So was von da - Tino Hanekamp - E-Book
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So was von da E-Book

Tino Hanekamp

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Beschreibung

Der musikalischste und schnellste Bildungsroman aller Zeiten Hamburg, St. Pauli, 31.12. Auf dem Kiez beginnt die irrste Nacht des Jahres. Nur Oskar Wrobel würde lieber liegen bleiben. Geht aber nicht. Weil ihm gleich sein Leben um die Ohren fliegt. Doch es kommt noch schlimmer...Oskar Wrobel betreibt einen Musikclub in einem alten Krankenhaus am Ende der Reeperbahn. Seine Freunde sind seltsam, aber großartig. Die Mädchen mögen ihn. Sein Leben ist ein Fest. Doch jetzt sieht es aus, als ob es zu Ende wäre. Denn während in den Straßen von St. Pauli die Böller explodieren, laufen die Vorbereitungen für die große Abrissparty. Oskar hat Schulden und keine Ahnung, was aus ihm werden soll. Zum Glück bleibt ihm kaum Zeit, darüber nachzudenken, denn ein verzweifelter Ex-Zuhälter stürmt seine Wohnung, sein bester Freund zerbricht am Ruhm, die lebenslustige Nina malt alles schwarz an, im Club geht's drunter und drüber, und dann sind da noch der tote Elvis, die Innensenatorin und – Mathilda, Mathilda, Mathilda. Während der Held der Geschichte versucht, auf den Beinen zu bleiben, stellt er sich folgende Fragen: Was soll das? Warum? Und wie wird man ein guter Mensch? So was von da ist der musikalischste, romantischste und schnellste Bildungsroman aller Zeiten: Der Sog wird von Seite zu Seite stärker und schießt den Leser mit der Geschwindigkeit einer Silvesterrakete in den Himmel.

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Seitenzahl: 317

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» Impressum

Für Johanna

[Menü]

»Die jungen Männer sind ihren wechselhaften Gefühlen schutzlos ausgeliefert. Sie sind leidenschaftlich und schnell erregt, und sie gehorchen ihren Impulsen: Sie werden von ihren Gefühlen beherrscht. Sie wetteifern um Ehre, besonders nach dem Sieg, und beides ersehnen sie mehr als Geld. Sie sind von einfachem Gemüt und vertrauensselig, weil sie die Kehrseite der Dinge nicht kennen. Ihre Hoffnungen sind so hochfliegend wie die eines Trunkenboldes, ihr Erinnerungsvermögen ist kurz. Sie sind mutig, bewegen sich aber auf herkömmlichen Bahnen und lassen sich daher leicht aus der Fassung bringen. Vom Leben noch nicht geläutert, ziehen sie äußeren Glanz dem Nützlichen vor: Ihre Irrtümer, aus dem Überschwang geboren, sind groß. Sie lieben das Lachen, und sie haben Mitleid mit einem Menschen, weil sie immer das Beste von ihm glauben. Anders als die Alten, glauben sie bereits alles zu wissen.«

Aristoteles

»Ach, Schnauze.«

Oskar Wrobel

[Menü]

Ich befürchte, ich bin wach. Blicke auf eine Bierflasche, in der zwei Kippen schwimmen und ein Käfer. Brutalkopfschmerz. Auf dem Heizungsrohr ein Pelz aus Staub. Extrembrechreiz. Draußen knallt’s. Schließe die Augen. Es knallt noch mal. Was für ein beschissener Anfang.

Vielleicht eine Schießerei. Irgendeine arme Sau, die angeschossen auf der Straße liegt und dringend meine Hilfe braucht. Zehntausend Meter über mir das Fensterbrett, mit letzter Kraft zerrt sich der Held zum Gipfel. Zugspitze. Aber enttäuschende Aussicht: Der Papierkorb vorm Brötchenladen des Rassisten qualmt, zwei Türkenjungen hüpfen drum herum, jetzt stürmt der Brötchenladenheini raus, er brüllt, er droht mit einem Baseballschläger. Die Jungs rennen lachend Richtung Reeperbahn. Wie spät wird es wohl sein? Egal. Aber schön, wie jetzt überm Dach des Nachbarhauses etwas Grünes explodiert und Funken auf die schleimigen Ziegel regnen wie Blütenblätter. Der Himmel ist wie immer grau, wie wahrscheinlich auch der gummiartige Rachenrotz, den ich jetzt gerne irgendwo hinspucken würde. Mache ich aber nicht. Heute wird geschluckt. Heute ist die letzte Nacht, heute noch, und dann ist’s aus. Sinke zurück aufs Bett. Werde einfach liegen bleiben. Liegen bleiben und abwarten. Irgendwann wird irgendwer kommen und mich irgendwo hinbringen. Wenn sie mich dann verscharren, irgendwo hinter dem Komposthaufen bei den Armengräbern, und wenn sie dann noch einen alten Grabstein finden, vielleicht eine zerbrochene Gehwegplatte, dann mögen sie bitte Folgendes hineinmeißeln oder draufkritzeln:

Hier liegt Oskar Wrobel, 23.

Er hat’s versucht.

Schreck, neben mir bewegt sich was! Ziehe vorsichtig die Decke weg. Ein Meer aus roten Locken, ein glatter Rücken, ein nackter Po. Vielleicht ist dieser Tag doch noch nicht verloren. Darf ich fragen, wer Sie sind? Ach, halten wir uns nicht mit Formalitäten auf. Ich schmiege mich an die schöne Unbekannte. Das tut gut. Ich denke an Mathilda. Das tut nicht gut. Muss sofort an was anderes denken. Zum Glück rauscht das Blut jetzt Richtung Unterleib. Die Dame dreht sich um. Blaue Augen, mohnroter Kussmund.

»He, Oskar, du Schweinchen.«

»Guten Morgen«, sage ich und versuche mich zu erinnern: Wer? Wie? Was?

»Was ist denn hier schon wieder los?«, sagt die Unbekannte und umfasst meinen Schwanz. In meinem Kopf Mathilda. Mein Schwanz erschlafft. Die Dame lächelt. Sie küsst mich. Ich rieche ihren sauren Atem. Schließe die Augen und streichle verzweifelt ihren Körper, aber es regt sich nichts. Weil sie nicht Mathilda ist. Weil ihr alle nicht Mathilda seid.

»Sag mal, wie heißt du eigentlich?«

Sie lacht. Sie schnurrt. Sie verschwindet unter der Bettdecke.

