So wurden aus Bibelforschern die Zeugen Jehovas - Dietrich Hellmund - E-Book

So wurden aus Bibelforschern die Zeugen Jehovas E-Book

Dietrich Hellmund

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Beschreibung

Nachprüfbar, gewissenhaft und allgemeinverständlich stellt Dr. Hellmund die aktuellen Forschungsergebnisse über Lehre und Geschichte der Zeugen Jehovas vor. Er nennt die Fakten über Werden und Wandel dieser weltweit bekannten Religionsgemeinschaft. Ein Schwergewicht des Buches liegt auf den Aussagen des WACHTURM über zukünftige Ereignisse, besonders über Berechnungen des Endes dieser Welt und "Harmagedon". Forschungen des Autors beweisen: Was Russel, der Gründer und Rutherford, sein Nachfolger, über damals künftige Ereignisse wie 1874, 1914, 1918 und 1925 behaupten, haben sie nach dem Scheitern dieser Prophezeihungen so abgeändert, dass diese ein bisschen mit den Tatsachen übereinstimmen. Quellen für diese Weissagungen sind - neben der Bibel und eigener Inspiration - auch die Maße der Cheops-Pyramide. Nach Russels Tod gibt es interne Machtkämpfe. Den Kampf um sein Vermögen - den gewinnt Rutherford, den Kampf um seine Lehre nicht. Russels geistiges Erbe wird tot geschwiegen. Rutherford macht aus Bibelforschern - die nie selbständig in der Bibel forschen durften - die "Zeugen", Christen mit einer missionarischen Monokultur. Nur Mitgliederwerbung zählt, Diakonie zählt nichts. Das Buch ist auf dem neuesten Stand der Forschung.

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Seitenzahl: 539

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Buch

Nachprüfbar, gewissenhaft und allgemeinverständlich stellt Dr. Hellmund die aktuellen Forschungsergebnisse über Lehre und Geschichte der Zeugen Jehovas vor. Er nennt die Fakten über Werden und Wandel dieser weltweit bekannten Religionsgemeinschaft.

Ein Schwergewicht des Buches liegt auf den Aussagen des WACHTTURM über zukünftige Ereignisse, besonders über Berechnungen des Endes dieser Welt und „Harmagedon“. Forschungen des Autors beweisen: Was Russell, der Gründer, und Rutherford, sein Nachfolger, über damals künftige Ereignisse wie 1874, 1914, 1918 und 1925 behaupten, haben sie nach dem Scheitern dieser Prophezeiungen so abgeändert, dass diese wenigstens ein bisschen mit den Tatsachen übereinstimmen.

Quellen für diese Weissagungen sind - neben der Bibel und eigener Inspiration - auch die Maße der Cheops-Pyramide. Nach Russells Tod gibt es interne Machtkämpfe. Den Kampf um sein Vermögen - den gewinnt Rutherford, den Kampf um seine Lehre nicht. Russells geistiges Erbe wird tot geschwiegen.

Rutherford macht aus Bibelforschern - die nie selbständig in der Bibel forschen durften - die „Zeugen“, Christen mit einer missionarischen Monokultur. Nur Mitgliederwerbung zählt, Diakonie zählt nichts.

Das Buch ist auf dem neuesten Stand der Forschung.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

§ 1. Die Glaubensgemeinschaft und ihr Gründer

§ 2. Quellen und Darstellungen zur Geschichte der ZJ

A. Die Quellen

§ 3. Zur Person des Gründers Charles Taze Russell

§ 4. Der Adventist C.T. Russell im Bannkreis adventistischer Randgruppen

§ 5. Endlich selbständig: der Bibelforscher C.T. Russell

§ 6. Russells und seiner Bibelforscher Lehre im Überblick

§ 7. Die Unterschiede in den Glaubenslehren der BF und der ZJ

§ 8. Russells Aussagen zu einzelnen Themen seiner Glaubenslehre

§ 9. Russells Naherwartung des Weltendes

§ 10. Russells Berechnungen des Weltendes auf der Basis der Bibel

§ 11. Weitere endzeitliche Berechnungen Russells auf Basis der Bibel

§ 12. 1914 - das Jahr der Abrechnung

§ 13. Die Große Pyramide des Cheops – der erste Zeuge Jehovas

§ 14. Was bleibt von Charles Taze Russell?

§ 15. Russells Tod und seine Erbschaft

§ 16. Joseph Franklin Rutherford (5. Nov. 1869 - 8. Jan. 1942

)

§ 17. Die Entscheidung im Machtkampf um Russells Nachfolge

§ 18. Der unter dem Namen von Charles Taze Russell als Siebenter Band seiner Schriftstudien veröffentlichte Text: „Das vollendete Geheimnis“

§ 19. Die neue Lehre: Kriegsdienst-Verweigerung

§ 20. Das Schicksalsjahr 1925

§ 21. Probleme mit der Titelführung bei der Wachtturmgesellschaft

§ 22. Eine Glaubensgemeinschaft zersplittert in viele Teile

§ 23. Aus Bibelforschern werden Zeugen Jehovas

§ 24. Rückblick auf meine Dissertation von 1971/72:

§ 25. Was müsste die WACHTTURM-GESELLSCHAFT tun, wenn sie ihrem eigenen Anspruch als „biblisch“ und als vollmächtige Bibelauslegerin gerecht werden will?

Verwendete Abkürzungen allgemeiner Art und zitierte Bücher

Literatur-Verzeichnis

Fußnoten

Abbildungen

Vorwort:

Über die Geschichte der Religionsgemeinschaft (RG) der Zeugen Jehovas (ZJ) habe ich geforscht und das Ergebnis als Dissertation bei der Universität Hamburg eingereicht. Sie schildert den Wissensstand, der kirchlicherseits bis etwa 1970 vorlag. Zu diesen Kenntnissen hat auch mein Buch Wesentliches beigesteuert.

Bei der Suche nach Quellen über die Frühzeit dieser RG stieß ich auf überraschende Fakten:

Die Wachtturm-Gesellschaft (WTG) verweigert Außenstehenden die Einsicht in genau die Literatur, die Jahrzehnte früher mit größtmöglichem Propaganda-Aufwand unter das Volk gebracht wurde. Das mag für internen Schriftverkehr und Akten von einst noch sinnvoll sein. Es erstaunt aber, wenn es um Bücher, Broschüren oder Handzettel geht, die Jahre davor „jeder“ haben sollte. Offenbar fürchtet die WTG peinliche Überraschungen.

Keine Bibliothek, sei sie staatlich (Universität) oder kirchlich (Landeskirchenämter, bischöfliche Archive, Bibliotheken der Prediger-Seminare), egal, ob katholisch oder evangelisch, hat das Material überhaupt gesammelt. Wenn etwas da war über die ZJ, dann waren es einzelne Bände oder Schriften. Sie verdankten ihr Vorhandensein oft gespendeten Bibliotheken verstorbener Pastoren. Oft waren in solchen Büchereien mit Zehntausenden von Bänden Exemplare vom WACHTTURM oder ERWACHET (WT; Erw.) als einzelne Hefte da. Ein gebundener Jahrgang war ein Glücksfall. Und das bei diesen monatlich erscheinenden Periodika, die in der WTG eine zentrale Bedeutung für die Lehrumbildungen dieser RG haben. Und der „Königreichs-Dienst“, ein interner, regelmäßiger Informator? So gut wie nie vorhanden! Kenntnisse über die ZJ vermittelten nur kirchliche Gesamtdarstellungen zur Konfesssionskunde. Dazu Texte für die Gemeinden - 16, 32, 64 Seiten lang (oder kurz). Das war es.

Meine Wissenslücken habe ich überbrückt durch ungezählte Gespräche mit ZJ und Besuche von Großveranstaltungen oder Vorträge dieser RG. Privat haben mir ZJ auch ältere Literatur ausgeliehen - oft mit dem typischen Hinweis: Das ist aber nicht mehr aktuell. Das Aufspüren und Finden dieser alten Texte der Bibelforscher (BF) und ZJ wurde die Hauptschwierigkeit meiner ganzen Forschungsarbeit.

Weitergeholfen haben Treffen mit ehemaligen ZJ und Gespräche mit Angehörigen oder befugten Sprechern abgespaltener Gemeinden, die einst zur WTG gehört hatten. Vor allem: TAGESANBRUCH und KIRCHLENGERN. Dazu ehemalige ZJ wie Pape, Twisselmann, von Süsskind, Gebhardt und andere.

Wichtig wurden mir Begegnungen mit evangelischen oder katholischen Weltanschauungsspezialisten auf Tagungen oder Seminaren, die Kirchen oder Akademien veranstalteten. Dazu Treffen mit Fachleuten in kirchlichen Arbeitskreisen wie dem von der Vereinigten Evangelisch-lutherischen Kirche. Von Männern wie Kurt Hutten, Friedrich-Wilhelm Haack und Alfred Springfeld bekam ich viele Hinweise. Haack hatte die größte Quellen-Sammlung, darunter viel Internes, das mir als Privatbibliothek über die WTG begegnet ist.

Die praktische Unerreichbarkeit von Originaltexten der WTG aus der vor 1914 publizierten Literatur erzwingt das Zitieren seltener Texte. Ihr Wortlaut stimmt. Zu beachten ist: Es sind Übersetzungen aus dem Englischen ins Deutsche. Übersetzungen der WTG. Einige Male hat der Autor den vorgefundenen Text geändert.

Und zwar nur in diesen Fällen:

Offensichtliche Druckfehler.

Die heute überholte Rechtschreibung der Russell-Zeit wurde vorsichtig meist der heutigen angepasst (also „dass“ anstatt „daß“ usw.).

Für das Zitieren von Bibelstellen aus der WTG-Literatur, aber auch aus kirchlichen Quellen war es nötig, dasselbe System zu wählen, auch wenn die WTG ihr eigenes hat. Der Autor nahm das System, mit dem die Luther-Bibel Bibeltexte zitiert (Ausgabe 1984). Beispiel: Dan 12,12 bedeutet: In einem Russell-Text wird Daniel 12:12 genannt oder im Wortlaut voll zitiert. Ist die Kürzung mit einem „folgt“ eingeleitet, heißt das: Vor dem eigentlichen Bibelwort steht noch eine Überleitung, etwa: „So schreibt der Prophet ...? und dann kommt Dan 12,12.

Beibehalten wurde oft Russells heute überholte Schreibung biblischer Eigennamen. So heißt bei ihm der persische Großkönig „Cyrus“ und nicht „Kyros“ (oder „Kyrus“).

