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Eine Sekte trachtet dem jungen Erfinder Dirk Uhmheka nach dem Leben. Sie will nicht das Patent für sein Projekt vereiteln, sondern eine Medaille im Familienbesitz, der die Macht des ägyptischen Ordnungsgottes Horus zugesprochen ist. Wird sie zerstört, nimmt der Chaosgott Seth die Welt ein. Um das zu verhindern muss Dirk sein Leben komplett umwerfen, wird gepeinigt von der Verfolgung des Sethklans, zerrütteten Gefühlen zwischen Wirklichkeit und altem Glaube. Sowie einer Krankheit, die ihn aufbrechen lässt, den Weg zu einem Buch zu bestreiten, dessen niedergeschriebenes Wissen ihn heilen und von der Last der Medaille erlösen kann. ---------------------- Die altägyptischen Götter, die bereits vor der Christianisierung der neuen Zeitrechnung immer mehr aus dem ägyptischen Glauben verbannt wurden, sollen mit diesem Roman und dem darauf folgenden wieder zum Leben erwachen. Immer noch stellen sich eine Vielzahl von Menschen und Philosophen die Frage: Gab es sie wirklich? Oder existierten höhere Wesen, die uns erst den richtigen Weg geleitet hatten und uns zu der Zivilisation gemacht haben, die wir heute geworden sind? Nicht umsonst ist die altägyptische Hochkultur die am längsten existierende der Welt gewesen. Wie konnte dies aus einem Land entstehen, das größtenteils über Sand, Hitze und ein wenig Wasser wie das des Nils bestanden hat? Vielleicht verraten es uns ja die altägyptischen Götter selbst, wer weiß? Lies darum mit Spannung, Lebenskraft und Fantasie; dann entdeckst du womöglich das wahre Geheimnis altägyptischer Magie.
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Seitenzahl: 584
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Danny Fränkel
HORUS
Rückkehr der Götter
Zum Autor
Danny Fränkel liest und schreibt seit seiner frühesten Jugend leidenschaftlich gerne Fantasy-und Alltags-Geschichten. Nach einer mehr als zweijährig währenden Wanderung durch Europa, auf der nur der Rucksack und einige Recherchenbücher seine ständigen Begleiter waren, legt Danny Fränkel hiermit sein Erstlingwerk vor, dessen letzte Redigierung nach einer Odysee als Selbstversorgerbauer im Balkan Osteuropas erfolgte.
Heute ist er leidenschaftlicher Landschaftpfleger in Oberfranken.
HORUS
Rückkehr der Götter
Eigenverlag Danny Fränkel
Genehmigte E-Book-Ausgabe No. 1
Alle Rechte vorbehalten bei Danny Fränkel
2. Auflage 2020
Die 1. Auflage erschien 2009
im mittlerweile nicht mehr existierenden
Renaissance-Verlag Marburg unter dem Titel „Magie – Die Rückkehr der Götter“
im Druckkostenvorschussverlag,
wodurch dem Autor sämtliche Rechte erhalten blieben.
E-Mail: [email protected]
Widmung
Für Franziska
Vorwort:
Die altägyptischen Götter, die bereits vor der Christianisierung der neuen Zeitrechnung immer mehr aus dem ägyptischen Glauben verbannt wurden, sollen mit diesem Roman und dem darauf folgenden wieder zum Leben erwachen.
Immer noch stellen sich eine Vielzahl von Menschen und Philosophen die Frage: Gab es sie wirklich? Oder existierten höhere Wesen, die uns erst den richtigen Weg geleitet hatten und uns zu der Zivilisation gemacht haben, die wir heute geworden sind. Nicht umsonst ist die altägyptische Hochkultur die am längsten existierende der Welt gewesen. Wie konnte dies aus einem Land entstehen, das größtenteils über Sand, Hitze und ein wenig Wasser wie das des Nils bestanden hat? Vielleicht verraten es uns ja die altägyptischen Götter selbst, wer weiß?
Lies darum mit Spannung, Lebenskraft und Fantasie; dann entdeckst du womöglich das wahre Geheimnis altägyptischer Magie.
Ihr Danny Fränkel.
Prolog
Legende vom alten Volk
1993
Ein Orkan fegte durch die südlichen Wohngegenden Leipzigs. Er peitschte, riss Wurzeln aus und zerrte alles mit, was ihm gefiel und seine Macht demonstrierte. Die Blätter der Bäume, die in der Stadt so rar waren wie Straßen ohne Schlagloch, schimmerten, mitgerissen vom tobenden Sturm: In Weinrot, Ocker, Giftgrün, Orange und sogar Gelbtönen.
Der beißende Geruch von Autoabgasen und die verfallenen Bauten, stellten den Zauber wieder in den Schatten. Doch existierte ein Mensch, der sich nichts sehnlicher wünschte, als diesen Ort von Leere und Mutlosigkeit wieder zu sehen.
Wieder wirbelte eine Windhose Gregor direkt ins braungebrannte Gesicht und scheuerte an seiner Haut. Das erfrischende Geschenk machte ihm klar, dass er wieder daheim war: Sein Land, seine Luft und sein Zuhause. Aber er wusste, dass er sich der Hitze des afrikanischen Raumes nicht ewig entziehen konnte. So viel war zu tun, so lange zu suchen. Die letzte Expedition hat den Ausschlag gegeben. Sie ist ers EEEEEEr>EErrrwerfergt der Anfang von allem, worauf wir so lang hingearbeitet haben, und er hat bereits zu viele Opfer gebracht. Vor allem musste er sich die Hilfe von dem erkaufen, der ihm am meisten vertraute. Gregor musste es ihm erzählen: Die letzte Hoffnung der gesamten Familie und der Götter.
Ein Lächeln bildete sich auf seinem Antlitz, während er sich einen Weg durch die Hohe Straße bahnte. Da stand es, schäbig, einige Dachsparren lose und herausgerissen, und groß wie ein ausgeblichenes Monster, das nach Erlösung schrie. Er blieb stehen, berührte den braunen, grobkörnigen Putz neben der Tür und seufzte.
Irgendetwas jedoch wirkte eigenartig. Nicht ein Licht brannte im Haus. Weder das Klappern von Geschirr, noch kindliches Gelächter. Was war vorgefallen? Hatte er sie zu lang allein gelassen?!
Nein! Er knallte seine Faust gegen die schellende Klingel, die sofort aus dem Rahmen brach und mehrmals gegen die Tür prallte.
Heißer Schweiß rann in verzweigten Rinnsalen über die Haut. Er röchelte und schmeckte Galle. Zu lang war er weg gewesen. War der ‘Klan’ eingebrochen, hatte sie erstochen, aus Freude am Töten und um ihren Auftrag zu erfüllen?! Musste er auf den Friedhof, um wenigsten ihre Todestage zu erfahren? Wieso hatte er sich in diesen Blödsinn hinein ziehen lassen?! Konnte er es nicht ruhen lassen, für alle Zeit?!
Bevor er zu Boden sank, spannten sich seine Sehnen und er schlug gegen die Tür. Schmerz folgte. Er wollte weinen. Kroch nicht plötzlich ein Quietschen in seine Ohren. Aus den Augenwinkeln erkannte er keine Veränderung. Als er aber seinen Kopf hob, riss er die Augen auf. Die Tür schien wenige Zentimeter geöffnet zu sein. Aus dem Spalt glänzte etwas: Zwei große, neugierig braune Augen, deren Gesicht sich im Schatten verbarg. Gregor entspannte seine Muskeln und stemmte sich hoch.
Die verschiedensten Gefühle überschwemmten die Kulleraugen: Verwunderung, Staunen, Erleichterung, auch Freude. Sofort riss der Junge die Tür auf und ließ sie an die Garderobe krachen, als er an die Beine seines Vaters sprang. Wie oft hat er gebetet, dass er zurückkommt, um mit ihm zu toben und zu lachen. Gregor hätte ihn mit auf die Reise nehmen sollen – vor acht Monaten –, ihm die Wunder seiner Entdeckungen zeigen können. Sie wären zusammen gewesen, für immer. Gregor begann zu weinen. Denn der Kleine ist noch ein Achtjähriger.
Dieser seufzte, während sein Blick den Gregors traf: „Papa. Ich habe gedacht, ich sehe dich nie wieder.“ Eine Träne kullerte von seiner Backe. Sein Vater seufzte zu dem Jungen hinab.
Plötzlich wurde die Zweisamkeit von einer knackenden Holzschwelle zerbrochen.
Gregor zuckte und erspähte eine wohlgeformte Frau mittleren Alters, mit hellblondem Haar, die den Schalter im Flur betätigt hat und ihn auf einen Schlag in Licht tauchte. Sie lehnte mit der Schulter an der Küchentür. Endlich traute sie sich, den Fremdling anzublicken. „Warst ziemlich lange fort.“ Jedes Mal während seiner Reisen, befürchtete sie das Schrecklichste: Keine Briefe, nie ein Lebenszeichen. Ihr war klar, dass Gregor sich erneut mit den Grenzsoldaten anlegen und seiner Bestimmung nachgehen würde, bald.
