 1977. Doch selbst wenn die Eltern sich um diese Gesetze nicht kümmerten, herrschte in den meisten Häusern doch eine so große Angst vor der Sexualität und besonders vor der Konfrontation mit den sexuellen Erfahrungen der eigenen Töchter und Söhne, dass auch in liberalen Familien als Regel galt: ‚Nicht unter unserem Dach, ich will nicht wissen, was du treibst.‘