Noch eins muss ich sagen - das, was ich nicht geschrieben habe:

Kenner der ZJ sagten mir: Gut, dass Sie über diese „Sekte“ schreiben.

Ich sagte: Das tue ich nicht. Ich schreibe über Christen, die ihren Glauben leben.

Ein Kenner der ZJ sagte: Schildern Sie die ZJ als Fanatiker, mit denen man nicht reden kann.

Ich sagte: Das tue ich nicht. Fanatiker kann es überall da geben, wo der Glaube eine Rolle spielt. Also in jeder Religion, in jeder Gemeinde.

Vielmehr werde ich schreiben, wie ich die BF und die ZJ erlebt habe. Ich werde beschreiben, was ich in ihrer Literatur gefunden habe. Ich will aus gutem Grund sagen können: So ist es wirklich gewesen. Ich schreibe als einer, der die Bibel liest, die Bibel liebt, die Bibel nach bestem Wissen und Gewissen auslegt.

Zum Ende ein privates Zeugnis:

Ich lebe nicht in der Naherwartung des Weltendes. Doch die Gewissheit meines eigenen Todes ist mir seit 1945 gegenwärtig.

Schon als 17-jähriger Schüler habe ich einigen ZJ gesagt: Euch ist der eigene Tod wohl näher als das Drama von Harmagedon - und erntete damit totalen Unglauben. Seitdem sind rund 1 Million ZJ ohne das Harmagedon-Erlebnis gestorben, auf das sie so gewartet haben. Als alter Mann sage ich heute immer noch:

Ich halte es in dieser Sache mit Luther, der sagte: Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich noch heute ein Apfelbäumchen pflanzen.

Dietrich Hellmund

So wurden aus Bibelforschern Zeugen Jehovas

§ 1. Die Glaubensgemeinschaft und ihr Gründer

Der Gründer dieser RG (Religionsgemeinschaft) ist ohne Frage der US-Amerikaner Charles Taze Russell1 (16.02.1852 - 31.10.1916).

Weniger klar ist das Geburtsjahr dieser RG2. Historiker haben die Wahl zwischen 1870 - damals traf Russell auf eine Gemeinde der Second Adventists - und 1879. Damals erschien der WACHTTURM als Sprachrohr der neuen RG zum ersten Mal.

Klar ist das Land, in dem Russell seine ersten Anhänger gewann: die USA. Noch heute ist dort die Zentrale der RG. Noch heute ist Englisch die Ausgangssprache, in der alle Druckerzeugnisse dieser RG zuerst erscheinen. Die religiöse Freiheit, wie sie in den USA möglich ist, ist für die Leitung dieser RG der Maßstab, den sie für sich in jedem anderen Land beansprucht.

Die von Russell gestiftete RG hat oft ihren Namen gewechselt. Im Anfang kam Russell ohne Selbstbezeichnung aus. Nicht zuletzt aus geschäftlichem Interesse bezeichnete er sein Unternehmen als christlich und unterdrückte jeden Hinweis darauf, dass er eine neue Kirche gründen wollte. In dieses geistige Umfeld passt auch die frühe Selbstvorstellung als „Geschäftsfirma“3.

Seit etwa 1913 gilt die Bezeichnung „International Bible Students Association“ (Internationale Vereinigung ernster Bibelforscher - kurz: IVEB). 1931 erfolgte auf Initiative des zweiten Präsidenten dieser RG, J.F. Rutherford (1869-1942), die Umbenennung in „Jehova‘s Witnesses“, in „Jehovas Zeugen“.

Die Gründe für den neuen Namen hat Rutherford mit Verweis auf Jes. 43,12 schon auf der Vorderseite des WT angegeben. Aber die Wahrheit ist wohl eine andere.

Der Begriff „Forscher“ (Student) im alten Firmenschild setzt ja das eigenständige Erkunden neuer Wege, Erklärungen und Lösungen voraus. Im Blick auf „Bibelforschung“ muss das bedeuten:

Jedes Mitglied dieser RG darf beim Nachdenken über biblische Texte eigene Auslegungen haben und verbreiten. Genau das darf bei Rutherford nicht sein. Er beanspruchte in Sachen Bibelauslegung und auch sonst das Alleinvertretungsrecht in Sachen Wahrheit.

Offizielle Selbstbezeichnung der Anhänger ist heute Zeuge/Zeugin Jehovas oder auch Jehovas Zeuge/Zeugin. In unserem Buch verwenden wir für die Anhänger dieses Glaubens das Kürzel ZJ; für die ganze Gemeinde das Kürzel WTG (für Wachtturm-Gesellschaft).

Das Wort Gesellschaft spiegelt einen seltsamen Sachverhalt:

Die finanzielle und geistige Leitung dieser Religionsgemeinschaft lag bis 1945 in der Hand einer Aktiengesellschaft.

Diese unter dem Namen „Zion's Watch Tower Tract Society“ 1881 gegründete, 1884 gesetzlich eingetragene und damit rechtsfähige „Geschäftsfirma“ war zugleich die Muttergesellschaft mehrerer Tochterfirmen4. Zu Russells Zeit konnte jeder schon für 10 Dollar 1 Stimmrecht kaufen, also 1 Aktie. Damit konnte er bei den jährlichen Hauptversammlungen das Stimmrecht ausüben5.

Zu Unrecht haben Kritiker aus dem nationalsozialistischen oder kommunistischen Lager in dieser Kapitalgesellschaft eine Konzentration amerikanischen oder jüdischen Kapitals gesehen und dagegen polemisiert6.

Ihnen entgingen die Unterschiede zu normalen Aktiengesellschaften.

Immer war der Verkauf solcher Aktien für Russell eine Form des Spendensammelns. Nie verkaufte er so viele Aktien, dass die Anteile im Streubesitz das von ihm gehaltene Mehrheitspaket der Stimmrechte hätten überstimmen können. Sein Einfluss auf diese Firma war immer absolut.

Nie gab es auf diese Aktien Dividenden, nie! Nie gab es für diese Aktien Börsenkurse.

Nie wurden diese Aktien an einer Börse gehandelt.

Seit 1945 wurde der Aktienverkauf an Außenstehende eingestellt

7

.

Der Idee nach ist diese Firma seit ihrer Gründung „a non-profit Corporation“, d.h. ein gemeinnütziger Verein. Sie ist mit den von ihr abhängigen Firmen, Verlagen usw. „nur ein Rechtsinstrument für die nicht eingetragene Gruppe der Zeugen Jehovas der ganzen Welt“8. Russells Selbstbezeichnung WTG veranlasste die Leitung, dem Begriff GESELLSCHAFT eine neue, religiöse Sinnfülle zu geben. Sie nannte sich etwa seit den achtziger Jahren des 20. Jhs. NEUE WELT GESELLSCHAFT.

An deren Spitze steht die LEITENDE KÖRPERSCHAFT DER ZEUGEN JEHOVAS.

§ 2. Quellen und Darstellungen zur Geschichte der ZJ

A. Die Quellen

Wer mit missionierenden ZJ in Deutschland zu tun bekommt - und wer macht diese Erfahrung nicht? - der bekommt den Eindruck: Die ZJ wollen mit jeder Menge Schrifttum über sich und über die Bibel informieren. Dieser erste Eindruck täuscht.

Richtig ist vielmehr: Man bekommt jede Menge Literatur über die Bibel und, durchaus nachrangig, einiges auch über diese Glaubensgemeinschaft in die Hand gedrückt, natürlich kostenlos (schon dies war nicht immer so). Man erhält also den WACHTTURM und ERWACHET in den aktuellen Ausgaben des Jahres oder auch des Vorjahres, also die Texte, die jeder ZJ in den Fußgängerzonen zur Verteilung bereithält.

Bücher und Broschüren werden auch kostenlos zur Verfügung gestellt, wenn man sich an einem kostenlosen Bibelstudium beteiligt (die Texte kosteten früher Geld, das „Bibelstudium“, genauer: das Durcharbeiten von Texten der WTG, war immer gebührenfrei für Interessierte - die sollten ja als Mitglieder gewonnen werden). Die Kosten für die Verteilliteratur werden durch Spenden der ZJ finanziert.

Ein Problem sind freilich andere Textausgaben der WTG. Wer z.B. den KÖNIGREICHDIENST haben oder einfach nur einmal lesen will, muss sich sagen lassen: Alle periodisch erscheinenden Ausgaben werden nur an die Mitglieder ausgegeben, die dürfen sie nicht Außenstehenden zugängig machen. Es gibt eine ganze Reihe solcher Texte und Bücher, die nur intern abgegeben werden9.

Ein ganz anderes Problem stellen Bücher und WACHTTURMAusgaben dar, die vor Jahren oder vor Jahrzehnten zum ersten Mal von der WTG gedruckt und mit allem Nachdruck der kommerziellen Werbung in Massen unter das Volk gebracht worden sind.

Hier stoßen wir auf ein wirkliches Problem dieser Glaubensgemeinschaft. Nicht immer galten hier die gleichen religiösen Grundüberzeugungen.

Im Blick auf die Quellen heißt das - und unter dem Begriff Quellen verstehen wir die von der WTG gedruckten Bücher, Broschüren, Verteilzettel, Werbeplakate, Einladungen, aber auch Akten über Interna, über Schriftverkehr mit staatlichen Behörden, Eingaben an Gerichte usw. - bereits der einfache ZJ, vor Kurzem erst dabei oder schon ZJ in zweiter Generation, wird jeder Diskussion über Vergangenes in Lehre und Leben dieser Glaubensgemeinschaft aus dem Wege gehen. Und die LEITENDE KÖRPERSCHAFT DER ZEUGEN JEHOVAS, die selber alle diese Quellen hat, verweigert Außenstehenden jede Einsicht in ihre Archive10.

1965/66 machte ich erste Erfahrungen mit dem gezielten Verschweigen der Vergangenheit dieser RG. Ich suchte für meine Doktor-Arbeit über die Geschichte der ZJ Primärquellen, also Schriften aus der Frühzeit Russells und Rutherfords. Also Traktate und Bücher, die vor langer Zeit mit viel Trara unter das Volk gebracht wurden. Hohe verkaufte Auflagen wurden als Siege der biblischen Wahrheit gefeiert.

Deswegen schrieb ich an das deutsche Zweigbüro, damals in Wiesbaden, und bat um Kopien oder Ausleihe der frühen WTAusgaben und einiger Russell-Schriften.

