Soladum - Suche des Sonnenpatrons - Danny Fränkel - E-Book

Soladum - Suche des Sonnenpatrons E-Book

Danny Fränkel

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Beschreibung

Thomas Ortwig steht vor dem Abiturabschluss. Kurz davor verübt er ein schweres Verbrechen. Bei seiner anschließenden Verhaftung verhilft ihm ein Schamane in die Anderswelt 'Soladum' zur Flucht. Dort soll er das verödete Land nach dem Sonnenpatron durchsuchen. Allein dieser mächtige Schamane kann die herrschenden Unterdrücker des Landes vertreiben und es in die alte Pracht zurückverwandeln. Thomas versucht sich der Bestimmung zu widersetzen. Aber er kann nicht zurück, da auch seine Freundin nach Soladum entführt wurde und in größter Gefahr schwebt.

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Seitenzahl: 429

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Danny Fränkel

Soladum

Die Suche des Sonnenpatrons

Zum Autor

Danny Fränkel liest und schreibt seit seiner frühesten Jugend leidenschaftlich gerne Fantasy- und Alltags-Geschichten. Nach einer mehr als zweijährig währenden Wanderung durch Europa, auf der nur der Rucksack und einige Recherchenbücher seine ständigen Begleiter waren, legt Danny Fränkel hiermit sein Zweites Werk vor, dessen letzte Redigierung nach einer Odysee als Selbstversorgerbauer im Balkan Osteuropas erfolgte.

Heute ist er leidenschaftlicher Landschaftpfleger in Oberfranken.

Soladum

Die Suche des Sonnenpatron

Eigenverlag Danny Fränkel

Genehmigte E-Book-Ausgabe No. 1

Alle Rechte vorbehalten bei Danny Fränkel

1. Auflage 2020

E-Mail: [email protected]

Widmung

Für mich

Soladum – Die Suche des Sonnenpatrons

Prolog:

Er verwandelte sich. Seine Lunge füllte sich mit der umgebenden Kälte. Er blieb ruhig, doch seine Gedanken rasten! Er begann zu schweben. Sein Gesicht verschmolz mit der Krähenmaske, die sich wie Lava gegen die Haut brannte. Er wollte schreien.

Plötzlich spürte er einen kräftigen Ruck, als sause er mit einer Achterbahn hinab. Magensaft benetzte seine Zunge.

Thomas atmete tief durch bevor er seine Krähenaugen öffnete.

Er erschrak. Nicht weil ihn das welke Grasland vor sich und der schwefelige Gestank irritierten, sondern die schiere Weite aus Bächen und Wegen unüberwindbar schien. In einem Gebiet so groß wie Deutschland, fand er die Hilfsgeister nie!

Wütend spreizte er seine Krähenschwingen, sah zum sonnigen Himmel und hob ab. Er schrie, statt des Vogelgesangs zu lauschen. So überschlug er sich, prallte in einen Baumwipfel und brach sich einen Flügel. Während der überschattenden Ohnmacht hörte er den Bach unter sich plätschern, fiel in die kalte Strömung und ertrank.

Thomas erwachte aus der Trance. All seine Glieder schmerzten. Nach Luft schnappend riss er sich mit der Linken die hölzerne Krähenmaske ab und warf sie davon. Während sie in der Dunkelheit der Höhle schepperte, biss er sich auf die Lippen: Sein rechter Arm lag an der Taille und rührte sich nicht – außer unter höllischen Schmerzen. Er muss ihn sich in der Unterwelt gebrochen haben.

Bevor er vorwerfend knurren konnte, schrie jemand. „Du Narr!“ Das Echo hämmerte unbarmherzig in seine Ohren. „Wie willst du deine Schutzgeister finden, wenn du dich selbst verstümmelst?!“

Derart zornig hat Thomas den Alten noch nie erlebt. Er begann zu zittern, als es auf dem Pfad im Höhlensee raschelte, der zu seinem Liegestein führte.

„Denkst du, die Götter machen es dir einfach?“, rief der alte Mann, der in völliger Finsternis auf ihn zumarschierte. „Da bin selbst ich besser als du, trotz meiner dreihundert Jahre!“

Thomas begann zu keuchen.

Die Schritte wurden lauter, bis sie plötzlich verstummten. Thomas konnte den heißen Atem des Alten spüren. Plötzlich umfassten zwei Hände seine Achseln und hievten ihn hoch.

Er unterdrückte einen Schrei, als die kräftigen Arme abließen und er vor Schmerz in das schwarze Nass zu fallen drohte. Der Alte erhob stattdessen die Stimme: „Wärst du mit deinem Schädel gegen den Baum geprallt, hätte sich deine Freiseele gelöst. Weißt du, was das heißt?“

Thomas schwieg und trat einen Schritt zurück.

„Dein Krähenkadaver wäre jetzt Frischfleisch für die Dämonen!“

Obwohl der Konflikt einseitiger nicht sein konnte, knirschte Thomas die Kiefer. „Lass’ mich in Frieden“, und trat am Mentor vorbei, verfehlte beinahe den Pfad und stürmte blindlings aus der Höhle.

Trotz der Bewölkung, die ihn begrüßte, blendete ihn das Licht. Er hatte sogar mit dem Gleichgewicht zu kämpfen. Sein Arm hing schlaff hinab. Er verlangsamte seinen Schritt und betrachtete die wirbelnden Sanddünen um ihn herum. Hitze – wie in der Kalahari – trieb ihm den Schweiß aus den Poren. Er stampfte weiter über aufgerissenen Sandboden. Alles wirkte tot und ohne Leben.

Endlich erreichte er sein Zelt. Es bestand ganz aus zottig-braunem Lamafell. Als er die Plane aufschlug, atmete er tief ein. Rechts neben einem aufrecht stehenden Breitschwert, das am Innenzelt lehnte, verteilten sich zwei schmucklose, okerfarbene Holztruhen. In denen befanden sich Kleidung und Fachbücher. Fachbücher über die Zauberkunst dieses Reiches.

Vor den Truhen lag ein zwei Meter langer Teppich mit blau, schwarz und orange gestickten Reliefs. Hierauf schlief, saß und studierte er die Bücher des Mentors.

Rasch stülpte er sich die dreckige Kutte ab und setzte sich halbnackt auf den Teppich. Als er die Beine kreuzte und die Augen schloss, strömte wohltuende Wärme vom Boden auf. Thomas versank in tiefer Meditation.

Zog nicht plötzlich jemand die Zeltplane zur Seite? Thomas wagte nicht die Augen zu öffnen, als die Stimme des Mentors erklang: „Es tut mir Leid. Ich darf wirklich nicht zu viel von dir verlangen. Selbst ich habe zehn Jahre gebraucht, bis ich den ersten Grad der Erleuchtung errang. Dennoch bleiben ‚dir’nur wenige Monate – wenn überhaupt.“

Thomas schnaufte ohne aufzusehen. „Eure Anforderungen sind verrückter als die in meiner Welt.“

„Ich weiß, dass dir dein Reich am Herzen liegt. Aber wenn du zurückkehrst, sperren sie dich ein.“

„Wessen Schuld ist das wohl?“

Die Stimme des Alten dämpfte sich: „Es war deine Entscheidung. Und du hast die Macht ausgekostet, egoistisch wie du bist!“

Thomas wollte erwidern, schnitt ihm nicht der Mentor das Wort ab: „Wenn ich könnte, würde ich mein Land selbst retten. Doch die Tyrannen sind zu schnell und gewitzt für mich.“

Thomas wollte nichts mehr hören und versank in seinen Erinnerungen. Wäre dieser alte Mann nicht in sein Leben getreten, hätte er eine bessere Zukunft angestrebt, wäre sein eigener Herr geblieben und mit Achtung behandelt worden. Vor allem dachte er an ein Mädchen, das er seit Kleinauf kannte und dessen Herz er zurückerobern wollte.

Er öffnete seinen verklebten Mund und flüsterte tief und innig: „Christine.“ Ein Engel mit wachen Augen und blondem Haar, das wie das Fell einer Gazelle im Sonnenschein schimmerte.

Kapitel 1Alte und neue Wunden

„Thomas, fang!“, rief Sasha ihm zu. Er sah zu spät, wie der Basketball auf seine verträumten Augen zuflog. Sein Nasenbein knackte, worauf der Ball achtlos auf den Boden hüpfte.