„Hallo, du. Wie geht’s euch?“ Er hat keinen von beiden verloren. Der Gott in dem Jungen leistete gute Arbeit.
Unerwartet stürzte Martina Gregor in die Arme, dass er drohte, auf die Straße zu stürzen. Rechtzeitig fand er seinen Halt wieder.
So standen die drei noch Minuten lang, die wie Stunden währten.
Nach dem Abendessen voll spannender Geschichten aus dem Land der Pharaonen, herzhaftem Lachen und Berichten über Zeit und die soweit bekannten Spinnerein der Nachbarn in Leipzig – von Martina zusammengetragen – hielt der ständige Reisende inne. Er blickte zu seinem Sohn, der unten auf dem Fußboden mit Zahnrädern und dünnen Metallstangen ein Miniaturauto erschuf – ohne Bedienungsanleitung. Der Junge wird eines Tages ein großes Genie, dachte Gregor, wenn nichts dazwischenkommt. Seine Miene verfinsterte sich und er schloss die Augen. Ihn beschäftigte eine Wahl, für deren Rückweg noch immer die Pforte offen stand. Ein Schritt nach vorn und sein Leben wird einstürzen.
Endlich flüsterte er, wobei er sich über die Tischkante zu Martinas Ohr beugte: „Wir sollten ihn mit der Sache vertraut machen. Ich stehe vor der Entdeckung.“
Martina blickte mit leeren, weit aufgesperrten Augen zu ihrer beider Sohn, der abwechselnd zu ihnen hoch guckte. Schließlich neigte sie sich Gregor zu: „Du willst es ihm erzählen, jetzt schon?“
„Die bekannte Version. Den Rest wird er später erfahren.“
Und die Mutter des Kindes nickte, wenn auch widerwillig. Würde ihr Sohn damit konfrontiert, geriet sein ganzes bisheriges Leben aus den Fugen. Am liebsten hätte sie ihrem Gatten widersprochen, aber der Junge musste es erfahren. Er sollte sich die Geschichte einprägen. Schon darum, weil er jung war und das Erzählte so auffassen würde, als wäre es ein alltägliches Märchen. Doch es würde sein Leben nicht nur verändern, sondern auch bestimmen.
Gregor erhob sich, setzte sich im Schneidersitz zu seinem Sohn. „Wie wär’s? Willst du mal eine aufregende Geschichte hören?“
Der Junge beugte sich vor und nickte aufweckt. „Eine aus deinem Land?“
Sein Vater lächelte: „Hör gut zu. Dies ist eine Legende, die du dein Leben nicht vergessen darfst. Behalte sie wie eine Erinnerung, denn sie wird dich sehr weit tragen, mein Sohn.“ Gregor lehnte sich zurück und der Junge lauschte mit leuchtenden Augen.
„Fünftausend Jahre ist es her, da wütete in der ägyptischen Götterwelt eine Schlacht zwischen Horus, dem Gott der Hoffnung, und Seth, dem Gott des Chaos. Das war kein gewöhnlicher Kampf. Es ging um die Vormachtstellung über Ägypten. Horus wollte zudem den Mord seines Vaters Osiris rächen, der viele Jahre davor von Seth – dem eigenen Bruder – getötet wurde.
Horus war ein Mann mit Falkenkopf und wurde auch als Himmelsgott verehrt. Er bedeckte mit seinen Flügeln die Welt als der strahlend blaue Himmel. Sein linkes Auge stellte den Mond dar und sein Rechtes die Sonne. Der Gott Ra war das eigentliche Symbol der Sonne und stand immer hinter Horus als sein Mentor und Freund.
Seth dagegen verehrte man als Mensch mit nasenbärartigem Kopf. Er beherrschte die Sandstürme und brachte viel Unheil über die Welt. Seine Ziele wurden ihm wohl seit Kleinauf in die Wiege gelegt: Das Chaos und die Unterwerfung der Menschheit.
Die Götter hatten die Gabe, die Macht der vier Elemente einzusetzen: Wasser, Feuer, Luft und Erde. Die Falkengötter Horus und Ra kontrollierten ein weiteres Element: Das Licht, dessen Energie sich mit den Hoffnungen der Menschen einte.
Die Erschütterung zwischen Gut und Böse hatte solche Ausmaße, dass die Erde in der Welt der Sterblichen zitterte. Die beiden Götter setzten die mächtigste Waffe des Universums ein – etwas, das bereits vor allem Leben existierte und für die Ewigkeit geschaffen war: Magie.“ Gregor betonte das Wort, als hätte ein Feuerwerk seinen Geist erleuchtet. Er entspannte sich, massierte die Schläfen und atmete durch. Nach den auffordernden Blicken seines Sohnes fuhr er fort.
„Am Ende entschied der Falkengott Horus den Kampf für sich und wurde zum künftigen Herrscher Ägyptens ernannt. Ihm blieb eine Wunde am linken Auge, wodurch der Mond auf- und abschwoll, schließlich einmal im Monat vom Himmel verschwand und Finsternis hervorbrachte, wie auch heute noch. Das aber war es dem Falken wert. Nun konnte er die Zeit der Hoffnungen und Träume in der Welt verbreiten.
Das Tribunal, das sich aus den fünf mächtigsten Göttern Ägyptens zusammensetzte, verbannte Seth stattdessen in die Hölle. Sie war das Exil für Nichtsterbliche.
Somit ward der Frieden gewahrt. Vorerst.“
Einige Sekunden wurde es still im Raum. Plötzlich platzte die Spannung aus dem Jungen: „War das alles? Was ist dann passiert?“ Seine Beine zitterten vor Ungeduld.
Gregor aber lächelte ihn mit einer tiefen Traurigkeit an. „Eines Tages erfährst du den Rest. Habe Geduld … und bleibe stark.“
So brach Gregor die Legende ab und gönnte sich einen Abend am knisternden Kamin. Doch er fühlte sich schlecht. Erinnerungen und Vorwürfe plagten ihn. Jenes unausgesprochene Geheimnis wurde nur wenigen Menschen anvertraut. Die so genannten Erkorenen gaben es an ihre Kinder weiter, die sich wünschten, niemals davon erfahren zu haben.
Kapitel 1
Projekt Eismann
Dirk Uhmheka schleppte sich durch den Matsch der
Bautzner Straße
in Leipzig, gewillt, zusammenzubrechen. Vorbeistapfende Passanten raunten ihn an, erkannten kaum Unterschiede zwischen Dirks Gesicht und dem Schnee, der in die Gullys rann. Trotz warmer Winterklamotten bibberte Dirk am ganzen Leib. Seine braune Iris war vom Schleim trüb geworden. Nur rote Äderchen darum verrieten, dass er kein Zombie war.
Er war derart blass, dass man ihn einwandfrei als einen Deutschen identifizieren konnte, obwohl sein Familienname nordafrikanische Wurzeln hatte. Schon vor über 300 Jahren war das Geschlecht der Umhekas aus der Hitze der Wüsten geflohen, um in Mitteleuropa Fuß zu fassen. Doch warum sie das taten blieb Dirk Umheka bis heute ein Rätsel.
Was seine Blässe schmälerte waren der Dreitagebart und sein fettiges, dunkelblondes Haar, das unter Mütze, über Stirn, bis zu den Augenbrauen reichte.
Zunehmend verdunkelte sich die graue Wolkenfront über ihm und brach auf. Trübsinn stach mit dem Hagel in seinen Kopf.
Falls ein Taxi versuchte an ihm vorbei zu rauschen, hätte er sich davor geworfen. Aber es kam keines. Und als wankte er nicht genug, peitschte eine Windböe gegen seine Brust. Hustenreiz sprengte seine Lunge. Mit letzter Kraft rammte er an eine Mauer, begann zu würgen, zu bellen und schmeckte bitteren, mit Splitt vermischten Schnee. Autos quietschten, Stimmen sprengten seine Ohren. Er fürchtete den Erstickungstod. Da flaute das Stechen allmählich ab.
Trotz der Erleichterung keuchte er weiter. Wann geht das endlich vorbei?! Diese Krankheitserscheinungen plagten ihn seit Wochen und wurden immer schlimmer.Er fühlte sich wie ein hundertjähriges Wrack, mit Raucherlunge und Asthma – und hatte nichts von beidem. Sein ganzer Kreislauf schien zusammen zu brechen. Er wollte sich hinlegen. Die Passanten würden ihn für einen Penner halten und sich einen Dreck um ihn scheren. Ein paar Stunden Kälte und er hätte Frieden vor sämtlichen Problemen. Bloß sah er gen Osten.
Nein! Er stemmte sich auf. Das Ziel brannte sich in seine schlaflosen Augen.
Schließlich erreichte er den Industriepark Süd-Ost, schleppte sich über die Kreuzung in die kleine Kamenzerstraße. All die neuen Betriebe und Abgase erregten seine Bronchien, als nagten halb vertrocknete Maden daran. Nicht der Gebäude Hässlichkeit, nicht das Kreischen der Maschinen, sondern die tägliche Sklaventreibung darin, ließen ihn schnaufen. Dirk war froh, dass er seinen Leuten etwas Komfort und Arbeitsruhe geben konnte. Er wusste: Hektik zersprengte Jahre der Arbeit.