Statt einer Antwort besuchten mich ohne Anmeldung zwei ZJ. Sie fragten nach dem Stand meiner Vorarbeiten, wollten insbesondere wissen die Tendenz und Zielvorgabe des geplanten Buches. Ich sagte: Bei einer theologischen Doktorarbeit gibt es so etwas wie eine Tendenz oder Zielvorgabe nicht. Ich wolle und solle die Geschichte dieser RG so schreiben, wie sie wirklich war. Wichtig sei nie Lob oder Tadel, wohl aber die umfassende Information über Neues oder Vergessenes.

Erstaunt registrierten meine Gäste, dass es bei einer Dissertation eine vorgefertigte Meinung nicht gibt. „Ich will alle Seiten hören und bilde mir dann mein eigenes Urteil“.

Sie wollten mir Schriften aus ihrem Bücherstand geben und staunten: das alles hatte ich schon. - Sie gingen und kamen nie wieder.

Nach einem Vierteljahr wiederholte ich meine Bitte an das Zweigbüro in Wiesbaden. Die kurze Antwort: Sie hätten mir ja die Brüder geschickt und wüssten nicht, wie sie mir sonst noch helfen sollten.

Der Brief war nicht unterschrieben, doch unterstempelt:

„Wachtturm B.& T. Gesellschaft Deutscher Zweig e.V.“.

Mein zweiter Versuch ging an die Welt-Zentrale in New York/USA. Ich bat um Einsicht in das Schrifttum der Russell-Zeit, nannte einige Frühschriften Russells, die die Zentrale hatte, wie ich wusste. Ich bat um Einsicht in frühe WT-Ausgaben.

Die Antwort kam schnell und überraschend aus dem Bethel in Wiesbaden-Dotzheim.

Die unterstempelnde Dame „Wachtturm B.&.T. Gesellschaft“ teilte mir mit: Man würde mir ja gerne helfen, aber leider seien in der Nazi-Zeit alle Bestände entschädigungslos enteignet worden. Was ich haben will, hat man nicht.

Im Volksmund nennt man diese Handlungsweise „Jemanden verladen“. Aber: Wenn so eine Bitte so beantwortet wird, dann liegt die Verantwortung für den Inhalt dieses Schreibens nicht bei einem einzelnen ZJ, sondern Stil und Inhalt hat die ganze Leitung der WTG zu verantworten.

1966 nutzte ich die Gelegenheit einer Tagung in Frankfurt zu einem unangemeldeten Besuch im Bethel Wiesbaden-Dotzheim. Ein Kollege war auch dabei.

An der Pforte nannten wir unsere Namen und wünschten die Anlage zu sehen.

Gern zeigte uns ein Führer alles, was er für wichtig hielt: ZJ bei ihrer Arbeit, Druckerei und Setzerei, den Speisesaal und anderes. Fast am Ende des Rundganges fragte ich, ob es hier nicht ein Lesezimmer gäbe mit den Schriften der WTG, eine Bücherei also. „Ja, ja,“ antwortete er, „ich werde sie Ihnen gerne zeigen“. Da sah ich dann die alten Bücher, die die Nazis enteignet hatten oder eben doch nicht:

Da waren alle Wachtturm-Ausgaben in deutscher Sprache, gerade die, die ich hatte auswerten wollen. Auf meiner Frage hin durfte ich das eine oder andere in die Hand nehmen und stellte fest: Gerade die für mich wichtigen Jahrgänge um 1914 und 1925 herum standen hier, offenbar oft gelesen. - Dann war die Besichtigung vorbei.

Einen besseren Test auf die Wahrheitsliebe und die Glaubwürdigkeit der alten Dame Wachtturm Bibel- & Traktat-Gesellschaft kann es gar nicht geben.

Im September 1997 begegnete ich bei zwei Tagungen, veranstaltet von der WTG auf der Wewelsburg und in Hamburg, mehrfach hohen Funktionären der WTG, darunter einem Mitglied der Leitenden Körperschaft der ZJ, angereist aus New York. Meine neuen Bekannten kannten mein Forschungsergebnis über die Leiden der ZJ im Dritten Reich und die positive Bewertung des Martyriums. Sie ermutigten mich, meine Bitte um Einsichtnahme in ältere, meist in Millionenauflage unter das Volk gebrachte Bücher zu erneuern. Ich bat ja nicht um Einsicht in interne Akten oder Briefe in den Archiven.

Das Schlusswort in dieser Sache ist das Schreiben von Herrn Wolfram Slupina von der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit der ZJ in Selters:

„Wir können verstehen, dass Sie es bedauern, nicht mehr in ältere, nicht mehr angebotene Literatur Einsicht nehmen zu können. Auch viele unserer Mitgläubigen haben an älterer Literatur großes Interesse. Sie wird jedoch nicht mehr nachgedruckt, noch gibt es bei uns einen Kopierservice. Wir sind überzeugt, dass der Erfolg Ihrer Arbeit durch diese Umstände nicht beeinträchtigt wird. Auch weiterhin können Sie gern die aktuellen Publikationen unserer Religionsgemeinschaft erhalten, die wir der interessierten Öffentlichkeit zugänglich machen“

(Brief vom 4. Jan. 2000 an mich).

Schön, endlich einmal WTG-Post zu bekommen, die nicht nur unterstempelt und ohne Unterschrift ist.

Eine ähnliche Erfahrung mit der WTG beschreibt Horst Knaut im Buch „Profeten der Angst“11.

Diese typische Verweigerungshaltung der WTG wirft Fragen auf:

Was ist in den alten Texten von Russell und Rutherford so schlimm, dass Funktionären das Verschweigen der beste Ausweg ist?

Russell starb 1916, sein Nachfolger 1942. Welchen Schaden will die WTG abwenden, wenn sie ihre eigene Vergangenheit im Dunkeln lässt?

Für die Erforschung der Frühgeschichte dieser RG gilt gegenwärtig:

Die literarische und schriftliche Hinterlassenschaft Russells hat die WTG in ihren Archiven und gewährt unabhängigen Forschern keinen Zugang.

In meiner Dissertation habe ich gezeigt, dass alle Angaben über Russells Anfänge und seine Entwicklung in seinem Bibelverständnis auf der inhaltlichen Auswertung seines Aufsatzes „Ernte-Sammlungen und -Sichtungen“ stammen. Veröffentlicht im WT Oktober 1916, also 1 Monat vor seinem Tod.

Wie die Memoiren mancher Politiker haben Russells Erinnerungen noch heute hohen Quellenwert, aber auch unübersehbare Schwächen. Seine Leser erfahren: Er hat eigentlich alles richtig gemacht, und eigentlich sind ihm keine großen Fehler unterlaufen, so ist ihm sein Werk geglückt. Was nicht in diese Rückschau passt, verschweigt er12.

Dies vortreffliche Selbstbildnis wird etwas korrigiert durch Bücher, die die WTG in apologetischer Absicht auf den Markt brachte. Marley Cole hat Russell in Schutz genommen gegen Presseangriffe und hat darum auch einige Skandale im Privatleben Russells kurz beschreiben müssen. Uns stehen heute diese Presse-Artikel nicht mehr zur Verfügung. So hat das Cole-Buch, obwohl es diese Skandale möglichst knapp schildert, in diesem Bereich Quellenwert. Mit Schweigen werden die frühen Endzeit-Berechnungen Russells übergangen.

Wir wissen noch immer nicht, was in Russells Frühschriften wie HERALD OF THE MORNING oder THREE WORLDS ausgesagt wurde. In einem Buch von 1993 hat die WTG dazu in unklarer Form Inhalte angedeutet. Hierzu braucht man Einsicht in die Erstausgaben13.

Wer immer die Geschichte der RG der Zeugen Jehovas erforscht, muss mit Russells Schrifttum beginnen. Das gilt trotz der Tatsache, dass sich die WTG von den meisten Ansichten Russells getrennt hat. Er muss in Rechnung stellen, dass viele Aussagen Russells in mehreren Fassungen vorliegen. Doch sind spätere Auflagen derselben Schrift nicht als zweite oder revidierte Auflage ausgewiesen.

Besonders gilt das von seinem Hauptwerk, den sechs Bänden seiner Schriftstudien. Seine meisten Zukunftsvisionen, vor allem das Jahr 1914/1915 betreffend, sind in Russells Todesjahr 1916 mehr schlecht als recht mit den bis dahin bekannten Tatsachen harmonisiert worden. Nicht nur einmal werden seine Prophezeiungen ins pure Gegenteil verkehrt. Diese heimlichen Änderungen betreffen besonders Zukunftsaussagen in den Schriftstudien-Bänden II, III und IV. In meiner Dissertation 1971 ist das nachgewiesen und von Forschern wie Twisselmann, Stuhlhofer und von Süsskind überprüft und für richtig befunden worden und in ihre Texte eingegangen.

Ein Problem ist für jeden Historiker der Zugriff auf die Quellen des ersten Jahrhunderts WTG-Geschichte; nach 1916 von der WTG abgesplitterten Gruppen - wie etwa „Tagesanbruch“ oder andere „Russelliten“ - haben Neuauflagen der meisten Bände herausgebracht. Meist in der letzten Revision Russells14.

Ein Sonderfall ist der unter C.T. Russells Namen stehende Band VII der Schriftstudien.

Die inhaltlichen Probleme dieser Schrift behandeln wir in § 18. Hier sei nur gesagt, dass viele BF nach Russells Tod (1916) dies Buch nicht als authentisches Werk des Toten anerkennen - wohl zu Recht. Deshalb haben die von der WTG sich trennenden RG dies Buch nie als „echten Russell“ anerkannt und darum auch nie neu abgedruckt.

Ein weiterer, wichtiger Text der WTG ist Rutherfords Broschüre von 1920: „Millionen jetzt Lebender werden nie sterben“ - wichtig, weil sich hier Rutherford als Weltuntergangsprophet versucht15. So gibt es für die im Buch stehende Weissagung Rutherfords zu 1925 mehrere Textfassungen. Doch in diesem Fall: der gleiche Inhalt.

Ab Mitte der zwanziger Jahre des 20. Jhds. entwickelt sich Präsident Rutherford zu einem religiösen Autor mit Massenauflagen, die in der WTG an die Anhänger verkauft werden, die ihrerseits das Schrifttum bei den missionarischen Einsätzen verkaufen sollen. Diese Broschüren und Bücher werden in viele Sprachen übersetzt und erreichen Millionen-Auflagen.

