So kann man das nicht sehen - Manuela Bößel - E-Book

So kann man das nicht sehen E-Book

Manuela Bößel

4,8

Beschreibung

Die Protagonisten in den Geschichten von Manuela Bößel seien – so sagt sie – Wesen, die an ihre Tür geklopft und so lange keine Ruhe gegeben hätten, bis sie ihnen ein Daheim in Texten und Illustrationen verschaffte. Die blühende Fantasie der Verfasserin brachte ihr immer wieder Konflikte mit denen ein, welche vermeintlich objektive Wahrheiten beanspruchen: „So kann man das nicht sehen!“ Die Traumfiguren, die durch ihre Bilder geistern, tragen aber oft mehr zum Verständnis der Wirklichkeit bei. In den Texten erleben wir die Autorin immer wieder bei Grenzerfahrungen – ob nun im Privatleben, dem erlernten Beruf als Krankenschwester oder bei den grafischen Arbeiten. Kunst und Musik, hier vor allem ihre Leidenschaft für den argentinischen Tango, erweisen sich als Rettungsanker für die persönliche Ausrichtung, die Abwehr von Ansprüchen, stets nur für das Glück anderer zuständig zu sein. Der Schreibstil von Manuela Bößel fasziniert durch das Spannungsverhältnis zwischen bodenständigem, manchmal zynisch gefärbtem Realismus und filigraner Sensibilität. Dem Leser bietet sich das Bild einer Frau, die im Widerstreit zwischen verkopftem Müssen und intuitivem Wollen ihren authentischen Weg findet. Das jedenfalls kann man so sehen!

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FÜR MEINE LIEBEN

INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort

Für eine bemerkenswerte Frau

Der Widerspenstigen Zähmung: Exposition

Instant Tanguero

El Pablito

Eduard Träumelschaf

Haare auf den Zehen

Tangostatus Zwischenstand

Von Zwergen und Walrossen

Der Widerspenstigen Zähmung:Erregendes Moment und Steigerung

Nicht genug

Wo bist du gewesen

Mein Tango

Tangos Farm

Rosen und Ratten

Semmelhälften-Mandala

Das Mädchen

Servus

Kaktus oder Schildkröte?

Gekippte Fenster

Tangoentzug

Tangoschuh der rechte

Tangoschuhrechte

Der Überichaufbläser

Annäherungen an Weihnachten

Magst du es eigentlich, wenn

Balada para un loco

Meine Oma

Der Widerspenstigen Zähmung: Katastrophe

Marmeladenglas zweckentfremdet

Else muss sterben

Tot kann nur sein, wer vorher gelebt hat

Mama, mach mir den Butt

Kleines Rot

Nachtpiraten

Shen wohnt im Herzen

Herr Sumsemann will Tango tanzen

Nix bleibt, wies ist

Reifezeiten

Der Widerspenstigen Zähmung: Epilog

Das Leben ist kein Tango!?

Glossar

Dankeschön

VORWORT

„Jeder Mensch erfindet sichfrüher oder später eine Geschichte,die er für sein Leben hält,oder ein ganze Reihe von Geschichten.“

(Max Frisch: „Mein Name sei Gantenbein“)

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

Dass die Wahrnehmung der Wirklichkeit höchst subjektiv in Angriff genommen wird, musste bzw. durfte ich schon als Kind beobachten. Aspekte der Geschehnisse werden beim Berichten addiert oder subtrahiert, multipliziert, interpretiert, koloriert, jongliert, auf den Kopf gestellt oder alles auf einmal. So lange, bis der Schuh passt. Der Nachteil besteht darin, dass die Menschen mit unterschiedlich großen Füßen auf die Welt kommen.

Lange Zeit verwirrte mich dieses Handling: Objektive Betrachtungsweisen greifen gerade in emotional gefärbten Situationen schwer. Man kann es „so“ sehen oder „so“ oder „so“ oder „ganz anders“…

Was ist nun endgültig als „wahr“ zu bezeichnen? Wer besitzt die Kompetenz und Allmacht, das zu bestimmen? Die Aussage „So kann man das nicht sehen!“ hat mich mein Leben lang verfolgt.

Ich habe wirklich versucht, mich dahingehend anzupassen, gelungen ist mir das nur selten.

Ist die Frage nach der „ultimativen Wahrheit“ überhaupt relevant? „Muss ich das wissen?“, fragte mein Vater oft. Oder geht es vielmehr darum, altlastigen Gespenstern den Schrecken zu nehmen? Sie – gewürzt mit Fantasie, gekleidet in höchst subjektive Bilder – in meiner eigenen Lebensgeschichte auftauchen zu lassen?