Er blickte seinen Freund Sasha verwirrt an. Der Sportlehrer pfiff dagegen in die Halle: „Vier zu Drei für die Mädchenmannschaft. Fünf Minuten Pause!“

Thomas war leider nicht in der Mädchenmannschaft. Sie haben fast verloren. Als wäre das das Ende des Welt stürmte Sebastian Schulz – der Klassenheld und Neonazi der 12b – auf Thomas zu. „Hast wohl wieder geträumt, Ortwig?“ Er packte Thomas am durchnässten T-Shirt, zog ihn hoch sodass sich ihre Blicke kreuzten. „Wenn wir wegen dir verlieren, schlage ich solang auf dich ein, bis du Hundefutter bist!“

Thomas’ Wut loderte auf. Doch blieben seine Lippen geschlossen. Er betrachtete den schwarzen Seitenscheitel, der noch perfekt auf dem neonazistischen Kopf saß.

Zu Schulz gesellten sich zwei halbstarke Glatzköpfe, die ihn anfeuerten: „Mach’ ihn fertig.“

Schulz presste Thomas’ Hals zusammen. Er sah plötzlich kantige Punkte und hörte kaum noch Sashas Ausruf: „Hört auf damit!“, und wie die Glatzköpfe ihn wegstießen.

„Lass ihn in Ruhe, Basti“, schien das Letzte, was er wahrnahm. „Es ist bloß ein Spiel.“

Thomas’ Atemwege öffneten sich wieder. Er registrierte alles um sich in solcher Intensität, dass er erstarrte: Sämtliche Schatten, Umrisse und der Glanz der an den Seiten stehenden Geräte; das Quietschen zwischen Parkett und Sohlen der herumalbernden Schleizer Gymnasiasten; der bittere Geschmack von Galle, die seine Speiseröhre hinaufschoss; und Christines Anblick in ihrem gelben und voll geschwitzten Trainings-Shirt sowie den haselnussbraunen Augen. Diese wechselten den Blick zwischen ihm und Sebastian Schulz, als könne sie sich nicht für einen der beiden entscheiden. Bis sie sich plötzlich an Schulz’ Taille schmiegte. „Er ist es nicht wert.“ Sie sah lächelnd auf. „Ich aber umso mehr – oder Basti?“

Thomas hörte Schulz’ Schlucken und konnte sich vorstellen, was dieser sich für heute Nacht ausmalte.

„Nur weil ihr gewonnen habt?“ Schulz’ böses Funkeln wich der Vorfreude.

Gegen Thomas’ Kehle drückte ein Kloß. Was Frauen nicht alles für eine ansehnliche Zukunft gaben? Schulz’ Vater war eben der Chef eines renommierten Waffenhandels in Westdeutschland.

Aber war Thomas aus dem Martyrium heraus. Er sah Sasha an und winkte ihm hektisch in Richtung Umkleide.

Obwohl Thomas nach der Pause den Ball fing und sogar den Korb traf, verlor die Jungenmannschaft. Die Spieler vergaßen ihre Niederlage schnell als sie ausgelassen ihre Tagespläne austauschten. Allein Sebastian Schulz kochte vor Wut.

Es war später Nachmittag, als sich die Zwölft-Klässler– umgezogen – vom Sport verabschiedeten. Schulleiter, Lehrer und Schüler waren längst daheim.

Thomas und Sasha durchquerten gerade das Haupttor. Da aber saß Schulz mit den Glatzköpfen auf dem Bürgersteig. Sie hielten Bierflaschen in der Hand und rülpsten. Schulz grinste Thomas zu. „Was glotzt du so? Hast wohl Langeweile? Die treiben wir dir schnell aus!“ Zum Glück waren diese Drei die einzigen Neonazis der Stadt, dafür umso skrupelloser.

Alarmiert begannen die beiden schneller zu laufen. Schulz’ Konvoi setzte nach. Sie rannten nicht den Hauptweg hinunter, sondern die Nebengasse zur Bushaltestelle. Dort würden sie die fünfhundert Meter zur nächsten Haltebucht fahren und hätten die Neonazis abgehängt.

Der Rucksack scheuerte an Thomas’ Schultern. Er hörte die Sprünge der Springerstiefel lauter werden. Sasha keuchte, während er Thomas einholte: „Der nimmt die Niederlage ernst!“

Sie stürmten vorbei am abgerissenen Regelschulgelände, an Parkverbotsschildern, Gartenzäunen und Hecken. Da war die Hauptstraße. Sasha sprang durch eine Verkehrslücke. Vor Thomas aber rauschten dutzende Klein- und Lastwagen vorbei, deren mitgezogener Wind ihn zurücktaumeln ließ.

Sasha rannte in den wartenden Bus und bat die Fahrerin zu warten. Die tippte auf ihr Armaturenbrett. „Wir haben einen Zeitplan, Junge“, und fuhr an.

Thomas versucht krampfhaft über die Straße zu kommen, da rissen ihn nicht kräftige Hände zurück. „Das war’s, Blindschleiche“, rief Schulz, der seine Schultern fast zerdrückte. „Jetzt wirst du büßen.“

Er sah nur noch den Bus davon rauschen, während sie ihn zu dritt zurück zerrten; Richtung Schule. Was hatten sie mit ihm vor? In einen Spint sperren? Thomas wusste zu gut, dass ‚dieser’Neonazi nicht mit solchen Spielen scherzte. Spürte es zugleich: Ein Nasenhaken und Thomas schleppte sich benommen hinterher. Er nahm bloß wahr, wie sie ihn unter eine abgesperrte Terrasse – über dem der Sportplatz lag – zerrten. In den schattigen Winkeln, die kaum sichtbar waren, warfen sie ihn hin. Er prallte gegen scharfe Metallteile. Überall lagen Berge aus Schrott und Sperrmüll, den nie jemand entfernt hat.

Abrupt packte Schulz ihn am Kinn und quetschte daran. Er wollte sich wehren, doch versagten seine Kräfte.

„Du hältst dich für besonders schlau – was?“ Schulz verpasste ihm eine Ohrfeige. „Lässt dich von Christine beschützen. Ich weiß, dass du es mit ihr treiben willst. Sie gehört mir, klar!“, und schupste Thomas erneut in den scheppernden Schrotthaufen.

Als er sein zerkratztes Gesicht erhob, stieß Schulz’ Stiefel gegen seine Brust und presste solang darauf, bis er ohnmächtig wurde.

Trotz der Genugtuung spuckte Schulz auf sein Gesicht: „Du und Christine habt meine Ehre verletzt! Dafür wird auch sie bezahlen.“ Noch ein kräftiger Hieb gegen seine linke Schulter und Schulz wandte sich der leblosen Gestalt ab. Hier sollte er bleiben, bis die Ratten an ihm nagten oder er in der spätherbstlichen Nachtluft erfror.

Doch ließ ein Nerv in Thomas’ Hirn nicht los. ‚Christine.’ Er musste ihn aufhalten, und keuchte: „Du und Ehre! Du hattest nie welche, feiges Schwein!“

Kaum fiel er wieder ins Halbdunkel zurück, rissen ihn zwei Hände hoch. „Was? Willst du mich provozieren?!“

Thomas lächelte nur. Da brodelte etwas in ihm, was stärker war als Wut: Ein Gefühl der Verantwortung. Er musste Christine vor einer Vergewaltigung bewahren. Wie viele Gräuelgeschichten hatte er über Schulz’ frühere Freundinnen gehört.

Abrupt hob er Schulz das Knie in die Hoden. Er schien ihn loszulassen, stöhnte vor Schmerz, wurde kreidebleich … und stieß Thomas in die Eckwand. Sein Kreuz knackte. Schulz holte aus, schlug ihm ins Gesicht, immer und immer wieder. Er wollte nicht umfallen. Schulz schlug ihm in den Bauch, trat gegen die Knie und seine Kehle. Schließlich sank Thomas ohnmächtig zusammen.

Schulz wollte weiter auf ihn einprügeln, zerrten ihn nicht die Glatzköpfe weg. „Es reicht, Basti. Er merkt eh nix mehr.“

„Das Schwein hat mich verstümmelt!“

„Leg’ was Kühles drauf. Die Kleine kann doch bis morgen warten.“

So ließen sie Thomas im Schrotthaufen zurück. Keiner ahnte, was die Drei im toten Winkel der Terrasse getan haben. Nur eine wurde stutzig.

Ein dumpfes Pochen ließ ihn erwachen. Sofort brannten die Schmerzen in Gesicht, Bauch und Knie auf. Dennoch fröstelte ihn in der Dunkelheit.

Wie durch einen Reflex griff er nach der Decke und zog sie hoch. „Was?“ Sofort riss er die Augen auf. Obwohl sie schmerzten, als hätte Säure seine Tränen ersetzt, sah sich der Achtzehnjährige um. Was er sah, erkannte er nicht als Krankenhauszimmer oder Schrottplatz wieder. Es war ein Zimmer, an dessen Wänden Grönemeyer, Stürmer und andere Poster deutschsprachiger Charaktere hingen. Auf einem kleinen Tisch am Fenster stand ein Notebook sowie verstreute Musik-CD’s. Auf der Decke, die Thomas umhüllte, waren buddhistische Mandalas eingestickt. Dieses Zimmer kam ihm bekannt vor.