In Rutherfords Präsidentschaft (1917-1942) fällt die Gründung von drei periodisch erscheinenden Schriften.

Awake! (Erwachet!) (Ursprünglich: The Golden Age - Das Goldene Zeitalter). Erstausgabe englisch: 1.10.1919. Erstausgabe deutsch: 1.1.1922.

Die Jahrbücher der ZJ (Yearbooks) erscheinen seit 1927 mit Statistiken über Literaturabsatz, Hausbesuche und Entwicklung der Mitgliederzahlen.

Der Königreichdienst (Kingdom ministry) erscheint ab 1917 und wird nur intern an die Verkündiger abgegeben.

Nach Rutherfords Tod (1942) erscheinen die von der WTG „freigegebenen Bücher“ und sonstigen Schriften nur noch anonym.

Sie wurden bis etwa 1990 verkauft und heute - finanziert durch Spenden - kostenlos an die interessierten Leser abgegeben.

Nur ein einziges Mal noch spielt bei einem von der WTG verfassten Buch eine zweite Auflage und Textfassung eine zentrale Rolle.

Diese wichtige Ausnahme ist das 1946, also 1 Jahr nach dem 2. Weltkrieg veröffentlichte Buch: „Let God Be True“ (deutsche, in den USA gedruckte Ausgabe von 1948: „Gott bleibt wahrhaftig“). Der Grund für die zweite Auflage ist ein einziger Satz auf Seite 224: „Viele ihrer Leiden (gemeint sind die Juden) haben sie sich durch ihre Geschäftemacherei und ihr rebellisches Handeln zugezogen“.

Die von der WTG veranlasste zweite Auflage hat eine wichtige Vorgeschichte. Ihre Bedeutung macht schon der Umstand klar, dass keine der früheren von der WTG vertriebenen Russell- und Rutherford-Schriften auf die inhaltlich schwerwiegenden Textänderungen hinweist, die die von mir genannten Bücher enthalten. Hier, bei „Gott bleibt wahrhaftig“, ist der Begriff ZWEITE AUFLAGE sogar auf den äußeren, andersfarbigen Buchdeckel aufgedruckt. WARUM?

Ob nun erste oder zweite Auflage - auf unbefangene Leser wirkt dieses Buch von immerhin 350 Seiten Umfang wie ein vollständiger Abriss der Lehre der ZJ. In 24 Kapiteln werden Glaubenswahrheiten der ZJ behandelt. So gelesen ist es ein Katechismus der WTG.

Diesen Eindruck unterstreicht nachdrücklich das von der WTG veranlasste, 1956 in Englisch und Deutsch erschienene Buch von Marley Cole: Jehovas Zeugen. Die Neue-Welt-Gesellschaft. Geschichte und Organisation einer Religionsbewegung16. Cole schreibt über die ZJ brav und bieder: „Im Jahre 1946 erschien ihr klassischer Bibelkommentar „Gott bleibt wahrhaftig!“, der 24 grundlegende Lehren der Bibel umfasst. 1952 brachten sie eine Neubearbeitung des Buches heraus, denn in den vier dazwischenliegenden Jahren hatte sich ihr Verständnis bezüglich einiger dieser Lehren durch weitere Bibelforschung vertieft (S. 74).

„Lehren, durch weitere Bibelforschung vertieft“? - ich will weitere Bibelstudien der WTG nicht ausschließen, doch der allein entscheidende Grund für diese auffällige ZWEITE AUFLAGE sind nicht Bibelstudien. Den entscheidenden Grund finden wir in der Weglassung des Satzes auf Seite 224 der Erstauflage. Die Zweitauflage erwähnt mit keinem Wort den antisemitischen Satz, wonach sich die Juden durch Geschäftemacherei und „rebellisches Handeln“ (was ist das?) viele ihrer Leiden selbst verdient haben. Wohl als göttliche Strafe, wie der Leser denken soll.

Zu der Erkenntnis, dass dieser Satz antisemitisch und darüber hinaus äußerst unmenschlich ist, ist der anonyme Verfasser dieses Textes kaum durch vertieftes Bibelstudium gekommen. Die entscheidende Nachhilfe im Denken und Mitgefühl haben wohl Interventionen jüdischer Rechtsanwälte in Vertretung jüdischer Organisationen geleistet.

Man muss diesen Satz im zeitlichen Kontext lesen. 1945 war der Krieg in Europa zu Ende. Zur Hinterlassenschaft des Dritten Reiches gehörten die mit jüdischen Häftlingen gefüllten KZ.

Millionen Juden in Gaskammern und Hungerlagern ermordet. In diesem historischen Kontext schreibt ein Anonymus 1946 den Satz über die Strafe der Juden und widmet zudem dies Werk „dem Höchsten, einem Gott der Wahrheit“! (S. 3)

Die WTG sperrt sich noch heute gegen die Erkenntnis, dass dieser Satz antisemitisch ist17. Aber sie tat - 1952, also nach jahrelangem Zögern und Sich-Sperren - das, was amerikanisches und deutsches Presserecht als Gegendarstellung fordern: Sie entfernte aus der Zweitauflage den unheilvollen Satz ersatzlos und erklärungslos - und versteckte die verlangte Änderung, indem sie in anderen Kapiteln des Buches ohne zwingende Notwendigkeit weitere Textänderungen vornahm. So konnte die ZWEITE AUFLAGE den Lesern, in der Regel also den ZJ, ohne viele Worte als „Neues Licht“ verkauft werden.

Mit Marley Coles Buch haben wir ein Werk zitiert, das ganz sicher nicht zu den Büchern über die ZJ gehört, wo es dann als „unkritisch-positiv“ einzuordnen wäre, sondern ein von der WTG inspiriertes und als versteckte Werbung gedachtes, das Image der ZJ positiv beeinflussendes Geschichtswerk sein soll18.

Damit gehört Marley Coles Buch zu einem neuen Quellentyp:

B: Bücher, die nicht von der WTG verlegt werden, aber in ihrem Auftrag herausgegeben werden:

Zu den Publikationen dieser Gruppe rechnen wir auch Filme und Dokumentationen, die für den unersättlichen Bedarf von Presse, Rundfunk und vor allem Fernsehen mit Hilfe und Informationen der WTG erstellt worden sind. Dazu rechnen wir zum Beispiel die auf Veranlassung der in Brooklyn, N.Y., USA beheimateten Watchtower Society produzierte Videodokumentation: Standhaft trotz Verfolgung - Jehovas Zeugen unter dem NS-Regime“ (1997).

Oft ist bei den Werken dieser Gruppe die Urheberschaft der WTG kaum oder - wie bei Cole - gar nicht erkennbar. Das gilt für alle Medien.

Eine Quelle ersten Ranges ist DER GEWISSENSKONFLIKT von Raymond Franz19

Auf der Titelseite steht: „Ein ZJ berichtet“. Aber auch: „Raymond Franz, ehemaliges Mitglied der Leitenden Körperschaft der ZJ“.

Wir ergänzen die Mitteilungen über den Autor: „Als er schrieb, war er ZJ“. Immer bleibt er Neffe des Vizepräsidenten und dann des Präsidenten der WTG Frederick William Franz. R. Franz begann als einfacher ZJ und arbeitete sich hoch in das Leitungsgremium dieser RG: In dieser Funktion erlangte er ein spezielles Wissen über Interna, die sorgfältig vor der Öffentlichkeit und den normalen Anhängern verborgen gehalten wurden. So enthält das Buch unverzichtbare Informationen aus der „Regierung dieser RG“.

Natürlich ist das Buch voller brisanter Enthüllungen ein „rotes Tuch“ für die Leitung der WTG geworden. Sie warnt auch die ZJ vor dem Lesen.

So gehört dieses Memoiren-Werk auch zu einer ganz anderen Information. Wichtige Bücher über die ZJ sind

Erinnerungen ehemaliger Amtsträger dieser RG.

Diese Ehemaligen waren nie in einflussreichen Posten wie Raymond Franz. Es waren Sonderpioniere wie William J. Schnell oder v. Süsskind oder Versammlungsdiener wie H.J. Twisselmann. Also Männer oder Frauen an der Basis. Ohne besonderen Einfluss, ohne sensationelle Informationen. Öfter sind es Lebensberichte von ZJ, die nicht als Erwachsene Zugang zu den ZJ gewonnen haben, sondern die ZJ in zweiter Generation sind, also in eine ZJFamilie hineingeboren sind.

Das Besondere dieser Berichte von Ehemaligen sind selten bisher nicht veröffentlichte Schriftstücke oder der Forschung unbekannte Quellen. Der Reiz dieser Lebens- und Leidensgeschichten sind die Einblicke, die Außenstehende über den Alltag von ZJ in Haus und Familie, in Beruf und Zeugnisgeben und Glaubensleben der Mitglieder der WTG gewinnen.

Oft künden schon die Buchtitel von Erfahrungen, die im Rückblick die Abwendung von dieser RG bestimmt haben. Die Druckerzeugnisse der WTG sind die Theorie des Glaubens - die Praxis dieses Glaubens fordert einen teuren Preis. Viele ZJ zahlen ihn gern. Andere zerbrechen daran. „Die Wahrheit über die ZJ“ ist also die stark Ich-bezogene Sicht von Abtrünnigen.

Diese Opfer erzählen ihre Opfer an Kraft, Zeit, Geld, die sie einst gern, oft im Übermaß - und doch unter sozialer Kontrolle eingebracht haben in den Opfergang von Jahrzehnten20.

Die zunehmende Zahl der Berichte von Ex-ZJ soll eine Sache nicht verschweigen: Weltweit wächst die Zahl der ZJ stetig, einige Jahre wie 1925/1926 oder 1975/1976 ausgenommen. Das verraten uns die JAHRBÜCHER DER ZEUGEN JEHOVAS (YEAR-BOOKS). Mit viel Liebe zur Statistik und fast ohne Informationen über Vermögen und Spendenaufkommen21.

Immerhin dürfte die WTG weltweit längst ein Milliarden-Vermögen haben. Wer meint, diese Gelder kämen vor allem den hauptamtlich tätigen ZJ an der Basis zu, irrt sehr. Oft müssen Angehörige oder Freunde den Bethel-Arbeitern oder Vollzeitpionieren mit Geld aushelfen22.