Ob das erlaubt ist oder nicht, erscheint mir inzwischen egal. Es steigert auf jeden Fall die Lebensqualität und ist gut fürs Immunsystem.

Ich erzähle Geschichten. Die Protagonisten sind Wesen, die an meine Tür klopfen und keine Ruhe mehr geben, bis ich ihnen ein „Daheim“ in Texten und Illustrationen schaffe, das sie und mich zufriedenstellt. Alle Mitspieler entstammen meiner hirn- und herzeigenen Kreativbox, sie erheben keinerlei Anspruchauf die o.g. „ultimative Wahrheit“.

Der geneigte Leser möchte bitte selber entscheiden, welche der aufgezeigten Situationen er in die Realitätsschublade legt.

So wünsche ich viel Vergnügen mit meinem Buch,

herzlichst

Ihre Manuela Bößel

FÜR EINE BEMERKENSWERTE FRAU

Gerhard Riedl

Über unsere gemeinsame Leidenschaft, den argentinischen Tango, lernte ich Manuela Bößel kennen, als mein erstes Tangobuch bereits bei einem – inzwischen zu Recht Pleite gegangenen – Bezahlverlag gelandet war. Schon vor der Veröffentlichung druckte ich ihr die Word- Datei aus. Trotz der ziemlich bescheidenen Aufmachung war sie begeistert von meinem „literarischen Erstling“ und bot mir an, eine eventuelle Neufassung selber per Satz, Layout und Illustrationen wesentlich attraktiver zu gestalten.

Die Frage „Ja, kannst du das denn?“ habe ich ihr damals noch gestellt – inzwischen kämen mir solche Erkundigungen (nicht nur bei diesem Thema) lächerlich vor.

„Der bitterböse Lehrer-Retter“ hieß mein nächstes Buchprojekt, und es war das erste, welches wir in der vorgeschlagenen Zusammenarbeit herausbrachten. Die Neufassung meines „Milonga-Führers“ folgte, im Anschluss ein Werk zu meiner anderen Passion, der Zauberei, gefolgt von zwei Büchern von Christel Schoen zu den Erfahrungen von Krebspatienten, ein Thema, welches sich leider ebenfalls – wenn auch wohl nur übergangsweise – in mein Leben gedrängt hatte.

Für mich ging, nach meiner Pensionierung, ein Lebenstraum in Erfüllung: Schreiben und Bücher machen, richtig per Hand, Zeile für Zeile – und Bild um Bild. So verbrachten wir unzählige Stunden vor dem Computer, lernten unsere jeweiligen Arbeitsweisen kennen und schätzen – und vor allem das, was wir beide für lustig halten, und mit dem wir einen Großteil unserer Mitmenschen mühelos in die Flucht schlagen können…

In ihrem Text „Tangostatus Zwischenstand“ beschreibt Manuela Bößel eine für den Tango nicht untypische Anbaggerszene, bei welcher der männliche Part sie fragt, wieso es nicht mehr Frauen ihrer Art gebe. Die (glücklicherweise nur gedachte) Antwort legt ihre Persönlichkeit ziemlich schonungslos offen: „Ja, wozu auch? Ein Beitrag zur Schaffung des Weltfriedens wäre diese Tatsache gewiss nicht.“ Mit Reaktionen dieser Art muss man sich bei ihr abfinden, allerdings auch mit dem Umstand bedingungsloser Ehrlichkeit, welche man nicht als „Tugend“ verstehen sollte – sie kann einfach nicht anders!

Mit den Geschichten, die Sie in diesem Buch finden, belieferte mich die Autorin zunächst sehr sporadisch, dann in immer kürzeren Abständen, bis ich der Tatsache ins Auge sehen musste: Diese Frau kann nicht nur Tango tanzen, setzen, layouten, illustrieren und Webseiten gestalten, sondern auch schreiben! Ihr Metier ist die Kurzgeschichte: Wofür ich einen Absatz brauche, kann sie in einer Zeile ausdrücken – und bekommt die Aussage oft noch treffender hin.

Sie musste sich um ihre Themen nicht bemühen: Die Geschichten, so sagt sie, seien ihr „zugelaufen“, hätten sich ihr geradezu aufgedrängt, sind wohl oft genug die Bewältigung einer Vergangenheit, die für sie alles andere als einfach war. Besonders berührt hat mich die Gestalt ihres Großvaters, der KZ-Haft und Krieg überstand, indem er zeichnete und malte, die Kunst somit wahrlich als „Überlebens-Elixier“ einsetzte.