Er entsann sich, dass ihn jemand abgestützt hat und er zu kämpfen hatte, nicht tiefer in Ohnmacht zu sinken, während sie liefen.

Bloß: Wo war er? Er versuchte sich aus dem Bett zu stemmen. Doch fiel er zurück. Wogen aus Muskelkatern jagten durch seinen Leib. Er unterdrückte einen Schrei. ‚Wer hält mich in dieser Welt gefangen?!’

Plötzlich öffnete jemand die Tür. Eine verschwommene Gestalt trat herein. Als sie sich näherte, stockte ihm der Atem: Er lag in Christine Munzes Reich. Vor ihm stand sie, mit ihrem warmen Lächeln und den lehmbraunen Augen. Sie gebot ihm mit der Hand, liegen zu bleiben.

Zu spät. Er spürte Schmerzen durch seinen Rücken hinabfahren, als wären einige Rippen geprellt. Sein gesamter Körper fühlte sich wie zerhackt an. Schließlich gelang es Thomas zu stottern. Seine Zunge war trocken und verklebt. „Was … ist passiert?“

Christine antwortete mit schierer, wutverzerrter Miene: „Sebastian und seine Clique haben dich verprügelt. Ich sah sie von der Sportterrasse weggehen. Darunter habe ich dich gefunden und mitgeschleift. Wie viel wiegst du eigentlich?“

Beide begannen zu lachen. Thomas vergaß das Martyrium. „Siebzig Kilo. Mehr ist an mir nicht dran.“

Doch legte Christine ihr Grinsen rasch ab. „Geht es dir etwas besser?“

„Keine Ahnung. Alles ist taub.“ Er betrachtete kurz seine aufgeschürften Hände. „Hast du einen Spiegel?“

Sie zuckte zusammen, bis sie nickte und aus dem Schrank einen Handspiegel nahm. Um den Moment zu verkürzen, drückte sie ihn Thomas rasch in die Hand.

Auch er sog tief Luft ein und betrachtete sein Gesicht so genau, als würde er noch stundenlang darauf starren: Sein Kopf war vom roten Haupthaar bis zum Kinn mit Schrammen und blutigen Schwellungen versehen. Der Kontrast zwischen Lila und Blau ekelte ihn. Seine starken Wangenknochen knackten wie Mühlsteine. Genauso schmerzte es auch in seinem Kopf. Er betastete einige Kratzer. Seine Haut war ein Gebilde aus Hügeln.

Er hatte Schulz provoziert, um Christine vor Schaden zu bewahren. Auch wusste er, dass Christine danach tagelang nicht zur Schule gekommen wäre. Sie kannten sich seit ihrer Kindheit.

„Wenn ich früher gekommen wäre“, unterbrach sie seine Gedanken, „hätte ich das verhindern können. Tut mir Leid.“

Thomas schüttelte barsch den Kopf: „Es ist nicht deine Schuld. Eigentlich sollte sich jeder um seinen eigenen Kram kümmern.“

Sie schien ihn nicht gehört zu haben. „Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte …“

„… wäre das Sackgesicht nie in unser Leben eingedrungen. Aber das kann man nicht. Man muss die Welt nehmen wie sie ist.“

Christine nickte nur. „Kommst du allein nach Hause oder soll ich helfen?“

„Das schaff’ ich schon. Ich bin in wenigen Tagen wie neu.“

Als er mit Schwung aufstand, knackte sein Rücken. Ein Schmerzensschrei und er fiel zurück.

„Wirklich nicht?“

Er sah sie grimmig an. Ihm wurde schwummrig und er verlor das Gleichgewicht. Christine umklammerte ihn, bis er sich fing. Am liebsten hätte sie ihn noch länger umarmt.

Da drückte Thomas sich von ihr ab und musterte sie grimmig. „Den Rest mache ich allein. Kümmere dich um dich … und pass mit Schulz auf. Er hat Andeutungen gemacht.“ Thomas schnappte seinen Rucksack neben dem Bett, hinkte mit den pochenden Knien zur Tür hindurch.

Christine folgte ihm, doch war er bereits im Treppenaufgang. Sie rief über ihm über das Geländer gute Besserung zu.

Thomas lächelte hinauf und verschwand auf dem Gehweg des Wohnblockgebietes Am Oelschweg. Durch ein Aufgangsfenster seufzte sie ihm nach. ‚Ein Danke wäre das einzige, was ich erwartet hätte.’ Sie wusste jedoch, dass mit Schulz’ Erscheinen vor fünf Jahren, Thomas’ Temperament keine Achtung mehr geschenkt wurde. Seither verbarg er seine Gefühle und Hilfsbereitschaft.

Vorbei an einigen Einbiegungen, einem Elektrowerk und über einen Feldweg gelangte er zur Schleizer ‚Glücksmühle’ – seinem Familienhaus. Von außen ‚wirkte’ es wie ein einigermaßen hergerichteter Bauernhof mit Pferdeweide.

Hinkend trat er durch die Tür. Der Weg war schmerzhafter, als alles, was er je erlebt hat. Nach den ersten Metern des Marsches warf er sich vor, Christines Hilfe nicht angenommen zu haben. Jetzt war es neun Uhr abends und morgen stand eine Klassenarbeit an. Er stöhnte, beugte sich vornüber und stürmte aufs Klo, um sich zu übergeben.

Als er erleichtert auf den Flur trat, hörte Thomas laute Knallereien aus der Wohnstube. Er wollte in Deckung springen. Da merkte er, wie sein Vater ein James-Bond-Video ansah. Neben dem Sessel türmten sich Bierflaschen in die Höhe.

„Schon zurück, Söhnchen?“, rief Thomas’ Vater mit kratzender Stimme, ohne sich umzudrehen. „Sei so lieb und hol’ mir noch eine Flasche.“

Thomas roch die saure Bierfahne, ohne näher zu kommen. „Hol’ sie dir selber, Saufbold!“

Dieser drehte sich verdutzt um und beugte sich über die Lehne. „Hast gefälligst zu tun, was ich sage, sonst …“, und stürzte auf die scheppernden Bierflaschen.

Thomas winkte nur ab und torkelte die Treppe hinauf.

So tief war die einst so ehrbare Bauernfamilie gesunken. Statt ihr Feld zu bestellen, Kühe zu melken und Pferde als Geldeinnahme (für einen Reithof) aufzuziehen, verwahrlost alles auf dem Hof. Selbst das Gemäuer bröckelte bereits.

Seit sein Vater vor einigen Jahren wegen eines Wutausbruches im Agrarbetrieb entlassen wurde, trank er täglich in der Kneipe, und abends daheim. Thomas’ Mutter ging ihm meist aus dem Weg. Deshalb hat sie die Stelle als Reinigungskraft angenommen. Sie arbeiteten meist nur in Spätschichten, und trat so der unerträglichen Zeit mit Thomas’ Vater aus dem Weg.

Allein konnte er die Arbeiten auf dem Hof nicht übernehmen. Genauso fehlte ihm die Bezugsperson, mit der er einst über alles (sogar über die Pubertät) reden konnte. Seine Mutter sah er nur ab und zu, wenn er nachts zur Toilette musste und sie am Kühlschranke kauerte. Wo sollte das hinführen? Sein eigenes Leben geriet nun ebenso aus den Bahnen: Er stand kurz vor der Abiturprüfung, aber war zu unkonzentriert beim Lernen. Aussichten auf einen interessanten Beruf hat er nicht. Zum Studieren fehlt ihm Geld und Geduld.

Während des Duschens bemerkte er weitere Druckstellen, die schlimmer schmerzten als sein Gesicht. Alle offenen Wunden brannten unter dem Wasser.

Den Rucksack in die Ecke geworfen, setzte Thomas sich – im finsteren Zimmer – aufs Bett. Sein Kopf qualmte; der Körper schmerzte. Er stand vor einem Wutausbruch, setzte die Hände auf die zerzausten Haare und wollte sie raufen! Stattdessen atmete er tief ein ‚Eins, Zwei, Drei, Vier’, hielt die Luft an ‚Eins, Zwei, Drei, Vier’ und atmete aus ‚Eins, Zwei, Drei, Vier’ – und immer wieder. Seine Muskeln entspannten sich. Er konzentrierte sich nur auf das Zählen. Der Schmerz und alle Sorgen schoben sich weit vom Bewusstsein fort. Er fühlte sich leichter, entspannter und allein auf die Meditation bedacht.

Keine Viertelstunde später schlief er ein.