»Julia? Maria? Elena? Katrin? Anna?«

Sie taucht wieder auf. »Soll das ein Witz sein?«

»Sorry, ist mir noch nie passiert. Jana?«

Sie wirft die Decke weg und springt auf. Gleich tritt sie mir ins Gesicht. Nein, sie zerrt sich wütend die Hose hoch. Reißt sich den Pullover über den Kopf. Wenn ich doch nur wüsste ...

»Clara, du Arschloch.«

»Tut mir leid, Clara.«

»Fick dich!«

Die Wohnungstür knallt ins Schloss. In meinem Kopf explodiert ein Strauß Silvesterkracher. Auf keinen Fall wird das ein guter Tag. Mit ziemlicher Sicherheit wird das sogar der schlimmste Tag meines Lebens. Merkwürdigerweise bleibt die Welt vollkommen unbeeindruckt von meinem Elend. Weder läuten die Glocken, noch reißt die Wolkendecke auf. Es sind auch keine blond gelockten Engel in Sicht. Noch nicht mal Steve McQueen lehnt am Türrahmen und murmelt: »Steh auf, Trottel, Krieg ist schlimmer.«

Das Badezimmer ist eine ehemalige Besenkammer mit Duschkabinchen, Kloschüssel und einem Waschbecken, das so klein ist, dass man darin nicht mal einen Welpen ertränken könnte. Durch die Ritzen des Fensters dringt feuchtfiese Dezemberluft und ein blutiges Husten. Das ist Herr Müller aus dem dritten Stock. Wenn der nicht um sein Leben hustet, brüllt er Unverständliches in den Hinterhof. Heute wird gehustet. Alles hier ist dreckig. Ist mir noch nie aufgefallen, wie dreckig hier alles ist. Sogar der Bademantel. Würde man so in keine Kleidersammlung geben. Aber der Zustand meiner Wohnung ist das geringste meiner Probleme. Hocke mich aufs Klo und nehme Marc Aurels ›Selbstbetrachtungen‹ zur Hand. Man sollte immer erbauliche Lektüre neben dem Abort liegen haben, um bei der Verrichtung der erniedrigenden Ausscheidungsvorgänge einen Hauch von Glanz und Würde zu bewahren. Mal gucken, was der Herr Aurel heute so zu sagen hat:

›Erstens: Verlier nicht die Ruhe! Denn alles geschieht gemäß der Allnatur, und bald wirst du ein Nichts und nirgends sein, gerade wie Hadrian und Augustus. Und dann blick unverwandt auf die Sache, fass sie scharf ins Auge und bedenk dabei, dass du ein guter Mensch sein musst und was die Natur des Menschen von dir fordert. Und das tu, ohne rechts und links zu sehen, und rede, wie es dir am gerechtesten zu sein scheint, jedoch immer voll Güte und Zartgefühl und ohne Falsch.‹

Aha, na gut. Dann blicke ich also mal unverwandt auf die Sache und fasse sie scharf ins Auge: Heute ist die letzte Nacht unseres Clubs, die letzte Party, und dann ist Schluss. Geschäftsaufgabe wegen Hausabriss. Eigentlich kein Drama, man sollte ohnehin alle zwei Jahre ein neues Leben beginnen. Nur leider haben mein Partner Pablo und ich vergessen, genügend Geld zu verdienen, während wir der Welt den besten Club aller Zeiten schenkten. Unsere Außenstände belaufen sich auf etwa fünfzigtausend, die Verhältnisse sind ein wenig ungeordnet, werden aber durch zwei geteilt, macht also fünfundzwanzigtausend Euro Schulden für jeden von uns. Mehr Geld, als ich je auf einem Haufen gesehen habe. Und viel mehr, als ich jemals zurückzuzahlen in der Lage sein werde. Hinzu kommen meine Außenstände bei der Krankenkasse, dem Finanzamt, meinem Vermieter, der KFZVersicherung und etlichen Verwandten. Seit Monaten zieht sich die Schlinge zu. Neben dem Mülleimer stapeln sich grüne, gelbe, blaue und rote Briefe diverser Behörden. Mit dem Vollstreckungsbeamten bin ich per Du. Er heißt Jürgen Kawinsky, wohnt in Poppenbüttel, hasst seinen Job, muss aber Frau und Kinder ernähren und die Raten für das Reihenhaus abzahlen, was soll man machen. Mein Auto steht versteckt im hintersten Winkel eines halb zerfallenen Parkhauses, denn seit sechs Monaten sind die Steuern unbezahlt, die Versicherung hat gekündigt und die Zulassungsstelle den Wagen zur Fahndung ausgeschrieben. Sogar mein Pferd wollen sie mir nehmen. Keine Ahnung, was ich ab morgen machen werde. Habe ich Angst? Nein. Panik? Schon eher. Um genau zu sein, stehe ich kurz vorm Nervenzusammenbruch. Außerdem denke ich immer wieder an Mathilda. Mein Leben liegt in Trümmern. Aber halt! Immer schön die Ruhe bewahren. Ich muss doch ein guter Mensch sein, tun, was die Natur von mir fordert, voll Güte und Zartgefühl.

Krieg ist schlimmer, Trottel.

Drücke fünf Aspirin in ein Glas. Wasser drauf und zusehen, wie sie vergehen. Ihr habt’s gut, ihr könnt einfach so verschwinden. Auf der Digitalanzeige des alten Radios steht 13:16. Um zwei muss ich im ›Pupasch‹ sein, wo Rocky auf mich wartet, wenn er wartet, was man bei ihm nie wissen kann. Beschließe, mir unter der Dusche allen Schmutz aus Körper und Seele zu brennen und danach ein neues Leben zu beginnen. Aber das verdammte, verkackte, dämliche Dreckswasser ist natürlich wieder kaltkaltkalt! Warum stehen die auch alle so früh auf, am Samstag, Silvester? Da bleibt man doch liegen, wenn man kann, und lässt das warme Wasser denen, die es brauchen. Das gebietet doch der Anstand, die allgemeine Rücksichtnahme, dass man da mal drüber nachdenkt, über das warme Wasser und so. Aber nein, alle denken immer nur an sich, nur ich nicht, ich denke an sie.

Vor drei Jahren haben wir uns getrennt, vor zwei Jahren habe ich ihre Nummer gelöscht, in der Hoffnung, sie, Mathilda, endlich aus meinem Leben zu tilgen. Es funktioniert nicht, quasi Fluch: Es kann nur eine geben. Mathilda hat mir die Liebe versaut.