Man soll Leiden der Vergangenheit, über die wir uns gar keine Vorstellung machen können, nicht für Vergleiche heranziehen. Dennoch überstand auch Manuela Bößel Widrigkeiten ihres Daseins mit Stift, Pinsel und Grafiktablett – und mit dem Tanz, der schon die europäischen Auswanderer in Südamerika vor über hundert Jahren aus ihrem oft kümmerlichen Dasein heraushob: dem Tango.

In diesem Buch finden Sie Geschichten einer Frau, die sich schrittweise, oft sehr mühsam und mit Rückschlägen, aus einer Rolle befreite, welche ihr lediglich die Zuständigkeit für die Probleme anderer zubilligte.

Nach ihrer eigenen Aussage besteht nun ihr größtes Glück darin, sich jederzeit mit Skizzenblock und Computergrafik beschäftigen zu dürfen und in ihrer einfühlsamen Art Patienten zu therapieren – und auch hierbei weiß der Schreiber dieser Zeilen genau, wovon er spricht. Und Tango tanzt sie weiterhin, mit größtem Genuss und ohne ihn noch zum „Überleben“ zu benötigen.

Manuela Bößel verfügt über eine blühende Fantasie, gepaart mit einem äußerst bodenständigen Realismus. In diesem Spannungsfeld können schon einmal Gestalten aus ihren Bildern heraussteigen oder Verstorbene ins Leben zurückkehren. „Das kann man so nicht sehen“ – mit diesem Satz zwanghafter und festgefahrener Naturen wurde sie, nicht nur in diesen Fällen, oft genug konfrontiert. „Aber es ist doch da“ – diese Antwort gibt sie stets darauf, ob man es ihr nun glaubt oder nicht.

Die Welt hinter den Dingen zu sehen, ist eine Kunst. In diesem Sinne wünsche ich den Lesern des Buches spannende Erkenntnisse über das eigene Leben, welche sie in den Texten erwarten.

DER WIDERSPENSTIGEN ZÄHMUNG

Exposition

„Müsst ihr denn immer zusammenpappen?“ Mein Liebster legt seinen Arm um meine Schultern, schmatzt mir einen dicken Kuss mit köstlicher Tomatensauce auf die Backe, strahlt.

Der Leiter der Schultheatergruppe nippt vom Tischwein und zieht die Nase kraus. Wir sitzen an langen, nackten Holztischen. Über uns der barocke Stuck, dazwischen gemalter Himmel aus einem vergangenen Jahrhundert, als die Villa von einer adeligen Familie samt Gesinde statt wilder Horden Jugendlicher bewohnt wurde.

Wir sind jung!

Uns gehört die Welt!

Und ich bin ernsthaft.

Mein Liebster hat einen Ohrring, ich einen Bausparvertrag.

Er spielt einen der jugendlichen Liebhaber und tut mir so gut mit seiner naiven Sorglosigkeit. Ich tunke die Stoffserviette in den Wasserkrug und wische mir den Knutschfleck aus dem Gesicht, bevor ich für uns beide noch Spaghettinachschlag hole.

Unterwegs sammle ich liegengebliebene Textseiten von der Theaterprobe heute Nachmittag ein. Die Gruppe römischer Oberstufler am Nebentisch singt „O sole mio“ mit Blick auf unsere (blonde!) „Bianca“. Hübsche Burschen, knackig, frisch, glutäugig – klar, dass sie mich ungefähr so interessant finden wie eine Kellerassel.

Was mein Freund an mir mag, weiß ich auch nicht genau.

Aber ich weiß ganz genau, dass ich ihn mag.

Das reicht mir.

Wir kennen uns schon seit einigen Jahren. Diverse seiner Freundinnen habe ich kommen und gehen sehen. Ich wollte keinen. Keinen anderen. Wieso und wozu auch?

Seine Schwestern mögen mich.

Lachen, Lärm und Wärme verspreche ich mir von großfamiliärer Geborgenheit: Eine feine Schmerztablette, mein Vater ist vor Kurzem gestorben.

So stolz war ich, als mich sein Papi vor der Reise beiseite nahm und mich bat, darauf zu achten, „dass er nicht wieder seine Schuhe hinten runter tritt…“. Pässe, unsere Notfalltelefonnummern und eine kleine Reiseapotheke stecken in meiner Handtasche.

Eine Stunde später sind die großen Jungs (Grundkurs Dramatisches Gestalten) um einen der niedrigen Tische versammelt. Es wird gewürfelt und gejohlt. Mein Freund gewinnt ein ums andere Mal. Die Liremünzen werden seine Kameraden wecken, wenn sie ihm später beim Zubettgehen aus der Hosentasche purzeln.