Bei einer Fabrik auf der rechten Seite bog er in eine unübersichtliche Seiteneinfahrt und kroch durch das Gestrüpp der Kiefern. Als er aufsah, nahm Dirk seine verbitterten Züge ab und ersetzte sie durch ein Lächeln. Der seit Jahrzehnten stillgelegte Betrieb – bestehend aus zwei Gebäuden, auf einem groß CAD gemalt war – wirkte verfallen. Doch hatte er ihm und seiner Clique die Geheimhaltung ihres Projektes gewährt. Schon – zum einen – wegen der unterschiedlichen Eingänge: Zwei vorn, an der Kamenzerstraße – deren Sicht durch die verwachsenen Bäume verborgen wurde –, dazu kamen zerbrochene Fenster; und ein stillgelegtes Bahngleis, das durch Gebüsch und Hecken ins Grundstück führte. Jeden Arbeitsmorgen gelangten sechs von Dirks Scheintrunkenen dort ins Hauptgebäude.
Zum anderen waren die vier Stockwerke und das Erdgeschoss des Hauptgebäudes leer und verstaubt. Dirk und sein Trupp hantierten im tief angelegten Keller, von dem kein Außenstehender etwas ahnte. Zur Vorsicht schickte er alle viertel Jahre jemand in die Umgebung hinaus, der die Anwohner und Arbeiter ausfragte. Die Antworten kamen meist auf das Gleiche heraus: „Seit bestimmt zwanzig Jahren geschlossen“, „Ist mir doch egal, was die hergestellt haben“, oder „Ich hab’ keine Zeit.“
Zufriedenen Gemüts streifte Dirk seine Hände über den sandfarbenen, abbröckelnden Putz, die Fensterrahmen und das türkisfarbene Glas vom Erdgeschoss. Bis er vor der dicken, graulackierten Eisentür stehen blieb. Trotz der beißenden Kälte des Türknaufs wurde ihm warm ums Herz. Der Schnee um ihn hätte schmelzen können, wäre die Hitze aus ihm geflossen.
„Auf ein Neues.“ Seine Stimme klang rau und kratzig. Wenige Tage und sie ist fertig. Wenn jetzt noch was schief geht ... Er schüttelte den Kopf, schritt durch die Tür, verschwand dahinter ... und ahnte von nichts.
Nachdem sich der Fahrstuhl mehrere Meter unter der Erde aufschob
und Dirk auf eine Metallbrüstung trat, stellte er sich an das Geländer. Der Duft von Öl und Schmiermitteln strömte in seine Nase.
Es gab weitaus mehr Anlagen, als auf dem ersten Blick sichtbar: Wie zum Beispiel die kleine, weiße Überwachungsstation in der linken Ecke unter ihm. Daran saßen Arbeiter, die den gesamten Komplex, einschließlich eines Kernstückes, kontrollierten. Heute aber herrschte reges Treiben. Die hellen Schritte verstummten. Vor allem, als seine Leute hoch starrten und inne hielten. Weitere erhoben sich von den seitlich angebauten Bänken, als wäre plötzlich ein auf Kapital geeichter Chef aufgetaucht.
Dirk dagegen atmete tief durch und wollte die Metalltreppe hinunterschlendern, als ihm einer der Arbeiter mit blauer Latzhose, Arbeitsschuhen, gelbem Schutzhelm und einem Grinsen entgegen hastete. Dieser circa 25-jährige Mann hieß Paul Flemming. Er war Dirks Stellvertreter und Manager für dieses Projekt – hier unter der Erde.
Die Streben erzitterten unter dem dumpfen Klingeln der Streben, das selbst das Surren der Luftschächte überlagerte. Noch im Sprint hechelte er Dirk entgegen: „He, Alter! Du glaubst es nich’: Wir haben Eismann fertig!“
Erst als Dirk den Zuruf mehrfach verarbeitet hatte, riss er die Augen auf. Hat er richtig gehört?
Paul bremste ab, kam zum Stehen, bevor er mit seinem Kamerad kollidierte.
Der schmächtige Paul setzte den Schutzhelm ab und verschnaufte kurz. Dirk brachte es nicht übers Herz, den Freund Luft holen zu lassen: „Willst du mich veralbern?“
Paul richtete sich in die Höhe, setzte seinen Helm wieder auf und strahlte wie die Sonne selbst: „Sieh sie dir an. Du wirst begeistert sein.“ Ohne Anstalten wirbelte er herum und stürmte die Treppe hinab. Dirk folgte ihm, wobei er Paul fast die Fersen aus dem Weg stieß. Kneif mich mal jemand. Stattdessen spürte er seine Lunge, die mit jeder Freudenwelle nach Luft rang.
Am Ende der Treppe holte er Paul ein und lief zur Mitte der Halle, wo sich halb verdeckt ein Betonpodest erhob. Auch die letzten Arbeiter stellten sich darum auf.
Als die Zwei zu den vierzehn tuschelnden Männern herantraten, teilte sich die Gruppe ... das Projekt kam zum Vorschein:
Vor ihnen lag eine silbergraue, über zwei Meter lange und achtzig Zentimeter hohe Eisenkapsel. Sie ähnelte einer Sardinenbüchse. Dutzende Ventile und Hebel waren daran montiert. Die Büchse zeigte im Inneren einen Hohlraum, der durch die verdichtete Klappe versiegelt werden konnte. Sie stand zurzeit offen.
Das Innenleben wurde hauptsächlich von Isolierungen, Rohrleitungen, Pumpen, Wärmetauschern, einer Stromzufuhr vom Hauptgenerator und einem integrierten Generator gezeichnet, der die Kapsel – mit Unterstützung einer Notfallbatterie – mit Leistung versorgte. Der Mechanismus hat bloß Nutzen, wenn ihm der Kreislauf eines Gemisches vorauseilte, das aus verschiedenen Kühlmitteln bestand: Dem Eiswasser. Durch den ständigen Kreislauf hatte die Clique der Maschine ermöglicht, dem Organismus im Inneren kontinuierlich Wärme zu entziehen ... natürlich nur, wenn alles nach Plan lief.
Dirk erkannte, als er auf das Podest sprang, kaum Unterschied zu der Kapsel vor einer Woche. Doch weitete er seine Lider, als starrte er in ein grelles Licht, das ihm das Himmelstor aufriss. Keine Furcht zehrte an ihm, eher Hoffnung. Es ist soweit. Drei Jahre, vom Grundriss bis zur Vollendung. Jetzt steht sie vor mir. Wenn Eismann funktioniert, ist das Projekt erst der Anfang!
Er lugte in das Innere der Kapsel. Der Hohlraum barg Platz für einen Menschen, mit Maximalgröße von einem Meter neunzig. Hinzu kam, dass das Außengehäuse mit Röhren verstrickt war, die mit den drei Tanks an der Wand gekoppelt waren. In ihnen schwamm ein Gemisch aus flüssigem Stickstoff, Sauerstoff, Glyzerin und geheim gehaltenen Kältemitteln. Es war Hauptbestandteil von Dirks Projekt. Um die Mixtur zu perfektionieren, hatten er und seine Leute fast ein Jahr experimentiert und sind fast verzweifelt.
Dirk berührte vor Staunen die Kapsel. „Ist sie wirklich fertig?“
„Aber sicher. Eben noch das Restliche angeschlossen und auf Hochglanz geputzt. Sieht jedenfalls besser aus als vor sechs Tagen.“
Der Erfinder inspizierte die Maschine genauer. „Jede Menge Arbeit war nötig, um das Baby zusammen zu bauen. Es scheint sich gelohnt zu haben.“
„Es hat sich gelohnt!“
Er wandte sich endgültig an Paul, statt ihm nur aus dem Seitenblick anzuschauen. „Ich hoffe, du hast an den Inhalt der Tanks gedacht. Die Rezeptur muss auf den Milliliter genau eingehalten werden.“
„Sie ist betriebsfertig und bis zum Rand gefüllt.“
Dirk nickte, dann drehte er sich zu seinen Arbeitern um, sah in die Gesichter derer, die einst ohne Hoffnung durch die Stadt stapften. Er – Dirk Uhmheka – hatte ihnen neuen Lebenswillen eingehaucht. Erfahrung zeichnete ihre scharfen Züge. Trotzdem lächelten sie.
Endlich wünschte Dirk ihnen einen „Guten Morgen“, poesierte vom Anfang des Projektes, über Probleme und bürokratischer Haar-Rauferei, bis hin zur Materialbeschaffung des Eiswassers und dessen Mischung. Insbesondere hob er das Clycerin hervor, das die Nervenstränge des Menschen vor Kälte schützen soll. Zum Schluss folgte die Danksagung.
„Wie wär’s mit dem fünffachen Lohn“, rief einer – mehr aus Spaß, als Ernst. Alle lachten.