Keine Ahnung, wo sie jetzt ist. Wahrscheinlich lebt sie irgendwo in Spanien am Strand mit einem berühmten Surfer, so einem tiefenentspannten Typen, für den das Leben kein Rätsel ist und der hinterm Haus ein paar Hütten errichtet hat für streunende Hunde und Katzen. Ich hoffe, die putzigen Tierchen werden zu blutrünstigen Bestien und zerfetzen seinen Pimmel, eine Monsterwelle reißt seinen Olympionikenkörper raus aufs Meer und spült Mathilda zurück zu mir, bis vor meine Haustür, wo ich sie dann sanft aus dem Rinnstein heben werde. Ich werde sie auf meine muffige Matratze legen, ihr das nasse Haar aus dem Gesicht streichen und ihr verzeihen. Hey wir machen alle mal Fehler.

Rubble mich mit dem Bademantel ab, während im Hinterhof Herrn Müllers Husten zu einem orkanartigen Getöse anschwillt. Wer braucht das Rauschen der Wellen, wenn er das Husten des Müllers hat? Er ist der letzte Bewohner des Hauses, der älter ist als dreißig. Seit Jahren wartet der Vermieter darauf, dass der Alte endlich abtritt, damit er aus dessen Vierzimmerwohnung drei Kämmerchen machen kann, um diese dann zu Wucherpreisen an Studenten, Agenturangestellte, Clubbetreiber und Künstlertypen zu vermieten. Aber Herr Müller hält durch. Er hustet nur sehr stark – St.Pauli-Sinfonie. Um nicht vor lauter demütigender Barmherzigkeit den Notarzt zu rufen, gehe ich ins Wohnzimmer und lege Scott Walkers Erste auf, auf dass diese Überlebenslieder die Müller’schen Rasselgeräusche wohlklingend übertönen.

Mama, do you see what I see? / On your knees and pray for me / Mathilde’s come back to me.

Über Bücherberge und Dreckswäsche zum Kleiderständer. Das Hemd ist noch vorzeigbar, der Anzug sitzt wie angegossen, er ist auf mein Skelett geschneidert. Blick in den Spiegel, Armdrücken mit dem Selbsthass. Jeden Morgen eine Minute lang. Schneide ein paar Grimassen und setze mich mit dem Herrn Aurel an den Küchentisch, zu essen gibt’s hier nichts.

›Wenn du dir selber eine Freude machen willst, dann denk an die Vorzüge deiner Mitmenschen: bei dem einen an seine Tatkraft, bei dem anderen an seine Bescheidenheit, bei dem dritten an seine Freigebigkeit, bei einem anderen an anderes. Denn nichts macht eine solche Freude wie die Abbilder der Tugenden, die in den Charakteren unserer Mitmenschen zur Erscheinung kommen und, soweit möglich, alle auf einmal zusammentreffen. Daher muss man sie auch stets im Bewusstsein haben.‹

Klingt vernünftig. Also denke ich an die Vorzüge von Rocky (Tatkraft), Nina (Bescheidenheit), Leo (Freigebigkeit) und leider auch an die von Mathilda (alles), und es geht mir sofort ein bisschen besser, bis auf das Ziehen im Brustkorb wegen des Mathildagedankens. Ist aber auszuhalten. Der Mensch hält ja einiges aus. Genau genommen sind meine Probleme Mückenstiche, verglichen mit den Nackenschlägen, die das Schicksal sonst so verteilt. Und was sind schon dreißigtausend Euro? Nicht mal ein Meter Autobahn. Eigentlich bin ich ein Glückspilz. Möge mein Leben ein Laserstrahl sein!

SCHRRRÄNGGG!

Interessant. Die Türklingel. An einem Samstagnachmittag, Silvester. Süß, dass Kinder heutzutage noch Klingelstreiche spielen. Ich dachte, die hocken alle in abgedunkelten Zimmern und üben für den nächsten Amoklauf.

SCHRRRÄNGGG! SCHRRRÄNGGG! SCHRRRÄNGGG! SCHRRRÄNGGG! SCHRRRÄNGGG! SCHRRRÄNGGG!

Na, vielleicht doch keine Kinder. Irgendein anderer Irrer. Hat der Herr Kawinsky gar an Silvester Dienst? Oder einer seiner Gestapokollegen?

WUMM! WUMM! WUMM!

»Nun mach schon auf. Ich bin’s, Karl!«

Das muss ein Irrtum sein, ich kenne keinen Karl.

»Komm schon, Oskar, will nur kurz mit dir reden.«

Aber offensichtlich kennt der mich…. Zum Glück bin ich nicht da.

»Ich weiß, dass du da bist.«

Mist, die Musik. Gehe auf Zehenspitzen zur Tür und gucke durch den Spion. Da steht Kiezkalle. Er grinst. Er winkt. Was will der denn hier? Das ist nicht gut. Hab ihm doch schon vor Ewigkeiten alles zurückgezahlt.

Anfang Dezember vor zwei Jahren: Ich hockte verzweifelt betrunken am Tresen von ›Karin’s Treff‹. Neben mir dieser Typ in einer Rasierwasserwolke.

»Was ist los, mien Jung?«

»Wen kümmert’s.«

»Karin, mach uns mal zwei Herrengedecke.«

Ich erzählte ihm alles. Von unseren Plänen, der tollen Idee, dass uns drei Wochen vor der Cluberöffnung das Geld ausgegangen ist, das Programm für den ersten Monat schon steht, sonst aber nichts. Dass unser Abenteuer zu Ende ist, bevor es überhaupt begonnen hat.

»Heute ist dein Glückstag, mien Jung.«

Er schrieb das Angebot auf einen Bierdeckel: zehntausend plus zweitausend Zinsen, zurückzuzahlen in drei Monaten. Ich hielt das für einen schlechten Witz. Warum sollte mir ein wildfremder Mensch so unfassbar viel Geld leihen? Ich lachte. Er sagte: »Morgen um fünf im ›Rotlicht‹.«

Am nächsten Tag überreichte er mir zehntausend Euro in fein gebügelten Hunderterscheinen, studierte meinen Personalausweis und notierte meine Handynummer. Ich nahm das Geld und ging. Drei Monate später überreichte ich ihm eine Alditüte voller zerknitterter Scheine und eine Flasche sündhaft teuren Scotch. Es war wie im Film. Er zählte die Kohle, schüttelte meine Hand und versprach, bald mal vorbeizukommen. Aber er kam nicht. Erst später habe ich erfahren, dass unser Kreditgeber, unser Retter, der sich mir als Herr Schneider vorgestellt hatte, von allen nur Kiezkalle genannt wird und ein alter Lude ist, der sich seit einem Knastaufenthalt als Musikmanager versucht und jeden verklagt, der ihn Kiezkalle nennt. Später dann hin und wieder sein Foto in der Boulevardzeitung. Er, grinsend, neben ein paar abgehalfterten Eurodance-Tussen, die vor tausend Jahren mal einen Radiohit hatten. Wenn wir uns auf dem Kiez begegneten, nickten wir uns kurz zu, wie zwei alte Bekannte, die ein dunkles Geheimnis teilen. Oh wunderbares St. Pauli.