Das Kaminfeuer wärmt meinen Rücken. Verona kann im November ganz schön frostig werden. Vor allem nachts kriecht einem die Kälte aus feuchtem Gemäuer schnell in die Knochen: nur einer der lästigen Aspekte geschlechtergetrennter Schlafsäle.

Neben mir sitzt der theaterverrückte Deutschlehrer und kratzt sich am Bart, wie immer, wenn er nachdenkt. „Warum bist eigentlich nicht mit Alex zusammen? Der würde viel besser zu dir passen.“

Alex: zwei Jahre älter als ich, groß, schön, intelligent, zudem Hauptdarsteller und als i-Tüpferl Leistungskurs Kunst!

Damit erübrigt sich die Frage – finde ich – und leite geschickt über zu den Arbeiten, die morgen anstehen. Mein Job ist „Mädchen für alles“ in der Theatergruppe. Darin bin ich gut.

Ich stand schon in der engeren Auswahl für die „Katharina“, aber die Rolle im Stück zu spielen, bekomme ich wegen meiner Arbeitszeiten als Krankenschwester in Ausbildung zurzeit nicht hin.

INSTANT-TANGUERO

Atemlos fliehe ich mit glühenden Wangen zur Toilette. Im Spiegel überprüfe ich etwas genervt und frustriert, ob die Spannung in meinen Backen denen meiner rückwärtigen entspricht. Zweifellos. Mit beiden Händen versuche ich vorsichtig meine gewohnte Mimik wieder ins Gesicht zu reiben und drehe mich dann um, um mein Hinterteil ebenfalls schüttelnd wieder in den üblichen Tonus zu bringen.

Das war wohl eine gewaltige Fehlinvestition. Gott sei Dank habe ich ihn billiger bekommen – da ich bereit war, als Testkäuferin zu fungieren. Aber vielleicht haben sie mir nur das falsche Modell geliefert…

Ich atme tief durch, schenke meinem Spiegelbild mein freundlichstes Lächeln und gehe zurück in den dampfigen Saal, wo er (hoffentlich) noch am Rand der Tanzfläche steht und testosteronbenebelt vor sich hin grinst.

Fluchend wische ich mir mit dem Handrücken Schweiß von der Stirn und ziehe zähneknirschend mit der Rohrzange die letzten Dichtungen nach. Jetzt kann ich nach ca. zwei Stunden Aufbau endlich das mitgelieferte Nährlösungskonzentrat in den Tank schütten. Ich schiebe mit den Füßen Verpackungsreste zur Seite, um mit dem Schlauch noch die restlichen 200 Liter Wasser nachzufüllen und auf die in der Anleitung angegebenen 37 Grad anzuwärmen. Die zugehörige Heizung brummelt wie ein alter Kühlschrank. Auch der Rest der Tankzubehörteile macht den nicht gerade Vertrauen erweckenden Eindruck eines Campingprovisoriums.

Tag 2

Ganz ehrlich, die vorgegebenen 24 Stunden Warten habe ich nicht ganz eingehalten, es waren eher 23, na ja, 19,5. Aber die gelbe Nährlösung hatte eine gleichmäßige Farbe, keine Trübungen mehr und war frei von nicht aufgelösten Bröselchen.

Etwas enttäuscht war ich schon nach dem Öffnen der Substrattüte. Nachdem ich durch die so genannte Ausschüttöffnung das katzenstreuähnliche Trockenhaltegranulat abgegossen hatte, kam nach vollständigem Öffnen der Tüte so etwas wie eine verschrumpelte, zinnoberrote Petersilienwurzel zum Vorschein, völlig geruch- und ausdruckslos. Diese ist – laut Anleitung – für 48 Stunden in den Tank zu legen, mit keimfreien Folien abzudecken (enthalten, Nr. 5) und geräuscharm sowie licht- und erschütterungsfrei ziehen zu lassen.

Tag 3

Sorgfältig entferne ich das Zahnpastagraffiti, damit ich immer wieder durch das handtellergroße Kontrollfenster an der kurzen Seite des Tanks spitzeln kann. Aber trotz Taschenlampe ist nur die immer noch gelbe Nährlösung zu erkennen.

Tag 4

In der Anleitung steht, am 3. Tag nach Einbringen des Substrates in die Lösung solle man mit der Konditionierung beginnen, siehe Kapitel 3. Zu diesem Zwecke empfehle es sich, die mitgelieferte CD zur optimalen Streuung der Tonarten zu verwenden. Ich stöpsle die Kabel also nach Anweisung in die Buchsen und drehe den Regler auf 4. Dumpfe Unterwasser-Tangoklänge mischen sich mit dem Brummen des Heizers und dem diskreten Blubbern der Pumpe. Noch einmal überprüfe ich die Temperatur, bevor ich das Licht lösche, und gehe beruhigt schlafen.