Wir stellen einige Ehemaligen-Berichte vor:

Eva-Maria Kaiser und Ulrich Rausch

23

präsentieren dem Leser sechs Einzelschicksale. Nach Meinung der Autoren gewähren sie tiefe Einblicke in die menschenverachtenden Strukturen dieser RG. Wir lesen also die Motive, die zur Abwendung von der Kirche, der Hinwendung zu den ZJ und danach zum Verlassen der WTG führen. In diesem Buch und einigen anderen begegnet uns ein Hauptmotiv dieser Konvertiten-Literatur: die ABRECHNUNG mit dem „Leben von einst“.

Hans-Jürgen Twisselmann und Günther Pape waren ZJ und werden danach aktiv für die Kirchen, zu denen sie nach der Trennung von den ZJ gehören. Twisselmann wird evangelisch-lutherischer Pastor und gründet für Sektenopfer den „Bruderdienst“. Pape wird für die katholische Kirche tätig und leitet ebenfalls eine Anlaufstelle für Sektenopfer. Beide wirken auch durch ihr viel gelesenes Schrifttum.

Mit Josy Doyon begegnet uns mit ihrem Erstlingswerk 1966 zuerst eine Frau, die ZJ wird und ihre neuen Glaubensgeschwister als „Hirten ohne Erbarmen“ erlebt. Es folgt das Fazit: „Ich war eine ZJ“.

W.J. Schnells Buch: „Falsche Zeugen stehen wider mich. 30 Jahre Sklave des Wachtturms“ ist der Anfang dieser Konvertitenliteratur und blieb- bis zum Erscheinen des „Gewissenskonfliktes“ von R. Franz - das Werk, das Außenstehenden die genauesten Einblicke in interne Abläufe der WTG gestattete. Vor seiner Trennung von der WTG war er Sonder-Pionier und Zonen-Diener, also die längste Zeit seines Lebens als ZJ, hauptberuflich und schlechtbesoldet für diese RG tätig. Sein Schlusswort: „Mein Sklavenleben möge ihnen eine Warnung sein. Ich brauchte dreizig Jahre, um wieder frei zu werden“.

Eckhard von Süsskind: „Zeugen Jehovas. Anspruch und Wirklichkeit der Wachtturm-Gesellschaft“ (1985) ist schon von der Person her interessant. Wie Günther Pape ist der früh verstorbene Autor (1948-1991) ZJ in der zweiten Generation, von Kind auf in diesem Glauben. Nach einer kaufmännischen Lehre wird er Missionar der WTG, erst als Pionier, dann als Sonder-Pionier. Seine Frau sagte mir: „Keiner kann von dieser kleinen Sondervergütung der WTG für diese Arbeiten leben“. So tragen seine ZJ-Eltern Kranken-und Rentenversicherung (dafür fühlte sich die WTG nicht zuständig). Zumal die Sondervergütung der WTG Abzüge enthalten kann, wenn das vorgegebene Leistungsziel nicht erreicht wird.

Er absolviert die „Gilead-Schule in New York“, die zentrale Kader-Schmiede der WTG24. Sein Ablösungsprozess von der WTG dauert sieben Jahre, ausgelöst durch ein Verfahren der WTG gegen einen Freund, der nicht predigen konnte: „Nur die ZJ können gerettet werden“. Er kündigt der WTG, bevor diese ihn ausschließen kann ...- Danach wird er Krankenpfleger.

Den Wert seines Buches bestimmen viele Zitate aus WTG-Büchern, zu deren Lektüre heutige ZJ kaum Zugang haben, weil sie kaum zu haben sind und die WTG ihre Bibliothek nicht öffnet. Eine Besonderheit: In einer übersichtlichen Synopse hat v. Süsskind die „Prophezeiungen“ für das Jahr 1914 dem gegenübergestellt, was Russell an den gleichen Buchstellen nach 1914 - aber in Kenntnis der realen Fakten - in seine Schriftstudien als angebliche Voraussagen hineinschrieb.

Geholfen aber haben diese nachträglichen „Verbesserungen“ der WTG nicht, aber, wie ihr Schweigen beweist, sie sind ihr peinlich25.

Mündliche Berichte heute noch aktiver ZJ

sind eine wichtige Quelle, besonders dann, wenn man sie etwas besser kennt. Zuerst hört man nur die offizielle Meinung, die die WTG empfiehlt. Kennt man sich, kann man auch mal fragen: Wie erziehen sie und ihre Bekannten ihre Kinder? Gewaltfrei, wie es moderne Pädagogen wollen, oder mit Schlägen, wie es der WT immer wieder rät?

Wie wirkt sich ihre Missionstätigkeit auf ihre Ehe aus? Erträgt das ihr(e) Partner(in)? Auch dann, wenn er/sie einen anderen Glauben oder keinen hat?

Wie viele Ehen - Zeuge mit Zeugin - werden geschieden? Ist nicht der Alltagstress zu einem gerüttelten Maß daran schuld, dass das Zeugnisgeben keine Zeit mehr lässt für eine private Ehegestaltung? Was heißt für sie „biblisch geschieden“, was man in vielen Heiratsanzeigen der Regenbogenpresse lesen kann? Welche Personen entscheiden darüber, ob jemand „biblisch“ geschieden ist? Die Anzeigensteller dieser häufigen Inserate sind doch wohl noch aktive ZJ, denn diese seltsame Bezeichnung benutzt niemand außer den ZJ26.

Besondere Quellen und Darstellungen zur Geschichte der ZJ sind auch:

Schriften von Glaubensgemeinschaften, die ehemals zur WTG gehörten:

Texte der Kirche des Reiches Gottes

Texte der Tagesanbruch Bibelstudien-Vereinigung

Texte der Freien Bibelgemeinde e.V.

Texte der Laien-Heim Missionsbewegung

Texte der Menschenfreunde

Quellenwert haben diese Schriften der Ehemaligen nur deshalb, weil in ihnen die Gegenposition zur WTG-Darstellung zu lesen ist, etwa zum Verlauf des Schismas von 1917.

Wichtiger ist, dass die russellitischen Gruppen unter diesen Abspaltungen auch Schriften Russells neu abgedruckt und damit eine Nachfrage befriedigt haben27. Außerdem gibt es noch:

Texte von Glaubensgemeinschaften, die sich in Afrika von der WTG abgespalten haben.

Dazu gehören die Bamulonda und Kitawala28.

Wir gehen nicht weiter auf diese Gruppen ein. Es erscheint uns aber der Hinweis wichtig, dass es alles in allem etwa sechzig bis achtzig selbstständige Gemeinschaften gibt, die ihren Ursprung in der WTG und ihren Lehren haben. Damit gehören die ZJ zu den Glaubensgemeinschaften, die neben den Pfingstlern am meisten zur Zerrissenheit der Christenheit in der Neuzeit beigetragen haben.

Damit kommen wir zu den Gesamtdarstellungen über die ZJ.

In der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts ist es den ZJ gelungen, eine statistische „Schallmauer“ zu durchbrechen. Seitdem gibt es eine Millionenschar von ZJ in der Welt. Sie sind in allen Staaten der Welt, auf allen etwas größeren Inseln wenigstens mit einigen Missionaren vertreten.

Das hat Folgen für die Auseinandersetzung mit ihnen. In Deutschland kämpfen sie seit etwa 1990 um ihre Zulassung als „Körperschaft des öffentlichen Rechts“ und werden das auch erreichen; denn sie sind eine Gemeinschaft „auf Dauer“.

Die andere Konsequenz ist ihr „Beachtetwerden in der Literatur“. Sie haben inzwischen in jedem anspruchsvolleren Konversationslexikon ihren Artikel, sei es als JZ oder als ZJ. Ob Brockhaus, Meyer oder Bertelsmann - sie sind mindestens in einer Kurzdarstellung präsent. Ausgeprägter ist das noch in theologischen Nachschlagewerken. Ob nun das „Lexikon für Theologie und Kirche“ (katholisch) oder „Religion in Geschichte und Gegenwart“ (evangelisch) oder im „Evangelischen Kirchenlexikon“ - die Herausgeber kommen nicht mehr an ihnen vorbei. Das gilt auch für jede Neuauflage dieser Nachschlagewerke29.

Die Literatur über die Zeugen Jehovas wird dementsprechend auch für die Spezialisten immer unüberschaubarer30.

In der Gruppe der theologischen Lexika, die alle Religionen, alle Konfessionen und Glaubensgemeinschaften, alle Sekten oder alle Weltanschauungen unter bestimmten Aspekten behandeln, wie immer die Eingrenzung oder Abgrenzung lauten mag, seien wenigstens einige Standardwerke genannt.

Notwendigerweise ist ihre Darstellung der ZJ extrem zeitgebunden. In der WTG haben wir eine Glaubensgemeinschaft vor uns, die zentrale Glaubensaussagen verschiedentlich geändert hat.

Denn was die WTG um 1900 als Quintessenz des biblischen Glaubens predigt und in ihren Schriften verbreitet, ist um 1920 unübersehbar anders geworden. Bereits um 1935 hat die WTG ihre Glaubensaussagen wiederum so stark geändert, dass auch in der Sicht ihrer eigenen Anhänger fast das ganze ältere Schrifttum der ZJ nicht mehr als maßgebend betrachtet wird, die aktuellen Ausgaben des WT geben die jeweils neue, ab jetzt gültige Meinung und Bibelauslegung vor. Dieser radikale Wandel im Erscheinungsbild und in der Lehre der WTG ist das zweifelhafte Verdienst der zweiten Präsidenten der WTG namens Rutherford. Nach dessen Tod (1942) ändert sich unter den nachfolgenden Präsidenten der WTG nochmals das Lehrgebäude der WTG und das Erscheinungsbild der ZJ. So wird aus dem totalen Konfliktverhältnis zu allen Staaten der Welt eine allmählich freundlichere Beurteilung. Neue Konflikte tauchen auf wie die Wehrersatzdienstverweigerung oder die Verweigerung der Bluttransfusion. Auch optisch wird einiges anders. Jetzt hat in Deutschland jede Versammlung ihren „Königreichsaal“ (so heißen die ZJ-Kirchen). Das signalisiert ein neues Zeitverständnis: Wer das nahe Weltende erwartet, baut sich keine Kirche. Wer sich in der Welt einrichtet, hat bald eine Kirche.

Diese Veränderungen muss eine anspruchsvollere Darstellung der ZJ-Geschichte berücksichtigen. Sie muss erkennen lassen, dass heutige ZJ einer Glaubenslehre folgen, die es früher so nicht bei der WTG gab.