»Nu komm schon, mach’s mir nicht so schwer«, sagt Karl Schneider aka Kiezkalle aka besorgniserregender Überraschungsbesucher, sein Gesicht grotesk gewölbt im Fischauge. Mir ist schlecht. Der will bestimmt nicht auf die Gästeliste. Natürlich werde ich die Tür nicht öffnen. Ich werde still hier stehen bleiben, bis der Typ sich trollt. Da, schon wird der Schneider kleiner, er tritt zurück, aber neben ihm erscheinen jetzt zwei Männer, die eben noch nicht da waren. Einer ist alt und trägt einen Hut, der andere ist jung und sieht aus wie ein Neonazi. Der Schneider nickt, und der Fascho springt direkt auf m…..........................

[Menü]

»Is der tot?«

»Quatsch, du Idiot, der ist ohnmächtig.«

»Aba ick hatte ma eenen, der …«

»Schnauze. Heinz, leg den Jungen auf das Sofa da. Enrico, stell die Tür wieder hin. Und dann hol mal was Kaltes aus der Küche, Eis oder so.«

My Death is like a swinging Door / A patient Girl who knows the Score.

»Danke, Heinz, und jetzt mach mal das Gejaule aus. Ich dachte, die hören alle Techno oder Rave, oder wie das heißt. Unser Oskar ist wohl weich geworden.«

»Gefällt mir ganz gut. Scott Walker von den Walker Brothers. Die habe ich damals im ›StarClub‹….«

»Mach’s aus, Heinz.«

KRRRÄTSCHMPF!

»Du hättest auch einfach den Stecker ziehen können.«

»Wir hätten auch einfach das Türschloss aufbohren können.«

»Boss, hier is nix, wa? Nur Schimmel und ’ne Flasche Wodka im Eisfach.«

»Ist sie kalt?«

»Logo, liegt ja im Eisfach.«

»Das war eine rhetorische Frage, Enrico. Ich weiß, dass sie kalt ist.«

»Karl, der Lümmel macht die Augen auf.«

Das ist jetzt natürlich alles gar nicht wahr. Vor mir sitzt nicht dieser Kiezkalle. Ich liege nicht auf dem Sofa. Die haben nicht gerade meine Tür eingetreten. Mein Kopf ist nicht….

»Na, mien Jung? Geht’s wieder? Is nur ’n Hörnchen. Warum hast du denn nicht einfach aufgemacht? Kennst du mich nicht mehr?«

»Ach, da issa ja wieda! Hier Boss, die Flasche.«

»Hier, nimm ’nen Schluck. Und dann halt dir das Ding an die Stirn.«

Der Schneider drückt mir eine Flasche in die Hand. Aber von dem nehm ich nichts. Hier stinkt’s.

»Ja gut, dann nicht. Hör zu. Hörst du mich? Okay. Also, mein lieber Oskar, ich muss mich entschuldigen. Die Tür, der Plattenspieler….«

»Zecke! Hätteste ma besser aufjemacht, wa? Hatten wa dir awer jesacht, wa? Hätteste ma bessa auf den Herrn Schneider jehört, dann…«

»Schnauze, Enrico«, schnarrt der Schneider. »An die Tür, schieb Wache.«

Das Glatzenschwein geht ab. Ein Nazi! In meiner Wohnung!

»Ruhig. Bleib liegen, Kleiner. Ist doch alles gut.« Derselbe Ton wie damals in der Kneipe. Der Schneider drückt mich ins Polster. Sein lächerlicher Bürstenhaarschnitt, die Goldkette, der modrige Gestank seines Rasierwassers. Hinter ihm steht der Alte und starrt mich an, als sei ich ein Tier im Zoo.

»Bitte um Nachsicht«, sagt Karl Schneider aka Kiezkalle aka geisteskranker Einbrecher und deutet Richtung Flur. »Enrico kommt aus der Ostzone. Der hängt noch ein bisschen zurück, gripsmäßig, klar. Aber der wird noch, Aufbau Ost, verstehste? Dauert halt.«

»Ihr beschissenen Penner«, krächze ich. »Das ist Körperverletzung, Hausfriedensbruch. Ich, äh…. Ich schreie um Hilfe!«

Der Schneider lacht. »Ach, Oskar. Ich schreie seit zwanzig Jahren um Hilfe, und keinen kümmert’s.«

Gehe in Gedanken all meine Optionen durch und stelle fest: Ich habe keine. Ruhe bewahren. Was will der von mir? Dreht hier jemand eines dieser Verarschungsvideos?

»Hier, zweihundert für die Tür.«

Er wedelt mit Geldscheinen. Legt sie auf den Tisch. Räuspert sich.

»Um es kurz zu machen: Ich brauche Geld.«

Verstehe ich nicht. Soll das witzig sein?

»Stecke in Schwierigkeiten. Ist alles nich mehr wie früher, gibt keine Ehre mehr, keine Achtung. Meine alten Jungens sind alle im Knast oder tot oder Pfarrer geworden, und jetzt habe ich die verdammten Albaner am Hals. Aber das willste alles nich wissen, erspare ich dir, für deine eigene Sicherheit.«

Welche Sicherheit? Meine Wohnung wurde soeben von drei Kriminellen gestürmt. Ich hab ’ne Gehirnerschütterung. Ich….

»Also, mien Jung, warum ich hier bin: Ich brauche zehntausend Euro«, sagt der Schneider. »Und du bist meine letzte Hoffnung.«

Ich atme auf. Lache. Sterbe vor Kopfschmerzen.

»Hättest du mal vorher angerufen«, sage ich. »Wir sind vollkommen pleite. Die reißen das Haus ab. Liest du keine Zeitung?«

»Selbstverständlich. ›Szeneclub feiert Abschiedsparty‹, steht da drin. Und ein Foto von dir und deinem komischen Kumpel. Ist das ’ne Schwuppe? Na egal.«

Der Schneider schaut versonnen zum Fenster.