Und Dirk atmete auf. „Wir haben ein Meisterwerk geschaffen; ein Wunder der Kryotechnik. Doch die Ratte, mit der wir damals das Eiswasser geprobt haben, reicht nicht. Zwar ist sie danach wieder rumgeflitzt, aber wir müssen die Standhaftigkeit testen. Was meint ihr?“
Paul neben ihm hustete. Dirk schenkte ihm kein Gehör. Er wusste, was kam.
Die Leute drum herum tuschelten, dann grinste einer der Alten. „Wie lang willstn’s durchziehen, Chef?“
Dirk grübelte. „Sagen wir ... einen Monat, vielleicht länger. Danach suchen wir uns einen Vertreiber.“
Der Alte schnalzte die Lippen. „Wenn das Vieh dann noch lebt, kriegt jeder von uns ‘nen Kasten – ja?“
„Gut. Ich lade euch danach in die Kneipeum die Ecke ein. Alles auf meine Rechnung.“ Er hatte vor, das Versprechen zu halten.
Knall auf Fall flutete lautes Grölen den Raum, übertönt vom Händeklatschen der munteren Gesellen. Für Dirk war an diesem Samstag ein Traum in Erfüllung gegangen. Nicht nur seine Kapsel war zum Test freigegeben, auch seine Arbeiter waren stolz. Gemeinsam würden sie dieses sensationelle Projekt vermarkten und ein neues Leben starten.
Als der Schall der Arbeiter verklungen war, drehte Dirk seinen Blick nochmals zur Kapsel und rief: „Montag Nachmittag machen wir den Test. Ihr bereitet alles vor; das Tier bringe ich mit. Schluss für heute!“
Kaum versiegte seine kratzige Stimme, nickten sie und marschierten – außer Dirk und Paul – mit einem Gruppengesang aus der Fabrik, in die Kälte Leipzig. Bier sprudelte danach noch genug.
Dirk hingegen starrte weiter auf die Kapsel. Über zweihunderttausend Euro hatte er in das Projekt gesteckt. „Wenn wir diese Glanzleistung erfolgreich bewerten, können wir sie vermarkten und berühmt werden.“ Er hob den Kopf zum schnaufenden Paul.
„Ich wollte schon vorhin etwas einwenden.“ Abrupt verzog er sein Gesicht. „Hab’ langsam die Schnauze voll vom ewigen Tüfteln. Wir müssen noch heute ein Patent anmelden, oder wenigstens mit dem Vermarkter in meiner Straße reden. Die Amis ...“
Dirk schüttelte so heftig und wirr den Kopf, dass Paul fast einen Lachkrampf ausgestoßen hätte. Dirk begann zu flüstern. „Nein, mein Freund. Wir haben drei Jahre daran geschraubt und müssen sie zu Ende schmieden.“ Als er die aufschäumende Lava in Pauls Augen sah, packte ihn der Zorn. „Verdammt! Willst du unser aller Genick brechen?! Das ist mein Projekt, ich habe Eismann entworfen!“
„Und wir müssen die Drecksarbeit machen!“
„Wer analysiert, beschafft und organisiert hier?!“ Seine Stimme wurde leiser, aber büßte keinen Deut Schärfe ein. „Ich habe dich von der Brücke gezerrt. Nunmehr hast du Theresa – deine Freundin – und ein ungeborenes Kind. Ich kann dich auch schnell wieder auf die Brücke bringen, wenn du unüberlegt handelst.“ Dirk beschwichtigte seine Wut. „Versteh doch: Ich bin der Funke von all dem –“, und ließ seine Rechte durch den Projektraum schweifen, „– und nur ich lege die Zündung um. Eine verfrühte und unkontrollierte Explosion können wir uns nicht leisten! Außerdem habe ich das Geld dafür. Und ich werde es – wenn nötig – bis in den Minusbereich ausgeben. Man hat es mir geschenkt, Paul. Dieses Geschenk werde ich nutzen, bis alles funktioniert.“
Pauls Kopf brodelte. Er wusste aber, dass Diskussionen nichts nützten: Beide hatten sich oft genug gestritten, schon als sie das Eiswasser perfektioniert hatten und bloß noch der Mechanismus her musste. Paul war zu hastig – vor allem wenn sich die Chance erbot, das Ruder selbst in die Hand zu nehmen. Er war zwar der Ältere, aber allein Dirk verdankte er sein Leben. Er spürte, wenn er zu viel forderte.
„Hast ja Recht“, grummelte Paul. „So weit wie wir sind die Amis noch lang nich’. Unser Motto lautet: Lebendig einfrieren und ohne Nebenwirkungen aufwachen. Die Lagerung eines Menschen im Eiswasser ist auf unbegrenzte Zeit möglich.“ Er lachte auf. „Bewusstsein bleibt erhalten!“
Dirk grinste. Wenn Paul sich erst beruhigt hatte, konnten sie sich in Partylaune betrinken.
„Ich les’ es schon in den Zeitungen!“ Paul drückte seinen Arm auf des Erfinders Schultern. „Dirk Uhmheka, das größte Genie Deutschlands hat es geschafft. Mit Hilfe seiner freiwilligen Arbeitergesellschaft hat er eine Technik entwickelt, mit der todkranke Menschen in die Zukunft gelangen, um ein rettendes Mittel einzunehmen.“
Dirk entgegnete der Witzelei mit einem müden Lächeln: „Von wegen, größtes Genie Deutschlands.“
Paul löste sich von ihm. „Du kennst mich doch.“
„Das macht mir ja Angst.“
„Ach was.“ Er packte ihn an den Oberarmen. „Montag bring’ ich eine Testkatze mit. Mein Nachbar hat hunderte davon. Dem fällt nich’ auf, wenn eine fehlt.“
Mit einem Von mir aus-Nicken stimmte Dirk zu.
„Ich muss los, Alter. Bis Montag.“ Endlich ließ Paul von ihm ab, drehte sich mit erhobener Hand um, stampfte zum Fahrstuhl und verschwand.
Der Erfinder dagegen sog erschöpft die Luft in die kratzende Lunge und stützte sich an der Kapsel ab. Manchmal fragte er sich, wer von ihnen näher am Kindesalter lag: Er oder Paul? Auf der einen Seite waren sie wie Brüder, auf der anderen so verschieden, dass ewig ein Loch zwischen ihnen klaffte.
Paul watete durch das Schneegestöber in den Norden Leipzigs. In seinem Innern verhedderte sich ein Gewirr aus Vorfreude und Frust. Am liebsten hätte er die überarbeiteten Aufzeichnungen von Dirk gestohlen und dem Marktmanager in seiner Straße gezeigt. In einem Monat wäre alles in die Wege geleitet.
Doch war Dirk Pauls Freund. Er durfte ihn nicht verraten!
Plötzlich rempelte er einen Mann an. Trotz Pauls schneller Reaktion klatschte der Alte – der in einem eingeschneiten Mülleimer gewühlt hatte – in den Matsch, stöhnte und wälzte sich wie von Sinnen über den Bürgersteig. Nässe fraß sich in die nach Urin und Teer stinkende Kutte.
„Mist!“ Ohne eine Sekunde zu verlieren, beugte sich Paul vornüber, packte den Bettler an der Hand und half ihm in zwei Schüben auf.
Der beklommene Mann dagegen stammelte ihn mit zitternder Stimme an: „Tut mir Leid, Herr, dass ich im Weg gestanden hab’.“ Er drehte Paul den Rücken zu und setzte zum Gehen an.
Paul aber reagierte nach kurzem Zögern. „Nein. Es tut mir Leid. Ich hab’ Sie schließlich angerempelt. Verzeihen Sie mir?“
Der Bettler mit dem befleckten Mantel wandte sich um, sah ihm erstaunt ins Gesicht, schloss die Augen ... und kicherte.
„Alles in Ordnung? Wenn ich etwas tun kann, sagen Sie es.“
Der Alte verstummte und schielte: „Haben Sie vielleicht ein paar Mark?“
Paul grinste und griff mit flinken Fingern in seine Jackentasche, zog seine Geldbörse heraus und reichte dem Mann fünfzig Euro. Der Bettler starrte Paul erschrocken an. Nach längerer Starre griff er nach dem Geld und packte es in seine Hosentasche. Sein Gesicht klarte auf und er lächelte: „Danke, Herr Flemming. Sie sind ein aufrichtiger Mann. Die Welt bräuchte mehr von ihrer Sorte. Vielleicht, bis bald.“
Gleichzeitig fuhr durch Pauls Körper ein elektrisches Zucken. „Woher kennen sie meinen Namen?“
Da schleppte sich der Bettler bereits den Bordstein hinunter. Paul starrte ihm einige Sekunden nach, wandte sich aber ebenfalls um.