Kapitel 2

Flucht

Thomas erschrak. Allein in Unterhosen stand er auf derbem Boden. Er hat nicht gemerkt, wie er aufgestanden war. Um ihn erstreckte sich eine Ebene aus umherwirbelndem Sand. Darüber schwelte nicht die Sonne, sondern eine dunkel schattierte Wolkenbank. Sie plusterte sich auf. Es war heiß.

Obwohl er sich umgeblickt hat, erspähte Thomas plötzlich drei wankende Palmen und einen glitzernden Teich in der Mitte. Seine Kehle wurde trocken und er stampfte zwanzig Meter zur Oase hin. Seine Füße brannten mit jedem Schritt. Ein kräftiger Windstoß drückte ihn nach hinten.

Am Rand der sich kräuselnden Nässe ließ er sich nieder. Er wollte hinein springen und trinken, als er plötzlich sein Gesicht spiegeln sah. Er betastete die Schwellungen und blutigen Abschürfungen. Sie brannten, als züngelte das Höllenfeuer daran; und er verfluchte ihren Verursacher: Sebastian Schulz. Dieser sah das Leben als Spiel – er war der Spielmeister. Jeder hatte ihm zu huldigen. Nur Thomas widersetzte sich seit jeher, zollte ihm weder Respekt und winkte ab.

Wie oft wünschte Thomas sich, dass Schulz sich das Genick brach.

Plötzlich knurrte etwas vor ihm. Er blickte auf und sah zwei Kröten, die nebeneinander quakten. Dann aber sprachen sie abwechselnd zu ihm: „Du hasst ihn.“ „Willst du Genugtuung?“ „Willst du Respekt?“ „Willst du das Mädchen?“ „Willst du Schamane werden, Thomas Ortwig?“

Genau das waren seine Sehnsüchte. Die letzte Frage ignorierte er: Bereits vor seiner Pubertät hatten sich ihm Eulen, Hirsche, einmal sogar ein verstorbener Verwandter gezeigt, die ihm ähnliche Fragen ins Ohr hauchten. Jedes Mal war er schweißgebadet aus dem Bett hoch geschreckt. Warum heute nicht?

Er legte seinen Kopf in den Nacken und brüllte: „Ja! Das alles steht mir zu! Und ich will es!“

Wie zur Bestätigung quakten die Kröten und sprangen ins kalte, glitzernde Nass.

In Thomas loderte die Wut auf und er presste die Finger gegen seine Wange. Er spürte weder Schmerz, noch die Wellen, die über den Rand auf seine Füße schwappten. Dann brüllte er aus aller Inbrunst!

Plötzlich stiegen Blasen aus dem Wasser. Er schrie weiter und schlug seine Fäuste in den Sand. Über dem Teich sammelte sich heißer Dunst, der zu brodeln begann. Hitze schlug in sein Gesicht.

Endlich hielt er inne. Ein Anflug von Panik überrannte ihn. Heißes Wasser schwappte auf seine Füße. Vor Schmerz hätte er flüchten sollen. Doch beobachtete er weiter, wie sich die Wellen ballten, höher stiegen und immer höher. Was geschah hier?!

Eine der Wellen verschlang die andere und peitschte auf Thomas zu. Da riss die siedende Flutwelle ihn bereits mit. Er schluckte Wasser und fürchtete zu ersticken. Statt zu kochen, wurde er eins mit dem Element. Er konnte sich frei bewegen und fühlte, wie das Wasser seinen Leib rein wusch.

Dann zerschellte die Welle auf dem Sand.

Keuchend schrak er hoch. Er lag auf seinem Bett. Einzelne Sonnenstrahlen wanderten über den Horizont und die letzte Wolke löste sich am Himmel auf.

Jetzt erst bemerkte er den Wecker, der unentwegt schellte. Hektisch schlug er ihn aus und sprang auf: Sieben Uhr. In dreißig Minuten begann die Schule und in zwanzig fuhr der Bus ab!

Während er seine Sachen überstülpte, stoppte er und trat an den Spiegel. Was er sah, verwirrte ihn: Sein Antlitz war mit Rissen und Beulen übersät. Bloß glänzte bereits wieder gesunde Haut darauf. Hat ihn der Schlaf derart geheilt?

Egal; er musste sich beeilen!

Nach aller Hast erreichte er den Bus. Auch Christine saß darin, betrachtete ihn kurz, sah aber wieder weg. Thomas setzte sich vor sie und bemerkte ihre Blicke, die sich auf ihn legten.

Als Thomas in den Klassenraum marschierte, vernahm er allerhand Gequassel: „Guckt mal, was ich gestern gekauft habe.“ Übertriebenes Staunen auf eine Halskette folgte bei den Mädchen. Allein Christine, die sich an Thomas vorbeizwängte, interessierte das nicht.

Oder: „Habt ihr vom Rohrbruch auf dem Neumarkt gehört? Da entsteht zurzeit ein Tümpel.“

Sein Blick fiel auf Sebastian Schulz, der mit hochgelegten Beinen am hinteren Tisch saß. Dieser flüsterte zu seinen Glatzkopf-Nachbarn: „Ortwig müsste im Krankenhaus liegen.“

Thomas setzte sich grinsend neben Sascha, der ihn beunruhigt musterte. „Die haben dich ja zugerichtet.“ Er begann sich zu entschuldigen, da er Thomas nicht helfen konnte. Er selbst verfiel in seine Tagträume.

Die Geografie-Stunde begann. Der Lehrer kam grüßend herein, knallte den Koffer auf den Tisch und rief ebenso launisch: „Zettel raus. Heute nun die Arbeit über die endogenen und exogenen Vorgänge Japans.“

Kaum war die Stunde um, skizzierte Thomas mit Bleistift eine 6 auf die Unterkante seines Blattes. Der Lehrer sammelte alles ein und verschwand.

Keine Minute später nahm Thomas einen Schluck Wasser. Es schmeckte wie das, an dem er heute Nacht fast erstickt wäre. Er schüttelte den Kopf.

Der Albtraum folgte, als sich plötzlich Schulz neben ihn stellte. „Du müsstest aussehen, wie eine gerupfte Gans – oder hast du einen Zwillingsbruder?“ Thomas nahm ungestört einen zweiten Schluck.

Schulz aber packte seinen Arm und drückte ihn zusammen. „Das holen wir hinterm Schulhof nach. Mitkommen!“

Er riss Thomas vom Stuhl. Der wollte sich losreißen, lähmte ihn nicht das Zerren im linken Arm. Christines Aufruf betäubte den Schmerz. „Hör auf, Basti! Du übertreibst langsam!“

Die Wasserflasche fiel zu Boden und lief aus. Schulz war abgelenkt, und Thomas riss sich los.

Schulz stampfte auf ihn zu: „War wohl gestern nicht genug? Heute bestelle ich dir persönlich den Sarg.“

Thomas versuchte an Schulz vorbei zu springen. Hektisch ballte er seine Fäuste und verpasste ihm einen Kinnhaken. Schulz taumelte zurück, stieß aber sein Knie in Thomas’ Magen. Er fiel zu Boden und prallte mit dem Kopf gegen eine Tischkante.

Schulz wankte zornig auf ihn zu. Neben Thomas lief das Wasser aus der Flasche. Es plätscherte, als flute neue Kraft seine Seele. Die braunen Augen wurden von einem Orange aus Flammen übertüncht.

Thomas kam Schulz zuvor, schwang sich auf und packte ihn am Kragen. Sein Kopf dröhnte vor Schmerz. Heute musste er dem Irrsinn ein Ende setzen. „Entschuldige dich oder ich bestelle ‚dir’einen Sarg … Richtung Hölle.“

Schulz zischte: „Du wirst dir wünschen, gestern gestorben zu sein.“

Der Hass vermehrte sich. Er erinnerte sich an seine Wunden. Erinnerte sich, wie er im Traum geschrieen hat. Und spürte die Hitze des Wassers.

Abrupt warf er Schulz zu Boden. „Nie wieder!!“

Der grinste und wollte sich hoch stemmen – begann nicht plötzlich die Luft vor ihm zu flimmern. Ein eigenartiges Pochen drang durch den Raum, wie Trommelschläge. Es wurde heiß. Thomas stieß seine Faust vor. Ein Hitzeschwall packte Schulz und katapultierte ihn wie einen Kanonenschuss gegen die Tafel. Sie brach aus der Schiene und schrammte Schulz’ Schädel. Schlagartig verklang das Pochen.

„Oh Gott“, rief jemand. Keiner rührte sich.