»Ich hatte selber mal Kneipen, die alten Zeiten. Ich weiß, was an so ’nem Abend rumkommt. Außerdem Silvester. Da knattert die Zählmaschine wie ’ne Uzi im Kibbuz. Wär ich damals nur nicht ausgestiegen….«

»Wir haben ungefähr fünfzigtausend Euro Schulden! Selbst wenn wir jedes Bier für zehn Euro verkaufen würden….«

»Is doch Taubendreck, nix ist das. Das habe ich früher in ’ner Woche gemacht. Und du bekommst die Paste ja zurück, is doch klar.«

Ich schüttle den Kopf. Hirnmasse läuft mir aus den Ohren. Das geht nicht.

Der Schneider seufzt. »Hör mal Junge, ich bin hier nicht der Witzewilli. Ich bin der Typ, der euch den Club klargemacht hat, vergiss das nich. Ich hab den ganzen Kiez klargemacht, du Würstchen. Und erzähl mir nix von wegen Schulden. Ich weiß doch, wie gut der Laden lief. Immer in der Zeitung, überall Plakate, immer ’ne Schlange vor der Tür, flachs mich nich. Ich bin vom Fach. Eure Hippiebude ist ’ne verschissene Goldgrube, an….«

»Stimmt nicht! Totaler Quatsch, wir….«

»UNTERBRICH MICH NICHT!«

Der Schneider dampft. Und der Alte mit Hut starrt mich an. Oder durch mich hindurch. Der hat so einen Blick…. Ich schließe die Augen.

»Jeder andere hätte euch ausgeweidet wie ’n Fettkalb. Zum Wohnzimmer hätte ich mir eure Klitsche machen können, alles hätte ich da machen können. Aber ich Depp lass euch in Ruhe, weil ich denke: Ist ein feiner Junge, der Oskar. Ist ein anderer Schnack, ist mehr so der Künstlertyp und so. Und was habe ich jetzt davon? Was ist der beschissene Dank?«

»Aber wir haben….«

»Lass den Herrn Schneider ausreden, Wurm«, sagt der Alte mit fahler Stimme.

»Danke, Heinz.« Der Schneider atmet schwer, fährt sich über das schweißnasse Gesicht, greift sich an die Brust. »Wie auch immer, Oskar. Damals habe ich dir geholfen, jetzt hilfst du mir, so sind die Regeln. Und jetzt sperr die kleinen Arschfickeröhrchen auf. Heute Nacht um vier liegen zehntausend Euro auf dem Tresen vom ›Rotlicht‹, kapiert? Wenn nicht, stürmen wir deinen Studenten-Puff und holen den Kleister, ist das angekommen?«

Jetzt natürlich die große Frage: Was macht man, wenn man von drei Kiezkriminellen umzingelt ist, die völlig irre Forderungen stellen, die man nie im Leben erfüllen wird, weil man nicht kann, will und überhaupt?

Man nickt.

»Das ist kein Witz«, sagt der Alte.

Ich nicke.

»Weißt du, Oskar«, der Schneider tätschelt meine Hand, »früher hätte ich dir jetzt einen Finger gebrochen, damit du merkst, dass ich’s ernst meine. Aber irgendwie mag ich dich, vielleicht werde ich langsam moosig in der Birne. Hast du noch deine alte Handynummer?«

Ich nicke.

»Bist du sicher?«

Ich nicke den Rest meiner Hirnmasse aus dem Kopf.

»Okay. Ich werde immer mal wieder durchfunken und hören, wie’s steht. Sollte dein Plauderknochen aus sein oder du gehst nicht ran, hast du schneller meine Faust im Nacken, als du Operationshemd sagen kannst. Du kennst die Geschichten über mich. Sind alle wahr. Also nimm die Sache wie ein Mann, verstanden?«

Daumen hoch.

Der Alte mit Hut knackt mit den Fingerknöcheln.

Ich nicke.

»Gut, sehr gut«, sagt der Schneider. »Und vergiss nicht: Du bist meine letzte Hoffnung. Also, viel Erfolg, mien Jung.«

Karl Schneider aka Kiezkalle aka Oberaffentotalpsycho steht auf, fährt mir mit der Pranke über den Kopf und verlässt das Zimmer. Der Alte wirft mir einen leblosen Blick zu, schiebt mit dem Fuß die Trümmer des Plattenspielers zur Seite und folgt seinem Herrn zur Tür. Jetzt kommt der Fascho, greift die Scheine vom Tisch. »Scheißzecke, ick schlitz dir auf.« Er steckt das Geld in seine widerliche Faschoröhrenjeans, tritt wie bescheuert gegen meine Schallplatten und schlendert davon. Plötzlich Stille.

Das ist jetzt der Moment, an dem ein übersteuerter Fernsehmoderator hinterm Sofa hervorspringen und »Reingelegt!« schreien muss. Aber nichts. Es stinkt nach Rasierwasser. Mein Herz schlägt wie verrückt, und mein Kopf explodiert im Takt. Kann keinen klaren Gedanken fassen. Soll ich die Polizei anrufen? Pablo? Rocky? Leo? Das glaubt mir doch alles kein Schwein, kann es selber nicht fassen, vielleicht alles eine Wahnvorstellung, ausgelöst durch den Schlafentzug und Rauschmittelkonsum der vergangenen Nächte. Schleppe mich zum Fenster und reiße es auf. Zünde mir eine Zigarette an und starre in das Grau des Himmels. Konzentration. Ruhe bewahren. Unten vorm Haus steht ein Krankenwagen. Die Zigarette fällt, fünf Stockwerke tief, vorbei an fremden Leben und warmen Wohnungen, dann schlägt sie lautlos auf dem Pflaster auf. Auch eine Option. Was würde Steve McQueen tun?

[Menü]

Die Tür ist nicht mehr zu retten. Sie lehnt an der Wand im Wohnungsflur. Die Angeln sind aus dem Rahmen gerissen, und dort, wo normalerweise das Schloss einrastet, klafft ein Loch, umgeben von fingerlangen Holzsplittern. Ich gehe ins Schlafzimmer, ziehe die Reisetasche unterm Kleiderständer hervor und stopfe Hemden, Pullover, Unterhosen, Socken, zwei Anzüge und ein Laken hinein, als wäre ich auf dem Weg in den Waschsalon. Den Laptop samt Akku lege ich obenauf, darüber die Lederjacke. Im Wohnzimmer, in der untersten Schublade des Schreibtisches, liegen Personalausweis und Reisepass neben Zeugnissen und Mathildafotos. Sie ist nackt. Sie ist wunderschön. Packe ich alles ein, sogar die Fotos, kann nicht anders. Betrachte eine Weile das Bild, das über dem Tonträgertrümmerfeld an der Wand hängt. Es ist von Nina und zeigt ein mit groben Strichen gemaltes Gesicht, das irgendwie verstört wirkt. Schneide die Leinwand mit dem Taschenmesser aus dem Rahmen, rolle sie zusammen, lege sie vorsichtig in die Reisetasche, ziehe den Reißverschluss zu, ramme meine Füße in die Stiefel, werfe mir den Mantel über und stecke den Aurel und das Handy ein. Bin plötzlich ganz ruhig, irgendwie unheimlich. Schätze mal: Schock. Verkehrsunfall. Fahrer kriecht aus dem brennenden Wrack, geht die Straße entlang und merkt erst nach hundert Metern, dass er keine Beine mehr hat.