Aus Neugierde blickte er zurück. Der alte Mann, der ihn vom Aussehen heran den ehemaligen amerikanischen Umweltminister Al Gore erinnerte, war weg. Dafür erspähte er etwas anderes im grellen Schnee: Ein greifartiger Vogel hüpfte keine zehn Meter von ihm entfernt am Rand entlang und krächzte ihn an. Paul konnte ihn erst nicht zuordnen. Nach rascher Musterung erkannte er den graublauen Rücken, die weiß-schwarz gescheckte Brust und die Wangenzeichnung eines Wanderfalken. Paul wusste, dass sich sein Artenbestand im Winde verlor und bald aussterben könnte. Eines wunderte ihn aber mehr: Diese Falken verbrachten den Winter im südlichen Europa! Was suchte dieses Tier hier?!
Unerwartet sprang der große Falke auf, flatterte hoch und verschmolz mit den Pigmenten der Wolken, die grollten und sich verdunkelten.
Etwas weitaus bedeutenderes hellte dagegen unter der Erde Dirks Gesicht auf: In zwei Tagen war der Test, und er würde mit Erfolg gekrönt.
Da ihm niemand weiter zusah, als das huschende Ungeziefer, streckte er seine Arme von sich, spreizte die Finger und schloss seine brennenden Augen. Er spürte sie, die Brise der Freiheit, die seinen Träumen Gestalt verlieh.
Vom Rausch gepackt riss er den Mund auf und lachte wie ein irrer Erfinder, der alles auf eine Karte setzte.
Das Wochenende wurde kalt unter dem verdeckten Firmament.
Kapitel 2
Renne!
Dirk wirbelte herum. Ein schwarzes Nichts umgab ihn. Keine Wände, keine Türen. Sein Atem stockte, als verschlang die Finsternis die Luft. Und sie entriss ihm noch etwas: Seine Lebensenergie. Er fühlte sich schlapp und kraftlos, wie nie zuvor im Leben. Als würde es nicht schlimmer kommen, überfiel ihn ungebändigte Müdigkeit. Aber Dirk konnte nicht einschlafen, schon seit zwei Wochen nicht. Zudem zerriss beinahe täglich seine Lunge.
Plötzlich erschallte ein Scherben zerspringendes Gelächter aus der Ferne. Umso lauter es heran sauste, desto mehr wollte Dirk umkippen. Er bangte, hier drinnen eingesperrt zu bleiben, für ewig – mit dem grässlichen Lachen, und der … Eiskapsel?
Dirk sah sie tatsächlich vor sich. Sie strahlte in hellblauem Schimmer und wurde zur einzigen Lichtquelle weit und breit. Ihre absendende Wärme prickelte auf Dirks Haut.
Er wollte darauf zugehen, kam jedoch keinen Schritt voran. Das Gelächter wurde kräftiger und trommelte ein Loch in seinen Verstand.
Unerwartet verhallte es. An dessen Stelle walzte eine sanfte Schwüle, dann eine Hitzewelle heran, die Dirk zu verbrennen drohte und seine Kehle zudrückte. Er schrie: ‘Aufhören!’
Stattdessen schoss aus der Kapsel eine Stichflamme und umschlang sie mit knisternden Flammen. Dirk schrie vor Angst, die in sein Herz stach. Und rannte zur Eiskapsel. Er durfte diesen Ausweg nicht verlieren!
Je schneller er rannte, desto weiter entfernte sich das Projekt.
Dann begann die Schwärze vor der Eiskapsel zu pulsieren. Eine von blitzenden Adern umschlungene Gestalt formte sich daraus. Dirk stoppte: Vor ihm bäumte sich ein Mann in zerfetztem, ledrigem Lendenschurz auf. Seine Haut war zerfurcht, Blut tropfte hinaus und unsymmetrische Hautstreifen schwebten von den Gliedern. Das Gesicht erkannte Dirk nicht, da es von Finsternis zerfressen war.
Ohne dass er die von Schwefel umfächerte Luft auspressen konnte streckte das Monster den Arm aus und spreizte die Finger. Dirk weitete seine Augen: DAugentete seine Augen, als die Flammen der Eiskapsel waberten zu der Hand der Kreatur, verbrannten sie nicht, sondern tauchten sie in blutiges Feuer. Liter aus Schweiß rannen aus Dirks Körper.
Schließlich erhallte das Gelächter erneut, und die Glut rauschte dem Unmensch in einem Feuerball aus der Hand. Einzelne Flammenzungen peitschten voraus. Bevor sie Dirk einäscherten brach aus der Kapsel ein gleißendes Licht, das alle Materie um ihn herum auslöschte. Das Gefühl von Befreiung schleuderte ihn aus der Finsternis heraus.
Dirk schrak hoch. Und keuchte.
Noch während er sich auf dem Schafswollteppich vor seinem unbenutzten Bett streckte, beruhigte er seinen Atem. Er hat tatsächlich drei Stunden geschlafen, wie ihm beim Blick auf den Wecker auffiel – das erste Mal seit zwei Wochen. Selbst das Kratzen und Nagen in seiner Lunge war abgeflacht. Eine Welle der Ruhe erinnerte Dirk, wie schön das Leben war, mit seinen gerade dreiundzwanzig Jahren.
Doch verkrampften seine Muskeln erneut, als er sich vom Teppich aufstemmte. Mit verschwommenem Blick musterte er das Symbol darauf: Ein türkisfarbenes Pentagramm – ein fünfzackiger Stern, allein aus einer handlich gezogenen, kantigen Linie. Dirk selbst hatte ihn vor einer Woche auf den Wollfetzen gekritzelt, da alle Hausrezepte versagt hatten. Manche Menschen behaupten, das Pentagramm beherberge magische Kräfte, schützt Leib und Seele vor bösen Geistern und soll Lebenskraft und Erholung schenken.
Ein Schlag von Teufelsanbetern sind der Überzeugung, dass es sich hierbei um den Kopf Satans handelt, was von einer Anmaßung der Kirche – aus dem achtzehnten Jahrhundert – herrührt. Sie nutzten die Entehrung des weiß-magischen Symbols zur Hassschürung auf die einstigen Tempelritter.
Dirk selbst verabscheute solchen okkulten Humbug. Ein Freund gab ihm den Behandlungstipp, dass er sich jede Nacht auf das Pentagramm setzen und neben flackernden Kerzen meditieren sollte. Dirk hatte ein Auge zugedrückt. Das letzte Mal jedoch. Denn statt sich zu entspannen, verkrampfte er jede Nacht aufs Neue und war in kochendem Schweiß gebadet. Sein Rekord lag bei knapp einer Stunde. Am Anfang dieser Nacht platzte ihm die Geduld. „So ein Blödsinn!“, hatte er ausgerufen und riss in einem Anfall von Tobsucht die fünf lodernden Kerzen, die er um sich aufgestellt hatte, nieder. Die Nase war voll von stickigem Ruß, und er war vor Erschöpfung niedergesunken und eingeschlafen.
Jetzt wandte er sich endgültig ab, trat mit einer Mischung aus Wut und Genugtuung auf eine verunformte Kerze, drückte das harte Wachs auf Bodenebene und verließ sein Zimmer.
Während er in den Alltag torkelte, überrumpelte ihn wieder das Gefühl der seelischen Leere. Seine Lunge begann zu stechen.
Mit Mühen wusch er sich, schlang Frühstück und Tee hinunter und watete im dicken Mantel zu seiner Arbeit, ins Zentrum von Leipzig. Schon während der Schulzeit hatte er in einem kleinen, neu eröffneten Café etwas Geld erarbeitet. Der Geschäftsführer war ein Bekannter seines Vaters gewesen. Die Arbeit – samt Atmosphäre – gefiel Dirk derart, dass er nach der Schule im Café in der Hainstraße als Kellner zu lernen begann und vor drei Monaten zum Gesellen herangereift war. Bloß kamen in letzter Zeit wenig Kunden. So sehr er den Gedanken zu verdrängen versuchte, spürte er neuerdings auch im Verhalten seines Chefs eine gewisse Anspannung.
Als er in weißem Kellnerhemd durch die von Nebel beschlagene Glastür trat und die Glocke darüber schellte, erblickten Dirks brennende Augen seinen Kollegen und Chef: Christian Bauer. Dieser polierte in schnellen Ellipsen einen schwarzen Granittisch, dessen Fläche – wie die anderen – eine Kreisform hatte. Daran standen je drei gepolsterte Stühle.
Auf künstlich weißem Marmorfußboden zog sich ein roter Teppich durch das fünfzehn Meter lange Café. Breit war dieses nur drei Meter.
Neben der schwarzen Bar mit braunem Tresen und vier Barhockern, die seitlich am Eingang ihren Platz fanden, verteilten sich eine Couch, drei Sessel und eine süß duftende Kuchenbar im ausgestreckten Gang. An der linken Wand war eine Nebentür integriert, die direkt zur Küche und ins Büro führte.
Obwohl Christian Fernseher, Raucher und Trinker verabscheute, hing an der Decke hinter dem Tresen ein grauer Bildschirm. Rechts daneben ein Zigarettenautomat. Im gläsernen Barschrank bot sich dazu ordentlich Auswahl: Zwölf unterschiedliche Wein-, Sekt- und Biersorten. Auf der linken Seite außerhalb der Bar erhob sich als Ausgleich ein mattblauer Eisschrank.