Christine löste sich als erste und rannte zum steifen Sebastian. Sie griff mit den Fingern an seinen Hals. Es verstrichen rasende Pulsschläge, bis sie den Kopf hob. Sie betrachtete Thomas, der regungslos auf seine Hand, dann auf Christine sah. Sie rief mit bebender Stimme: „Er ist tot!“

Thomas stockte der Atem. Leere durchrann seine Augen: Er hat einen Menschen umgebracht!

Entsetztes Wimmern drang durch das Zimmer und steckte jeden mit Panik an. Thomas wirbelte herum und rannte durch die offene Tür.

Er stürmte auf den Korridor, zu den Ausgängen und die Treppen hinab. Die Schüler auf dem Gang huschten zur Seite.

Fast hat er den Ausgang erreicht. Da rammte er plötzlich gegen eine aufschwingende Klassentür.

Es wurde dunkel, endlos dunkel.

Wieder erwachte er mit einem Dröhnen ihm Kopf. Ihn regten die irrealen Träume auf. Am liebsten wollte er gar nicht mehr schlafen, sondern meditieren.

Wieder ähnelten die Umstände denen von gestern: Er lag auf einer Liege. Christine saß neben ihn und bemerkte, dass er bei Bewusstsein war. Wärme breitete sich in seiner Seele aus. Christine aber war aschfahl, wie eine verwelkte Blüte. „Sie wollen dich abholen.“

Seine Erinnerung schwebte im Nebel. „Wer?“, krächzte Thomas.

Ihre Miene wurde steif, während sie einen kalten Lappen auf Thomas’ Stirn tupfte. „Die Polizei.“

Der Nebel verpuffte schlagartig.

„Sie wollen dich auf Arrest stecken“, fügte Christine leise hinzu. „Dann kommt die Verhandlung. Aber wer glaubt einem jungen Mann, der vorgibt, mit unnatürlichen …“ Sie erstickte im Satz. Zu konfus schien ihr das Geschehen.

Barsch wurde die Tür geöffnet. Die Direktorin kam mit zwei groß gewachsenen Männern in beiger Uniform und Handschelle am Gürtel herein. Thomas zuckte und rief: „Das habe ich nicht gewollt!“

Einer verzerrte die Miene: „Das sagen die meisten“ Er musterte Thomas’ zerschlissenes Gesicht. „Für solche wie dich gibt es lebenslänglich.“ Kurzer Hand klemmte er Thomas die Handschellen an. Als er sich nicht von der Liege erhob, zog ihn der Polizist hoch und nach draußen.

Aneinander gereihte Schüler – wie auch Sascha – gafften dem Mörder des skrupellosen Sebastian Schulz entsetzt, aber auch mit Genugtuung an.

Thomas selbst verzieh sogar seinem Vater, der im Gegensatz zu ihm nur sein eigener Mörder war. Seine Augen wurden glasig. Die Muskeln erschlafften. Bevor sie ihn in den Polizeiwagen drückten, blickte Thomas auf Christine zurück, die ihm aufgelöst nachsah. „Es tut mir Leid.“ Er hob den Kopf … und riss sich los, und hetzte davon!

Er war frei, trotz der Handschellen. Hinter sich hörte er die Schüler schreien und die Polizisten jaulen. Einer startete den Wagen, der andere setzte Thomas nach.

Er rannte zur – von einer langen Waldinsel geteilten – Hauptstraße; entgegen der Fahrtrichtung, wo ihm der Wagen mit heulender Sirene nicht folgen konnte. Der tat es dennoch. Die Autos hupten und ließ den Polizist stoppen.

Doch folgte ihm der andere noch und kam immer näher. „Bleib’ stehen!“

Ein Stau bildete sich. Thomas quetschte sich durch eine Lücke, um auf die andere Seite zu stürmen und bog in eine Gasse zum ‚Neumarkt’ ab. Der Beamte schaffte es nicht mehr. Rasch rannte dieser die Straße hinab und orderte einen Motorradfahrer von einer Suzuki.

Thomas drosselte seinen Lauf. Da röhrte ein Motor hinter ihm auf. Er weitete die Augen zum Motorrad, womit der Beamte auf ihn zuhielt.

Panisch nahm Thomas den Sprint auf. Schlimmer durfte es nicht werden.

Wie magisch angezogen, stürmte Thomas zur Baustelle am großen Parkplatz, den rot-weiße Absperrzäune abgrenzten. Er sprang darüber und stolperte über aufgerissenen Asphalt. Vor ihm lag ein Tümpel.

Thomas blickte nach hinten. Der Beamte schoss auf ihn zu. Thomas rannte schneller; zum Teich. ‚Wenn er darin rutscht, entwische ich und verschwinde.’

Noch wenige Meter Abstand lagen zwischen ihnen.

Als Thomas ins Wasser sprang, verlor der Polizist die Kontrolle und fiel auf den Schutt. Thomas rannte weiter durch das Nass.

Die Bauarbeiter brüllten und beobachteten, wie die Suzuki auf Thomas zuschlitterte, und ihn traf.

Der Polizist schaute verdutzt auf. Der Junge war im Teich verschwunden.

Thomas sprang weiter durch das Wasser. Ihm wurde heiß.

Erst als die Suzuki an ihm vorbeischrammte, hielt er inne und blieb stehen: Das Motorrad schlug über das Ufer hinaus, bis es im Sand zum erliegen kam. ‚Sand?!’ Schockiert blickte er sich um.

Rechts, links, vor und hinter ihm knisternde Sand. Mittendrin verharrte er in einem glasklaren, grünen Teich und umzingelt von wenigen Palmen.

Er begann zu keuchen, zu zittern und zu schreien: „Was zum …?!“ Er erinnerte sich an diese Wüste aus dem Traum. Er sah nirgends eine Seele, und keine Polizei! „Ein neues Leben“, flüsterte er hysterisch. Er konnte das Geschehen hinter sich lassen. Bloß: Wo war er?

Der Flüchtling watete halb durchnässt zum Ufer und ließ sich erschöpft auf den Sand sinken. Dieser brannte derart heiß, dass Thomas aufsprang.

Erneut blickte er sich um. „Ich träume doch. Oder die haben mich erschossen.“

„Nichts von beidem, Junge.“

Thomas schrak herum … und sah einem alten Mann mit schlohweißen, langem Haar an. Neben dem Schock nahm er kaum die dreckfarbene Kutte wahr, die den Alten umhüllte. Ein Krächzen entrann Thomas’ Kehle: „Wer sind Sie?“

Der Alte lächelte nur.

Kapitel 3

Legende

So standen sie sich gegenüber: Der Mentor mit dem im Wind wehenden, weißem Haar; und sein Schüler, grimmig und verkrampft zugleich. Beide – Laudanius und Thomas – trugen braune, bis zum Sandboden reichende Kutten, und je ein Schwert in der Linken.

Unter den tiefen, kantigen Narben in seinem Gesicht wirkte Laudanius gelassen. Mit geschlossenen Lidern raunte er zum angespannten Thonas: „Am Anfang gab es weder Krankheit noch Tod … bis böse Geister sie dem Erdenleben brachten. Da sandten die Götter einen Adler zur Hilfe. Doch verstanden die Menschen weder seine Sprache, noch seine Absicht. Die Götter schickten den Adler zu einer Frau, die unter einer Lärche saß. Er schenkte ihr ein Kind, das zum ersten Schamane wurde.“ Laudanius atmete tief durch und schrie: „Bereit?!“

Die Stille verpuffte, als der Mentor nach vorn sprang. Mit gehobenem Schwert stürmte er auf Thomas zu. Der stemmte sich vor. Klingen klirrten. Kaum hat er den ersten Schlag pariert, erschütterte ein neuer Thomas' Glieder. Trotz des Alters seines Mentors war dieser stark wie ein Wrestler.

Der Lärm schallte weniger als hundert Herzschläge über die Wüstenebene, bis Thomas erschöpft in die Knie sank.

Laudanius legte ihm abfällig die Klingenspitze ans Herz. „Na ja. Besser als zuletzt. Mehr Konzentration beim nächsten Mal.“

Würden Thomas’ Sehnen nicht zerren, wäre er aufgesprungen und hätte den Alten zu Boden geschupst. Er hechelte ihm ein grimmiges „Mh“ zu.

Laudanius ließ das Schwert sinken und trat zu seinem nahen Zelt.

Während Thomas sich daraufhin auf einem verkohlten Holzstamm ausruhte, betrachtete er die Landschaft. Eine Frage verunsicherte ihn im glühenden Kopf. Denn es ergab alles keinen Sinn, sooft er es drehte und wendete:

Mitten in einer leicht hügeligen, von wehenden Sanddünen und Heide übersäten Ebene befand er sich nun. Das einzige Leben tummelte sich im quer hindurch fließenden Fluss Ranus. Ohne großartig anzuschwellen oder sich zu verzweigen, donnerte er im Südosten die Küste hinab. Selbst von hier hörte er das Peitschen des zwanzig Kilometer entfernten Ozeans, der tödlicher nicht sein konnte – wie Thomas bei einer Selbsterkundung vor zwei Wochen erfuhr. Den Geschmack konnte Laudanius nur mit einer leicht ätzenden Lauge lösen.