Die bekanntesten Standardwerke zur Konfessionskunde sind im deutschen Sprachgebiet:

Algermissen, Konrad: Konfessionskunde. 7. Aufl. 1957.

Hauth, Rüdiger: Kleiner Sektenkatechismus. 6. Aufl. 1995.

Hutten, Kurt: Seher, Grübler, Enthusiasten. 15. Aufl. 1997.

Obst, Helmut: Apostel und Propheten der Neuzeit. 2. Aufl. 1981.

Reller, Horst: Handbuch religiöse Gemeinschaften und Weltanschauungen. 6. Aufl. 2008.

Wichtige Werke nur über die Zeugen Jehovas: (in Auswahl)

Doyon, Josy: Hirten ohne Erbarmen. Zehn Jahre Zeugin Jehovas - der Bericht eines Irrweges. 2. Aufl. 1979

Franz, Raymond: Der Gewissenskonflikt. 1988.

Garbe, Detlef: Zwischen Widerstand und Martyrium. Die Zeugen Jehovas im „Dritten Reich“. 3. Aufl. 1997.

Gassmann, Lothar: Zeugen Jehovas. Geschichte, Lehre, Beurteilung. 2. Aufl. 2000.

Gebhard, Manfred: Die Zeugen Jehovas. Eine Dokumentation über die Wachtturmgesellschaft. 1970

Haack, Friedrich-W.: Jehovas Zeugen. 15. Aufl. 1993. In der Münchener Reihe.

(Dazu viele weitere Publikationen dieses Autors)

Hellmund, Dietrich: Geschichte der Zeugen Jehovas (in der Zeit von 1970-1920). Mit einem Anhang: Geschichte der Zeugen Jehovas in Deutschland (bis 1970). 1972. - (Dazu weitere Veröffentlichungen).

Kaiser, Eva Maria / Rausch, Ulrich: Die Zeugen Jehovas - Ein Sektenreport. 1996.

Knaut, Horst: Propheten der Angst. 1975.

Köppl, Elmar: Die Zeugen Jehovas - Eine psychologische Analyse. 1985.

Nobel, Rolf: Falschspieler Gottes - Die Wahrheit über Jehovas Zeugen. 1985.

Pape, Günther: Ich war Zeuge Jehovas. 5. Aufl. 1978.

(Dazu viele weitere Publikationen dieses Autors).

Price, E.B.: Gottes Kanal der Wahrheit - ist es der Wachtturm? o.J.

Raquet, Sigrid: Keine Angst vor den Zeugen Jehovas. 1998.

Rogerson, Alan: Viele von uns werden niemals sterben - Geschichte und Geheimnis der Zeugen Jehovas. 1971.

Schnell, William: Falsche Zeugen stehen wider mich. 1969.

Süßkind, Eckhard von: Zeugen Jehovas. Anspruch und Wirklichkeit der Wachtturm-Gesellschaft. 1985.

Twisselmann, Hans-Jürgen: Vom „Zeugen Jehovas“ zum Zeugen Jesu Christi. 8. Aufl. 1987. (Dazu viele weitere Publikationen dieses Autors).

Weber, Herbert / Valentin, Friederike: Die Zeugen Jehovas. Zwischen Bewunderung und Befremdung. 1994.

Wunderlich, Gerd: Die Paradiesverkäufer. Erfahrungen auf einem Irrweg. 2. Aufl. 1985.

Dazu eine Monographie:

Stuhlhofer, Franz: Charles T. Russell und die Zeugen Jehovas. 1990.

Diese Liste von Veröffentlichungen über die ZJ lässt sich ohne große Mühe um ein Vielfaches verlängern. Davon sehen wir ab.

So sind die Standardwerke zur Konfessionskunde natürlich auch Bücher, die der Apologetik dienen: der Information über Gemeinschaften und Weltanschauungen, die die Kirchen angreifen und diese zur Antwort und Auseinandersetzung veranlassen. So sind Konrad Algermissen und Friederike Valentin katholisch, Kurt Hutten, Horst Reller, Friedrich-Wilhelm Haack und Rüdiger Hauth evangelisch. Sie alle arbeiteten in Dienststellen, die Informationen über religiöse Gruppen und Weltanschauungen sammeln, für Vorträge in Gemeinden oder für Seelsorgefragen in diesem Bereich zur Verfügung stehen und darüber publizieren.

Neben dieser „pastoralen Gruppe“ der Autoren ist eine zweite Gruppe unverhältnismäßig stark vertreten.

Nicht weniger als neun der genannten Autoren sind ehemalige ZJ! Nun ist es nichts Ungewöhnliches, dass Konvertiten die Wege und Irrwege ihres Glaubens beschreiben. Kleine Glaubensgemeinschaften haben in dieser Hinsicht keine Sonderstellung. Fast bei allen religiösen Gruppen gibt es Schriften oder Schriftchen mit dem bezeichnenden Titel: ICH WAR EIN ....... und nun darf man ergänzen: --- Mormone, Adventist, Anthroposoph, bei Hare Krischna, bei AAO, bei den Moonies oder wo immer. Ich kenne sogar von einem Satanisten einen Rückblick dieser Art. Wo der Titel „Ich war ein(e)...“ nicht verwendet wird, ist er dennoch gegenwärtig in Begriffen wie Irrweg, Umkehr oder Irrlehre, die die neue Glaubensentscheidung des Autors vor-wegnehmen. Im Titel.

Bei den ZJ ist das anders. Unverhältnismäßig viele Aussteiger rechnen mit der WTG ab. Dafür gibt es nicht nur einen Grund. Ein Grund ist sicher, dass die WTG selber solchen Hinwendungen zu den ZJ ein großes Gewicht beimisst. WT, Erwachet und die Jahrbücher sind voll damit. Noch immer ist ein Großteil dieser Anhängerschaft Neuzugang aus anderen Konfessionen, obwohl es hier einen allmählich wachsenden Anteil an ZJ gibt, die in zweiter oder dritter Generation „dabei“ sind. Die Aussteiger aus der WTG wollen mit ihrem persönlichen Zeugnis dokumentieren: Es gibt nicht nur Hinwendungen zu den ZJ, es gibt auch wohlbegründete Abwendungen.

Dazu ein zweiter Grund: ZJ zu werden bedeutet: Mitglied zu sein in einer Umgebung, die keine passive Nur-Mitgliedschaft zulässt. Wer dazugehört, muss hohe Opfer an Arbeitszeit, Kraft, Geduld und nicht zuletzt auch an Geld freiwillig erbringen. Die aggressive Missionsmethode der ZJ kann oft zu einer Trennung von allen alten Bindungen führen, auch Trennung von der eigenen Familie. Aber man gewinnt ja eine neue Familie, so hat es den Anschein. Wenn danach in dieser „neuen Familie“, der Versammlung, Konflikte entstehen - aus welchem Grund immer - Konflikte, die einen Ausstieg aus der Gemeinde der ZJ unvermeidlich machen, dann entsteht eine Streitsituation wie bei einer Ehescheidung. Ein Buch, eine schriftliche Rechtfertigung vor Anderen. So sind die vielen Berichte von Aussteigern aus der WTG ein ebenso bemerkenswerter wie auffälliger Sachverhalt.

Die Millionenschar der Anhängerschaft

bedeutet im Fall der WTG den Umschlag von der Quantität in die Qualität. Aus der „Winkelsekte“ (soziologisch gesehen) ist jetzt soziologisch gesehen eine „Kirche“ geworden. Dementsprechend werden sie auch in den Massenmedien als eine Gruppe wahrgenommen, die Beachtung verdient.

Im Blick auf die Quellen und Berichte über die ZJ heißt das:

Über die ZJ und von den ZJ gibt es jetzt nicht mehr nur Texte, die sich mit der Geschichte oder Lehre dieser Glaubensgemeinschaft auseinandersetzen und die die Bibelauslegung um neue Kapitel vermehren. Seit etwa 50 Jahren sind die ZJ auch für Soziologen oder Psychologen ein lohnendes Studienobjekt. Den Anfang machte schon 1930 Fritz Herkenrath mit einer soziologischen Untersuchung31. Für die Psychologen mag Elmar Köppl32 stellvertretend für andere Autoren stehen. Die Juristen und Mediziner haben das Wort, wenn es um die verweigerte Bluttransfusion bei Unfall und Krankheit der ZJ geht - eine ganz spezielle Literaturgattung ist hier entstanden. Fachliteratur sind auch all die Texte von Juristen über die Wehrdienstverweigerung oder die Ersatzdienstverweigerung der ZJ.

Dazu gehören auch viele veröffentlichte und kommentierte Urteile der deutschen Gerichte. Auch die Anstrengungen der WTG, als Körperschaft des öffentlichen Rechtes in den Bundesländern anerkannt zu werden, haben ihren Niederschlag in der Fachliteratur gefunden33.

Indes: Ob nun ein Jurist oder Psychologe, ein Mediziner oder Psychologe über die ZJ schreibt, eines ist diesen Texten gemeinsam:

Diese Veröffentlichungen interessieren sich nicht für theologische Grundfragen. Was lehren die ZJ über Gott? Wie legen die ZJ die Bibel aus? Mit welcher biblischen Begründung verweigern sie eine Bluttransfusion? Auch da noch, wenn diese Leben retten kann?

Diese Wissenschaften interessiert nicht die Glaubenslehre der ZJ. Das sagen die auch oft am Beginn ihrer Untersuchung, die mit den Methoden ihres Faches an die ZJ herangehen. Das ist ganz legitim. Aber dass sich diese Geisteswissenschaften und sogar eine Naturwissenschaft genötigt sehen, über Teilaspekte dieser Glaubensgemeinschaft zu berichten, zeigt eins deutlich:

Die ZJ sind im 21. Jahrhundert als eine Massenorganisation in unserer Gesellschaft angekommen. Sie werden im Licht der politischen Öffentlichkeit gesehen und - zumindest von außen - als politische Gruppierung wahrgenommen. Das mag einigen ZJ nicht recht sein. Aber für immer mehr Wissenschaften werden sie immer interessanter.

Die wachsende Millionenschar der ZJ

- vertreten in allen Ländern dieser Erde - hat noch einen weiteren Effekt, über den wir nachdenken müssen. Diese Glaubensgemeinschaft sieht als wichtigste, ja fast als einzige Kundgabe ihres Glaubens das missionarische Wirken an, das „Zeugnis“. „Das Predigen“. So werden leicht aus Millionen ZJ Milliarden von Hausbesuchen, Milliarden von Nachbesuchen, riesige Mengen von abgegebener Literatur. Das hält sich zwar sehr in Ländern in Grenzen, in denen die ZJ verboten sind. Also vor allem in Diktaturen und in islamischen Staaten.