Das Treppenhaus stinkt nach Gekochtem und Urin, und ich gehe die knarzenden Stufen runter im Halblicht, das durch die verdreckten Fenster sickert. Das interessiert hier keine Sau, wenn irgendwo eine Tür eingetreten wird, das muss man doch bis Lüneburg gehört haben. Aber das ist wie mit dem warmen Wasser. Die Menschen sind böse, die Welt ist kalt, und man fragt sich, wo das alles noch hinführen soll. Immer weiter Richtung Abgrund, nehm ich mal an, aber hier ist jetzt erst mal Stau. Zwei Sanitäter stapfen aus Herrn Müllers Wohnung, sie halten eine Trage, auf der unter einer Decke ein Köper liegt. Sie stolpern die Treppe hinunter, sie fluchen, die Trage schwankt, die Decke verrutscht – ein Gesicht. Das Gesicht ist ganz blau, der Mund merkwürdig verzerrt, die Augen geschlossen. Sieht aus wie eine Wachsfigur, wie die Hülle von etwas, das unter Umständen mal Herr Müller gewesen sein könnte. Ich habe noch nie zuvor einen Toten gesehen. Irgendwer aus dem Haus muss den Notarzt gerufen haben, vielleicht sogar der Müller persönlich, in Todesangst. Zu spät. Klammere mich am Treppengeländer fest, stolpere den Sanitätern hinterher, die mich nicht beachten, weil ich gar nicht da bin, weil das hier alles gar nicht wirklich passiert.

Es riecht nach Regen, irgendwo knallt’s. Die Sanitäter schieben die Trage in den Krankenwagen. Türen klappen, dann fährt der Wagen los, biegt langsam ohne Blaulicht in die Simon-von-Utrecht-Straße ein. Ich sinke gegen den Laternenpfahl und presse meine Wange an den kalten Stahl.

»Na, war wohl ’ne wilde Nacht«, ruft der Rassist vom Brötchenladen herüber, von dessen schmierigen Semmeln ich mich viel zu lange ernährt habe. Und so weiter. Weiter. Bin natürlich nicht dran schuld, dass der Müller jetzt kalt im Krankenwagen liegt. Der Krankenwagen war ja da. Dann wären es eben zwei gewesen, wenn ich auch einen gerufen hätte, und dann hätten sich die Sanitäter nicht so abquälen müssen, aber der Müller wäre ja trotzdem…. So oder so, ganz klar.

Einen Schritt, noch einen Schritt, immer geradeaus. Muss jetzt zum Hafen, vorbei an Heribert Bechers Spirituosenfachgeschäft, dem Fischimbiss, dem Artistenatelier, dem Pornokino, dem stinkenden Hundefutterladen, dem Waschsalon, der Pizzeria, der Sparkasse und dann: Ampel Reeperbahn. Die ist rot, die Ampel, und ich warte, obwohl gerade kein Auto kommt, denn ich bin froh, dass die Ampel rot ist. Und ich bin froh, dass ich jetzt noch ein ganzes Stück gehen muss bis zum ›Pupasch‹, über den Kiez, über dem Kameras kreisen und Baukräne schweben. Sind schon einige Leute unterwegs. Touristen, die gucken. Ein paar Ansässige, die Pennytüten nach Hause schleppen. Neben der Litfaßsäule wie immer die Punks mit ihren Hunden, sitzend, liegend, voll abgehärtet. Ein paar Meter weiter vor der Wechselstube springt ein Mann auf und ab, drischt in die Saiten einer Gitarre und singt. Er singt nicht, er schreit.

Es ist kalt, und der Wind tut weh.

»Haste ’n bisschen Kleingeld?«, fragt einer der Punks.

Krame in meinen Taschen, aber nichts klein, gebe ihm einen Schein.

»Wow, danke, Mann«, sagt der Punk und strahlt. Hilft aber nichts.

Grün. Das Klirren der Getränkekisten, die von Leiharbeitern in die Kneipen und Stripclubs geschoben werden. Möwengeschrei. Das Knallen von Feuerwerkskörpern von irgendwoher. Weiter. Mit der Reisetasche Richtung Hafen, und hinter mir die Wohnung, in die ich niemals zurückkehren werde, weil ich von Höllenhunden gejagt nach dieser Nacht die Stadt verlassen muss. Denn natürlich wird der Schneider sein Geld nicht kriegen. Und auch alle anderen werden ihr Geld nicht kriegen. Denn ich werde mich einfach verpissen, alles vergessen, vor allem Mathilda, und irgendwo von vorn anfangen.

[Menü]

Das ›Pupasch‹ ist die Vorhölle für jeden Feingeist, ein Ort musikalischer Grausamkeiten und menschlicher Entwürdigungen, mit Singledisco am Freitag, Mallepaady am Samstag, und vom hauseigenen Schwarzbier muss man furzen, daher der Name, so steht’s auf diesem Schild. ›Willkommen in der total verrückten Kultkneipe für nette Leute, die gern lachen, flirten, quatschen, lustig sind und den Alltag mal total vergessen wollen.‹

Hey klasse, das trifft ja alles genau auf mich zu!

Dann mal nichts wie rein in die gute Stube.

An einem der Tische sitzt eine wetterfest gekleidete Familie, hinterm Tresen wickelt eine alte Frau Luftschlangen um die Zapfsäule, ansonsten ist der Laden leer, auch kein Rocky in Sicht. Dafür hängt überall maritimes Gelumpe rum: Alles, was sich jemals auf oder unter Wasser bewegt hat, wurde an Wände und Decke genagelt. Ebenfalls erschlagend: die beeindruckende Fensterfront. Man sieht ein ordentliches Stück von den Docks, dreihundert Meter Elbe und das, was darauf herumgondelt; im Moment ein schwarzweißes Lotsenboot, eine Ausflugsbarkasse und ein rostiges Containerschiff, umwölkt von den üblichen Krawallmöwen im Sturzflug. Ich setze mich mitten hinein in dieses Panorama, schiebe die Reisetasche unter den Tisch und breche zusammen.