Wie lang meinte der Alte, sollte Thomas hier bleiben, ohne auch innerlich zu vertrocknen? Alles, was er sah, ekelte ihn an: Nur Berge des umkesselnden Definio-Gebirge, das sie von der West- zur Nordküste vom Rest des Landes abschnürte. Etwas Zerklüfteteres hatte Thomas nie in seiner Welt gesehen. Zudem warf dieses Stachelschwein – wie er es nannte – nicht einmal kühlenden Schatten!

Eine Flucht schien aussichtslos. Immerwährend raschelte der Sand; selbst in seinen Träumen. Dennoch befand er sich an einem Ort voll wilder Magie: Um die hundert Quadratmeter breite Oase, von der er sich vor einem Monat in diese Welt gerettet hat, hatten sich über Nacht verzweigte Wege von der Insel zu den Ufern gebildet. Danach konnte Thomas sogar zusehen, wie sich die Palmen über die Insel bogen, die Kronen darüber zusammensteckten und sich ein Wurzelgeflecht von einem zum anderen Baum hinauf zog.

Über Nacht war eine dichte Höhle aus Palmen um den Teich entstanden. Nicht einmal die beiden Eingänge, die Laudanius und er hineinhackten, reichten, um das Innere zu beleuchten.

Dennoch war Thomas fasziniert von der wilden Natur: Eine lebendige Grotte. Wie Laudanius sagte, passieren derartige Wunder in „Soladum“ öfters. Würde er nicht darüber nachdenken, könnte ihm diese Welt ein Zuhause werden.

Ihm fehlte das normale Wetter. Denn trotz des Ödlandes stoben oft und ohne Vorwarnung monsunartige Schauer, Hagelklumpen oder Schnee vom Himmel. Innerhalb von Herzschlägen waren die Wolken abgezogen. Dafür folgte umso drückendere, tagelange Hitze. Stürmen gelang es, selbst die Palmengrotte zu biegen.

Daneben gab es auf dem Wüstenplateau keinerlei Leben! Nichts zischte und fleuchte neben dem endlos rieselnden Sand. Die Kröten aus seinem Traum schienen nur Trugbilder gewesen zu sein. Gab es denn nur den alten Mann und ihn in dieser Trostlosigkeit?

Was ihm noch stärker ins Mark griff, war die Nacht, wenn die Stimmen wisperten.

Ein Klappern riss Thomas aus dem Wahn: Statt mit dem Schwert kam der Alte mit zwei Holzschalen, worauf der Dampf von Brennnessel-Tee Thomas’ Nase kitzelte.

Was wie eine Teepause aussah, wurde von Laudanius’ grimmigem Blick vereitelt. Er setzte sich im Schneidersitz seinem Lehrling gegenüber. Als er ihm das Gebräu reichte, vernahm er Thomas’ Schnauben. „Nimm, wenn du nun das Wissen aufarbeiten willst.“

Widerwillig fasste er die Schale und nippte kurz. Das Gebräu schmeckte herb.

„Zur Wiederholung“, rief Laudanius. „Was weißt du soweit über den Aufbau unserer Welt?“

„Vom Boden zum Himmel hinauf ist die Mittelwelt – das Diesseits. Darunter erstreckt sich die Unterwelt. Das Firmament ist das Zeltdach, über die sich die Oberwelt ausbreitet.“

„Hast du die Herkunft der Schamanen begriffen?“

Thomas spannte sich an. „Dass der erste Schamane … von einem Adler gezeugt wurde?“

„Genau. Um Krankheits- und Todgeistern ins Handwerk zu spielen.“ Seine Gesichtsfalten zogen sich zusammen. „Doch galt es immer mehr zu bewältigen.“ Er erläuterte seinem Adept nun langwierig die Aufgaben, Anschläge von Geistmächten zu verhindern, Zelte vor dem Bezug rituell zu reinigen, zu heilen und deren Verursacher zu beschwichtigen, gefährdete Seelen in die Oberwelt zu führen, sowie kinderlosen Frauen zur Seelenfindung ihres Embryos zu verhelfen. „Mit rituellen Opfergaben konnten wir Ren-, Elch- und andere Wildgeister milde stimmen oder ihnen helfen. Da wir einmal eins mit den Tierwesen waren, musste jeder Stamm das Verhältnis zu ihnen und deren Göttern bewahren. Ansonsten war der Stamm zum Hungern verurteilt. Soweit verstanden, Thomas?“

Er schreckte auf, nickte hastig und nahm einen Schluck Tee.

„All das wollen wir versuchen – soweit ich die Mittel aufbringe – in die Tat umzusetzen.“ Da hob er den Finger. „Um solche Aufgaben zu meistern, musst du aber Hilfsgeister im Jenseits aufspüren. Ohne sie nimmst du nie Kontakt zu den Oberweltmächten auf.“

Thomas versuchte ein Schielen zu unterdrücken. Seine Gedanken rasten. „Klingt ja interessant. Aber was hat das alles“, und zeigte auf das angelehnte Breitschwert, „mit Kämpfen zu tun. Ich begreife nicht mal, wozu ich mich ausbilden lasse. Zu welchen Zweck?! Verrate es mir, du Geheimniskrämer!“

Statt rot anzulaufen ließ Laudanius den Kopf fallen. „Na schön.“ Er musste die Hintergründe seiner Anwesenheit erfahren, bevor er sich weigern würde, das Schwert in die Hand zu nehmen.

„Soladum“, und breitete die Arme zu beiden Seiten aus, „ist gewaltiger als dieser Flecken zwischen Gebirge und Ozean.“ Rasch steckte er den Finger in den Sand und zog eine Elypsenlinie. „Es gibt etliche Welten, die durch Pforten verknüpft sind – nicht nur physisch. Soladum, deine Erde und weitere Welten synchronisieren miteinander. Geht es der einen schlecht, werden auch andere in Mitleidenschaft gezogen; ebenso wie wenn eine Welt aufblüht. ‚Uns’ geht es seit zwei Jahrhunderten ‚miserabel’.“

Thomas überlegte scharf. „Da begann bei uns die Industrialisierung ... und Umweltzerstörung.“

„Gut geschlussfolgert. Eure Welt platzt vor Kapitalausbeute – oder wie ihr das nennt – aus den Nähten. Bald sind alle Rohstoffe auf eurem Planeten ausgebeutet. Darum muss sich etwas verbessern: In meiner oder deiner Ebene.“

Thomas grinste bitter. „Daran glaube ich kaum.“

Laudanius tippte barsch auf den Kreis vor sich. „Bei euch vielleicht“, und zeichnete eine einnehmende Landmasse darin ein. In der rechten, unteren Kante zog er Gebirgsgrate, aber ließ die unterste Ecke frei. „Dieser winzige Fleck ist unser Lager, umschlossen vom Definio-Gebirge.“ Dann zog er eine Schlängellinie von der östlichen Küste ins Landesinnere. „Das ist der Salmus-Meeresarm. Darüber erstreckt sich ein mächtiges Kiefernwaldgebiet bis zur Nordküste.“ Diese Küste wirkte wie abgehackt – als fehle ein Stück Land. Laudanius kratzte ein weiteres, kleines Gebirge an der Nordküste ein. „Hier hinein fließt der sich teilende Fluss Galonges ins … Meer.“ Eine weitere Linie zweigte sich südlich des Gebirges zu zwei weiteren. „Bis zur oberen Hälfte Soladums ist alles Ödland. Nach Süden zu folgt vorwiegend Steppe und“, wobei er seine spröden Lippen befeuchtete, „Ödland.“ Plötzlich zeichnete er von der mittleren Westküste aus eine starke Linie nach Südsüdost, bis sie vor der Südküste zu einem gewaltigen Rund anschwoll. „Er hat beinahe die halbe Größe vom Definio-Gebirge: Der Crudus-See; ungenießbar. In ihn mündet das Salzwasser des Ozeans. Über dem See“, und drückte einen dicken Punkt in den Sand, „liegt die ehemalige Imperialstadt unseres Landes.“

„Warum ehemalig?“

„Erfährst du früh genug.“

Thomas beugte sich näher an die Skizze. „Was liegt westlich des Zuflusses?“

Plötzlich zerschnitt der Alte mit der Hand wirsch die Luft. „Lasse mich ausreden!“ Sein Blick legte sich träge auf die von Thomas betrachtete Fläche. „Dort liegt der Rombos-Vulkan, auf den nur Dämonen oder Lebensmüde einen Fuß setzen.“

„Wegen der Ausbrüche?“

Laudanius zögerte. „Wie du sagst.“

„Noch einige astrologische Feinheiten: Nach dem Ozean folgt ein Abgrund in die Unterwelt.“ Thomas zuckte auf. „Richtig gehört. Soladum ist eine ‚Scheibe’. Was glaubst du, woher eure Mittelalter-Theorie stammt.“

Thomas aber wölbte sich der Magen. Er wollte nichts mehr über diese Welt wissen.