Dirk schloss die Tür und torkelte zu Christian, rammte eine schwarze Couch, die mit zwei anderen je im rechten Winkel an der Wand stand.
Der über zehn Jahre ältere Besitzer Christian Bauer hatte das Bistro vom Vater geerbt, der vor vier Jahren starb. Christian hat sich damals frisch eingearbeitet und freiwillige Aushilfen gesucht – dazu gesellte sich auch Dirk. Als Christian eine Anzeige für eine feste Stelle aufgab, trat ihm trotz der Verwirrung der Schulabgänger Dirk entgegen und grinste: „Warum hast du nicht gleich mich gefragt, statt die teure Anzeige aufzugeben?“
Christian grübelte noch heute, warum ausgerechnet Dirk – mit dem perfekten Abiturientenzeugnis – in dieses winzige Lokal wollte. Er hätte etwas Besseres werden können. Außerdem gab es tausend höher bezahltere Stellen: Wie die im Norden Leipzigs.
Nachdem Dirk sich ihm nun heute mit halb geschlossenen Augen gegenüber schleppte und „Morgen“ sagte, schrak Christian zurück: „Du siehst beschissen aus. Heut’ Nacht wieder kein Auge zubekommen?“
„Doch … drei Stunden.“ Dirk fiel an einen der Tische, in dem sich seine verschlafene Miene spiegelte und ihm der nach Fisch riechende Atem zurück schlug. Dann sah er Christian mit rollenden Augen an. „Das war’s auch schon gewesen.“
„Hast du von meinem Rat Gebrauch gemacht?“
„Ich meditiere seit knapp ‘ner Woche jede Nacht. Das bringt nix. Oft glaube ich, einzuschlafen. Am Ende bleibt’s bei einer eigenartigen Trance.“ Dirk schloss die Augen, welche vom Rauch einer Räucherkerze auf dem Tisch ausgebrannt wurde.
Christian schüttelte plötzlich den Kopf, mit Blick auf Dirks versteiften Hals. „Die Vorraussetzung für Meditation ist Entspannung. Ich kenne dich lang genug, um zu wissen, dass du über sämtlichen Alltagsmist nachgrübelst. Du hast nur Erfolg, wenn du in deine Seele horchst, statt in deine Gedanken.“ Seine Stimme wurde leiser, fast drohend. „Ansonsten leitet sich das vielleicht sogar in deinen Magen über und du lernst echte Schmerzen kennen.“ Christian wusste das, da er selbst einmal fast an Magenkrebs gestorben war!
„Ich probier’s nochmal aus.“ Dirk aber verwarf den Gedanken sofort wieder.
„Oder –“, auch Christian zweifelte an der Akzeptanz, „– ich geb’ dir morgen frei und du gehst zum Arzt. Siehst aus wie blasser Käse“, und grinste schwach. „Kannst dich von mir aus noch ‘ne Stunde ausruhen.“
„Wieso?“ Dirk zog mit Mühen eine Braue hoch.
Christian starrte ihn mürrisch in die Schlitzaugen. „Du musst dich mal untersuchen lassen. Nicht dass du was ausbrütest“, und grinste feist, „und steckst mich noch an.“
Dirk schüttelte sein dröhnendes Haupt. „Nein. Warum ich noch ‘ne Stunde faulenzen darf?“
Christian hörte mit dem Polieren auf – seine Finger brannten eh – und beugte sich nach vorn. „Du kennst das Ägyptische Museum der Universität, hier in der Nähe?“
Dirk kam Christians Kopf plötzlich riesig vor. „Ja – und?“
„Letzte Nacht hat der Sethklan wieder seine Runde gedreht. Die Kerle haben den roten Kristall gestohlen, der vor einer Woche in einem Tempel aus dem Tal der Könige geborgen worden war. Darum traut sich heut’ keiner heraus.“
Dirk schürzte die Lippen. „So einen Stein nennt man Rubin“, und sein runzelnder Blick alterte um zehn Jahre. „Wer sind die Typen nur? Der Stein soll gerade einmal dreitausend Euro wert sein. Für die sind das gammelige Fische.“
Christians Miene wurde finster. „Es gibt einige Gerüchte. Manche behaupten, die Kerle haben sich nach der Wende über die Südthüringer Grenze hierher geschlichen, um Anhänger zu finden. Andere sagen, der Sethklan operiert schon seit dem Zweiten Weltkrieg im Leipziger Untergrund. Bis vor kurzem wusste keiner, welches Ziel die verfolgen. Die neue Theorie sollte dich interessieren: Sie sammeln magische Gegenstände, die irgendetwas mit einem Gott zu tun haben. Sie wollen ihn ins Leben zurückrufen. Der heißt Seth – Herrscher des Chaos und der Wüstenstürme –“
Dirk funkte dazwischen. „Horus soll ihn in die Schranken gewiesen haben, bla, bla, bla. Ich bekomm’ die Story nicht mehr aus meinen Kopf! Ich hasse ihn dafür!“
Christians Gesicht wurde weich und legte ihm die Hand auf die Schulter. „Dein Vater war ein guter Mann, Dirk. Du konntest ihn nicht leiden, aber er hat eben seinen Traum gelebt. So wie du an seinem und deiner Mutter Sarg gestanden hast, das vergisst man nicht. Die Leute, die ihm den Finger gezeigt haben, sahen das Gute, was er hinterlassen hat: Dich. Vielleicht hat er diesen scheußlichen Tod verdient – in deinen Augen. Doch du bist aus dem gleichen Holz wie er. Solltest endlich Frieden mit seiner Seele schlie...“ Plötzlich stockte Christian, sah mit verwunderten Augen durch die Glastür und vergaß die Predigt. „Wird wohl nix mit ausruhen. Wir haben Besuch.“
Rasch flitzte Christian wie ein aufgescheuchter Truthahn durch den Gang und rutschte in die Küche. „Dass heute überhaupt jemand kommt?“, um gleich die Bestellung des Herrn vorzubereiten, der das Lokal betrat.
Dirk stemmte sich ebenfalls hoch. Seine Gelenke knirschten. Er stöhnte, wollte sich konzentrieren und eine heitere Miene aufzusetzen. Dabei stützte er sich an der Stuhllehne ab. Kaum getan, stampfte der angekündigte Herr in einem schwarzen Jackett und mit finsterem Gesicht durch die Tür und zog einen Hauch des Winters mit sich herein. Dirk fröstelte.
Er begrüßte den Kunden. Dieser gab keinen Laut zurück. Das, was Dirk erhaschte, war ein böser Blick – und interpretierte dies sarkastisch: Hol’ mir sofort ‘nen Kaffee oder ich massakriere euch. Ein Grinsen konnte Dirk sich nicht verkneifen. Lächerlich, was er da zusammen reimte.
Der Herr dafür setzte sich wie ein steifes Brett an den Tisch neben Dirk und schnaubte ihn an. „‘nen schwarzen Kaffee ohne Zucker – extrastark!“
Sofort stolperte Dirk in die Küche und kam den im Weg stehenden Gästetischen so nahe, dass er fast jeden rammte. Der Kunde hob eine Braue und sah perplex hinterher.
Kaum stieg Dirk ein Schwall von Gewürzen und verbranntem Speiseöl entgegen, fluchte Christian. „Dieser Kaffeekocher spuckt wohl nur noch Kalk!“ Er funktionierte schon Ende letzter Woche so schlecht, dass der Weg des Wassers in den Topf einem Spaziergang durch die Stadt nahe kam.
Dirk schaute Christian mit zufallenden Lidern an. „Schaff’ ihn zum Elektriker. Wer weiß, was er uns noch für Ärger macht.“
„Na gut. Wenn du auf den Laden aufpasst ...“, Christian hustete kurz. „Und umfällst?“
„Passiert nicht. Bring’ das Ding weg und ich schnapp’ mir den Wasserkocher.“ In Dirks Hirn sprangen erst jetzt die Nervenstränge an.
„Verbrüh’ dich nicht.“ Prompt zog Christian den Stecker der Maschine und packte sie in eine Tüte. „Der Herr bleibt heut’ sicher unser einziger Gast. Verscheuche ihn nicht.“
Rasch schlüpfte er – ohne dass der verschlafene Kellner etwas erwidern konnte – in Jacke und Stiefel, setzte seine graue Baskenmütze auf und schritt in den Gang. Nebenbei begrüßte er den schwarzen Mann und verschwand in der Eiseskälte Leipzigs. Dirk sah, wie der Kunde sich kurz herumdrehte und einen noch düstereren Blick aufsetzte. Dirk legte eine Interpretation beiseite und startete die Improvisation.
Mit leicht verbrühter Hand torkelte er Minuten später aus der Küche heraus. Nach dem ersten Klappern der Tasse legte der Herr eine Autobroschüre weg. „Hat ja ewig gedauert!“
Dirk stellte den kochenden Kaffee hin und begann zu beben. „Tut mir sehr leid, aber die Kaffeemaschine ist defekt. Dafür ist er extrastark. Das macht zwei zwanzig.“ So viel Güte war ihm noch nie begegnet.