Hallo hier spricht die Vernunft! Es bringt nichts, sich in Selbstmitleid zu wälzen wie ein Schwein im eigenen Kot. Denke positiv, wende den Blick auf die wichtigen Dinge, denke zum Beispiel an die Vorzüge deiner Mitmenschen, denke an den Freund, auf den du hier wartest, an den großen Schimpfer, den wütenden Idealisten, den unbezwingbaren Liebesterroristen Andreas Rockmann, genannt Rocky.

Er kam aus dem ›Silbersack‹ geflogen, landete lachend im Dreck – ich half ihm auf, und so ging’s los. Das war vor zwei Jahren, als noch niemand seine Lieder hören wollte, die er auf Rohlinge brannte und überall vortrug, wo man ihn ließ, wenig später auch auf der Eröffnungsparty unseres Clubs, mit seiner neuen Band: Kidd Kommander. Diese Lieder! Gleichzeitig Tritt in die Fresse und große Umarmung, Texte wie Kinnhaken, Lieder gegen das Böse, irre gut und anders als alles. Doch von den Plattenfirmen kamen nur Absagen, und so gründete er mit Freunden selber eine, obwohl er völlig pleite auf einem Dachboden hauste und frierend Dosenravioli fraß. Manchmal glaube ich, dass er mit seinem schieren Willen Naturgesetze außer Kraft zu setzen vermag. Seit der Veröffentlichung des ersten Albums im Frühjahr des vergangenen Jahres sind Kidd Kommander der heißeste Scheiß im Land, und Rocky: plötzlich Rockstar. Die Charts, die Titelseiten, die großen Hallen – das ganze Programm. Merkwürdigerweise dauerte es eine Weile, bis irgendein findiger Journalist die Frage stellte: »Sagen Sie mal, ist Ihr Vater nicht der…? Und Ihre Mutter nicht die…?« Und sofort ging das Theater los. Denn ja, sein Vater ist jener mysteriöse Ex-Rockstar (man frage Leute über fünfzig nach The Rockin’ Bees), der angeblich seit Jahren in der Rockmann’schen Villa vor sich hin vegetiert. Und ja, seine Mutter ist die Innensenatorin dieser sterbenden Stadt, die Inkarnation des Bösen für Leute wie uns. Sie lässt Kameras installieren, Flüchtlinge abschieben, Knüppelpolizisten aufmarschieren bei unangemeldeten Straßenfesten, lässt sauber machen, totregeln und die letzten Freiräume versiegeln im Dienste der Rendite. Der Sohn pöbelte, die Mutter verstieß ihn öffentlich, der Vater blieb unsichtbar, Skandal, Skandal. Aber praktischer Nebeneffekt, quasi Schicksalsironie: Die Albumverkäufe verdoppelten sich, die Senatorin kandidiert nun als Bürgermeisterin, man plant einen Kinofilm, und ich kann kaum erwarten, Rocky endlich wieder an meiner Seite zu haben, und sei es nur für diese eine Nacht, damit er all meine Zweifel hinwegfegt, mir eine Adrenalinspritze ins Hirn jagt und mich daran erinnert, wie das Leben zu nehmen ist: frontal, fordernd und ohne Angst vor Verlusten.

Es ist zwanzig nach zwei, und der Arsch ist immer noch nicht da. Zudem bin ich am Verdursten, interessiert hier aber natürlich niemanden. Die Alte hinterm Tresen macht keine Anstalten, hinter selbigem hervorzukommen. Ich zünde mir eine Zigarette an, zücke mein Handy und suche unter den im Minutentakt hereinrieselnden Textnachrichten nach der einen von Rocky, in der steht: Sorry, Alter, schaff’s leider nicht, ein Wahnsinn alles, see you lata, dein Rock. Aber nichts, nur Gästelistenanfragen und so Zeug. Plötzlich steht die Tresendame neben mir.

»Sofort ausmachen!«

»Tschuldigung.«

»Bei uns ist Rauchverbot.«

Ich beschließe, den unangenehmen Befehlston in ihrer Stimme zu ignorieren, sicher wird sie schlecht bezahlt, nur: Wo soll ich denn jetzt...?

»Haben Sie vielleicht einen Aschenbecher?«

»Sie. Dürfen. Hier. Nicht. Rauchen.«

»Ich weiß, aber ich möchte die Zigarette nicht auf dem Boden austreten.«

Die Dame, sie könnte vom Alter her meine Großmutter sein, stampft hinter den Tresen, kommt zurück und knallt einen Glasaschenbecher auf den Tisch.

Ich drücke die Kippe aus und sage: »Danke. Einen schwarzen Tee, bitte.«

Die Dame überlegt, ob sie mir mit dem Glasaschenbecher den Schädel einschlagen soll, entscheidet sich dann aber doch für ein Restleben in ihrer Zweizimmerwohnung in Berne und geht. Wo nur immer dieser Hass herkommt. Vielleicht liegt’s an mir, kann mich ja selbst nicht besonders gut leiden. Trotzdem bin ich der Meinung, dass unser aller Leben angenehmer wäre, würden wir im Umgang miteinander eine gewisse Höflichkeit walten lassen. Nur leider sind die meisten Menschen bis in die Tiefen ihrer Seelen zerfressen von einer alles zers...

Die Tür fliegt auf: Rocky! Sofort entdeckt er mich mit seinen stahlblauen Augen, rauscht heran mit der Zielstrebigkeit eines Preisboxers. Yeah!

»Tachchen.«

»Hey!«

Hochgeschwindigkeitszug Andreas ›Rocky‹ Rockmann, soeben eingefahren. Sofort wird alles heller, die Luft vibriert, ein Energiestoß durchfährt meinen schwindsüchtigen Leib. Rocky setzt sich. Er trägt Zehntagebart, monströse Augenringe, aschfahle Haut, quasi Heroinchic. Er sieht aus, wie ich mich fühle. Und er tut, als wär ich gar nicht da.

»So, der Witz ist jetzt durch«, sage ich nach angemessener Ruhepause.

Rocky sieht mich an, die Augen gerötet, hat sicher wieder durchgemacht.

»Was ist denn mit deinem Kopf?«, fragt er matt, zieht ein Fläschchen Nasenspray aus der Innentasche seiner Lederjacke und jagt sich das Zeug in die dafür vorgesehenen Körperöffnungen.