„Wie du bestimmt bemerkt hast, umkreisen drei Monde unsere Scheibe.“ Ganz langsam wurde Laudanius’ Blick leer. „In Soladum gab es einst keine Schatten, da zwei Sonnen gegenständig zueinander schienen, und immer zeitgleich am Horizont verschwanden. Das Klima war mild, der Himmel klar und mit Feuchtigkeit spendenden Nebelbänken bedeckt.“

„Kann das Wetter sich derart ändern? Was ist … mit der einen Sonne passiert?“

„Das ist der Knackpunkt, Thomas.“ Der Alte hob ruckartig den Kopf. „Unsere Welt wurde bis vor zweihundert Jahren von einem gottgleichen Wesen regiert, das wir ‚Sonnenpatron' nannten. Es besaß die Gabe, die Ordnung zwischen den Menschen zu wahren – allein durch seine lebensfrohe Mentalität. Sein allabendlicher Singsang drang über den ganzen Kontinent. Er konnte alles, wozu wir Schamanen auch in der Lage waren; nur weiträumiger. Mit dem Sonnenpatron war unser Dasein gesegnet. Es gab kaum düstere Tage, bis …“

„Bis was?“ Thomas’ Interesse an Soladum flammte wieder auf. „Vor zweihundert Jahren ...?“

Laudanius’ Kopf fiel auf die Brust, wobei er laut schnaubte. Die Erinnerung nagte schmerzhaft. „Vor zweihundert Jahren tauchten Kreaturen in unserer Welt auf: Drei Flüchtlinge mit großer Macht. Sie wollten den Sonnenpatron stürzen und das Land ausbeuten. Sie lotsten hunderte Dämonen in unsere Welt und verdrängten unseren Bauern- und Nomadenstaat. Da sie die Hitze der zwei Sonnen nicht ertrugen – und um den Sonnenpatron zu schwächen –steuerten sie einen Mond aus unserem Sternsystem aus der Bahn und schoben ihn mit gleicher Ellipse vor die südliche Sonne. Seither spielt unser Wetter verrückt und es gibt abnormale Naturkatastrophen. Genauso trockneten die Böden aus. Dieses Ungleichgewicht opferte über die Hälfte unserer Bevölkerung! Unser Blut wird sich nie daran gewöhnen. Dafür blühte das Heer der drei Bestien auf.

Bald beherrschten Fehden das ganze Land, auch von Mensch zu Mensch. Der Sonnenpatron verzweifelte mit dem Chaos und wurde so schwach, dass er die Angriffe nicht mehr aufhalten konnte. Knapp zehn Jahre nach dem Erscheinen der Bestien stürzten sie den Sonnenpatron und ernannten sich zu den Dominantoren – den ‚Allmächtigen’ Soladums. Seitdem beherrscht Tyrannei unser Land. Alles wird überwacht, außer abgelegene Orte.“ Er hob die Hand. „Wie auch das Definio-Gebirge und die Wüste hier. Seit dem Schreckensbeginn ist dies meine Zuflucht.“

„Haben die Dominantoren den Sonnenpatron getötet?“

Der Alte zuckte mit den Schultern. „Einige meinen Ja. Andere, dass der Sonnenpatron ihnen entkommen sei und sich verbirgt. Auch ich vertrete diese Meinung. Denn wenn ein Sonnenpatron stirbt, legen sich seine Energien spürbar über unsere Scheibe. Das ist damals nicht eingetreten.“ Er hob den Finger. „Außerdem wollten sie seine Macht einsaugen, um alle zu erreichenden Dimensionen einzunehmen; auch eure Erde. Das ist bis heute nicht passiert.“

Thomas grübelte kurz nach und hob abrupt den Kopf: „Wieso hast du mich nun hierher gelotst? Soll ich die drei Irren mit ein paar Geistern und Heilmethoden aufhalten?!“

„Nein!“, rief der Alte barsch, um anschließend ein Grinsen aufzusetzen. „Natürlich muss jemand diese Tyrannen vertreiben. Dazu ist nur der Sonnenpatron fähig, wenn er sich wieder gestählt hat. Dir soll die Aufgabe zuteil werden, die ich die Hälfte meines Lebens zubrachte.“

Thomas fielen die Kiefer auf. „Was? Ich soll doch nicht diesen Sonnenpatron finden?!“

Laudanius schnippte die Finger. „Dafür will ich dich ausbilden. Die Schamanen und der Sonnenpatron entstammen der gleichen Ader. Wir sind miteinander verknüpft, durch Ober- und Unterwelt. Kein anderer als ein Schamane wäre dazu fähig.“

Thomas' Herz klopfte. Hastig sprangen seine Blicke über die Karte im Sand. „Wenn er stark genug ist, warum handelt er nicht selbst? Was würde es bringen, den Sonnenpatron zu finden?!“

Laudanius hasste solche Fragen und wurde lauter: „Er soll nur durch den Verlust seines Gedächtnisses entkommen sein. Jemand muss ihm seine alte Bestimmung vor Augen führen.“

„Und wo soll ich suchen?!“

Laudanius legte einen Finger quer über die Skizze. „Ich habe sämtliche Winkel unterhalb der Linie durchforstet, ohne fündig zu werden. Ich hoffe, du bestreitest die obere Hälfte – mit Erfolg.“

Entsetzen erhitzte sein Blut. „Soll ich dafür auch zweihundert Jahre brauchen?! Mein Leben vergeuden für eine minimale Hoffnung?!“

Der Alte ignorierte die Auflehnung. „Ein Leben, das es in deiner Welt nicht mehr gibt. Du hast es dir selbst verbaut.“

„‚Du’ hast mir diese Hexerei eingeflößt. Ich bin keiner von euch!“

„Das wird sich herausstellen.“ Laudanius verwischte die Karte. „Nenne mir die Aufgaben des Schamanentums. Danach ist Schluss für heute.“

Thomas fletschte die Zähne, doch versuchte er sich zu beruhigen. Leider war ihm alles wieder entfallen. Seine Stirn kräuselte sich vor Anstrengung.

„Man nennt unser Gruppe auch ‚Träumer’. Und du bist der Unfähigste! Merkst du dir überhaupt was?!“

„Jetzt reicht’s!“ Thomas sprang auf und stampfte davon. „Rette deine Welt allein! Ich lass' mich nicht beleidigen; nicht von dir … Alter!“

Verspannt sah er dem Flüchtenden nach, wie er die Plane zu seinem Zelt aufriss und verschwand. Als von Innen ein langer, tiefer Schrei das Fell wellte, schrak Laudanius zusammen.

„Zweiundfünfzig! … Dreiundfünfzig! … Vierundfünfzig!“, keuchte Thomas, bevor er von den Liegestützen zu Boden sank. Seine Schläfen pulsierten. Der Atem schlug ihm heiß ins Gesicht zurück.

Wütend sprang er auf, um am Boden einige Rumpfbeuge zu heben. Da trat behutsam Laudanius herein. Seine leichte Furcht verwandelte sich zu Staunen.

Während der Alte ein abfälliges Schnauben hörte, hob er die Hände. „Ich weiß, dass solche Bürden schwer zu tragen sind. Eins aber solltest du wissen, bevor du mich verabscheust.“

Thomas sprang wieder auf und hob die Arme, um die Finger stetig zu den Fußzehen zu strecken.

„Hör auf!“, rief Laudanius. Derartige Ignoranz war ihm sein ganzes Leben nicht untergekommen. „Höre mir zu.“

Endlich hielt Thomas inne und starrte ihn grimmig an.

„Sei gewarnt. Atme durch und verarbeite es …“

„Worauf willst du hinaus, Alter.“

Laudanius legte den Kopf auf die Brust. „Dann eben so“, und starrte ihn an. „Eigentlich hättest du bei deiner Geburt sterben müssen.“

„Was?!“, keuchte Thomas verwirrt.