Und der Herr ließ ein kurzes Lachen los. Sein Blick verzerrte sich, als hätte er schon vom Kaffee genippt.
„Stimmt was nicht?“ Bei Dirk sprossen die Nackenhärchen bergauf. Das Gekicher sprengte sein Trommelfell ... und warf ihn in den Traum von heute Nacht zurück. Er fuhr zusammen.
Stechendes Feuer schoss in seinen rechten Oberarm – in Form einer Spritze mit grüner Flüssigkeit. Nur noch die Hälfte schwappte darin. Dirk starrte dem Kerl ins grinsende Gesicht und kippte zu Boden. Schwärze umhüllte ihn. Sein Herz begann zu flattern. Die Einstichstelle brannte wie Säure. Das Brennen trieb ihm Tränen in die Augen. Krämpfe im Arm durchzuckten seinen ganzen Leib!
Er konnte noch hören, wie der Kunde aufstand und sehen, wie er sich abwandte. Zorn quoll auf. Doch brodelte daneben etwas anderes, viel mächtigeres, was er nie in sich gespürt hatte; eine Macht, die seine Augen aufriss!
Plötzlich packte er den Kerl am Bein. Dieser rutschte auf den polierten Fliesen aus und stürzte zu Boden.
Woher die Kraft auch kam: Dirk rappelte sich hoch, griff den Kaffeetopf und warf ihn gegen den Mann, der erneut türmen wollte. Das brühheiße Getränk ließ ihn kreischend zu Boden knallen.
Dirk drehte ihn wuchtig auf den Rücken, packte dessen Kragen, so dass der Mann nach Luft schnappte. Wieder grinste er Dirk aus lodernden Augen an. Dirk erwiderte zitternd. „Was soll das?! Spinnen Sie?!“
Mit sich straff zusammenpressender Hand zwang er den Mann zum Reden: „In der Spritze ist ein Gift, das erst auf den Markt kam. Es tötet in einer Stunde, Uhmheka – so qualvoll, dass du in den letzten Sekunden einen Knall im Kopf spürst. Und es gibt kein Gegengift. Mit deinem Tod wird der letzte Wächter ausgelöscht. Seth kann sich erheben!“ Das Lächeln wurde immer gespenstischer.
Mit jedem Kichern pulsierten Dirks Fäuste, verkrampften sich und er schlug ihm in den Bauch. Endlich verhallte das Gelächter.
Dirk fuhr hoch. Eisschauer jagten seinen Rücken hinab. Er würde sterben wegen eines Fabelwesens?! Der Sethklan hat den Anschlag befohlen. Wozu?! Dirk hat mit ihm nichts zu tun. Wie verrückt waren Leute, die Chaosgötter anbeteten?
Er bäumte sich auf, riss sich die Giftspritze aus dem Arm und schleuderte sie auf den Bauch des ohnmächtigen Mannes. Die Nadel brach ab, versank erst gar nicht im Stoff des Jacketts.
Schwäche ließ Dirk auf einen Stuhl taumeln. Er wollte die Augen schließen. Zu aufgewühlt sprangen seine Nerven umher. Er würde sterben. All seine Ziele und Visionen zerbrachen, von einer Sekunde zur anderen. Er hat die Injektion nicht bemerkt, so schnell war der Irre gewesen. Die Frage nach dem Warum verschwamm. Ein Gedanke keimte in ihm auf, die seinen nächtlichen Traum entfahren war und an den er sich immer stärker festkrallte: Projekt Eismann war seine letzte Rettung. Entweder sterben und die Welt im Unwissen über das Attentat lassen, oder es selbst herausfinden! Er musste zum Projektraum, schnell!
Rasch sprang er noch zum Wandtelefon und klingelte die Polizei an. Kaum schallte eine weibliche Stimme in Dirks Ohr rief er: „Ich hab’ ’nen Attentäter auf dem Boden liegen! Er hat ’ne Giftspritze dabei!“
Abrupt ließ Dirk den Hörer fallen. Rannte hinaus. Die Hoffnung auf ein schnelles Taxi zerbarst. Sie beschleunigten sogar bei dem nacheilenden Läufer. Dazu staute sich der Verkehr im Zentrum. Dirks Sicht verschwamm. Eine halbe Stunde bis in den Nordosten. Das Vorbereiten kostete weitere wertvolle Minuten. Kälte und Hitze drückten ihn hinab. Dirk mobilisierte seine letzte Kraft. Ein Sprint gegen die Zeit. Er musste es schaffen, sonst sickerten seine Träume endgültig die Nervenbahnen herunter. Der Sponsor seines Projektes würde ihm nie mehr gegenübertreten können!
Dirk hastete, spürte Sprung für Sprung, wie das Gift zum Herzen schlich. Trotz der Erregung übermannte ihn die Müdigkeit. Der Sprint zehrte an ihm.
Hoher Schnee. Es war eisig kalt.
Rote Ampeln ignorierte er. Fast wäre er durch mehrere Autoscheiben geschlagen, hätten die Fahrer nicht Vollbremsungen hingelegt. Es krachte, quietschte, Passanten schrien und sprangen in Deckung. Dirk registrierte nicht einmal das Hupen. Sein einziger Gedanke: Schneller. Schneller verdammt!
Schlagartig ließen seine Kräfte nach. Zwangen ihn zum Aufgeben. Als sich dann die stillgelegte Fabrik vor ihm auftat. Neben der verschwimmenden Sicht starrte er auf die Armbanduhr. Vom Laden bis hierher hat er fünfundzwanzig Minuten gebraucht. Er musste sich sputen, sammelte Kraft und rannte wieder los.
Er knallte in den Fahrstuhl, konnte jedoch nicht die Knöpfe drücken. Ein gleißendes Leuchten flammte aus seiner rechten, am Boden liegenden Hand heraus. Dann flimmerten seine Augen. Gallegeschmack. Er brach zusammen.
Paul hatte etliches um die Ohren. Die Arbeiter flitzten an ihm vorbei, schupsten ihn sogar. Ein schreiender Kater im Käfig zerfetzte seine Gedanken und stand bereits neben der Eiskapsel. Das rothaarige Tier jedoch hatte Glück.
Plötzlich öffnete sich der Fahrstuhl. Einige Arbeiter und auch Paul starrten hinauf. Verwirrung verzog ihre Minen. Niemand kam heraus. Paul hörte, wie die Tür vor dem Schließen erneut aufging. Und auf einmal verschwamm sein Umfeld. Er sieht Dirk, wie dieser über die vereisten Straßen stürmt und droht umzufallen, spürt, wie sein Herz flattert und ihn die Angst quält: Die Angst vor dem Tod!
Dirk! Paul brach die Lider auf. „Unmöglich!“
Binnen von Sekunden sprang er die Brüstung hinauf. Als er anhielt, erstarrte er. Die Arbeiter riefen zu ihm hinauf. Seine Ohren verzerrten die Schreie wie durch gestörte Lautsprecher. Vor seinen einknickenden Knien erblickte er Dirk zur Hälfte außerhalb des Fahrstuhls. Er bibberte. In Panik versuchte Paul ihn aufzurichten. Dirk sah ihn mit Schlitzaugen an. „Schön dich zu sehen ... Alter.“
Der rief, nein, brüllte: „Schwatz’ nich’ so blödes Zeug! Was ist passiert?!“
Dirk versuchte sich zu konzentrieren. „Grünes Gift … erst auf den Markt gekommen … tötet in einer Stunde. Hat mir ‘n Irrer auf Arbeit gespritzt. Ich bin heut ‘s Versuchstier – klar?“
Paul sog die Lunge voll … und stürmte mit Dirks Arm auf der Schulter die Treppe hinab. „Macht die Kapsel klar! Planänderung!“
Dirk erwachte; Minuten, nachdem man ihn in die leere Kapsel gelegt hatte. Sein Kopf hämmerte. Das Erste, was er in Schemen wahrnahm, war Paul, der ihn hin und her zerrte. Dieser stoppte damit, legte Dirk nieder und hielt ihn weiter in den knirschenden Fingern. „Wir haben nicht viel Zeit. Deine Vitalwerte verschlechtern sich enorm.“ Pauls Blick wurde grimmiger. „Hör’ zu. Ohne dieses Wissen wirst du in der Zukunft nicht überleben: Deine Beschreibung und die Internetdaten ergeben, dass das Zeug in deinem Blut eine Mischung aus Schlangengift und verschiedenen Chemikalien ist. Es wurde vor einer Woche auf den Schwarzmarkt gebracht. Eins interessiert uns: Die Wirkung löst sich auf, wenn es unter minus 140 GradCelsius lagert, voraussichtlich fünfzehn Jahre lang. Hast du verstanden?“
Dirk blinzelte ernst zu seinem Freund. „Das Eiswasser kann null Kelvin (-273°C) erreichen. Einige Jahre sollte die Kapsel auch überstehen.“ Er versuchte sich abzulenken und krächzte mit kaum genug Kraft. „Wir sehen uns, wenn du deine ersten grauen Haare kriegst. Grüß’ Theresa und das Baby, wenn es auf die Welt kommt. Hoffe, ich darf sie bald kennen lernen.“
Er sah Dirk tief in die gläsernen, matten Augen. Dass der in dieser Situation an Pauls Freundin und dessen Leben dachte: Unglaublich. Paul selbst hätte den Verstand verloren. Diese Ruhe hat er an Dirk immer geschätzt.