»Bin gegen die Tür gerannt.«

»Aha.«

Kein Lachen, kein Spott, keine Aufforderung, jetzt sofort ganz genau zu erzählen, wie man gegen die Tür gerannt ist, auch keine Anekdote, wie er selbst mal gegen eine Tür gerannt ist. Rocky nickt und starrt auf den Tisch.

Seit zwei Monaten haben wir uns nicht mehr gesehen. Er könnte wenigstens so tun, als hätte er mich vermisst.

»Was’n los, Mann? Ich bin’s, dein alter Freund Oskar.«

Er starrt auf den Tisch. Vielleicht doch kein Witz.

»Irgendwas mit deinem Vater?«

Er zuckt zusammen. Volltreffer. Scheiße.

»Jetzt red schon«, sage ich, aber eigentlich will ich’s gar nicht hören. Ich meine, ich habe selber ein paar Problemchen und könnte ein bisschen Rat und Zuspruch gebrauchen, so ein Scheißfreund bin ich. Der soll jetzt verdammt noch mal gut drauf sein!

»Ich glaube, er stirbt«, sagt Rocky.

»Wer?«

»Mein Vater, du Penner.«

»Er steht nicht mehr auf, schluckt die ganze Zeit diese Tabletten; Valeron, Tramal, das heftigste Zeug. Liegt da wie ein Zombie. Und redet nicht. Redet mit niemandem. Noch nicht mal mit mir.«

Rocky zündet sich eine Zigarette an. Seine Hände zittern.

»Er pisst sich ein. Und sieht mich nicht. Liegt da einfach nur rum, als wäre ich gar nicht da, starrt durch alles hindurch ins Nichts. Ich habe geheult. Scheiße, ich hab seit Ewigkeiten nicht mehr….«

Rocky reibt sich mit der Hand übers Gesicht, als wären da überall Ameisen.

»Aber er ist noch da, denn wenn sie ins Zimmer kommt, brüllt er.«

»Wenn wer ins Zimmer kommt?«

»Meine Mutter.«

»Oh.«

»Ja, oh. Ich sage: ›Mutter, er muss ins Krankenhaus, er muss hier raus!‹ Aber sie will das nicht. Sie hat eine Pflegerin engagiert, jeden zweiten Tag kommt ein Arzt, aber Papa wird immer weniger. Er verschwindet einfach!«

»Aber warum will sie denn nicht, dass er….«

Rocky lacht kurz auf. Mein Speichel schmeckt bitter.

»Sie sagt, er habe panische Angst vor Krankenhäusern. Aber in Wirklichkeit ist sie es, die Angst hat, und zwar vor der Presse. Sie will einfach nicht, dass kurz vor der Wahl rauskommt, dass ihr Mann ein tablettenabhängiges Wrack ist, schon gar nicht nach all dem Zirkus mit mir. Sie ist wahnsinnig.«

»Wir könnten ihn entführen«, sage ich, und für einen Moment ist da dieses Funkeln in Rockys Augen, aber dann sofort wieder wie weggewischt.

»Das Haus wird bewacht«, sagt er. »Überall Bullen und so. Sie sagt, wegen der Autonomen. Weil da mal ein paar Farbbeutel geflogen sind. Aber die Wahrheit ist: Sie sperrt ihn ein. Ich habe sie angeschrien, habe gebettelt, alles versucht. Jetzt habe ich Hausverbot. Die Scheißbullen lassen mich nicht mehr in mein Scheißelternhaus, wo mein Scheißvater vor sich hin stirbt!«

Autsch, verdammt, das ist heftig, denke ich. Was man so denkt. Einen Dreck denkt man, nicht auszuhalten.

»Und wenn wir uns irgendwie…«

»Sie! Machen Sie das aus!«

Die Tresenoma, plötzlich neben uns, Hassblick.

»Was?« Rocky guckt verstört.

»Rauchen verboten!«

»Ja, aber warum steht denn hier ein Aschenbecher?«

Die Tresendame schnappt nach Luft. »Ich rufe jetzt! Die Polizei!«

Mit Rockys Gesicht passiert etwas Merkwürdiges. Erst Erstaunen, dann Wut, und plötzlich entspannt sich alles. Er sagt: »Hier ist das Rauchen also verboten?«

»Was glauben Sie denn!«

»Und wenn doch jemand raucht, müssen Sie, als Chefin, ein Bußgeld zahlen?«

Die Dame ist zwar nicht die Chefin, sonst würde sie hier nicht stehen, aber sie nickt.

»Wie hoch ist denn so ein Bußgeld?«, fragt Rocky ganz ruhig.

»Keine Ahnung. Hier wird nicht geraucht.«

»Schätzen Sie doch mal. Fünfzig Euro? Hundert?«

»Vielleicht fünfzig, beim ersten Mal«, sagt die Dame sichtlich verwirrt.

»Und wenn ich Ihnen jetzt hundertfünfzig Euro gebe, dürfen wir dann zwei Zigaretten rauchen?«

Die Dame, die gar keine ist, versteht nicht. Wo bleibt eigentlich mein Tee?

Rocky zieht ein beachtliches Geldbündel aus der Hosentasche und zählt drei Fünfziger ab. »Hier«, sagt er, »damit auch alles seine Ordnung hat.«

Sie glotzt ihn an. Man kann sehen, wie es in ihrem Oberstübchen rattert. Dann nimmt sie die Scheine und geht zurück zum Tresen.

»Das war widerlich«, sage ich.

»Scheiß drauf«, sagt Rocky. »Blöde Fotze.«

Wir rauchen und gucken auf die Elbe. Himmel grau, Wasser grau, Docks grau – grauenhaft.

»Immerhin«, sage ich, »hast du noch deine Musik.«

Er sieht mich an, als sei ich bekloppt. Ich bin bekloppt. Ich schäme mich.

»Lass uns abhauen«, sagt er, »Leo wird warten.«

Wir stehen auf und gehen. Ich stelle mir eine bunkerähnliche Anlage vor, die von Polizisten umstellt ist, und in einem kleinen Zimmer in einem Gewirr aus Gängen liegt ein Mann, der langsam unsichtbar wird, während die Polizisten über Kopfhörer seine Lieder hören. Sie nicken stumm im Takt der Musik.

»Was hast du denn da in der Tasche?«, fragt Rocky.

»So Zeug«, sage ich. »Was man so braucht.«

»Und das schleppst du jetzt den ganzen Tag mit dir rum?«

»Ist ganz leicht«, sage ich, und wir gehen runter zu den Landungsbrücken.

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Das war keine gute Idee. Am Silvesternach