„Deine Seele wäre nach dem Erdentod bei einer Tiermutter – hier – im Soladischen Jenseits aufgezogen und – in Soladum – als Schamanenkind wiedergeboren worden. Eure Ärzte haben zu gute Arbeit geleistet.“

Thomas schnaubte. „Bestimmt war es besser so, dass ich auf der Erde blieb!“

Laudanius schüttelte den Kopf. „Ach ja? Denke nach: Hättest du nach der Schule eine erstrebenswerte Bestimmung gehabt, Aussichten für das spätere Leben? Antworte mir ehrlich.“

Bevor sein Schüler innerlich zu kochen begann, schnaubte er durch zusammengebissene Zähne: „Eben nicht. Mir fehlte der Plan.“

„Warum denkst du, ist das so? Du bist bestimmt, Schamane zu sein, in dieser Welt. Auf Erden hättest du nie eine Zukunft aufbauen können, egal, wie stark du dich angestrengt hättest. Wie letzteres Geschehen beweißt.“

Thomas’ Züge erschlafften. ‚Auch ohne die Magie dieser Welt hätte ich Schulz umgebracht? Vielleicht hätte ich mich auch nie von den Schrammen erholt?!’ Sein drangsalierter Arm schmerzte heute noch, wenn er ihn hob.

Laudanius sorgte sich um etwas anderes. „Da du leider keine Tiermutter hattest, fehlt sie dir nun als erster Schutz- und Hilfsgeist. Dir würden die Jenseitsreisen besser von der Hand gehen. Du trägst eine schwere Bürde, Thomas. Aber sobald du den ersten auf deine Seite ziehst, gelingt dir jeder Schritt besser.“

„Dennoch ist diese Reise Selbstmord!“

Da begann der Alte aufzulachen. „Nicht unbedingt. Ein Vorteil birgt deine Mutterlosigkeit: Dir fehlt das Schamanen-Mal.“ Er krempelte den Ärmel hoch und zeigte ihm ein Zeichen am Ellbogen, dass einem Angelhaken ähnelte. „Auch verdeckt würden es die Dominantoren von weit her orten. Ohne das Mal öffnen sich dir Möglichkeiten, die anderen Magiekundigen verwehrt bleiben. Denke darüber nach, Thomas. Diese Reise ist kein Selbstmord, sondern machbar. Dein Temperament wird dich unterstützen – glaube mir.“

Bevor er alles verarbeiten konnte, wandte Laudanius ihm den Rücken zu. „Vergiss nicht: Du bist die einzige Hoffnung, dass Soladum wieder aufblüht“, und verschwand hinter der Plane. So ließ er Thomas allein mit seinen Gedanken.

Kapitel 4

Albträume

Neben ihm plätscherte der Fluss in geschwungenen Schleifen. Der Eichenwald, der sein Zelt seit dieser Nacht umgab, ließ Laudanius hoffen. Mittendrin atmete er die moosige Würze der Erde ein und lauschte dem Rascheln der Blätter. Selbst einige grün und goldbraun schimmernde Libellen surrten an ihm vorbei.

Plötzlich spürte er den kühlen Windhauch durch sein Haar streifen, gemischt mit der Wärme der Wüste. Trotz des Widerstrebens des Jungen und seines Egoismus’, entfachte sein Adept das Temperament dieses Landes von neuem. Laudanius öffnete die Augen und schritt an einen Eichenast und strich sanft über eine Knospe, um einen klaren Tautropfen aufzunehmen. Er schmeckte süß.

Da schlug der Geschmack plötzlich ins Bittere um. Das Baum-Geäst begann sich zu schütteln und bog sich unter nicht vorhandenem Wind. Bog sich und knarrte, bis die Krone mit einem Hieb den Boden berührte!

Laudanius sprang erschrocken zurück, als der Stamm über den Grund fegte und ihn beinahe traf. Dann bildeten sich ein Mund in der Rinde und aufbrechende Augen darüber, die ihn zornig anstarrten. Ein knackendes Gebrüll der Eiche stieß sich in Laudanius Ohren. Er krümmte sich, während er tief ein- und ausatmete. Was er da sah, war allein die Reflexion aus einer anderen Welt. In Soladum war es ein harmloses Trugbild.

„Wie hältst du das nur aus?!“, rief der heran kommende Thomas über das Brüllen und Knacken von Geäst hinweg.

„Weil es dir keinen Schaden zufügen kann“, antwortete Laudanius ruhig, ohne sich umzuwenden. „Nicht auf dieser Ebene.“ Dann tastete er am Gürtel herum, kramte in einem befestigten Säckchen und warf ein Pulver zur bebenden Eiche. Abrupt verwandelte sie sich zum stillen Baum zurück.

Als der Mentor sich aber zum Adept wandte, riss er die Augen auf, keuchte und lief rot an. „Was hast du getan?“

Thomas kratzte sich am morgens kahl geschnittenen Kopf. „Es hat gejuckt.“

„Du bist des Teufels, Junge!“ Laudanius fuhr sich angestrengt durchs Gesicht. „Das Haar ist für uns Schamanen heilig, da es die meisten Vitalkräfte besitzt. Es sollte nie geschnitten werden! Und du scherst es ab?!“

„Soll ich etwa herumrennen wie du?“, wobei er auf Laudanius’ lendenlangen, silbrigen Zopf deutete.

„Du begreifst den Schamanismus wohl nie?“, und strich seinen Arm durch die Luft. Rasch beruhigte er sich. ‚Aus jedem Fehler lernt er.’ „Egal nun, jetzt lässt du es eben wachsen. Bürste es jeden Tag durch, dann vergeht das Jucken. Wir haben uns vorzubereiten.“

„Auf was?“

„Du wirst dich wieder in die Oberwelt begeben. Ohne einen Hilfsgeist können wir mit der Ausbildung nicht fortfahren.“ Er hörte Thomas’ Grunzen. „Ich weiß … aber wenn du ihn gefunden hast, fällt dir alles leichter.“

„Das sagst du jedes Mal!“

Sein Mentor wandte sich zu dem Jurtenzelt inmitten der wehenden Eichen. „Lasse uns endlich beginnen.“

Thomas folgte ihm lahmen Schrittes. Als er das Zelt betrat, stach ihm beißender Weihrauchgeruch in die Nase.

In der Mitte ragte ein mächtiger, kahler, aber mit Rinde versehener Lärchenstamm bis zum Deckenabzug. Drum herum standen kleine Holzfiguren (Elche, Eulen, Otter, Fuchs und Rene), die Hilfsgeister darstellten. Etliche Decken waren ausgebreitet. Einiges an Schamanenwerkzeug lag darauf.

Der Alte setzte sich im Schneidersitz davor und nahm eine mit Dellen verzierte, vergilbte Handtrommel mit Stößel. „Setze dich“, und er begann rhythmisch im Dreiviertel-Takt auf die gespannte Wildtierhaut zu schlagen. „Höre genau hin und du findest die Wesen.“

Schnaubend gab Thomas nach und setzte sich dem Schamanen gegenüber. Verkrampft lauschte er den dumpfen Schlägen. Nebel umgab seinen sich wieder entspannenden Geist; seine Umgebung löste sich darin auf. Er vernahm nur seinen Atem und die Laudanius’ Schläge.

Dann riss er die Augen auf: Diesmal hat er mit beiden Füßen auf einem verwucherten Pfad. Ihm graute vor der Erkundung des Jenseits.

Behutsam setzte er einen Schritt nach dem anderen über verwucherte, steinige, aber auch schlammige Pfade. Bei jedem Geräusch lauschte er und betrachtete jede Ecke. Nach jedem Blick und Innehalten jedoch riss Thomas die Geduld. Seine Bewegungen wurden hektischer. Er stolperte ständig, fluchte und ballte die Fäuste. Die Sonne blähte seine pulsierenden Schläfen. Nicht einmal die Bäche, an denen er sich abkühlte, brachten Linderung. Zudem verlor er die Orientierung! Seine Augen zuckten hin und her. Nach tausenden Pulsschlägen eilte er durch raschelnde Buchenwälder. Das Spiel aus Schatten und Licht raubte ihm die Nerven.

Er wollte brüllen und auf einen Baum einschlagen … da hörte er plötzlich ein Zischen. Wirr sah er nach links. Eine Schlange lag smaragdgrün schimmernd im braunen Laubboden.

Vorsichtig näherte er sich ihr. Er wusste: Jede Tiergestalt im Jenseits war ein Hilfsgeist. Er musste ihn bloß auf seine Seite locken.

„Ich suche schon den ganzen Tag nach dir, edles Tier. Und suche deine Nähe hier.“

Die Schlange züngelte nur.

„Begehrest du etwas Vulgäres?“

„Wassserpelzz bei diessem dampfenndem Blätterrwerk“, zischte das Tier.

„Hä, Wasser?“ Neben ihm floss ein Rinnsal den Weg hinab. Verwirrt schöpfte er und hielt ihr die tropfende Hand hin.

Das Tier fauchte nur: „Niccht tröpflich. Pelzzig.“