Umso intensiver ist der Werbeeffekt in den Ländern und Gebieten, in denen die ZJ sich frei bewegen und ihren Glauben missionarisch leben können. Bei uns in Westeuropa stoßen sie ja bei ihren vielen Hausbesuchen nicht nur auf „Einheimische“, die in der Regel katholisch, evangelisch oder ausgetreten sind. Sie treffen auch auf die Menschenscharen, die als Folgen der Wanderbewegungen nach dem Kriegsende 1945 bei uns ansässig wurden: Diesen Entwurzelten bietet die Mission der WTG eine neue Heimat an.

So werden hier in Deutschland und Europa etliche zu ZJ, die vorher Muslime oder Hindus oder Buddhisten waren. Das führt auch zu Aufklärungsschriften der so missionierten Menschen aus außereuropäischen Bereichen. Auch kleinere christliche Glaubensgemeinschaften wappnen sich gegen die Missionsversuche der ZJ34.

Mein Maßstab ist und bleibt: Ich rede und schreibe nach bestem Gewissen und Wissen so, dass ich es einst auch vor meinem EWIGEN RICHTER wiederholen kann35.

§ 3. Zur Person des Gründers Charles Taze Russell

Ohne jede Frage ist Charles Taze Russell (16. Feb. 1852 - 31. Okt. 1916) der Begründer der von ihm ins Leben gerufenen Glaubensgemeinschaft; die ist heute unter der Bezeichnung ZEUGEN JEHOVAS weltweit bekannt.

Wie kann das überhaupt eine Frage sein?

Daran ist die WTG nicht ganz unschuldig. In dem von ihr herausgegebenen Geschichtswerk „Jehovas Zeugen in Gottes Vorhaben“ wird versucht, den Anfang der ZJ-Geschichte in die Urzeit vorzurücken: Abel, der Sohn von Adam und Eva, soll nach der Bibel bereits ein Zeuge Jehovas gewesen sein!36

Doch diese Frage stellt sich mit größerer Berechtigung noch aus einer ganz anderen Sicht.

Russell hat bei seinem Tod 1916 eine Glaubensgemeinschaft hinterlassen, zu der sich mehr als zehntausend Anhänger zählten. Diese neue christliche Gruppe scharte sich um Glaubensaussagen, die teilweise ganz persönliche Bibelauslegungen von C.T. Russell waren. So gesehen hatte er auch einen sehr an sein Wirken gebundenen Personenkult hinterlassen. Von seiner Frau war er geschieden. Deshalb erbte die WTG auch sein Vermögen. Ein sehr großes Vermögen. Das sollte sich in der Folgezeit als ein entscheidender „Stein des Anstoßes“ entpuppen. Es kam zu Kämpfen um Russells Erbe.

Dieser Erbstreit wurde gewissermaßen als ein Krieg an zwei Fronten ausgetragen. Zum einen Teil ging es um die Frage, wer in der WTG das Sagen hat und damit die Kontrolle über die Verwendung der Gelder. Darin eingebunden war auch die Kompetenz, über den Inhalt der Artikel zu entscheiden, die im WACHTTURM, der von Russell begründeten Zeitschrift, erscheinen sollten. Wer den WACHTTURM hatte, konnte die Meinung der Anhänger manipulieren.

Die andere Front im Streit um sein Erbe war der Kampf um das rechte Verständnis der von Russell hinterlassenen Glaubenslehre.

Dabei ging es nicht um Glaubensartikel, die auch zu seiner Lehre gehörten, wie etwa Taufe, Abendmahl oder Kirchenverfassung. Nein, es ging um Prophezeiungen über das Weltende. Die waren der Streitpunkt.

Vor allem aus der Bibel wollte er diese Gewissheit erlangt haben. Nur eben: Keine seiner Prophezeiungen hatte sich als wahr erwiesen. Mehrfach hatte er seine für die ganz nahe Zukunft gedachten Angaben berichtigen und neue Termine nennen müssen. Damit und dafür hatte er auch aufwendig geworben - das Geld dafür war ja vorhanden - und erstaunlich viele Gläubige gewonnen. Diese Schar der unentwegten, aber innerlich aufgewühlten Fans war auch 1916 noch da, obwohl sich bereits seit vielen Monaten gezeigt hatte: Der 1914 ausgebrochene Weltkrieg konnte nicht das von C.T. Russell angesagte Weltende namens „Harmagedon“ sein.

Natürlich hatten sich viele ehemalige Anhänger wegen der falschen Voraussagen für immer von der WTG getrennt. Für den Treuen-Rest aber galt: Wer kann uns mit einem geläuterten Bibelverständnis aus diesem Dilemma heraushelfen?

Dieser Streit um das geistige und das finanzielle Erbe Russells hatte dies Resultat:

Die WTG - vor allem aber ihr neuer autoritärer Präsident Rutherford - erlangte und behielt die Kontrolle über Russells Vermögen. Nur für eine kurze Zeit von etwa zehn Jahren legte sie auch Wert auf die schriftliche Hinterlassenschaft, vor allem auf die „Schriftstudien“ Russells. Danach erlosch ihr Interesse an den Texten Russells völlig. Sie ersetzte ausnahmslos Russells Texte durch neue Bücher und Traktate, vor allem solche, die der neue Präsident Rutherford geschrieben hatte.

Außer den beträchtlichen Vermögenswerten verblieb der WTG auch ein sehr aktiver, leidensbereiter, wesentlicher Teil der Anhängerschaft Russells. Auf diese Leute konnte man bauen. Die Folgezeit zeigt: Mit diesem aktiven Rest konnte man die Welt erobern und durchdringen, so wie der Sauerteig die übrige Backmasse durchdringt.

In dem 1917 ausbrechenden Streit um Russells Erbe unterlag eine in sich zerstrittene und keineswegs einheitlich denkende Anhängerschaft Russells. Sie zersplitterte bald in kleine und kleinste Grüppchen, etliche dieser religiösen Zirkel verabschiedeten sich nach einigen Jahren oder Jahrzehnten aus dem weltanschaulichen Fluidum Amerikas. Andere hielten treu an Russells Schriften fest, oft mit kleinen Anpassungen an die Wirklichkeit. Sie sind die eigentlichen Erben Russells - allerdings nur im ideellen Sinn.

Einige kritische Anhänger Russells haben seine Denkansätze selbständig weiterentwickelt, weil sie die Unvereinbarkeit der russellitischen Aussagen und Voraussagen mit der historischen Wirklichkeit zugaben, erkannten und selbstständig weiterentwickelten. Stellvertretend für einige Andere mag hier F.L. Alexandre Freytag (1870-1947) genannt werden, später der Gründer der „Kirche des Reiches Gottes“37. (Heute ohne Bedeutung).

Diese Nachwirkungen Russells kann man nicht ganz außer Acht lassen. Mit Fug und Recht kann C.T. Russell angesehen werden als Urheber mehrerer heute noch vorhandener Religionsgemeinschaften. Das war sicher nicht in seiner Absicht, das lag wegen der Zersplitterung auch nicht in seinem Interesse.

Wirkliche Bedeutung unter diesen religiösen Gruppen haben nur die ZEUGEN JEHOVAS erlangt, die damals - zum Zeitpunkt von Russells Tod -noch als IVEB in Deutschland firmierten, als „Internationale Vereinigung ernsthafter Bibelforscher“.

Wie diese mit Russells „biblischen Lehren und Forschungen“ umgegangen sind, hätte wohl kaum den Beifall Russells gefunden. Aber darum haben sich die ZJ nie gekümmert.

Mit Russells Sonderlehren und Anhängern, mit der periodisch erscheinenden Zeitschrift WACHTTURM und mit einem sofort einsetzbaren Vermögen besaßen sie eine Basis, von der aus ihr Präsident Rutherford erfolgreich weitermachen konnte.

In diesem eingeschränkten Sinn ist C.T. Russell auch der Begründer der Glaubensgemeinschaft der ZEUGEN JEHOVAS.

Jetzt ist es an der Zeit, mehr über die Person und das Vermögen Russells zu sagen38.

Charles Taze Russell wurde am 16. Feb. 1852 als Sohn von Joseph L. und von Eliza Birney Russell in Allegheny geboren, heute ein Vorort von Pittsburgh in den USA. Seine Eltern: religiös gesehen Presbyterianer und schottisch-irischer Abstammung. Trotz seiner frommen Erziehung schloss er sich bald einer Kongregationistenkirche an, da ihm deren Ansichten besser zusagten.

Im Alter von neun Jahren verlor er seine Mutter. Er wurde in öffentlichen Schulen und von Privatlehrern unterrichtet.

Früh wurde sein Vater auf seinen ausgeprägten Geschäftssinn aufmerksam. J.L. Russell (verst. 1897) machte den Elfjährigen zum Teilhaber im florierenden Herrenmodegeschäft. (Dieser ausgeprägte Geschäftssinn blieb ihm lebenslang erhalten). Charles steigerte Umsatz und Profite und leitete am Ende selber eine Firma mit einer ganzen Reihe solcher Filialen. Als er später seine Geschäftsanteile verkaufte, brachte ihm das die für damalige Verhältnisse riesige Summe von einer Viertelmillion Dollar ein39.

Russell heiratete 1879 Maria Frances Ackley, diese Ehe blieb kinderlos (und endete siebzehn Jahre später in einer Scheidung). Charles Vater J.L. gehörte später zur Bibelstudienklasse seines Sohnes in Allegheny und wirkte bis zu seinem Tod 1897 mit in der Watch Tower Society.

Soweit die private Kurzbiographie. Sie zeigt früh den Geschäftsmann und den religiösen Sucher.

Bereits als Junge schrieb Russell gern Bibeltexte auf den Bürgersteig. Auch war er damals im CVJM (Christlicher Verein Junger Menschen - YMCA). In seiner neuen geistlichen Heimat, der presbyterianischen Kirche, hätte ihn die dort gepredigte liberale Bibelauslegung fast den christlichen Glauben gekostet. Die dort vertretenen Lehren von der Prädestination (Calvin‘scher Prägung) und der ewigen Qual ließen ihn mit Recht unbefriedigt. Die Anschauung einer wörtlich zu verstehenden Schwefel- und Feuerhölle widersprach seinem Glauben an den Gott der Liebe. Wie kann der Sünder der ewigen Pein entrinnen? war seine angsterfüllte Frage.