Morgen soll er fertig sein…

Tag 5

Endlich geht mein Sohn zum Schulbus, mein Herzallerliebster ist schon in der Arbeit. Ich schütte den Rest kalten Frühstückskaffee hinunter, ziehe entschlossen den Gürtel meines Morgenrocks fest und eile, meine Frotteeschlapppen unterwegs abstreifend, zum Tank. Während ich mit der linken Hand einige Playmobilastronauten beiseiteschiebe, versuche ich mit der rechten, Schokoladenfingerspuren vom Sichtfenster abzukratzen. Ein letzter Kontrollblick zeigt mir sanft im trüben Wasser schwebende Füße. Ich öffne den Abflusshahn, trübgelbe Brühe gurgelt durch den transparenten Schlauch, den ich praktischerweise am Waschmaschinenabfluss montieren konnte. Der Tankdeckel lässt sich wegen des inzwischen entstandenen Unterdrucks etwas schwer öffnen. Mit hochgekrempelten Bademantelärmeln stelle ich mich auf die Zehenspitzen und fische gespannt und etwas angeekelt mit zugekniffenen Augen im Rest der Nährlösung. Da im Zubehörbeutel nichts Adäquates für vorübergehende Aufbewahrung enthalten war, habe ich bereits einen Jogginganzug, den mein Gatte zur Altkleidersammlung geben will, bereit gelegt.

Gott sei Dank. Dort hinten lehnt er am DJ-Pult und untersucht selbstvergessen etwas, das er in seinem rechten Ohr gefunden hat. Ich ziehe nochmal unauffällig meinen BH zurecht und stöckle angestrengt lächelnd quer über die Tanzfläche. Leider schaffe ich es nur bis zur Hälfte. Dort fängt mich L. ab, legt mir vertraulich ihre mit künstlichen Fingernägeln bewehrte Hand auf die Schulter und haucht mir „gratuliere …“ ins Ohr. Ich blinzle, zähle langsam bis drei, drehe mich zu ihr um und frage genervt: „Wozu denn?“ Mir ist schon klar, wen sie meint, aber sie kennt ja nur seinen momentanen Zustand. Sie erklärt mir mit blumigsten Umschreibungen, dass sie – mein Einverständnis voraussetzend – sich ihn gerne mal ausleihen würde, und lenkt ihren Blick bedeutungsschwer zum DJ-Pult. Ich sehe sie an, dann auf meine Armbanduhr und komme zu dem Schluss, dass eine Runde für L. zeitlich noch drin sein müsste.

Selig zerrt L. ihn aufs Parkett und liegt die nächsten drei mal drei Minuten hingeschmolzen in seinen starken Armen. Als sie ihn nach dieser Runde an der Hand hinter sich herziehend wie einen Schulbub wieder bei mir abliefert, beschließe ich nach einem weiteren Kontrollblick auf die Uhr und seine faltigen Ohrwascheln, schleunigst das Weite zu suchen. Brav lässt er sich in die Jacke helfen und seine Tangoschuhe gegen Moonboots austauschen. An seinem langsam knorrig aussehenden Gesicht kann ich ablesen, dass die Nährlösung sich im heißen Saal allmählich verflüchtigt. Um die Verabschiedungszeremonie, wie in der Tangoszene üblich – bestehend aus Küsschen hier und Küsschen da – heil zu überstehen, sprühe ich ihm in der Garderobe unauffällig noch ein bisschen Nährlösung aus einem Parfumflakon ins Gesicht.

Wir treten hinaus in eine kühle, trockene Winternacht. Der volle Mond steht romantisch über uns, als wir zum Auto stapfen. Durch den weiteren Verlust an Flüssigkeit reicht er mir, als wir am Auto ankommen, gerade noch bis zur Schulter. Vor meinem Haus schalte ich das Autoradio aus, beuge mich nach hinten zum Kindersitz und stecke meinen inzwischen auf Brotlaibgröße geschrumpften, knusprig trocken starrenden Instant-Tanguero in eine Stofftasche, um Stockflecken und Schimmel vorzubeugen. Oben werde ich ihn samt Stoffbeutel wieder im Kleiderschrank neben den Handtüchern verstauen, wo ihn mein Sohn nicht findet – wer weiß, was er mit ihm anstellen würde.

Ich schwöre bei Gott, die nächste Gebrauchsanleitung werde ich buchstabengetreu befolgen!

EL PABLITO