Was nach Russells eigenen Worten „zuerst ein völliger Schiffbruch des Glaubens an Gott und die Bibel zu werden drohte“40, hatte 1869 dies Ergebnis:

Austritt aus der presbyterianischen Kirche -

bleibende Zweifel an der Verbindlichkeit und Wahrheit kirchlicher Lehren.

Trotz seiner Zweifel kam er nicht von Gott los.

1869 die entscheidende Wende, Russells Schlüsselerlebnis:

Er begegnete in einem staubigen, verräucherten Lokal einer adventistischen Splittergemeinde, und zwar den SECOND ADVENTISTS, geleitet von Jonas Wendell. Zeitlebens hat es C.T. Russell diesem Prediger der Gruppe gedankt, dass er ihm den Glauben an die göttliche Eingebung der Heiligen Schrift wieder hergestellt hat.

Angesichts der Bedeutung, die diese Lebenswende für Russell, seinen Anhang und heute sogar noch für die ZJ hat, müssen wir uns fragen:

Wer sind oder wer waren diese von Jonas Wendell geleiteten Adventisten?

Da es diese RG unter diesem Namen weder in den USA noch in Europa noch anderswo zu geben scheint, sind wir zunächst auf die spärlichen Angaben angewiesen, die Russell selbst über diese Second Adventists machte.

Zunächst ist unklar, ob die Anhänger des Jonas Wendell alle Second Adventists waren, die es jemals gab, oder ob es sich bei dieser Gemeinde um eine von einer größeren Einheit abgesplitterte adventistische Gruppe handelt. (Wir tendieren zur zweiten Vermutung, d.h. also Splittergruppe). Mehr wissen wir über die Glaubensaussagen dieser Leute:

Sie glaubten an die „göttliche Eingebung der Bibel“ - sie sind also Anhänger der Verbalinspiration. Heute müssten sie als christliche Fundamentalisten bezeichnet werden. Das bestätigt auch eine weitere Äußerung Russells in diesem Zusammenhang: Für sie sind „die Aussagen der Apostel und der Propheten unzertrennlich miteinander verbunden“

41

. Anders gesagt: Die biblischen Aussagen des Alten und des Neuen Testaments haben dieselbe Wertigkeit, liegen auf gleicher Ebene und widersprechen sich nicht.

Sie lebten in der Naherwartung des (für sie erlösenden) Weltendes. Christus würde sichtbar wiederkommen („im Fleische“). Die Welt und alles darinnen, ausgenommen die Adventisten selber, würden im Weltenbrand untergehen. Dies apokalyptische Großereignis würde „um das Jahr 1873 oder 1874“ Weltgeschichte gestalten

42

.

Die Glaubensaussagen der klassischen Kirchen taugen alle nichts, sind voller Irrtümer und Heidentum. Insbesondere ist die Unsterblichkeit der Seele heidnisch, richtig ist es, von der Sterblichkeit der menschlichen Seele zu sprechen.

Die Naherwartung des Weltendes, der Termin der Erschaffung der Welt und alle anderen wichtigen Daten der Heilsgeschichte und der beginnenden Kirchengeschichte lassen sich zuverlässig und genau durch Kombination von Bibelstellen von dazu berufenen Wahrheitssuchern erforschen. Unklar ist, ob diese Gruppe Aussagen über das Tausendjährige Reich der Offenbarung des Johannes macht, also über das „Millennium“. Und, wenn ja, welche. (Später für Russell und die ZJ ein ganz wichtiger Bibeltext).

Noch ohne Bedeutung scheint für diese Adventisten die bei den Siebenten-Tags-Adventisten hochgeschätzte Lehre vom Sabbat als dem siebenten Tag der Woche zu sein - jedenfalls sagt Russell nichts darüber.

Ein besonderes Kapitel ist die Unruhe, die das Erscheinen von Charles Darwins Buch über „Die Entstehung der Arten“ auslöst. Das wissenschaftliche und religiöse Denken jener Zeit wird revolutioniert. Darwins Lehre von der Evolution stellt für viele Fromme die Aussagen der Bibel über eine Schöpfung durch Gott total infrage. „Dadurch wurde der Bibelglaube vieler untergraben“ - so sieht es 1993 ein historischer Rückblick der ZJ

43

. Andere lassen eine liberale Bibelauslegung zu. Viele Kirchen und Gemeinden stellen die Bewertung der Evolution in die Gewissensentscheidung des Christen. Keine Frage: Die Second Adventists sind entschiedene Gegner des Darwinismus. Für die schlichten Geister der Zeit nach Darwins Buch (1859) erschöpfte sich die Auseinandersetzung mit Darwins Gedanken und Argumenten in der falschen, aber für christlich gehaltenen Alternative: die Bibel oder Darwin? oder auch: Schöpfung oder Evolution? Wenn Russell 1912 sein „Photodrama der Schöpfung“ unter die Leute bringt und die WTG bis in die Gegenwart Artikel zum Thema bringt

44

, dann wirkt hier das Bibelverständnis nach, das Russell von den Second Adventists übernahm!

Zwar hat Russell in den mir zugängigen Texten der siebziger Jahre sich nie namentlich auseinandergesetzt mit Darwin und der von ihm ausgelösten Lehre der Evolution. Doch weist die Darstellung der ZJ selber im Rückblick auf diese Anfangszeit mehrmals auf Darwins „Entstehung der Arten“ hin und die Glaubenskrisen, die das neue Denken auslöste45. Russell selbst spricht von seinem „erschütterten Glauben an die göttliche Eingebung der Bibel“ - so reden Fundamentalisten von der Bibel46. Genau diese Art von Bibelverständnis vermittelten ihm die SECOND ADVENTISTS.

Entscheidend ist für die Zukunft:

Diese hier aufgelisteten Glaubensaussagen haben die Bibelforscher Russells und die aus ihnen hervorgehenden ZJ immer beibehalten. Ihr Glaube ist bis heute ein fundamentalistisches Bibelverständnis.

Das damalige weltanschauliche Umfeld Russells

ist geprägt und bestimmt durch religiöse Außenseiter, die endzeitliche Visionen vom vermeintlich nahe bevorstehenden Weltende haben. In Betracht kommen hier vor allem kleine religiöse Gruppen. Zunächst aus dem amerikanischen Umfeld William Miller, der seit 1816 die leibliche und sichtbare Wiederkunft Christi für 1843 oder 1844 voraussagt - folgenschwer; denn seine Aktivitäten führen zu relativ vielen adventistischen Kleingruppen - eine davon sind die Second Adventists47.

Dann wurde Russell aufmerksam auf die „Irvingianer“ in England, die endzeitliche Termine für 1835, dann für 1838, dann für 1864 und endlich für 1866 veröffentlichen. Auch der deutsche Bibelausleger Bengel mit seiner Berechnung für den Anbruch des Millenniums auf 1836 blieb ihm nicht verborgen.

Dann kamen andere Endzeitberechner in sein Blickfeld. Etwa die Gruppe von Elliot und Cumming, die erwarteten Weltbewegendes von 1866. Brewer und Decker, andere apokalyptische Rechner, hofften auf 1867.

Ein gewisser Seiß hatte 1870 als Weltende ausgegeben, in Russland gab es eine mennonitische Gemeinde, die das Datum 1889 ausgerechnet hatte. Dann 1891.

Wichtig wurde für Russell die Lektüre einiger christlicher Zeitschriften. So gab ein George Storrs (1796-1879) eine Zeitschrift heraus: „The Bible Examiner“ (Prüfer der Bibel). Dessen Weltende-Termin war 1870. Dasselbe Datum hatte auch H.B. Rice errechnet und in „The Last Trumpet“ veröffentlicht.

Russells Lesestoff wurde noch ergänzt durch die Zeitschrift „The Herold of the Morning“, herausgegeben von N.H. Barbour, Rochester, New York. Der leitete auch von dort aus die Gruppe „enttäuschter Second Adventists“ - auf diese Splittergruppe stieß dann Russell 1869 in einem verschmutzten Kellerlokal. Bei ihnen erfuhr er weitere biblisch errechnete Endzeittermine: erst 1873, dann 1874.

Zeitlebens sah Russell in Jonas Wendell, dem Leiter der örtlichen Gruppe in Pittsburgh, und in einem George W. Stetson, Leiter der „Adventistisch-Christlichen Kirche“ in Edinboro / Pennsylvania, nach Russell ein „gewissenhafter Erforscher der Bibel“, Männer, die ihn im Bibelstudium weiter gebracht haben48.

Für Russell war diese Dichte endzeitlicher Voraussagen aus der Bibel ein unbezweifelbares Zeichen des nahenden Weltendes.

Jeder Kirchenhistoriker hätte Russell informieren können, dass es in jedem Jahrhundert der bisherigen Kirchengeschichte Männer gegeben hat, die Krisenzeiten als Vorboten des Weltendes verstanden: Kriegsnot, Pestzeiten, Erdbeben, Hungersnöte oder kriegerisches Wettrüsten.

Das aber waren nicht die Quellen, die Russell befragt hätte. Ihn beeindruckte, dass alle oder fast alle der Genannten aus der Bibel diese Naherwartung des Weltendes herausgelesen hatten. Da musste etwas „dran sein“. Er sah es als seine Sache an, die Berechnungsfehler seiner Vorgänger festzustellen und neue biblische Berechnungen anzustellen.

Die Kriegsnöte seiner Zeit nahm er wahr und bewertete sie als nahes Weltende. Später wird er in dem 4. Band seiner Schriftstudien diesem Thema ein ganzes Buch widmen, mit Statistiken zu diesem Sachverhalt geradezu vollstopfen und zu einer heute ungenießbaren Lektüre machen.

Dafür entgeht ihm viel Wichtigeres. Das proletarische Massenelend in den Großstädten und die Armut in den Arbeitervierteln haben die Entkirchlichung und Entchristlichung zur Folge - und das in der Industriestadt Pittsburgh. Ihm entgeht die erste Hochblüte des Sozialismus und des Kommunismus, ihm entgeht das Wachstum des Atheismus und der Bildungsnotstand in den Elendsquartieren. Zur Lösung der sozialen Frage macht der Kaufmann Russell keinen einzigen Vorschlag - er hatte ja die Möglichkeit und die Mittel mindestens zu einem Modellversuch.