Paul atmete tief ein, unterdrückte die Tränen. „Wir sehen uns wieder. Das ist ein Versprechen!“
Dirk grinste ihn an. Zorn, Bedauern, aber auch Enttäuschung und Vorwurf spiegelten sich darin. Als wolle er den Moment unnötig herauszögern, versuchte er Dirk – oder eher sich selbst – zu beruhigen: „Lediglich dein Stoffwechsel wird ruhen. Bis dann.“
Das war Dirk klar. Paul hatte absichtlich etwas vergessen: Möglicher Schaden wird nur durch schnelles Einfrieren verhindert. Das war es, was Dirk beunruhigte. Er spürte plötzlich, wie enorme Kälte an seinem Körper nagte. Und dann findet er sich in einer anderen Zeit wider?
Wenige Pulsschläge später legte einer der Arbeiter den Schalter um. Die hydraulische Luke senkte sich. Finsternis verschlang das Licht.
Trotz der Angst überlegte Dirk: Es war ein neuer Traum, den er mitnehmen wollte. Er würde den Verantwortlichen, der für die Zerstörung seiner Sehnsüchte verantwortlich war, finden und zur Rechenschaft ziehen – ohne jede Rücksicht.
Noch einmal erinnerte er sich an sein kurzes Leben. Das war das Schmerzhafteste, was er je gefühlt hatte, stärker als eine Glasscherbe im Fleisch. Den Neuanfang musste er erfolgreicher gestalten!
Das Vakuum zog sich zusammen. Frostiger Dampf kribbelte an Dirks Fingern. Eisige, geradezu selbsterfrierende Kälte umschloss seine Glieder, die taub wurden. Panisch dachte er: Die Kapsel wird nicht funktionieren. Die letzte Luft eingesogen und er würde ertrinken, wenn seine Rezeptur nicht seiner Vorstellung entsprach.
Dies passierte zum Glück nicht. Das Anfangsstadium des Projekts Eismann hatte begonnen. Dirks Körper lag nun ihn tiefster Starre.
Der bewölkte Himmel wurde immer dunkler, statt heller. Aufgelöst stapften die fünfzehn Männer aus der Fabrik, welche einst ihr Leben war. Alle verfolgten sie den Traum des Ruhmes für ihre Arbeit. Das Schicksal verschmähte sie und wollte ihr Leben zu Grunde richten, wie auch Paul durch eine unerklärbare Macht voraus gesehen hatte.
Er regelte noch jegliche Stromzufuhr des selbst konzipierten und gebauten Erdwärmegenerators auf die Kapselversorgung ein, drehte die Heizung ab, nahm die Katze unter den Arm und verriegelte sämtliche Eingänge hinter sich. Er stellte sich der Eiseskälte Leipzigs und machte ein paar Schritte. Alles um ihn wirkte farblos, stumm und ohne Natur. Ihn hätte es nicht gewundert, wenn gleich Aschestaub aus den Wolken rieseln würde.
Trotzdem wandte er sich um, sah zu der fahlen Fabrik mit ihren zwei Gebäuden, dem Zaun und das Gestrüpp darin. Ein letztes Mal.
Er schnaubte und ließ den Kater in den Schnee tapsen. Als das Tier davon flitzte, lächelte er. Der Glaube auf einen Neuanfang erfüllte seine Seele. Ich werde herausfinden, wer uns das eingebrockt hat. Auch wenn ich bis China wandern muss. Ich mache unseren Traum wieder geltend, Dirk. Verlass dich darauf.
Somit schleppte auch er sich durch die hereinbrechende Kälte der Stadt. Er war auf dem Weg zu einem neuen Leben. Ein großer Falke kreiste über ihm.
1. Spaltung
Ehrgeiz, Tatendrang und Mitgefühl sind des Menschen größte Tugenden. Die kleinste Unachtsamkeit und alles schwimmt davon.
Kapitel 3
Eine nicht allzu ferne Zukunft
Die Jahre verstrichen, Entwicklungen nahmen ihren Lauf. Unsere Zeit wird sich nicht mit dieser Geschichte verwirren. Lassen wir uns vom Strom der Geschehnisse treiben, und schauen, was auf uns zukommen mag.
Der Spätsommer herrschte über der oberen Nordhalbkugel.
Rasch wischte Martin sich den Schweiß von der Stirn, die danach matt schimmerte. Kaum entfernte er das Sekret an seiner mehr grauen als blauen Latzhose, quoll die Nässe erneut aus seinem Kopf. Er stöhnte, stellte mit zuvor zurückgedrängter Überzeugung die Arbeit ein und lehnte sich gegen den Spaten. Eine Verschnaufpause würde ihm gut tun. Fünf Stunden haben sie ohne nur eine Pause geschuftet.
Jetzt aber spürte er umso heftiger, wie die Hitze um ihn herum empor schwelte. Zur Ablenkung sah er sich um: Die flirrende Sonne über ihnen regte sich keinen Millimeter. Um ihre Sklaven noch mehr auszulachen, schoss sie Milliarden von Pfeilen auf die knapp fünfzig Mann, die sich durch Trümmer und sandgraue Asche hackten. Sie hantierten hier nicht in den Ausläufern der Sahara, sondern am Rand Leipzigs, mitten in einer Kraterregion, die als Stadtteil Schönefeld-Abtnaundorf bekannt war!
In Martins trockenen Augen ähnelte das Arial einer ausgestorbenen Mondlandschaft. Haufen aus Dreck türmten sich. Meterbreite Erdrisse zischten durch das Gebiet, das sogar öfters bebte. In der Sicht eines normalen Menschen nahm der graue Boden kein Ende. Martin hingegen besaß eine Sehstärke, um die ihn sogar der Optiker beneidete: Weit am Horizont erspähte er aufbäumende Wohnblöcke, verbogene und gespaltene Metallträger, die meterhoch aus dem Erdreich ragten, und lange, überbreite Straßen. Davon schlängelte sich auch eine durch die Wüstenebene und verband das nördliche Thekla mit dem Stadtzentrum.
Diese Umstände schockten Martin kaum noch. Wie viel Abstoßendes hatte er schon gesehen, vor allem in anderen Städten. Leipzig wirkte harmlos. Und doch glaubte er, wenn er aus paradiesischen Träumen erwachte, dass eine Brunst Feuerwalzen durch die Region gefegt wäre. Vieles richteten die Menschen wieder her und verschönerten es. Doch konnten sie die Merkmale des fünfjährigen Schreckens nicht ausradieren; weder auf Erden, noch aus ihren Köpfen.
Wegen der zusätzlichen Wirtschaftskrise gingen über achtzig Prozent der Unternehmen in Deutschland Pleite. Viele haben sich erholt. Trotzdem saßen zwanzig Millionen Arbeitslose auf der Straße; viele sind bereits verhungert. Die noch herrschende Demokratie war nur eine Hülle aus falschen Versprechen: „Bald erstrahlt unser Land wieder in alter, farbiger Pracht. Die Wirtschaft erholt sich!“, sagte der derzeitige Bundeskanzler. Wie damals sehen sie von den Tatsachen weg und ignorieren sie. Bloß keine Panik.
Hätten Martins knapp zwei Jahre älterer Bruder und er sich vor fünf Monaten nicht für den Bergungsauftrag gemeldet, erginge es ihnen wie anderen Todgeweihten.
Die Bergungsfirma – die wohl auch vor dem Konkurs stand – warb um Freiwillige. Nicht, um nach Leichen zu buddeln, sondern nach wertvollen Objekten, Kriegsmunition und verschüttetem Industriegut, das man in der Not gut eintauschen konnte. Doch entdeckten sie in diesen fünf Monaten Plackerei nicht einen Eisenspan, abgesehen vom Rost ihrer Schaufeln. Sie wussten nicht, wo sie die Schutthaufen noch hinschieben sollten.
Sein Geist sprang in die Realität zurück, als ein Arbeiter den Spaten auf den eigenen Fuß schlug. Ein verzerrter Schrei zertrümmerte Martins Trommelfell. Und er roch den nach beißend stinkenden Schweiß der Arbeiter. Um die Pein abzuwenden, stellte er sich vor, er stünde in einer Horde majestätischer Löwen, die sich bei der Jagd abgehetzt hatten. Wie ein Raubtier fühlte sich keiner von ihnen. Die schlechte Bezahlung der Firma, die fast nur mit mittelalterlichen Werkzeugen wirtschaftete, riss alle in den Dreck. Fünfzig Meter entfernt rosteten zwar zwei gelbe Bagger und ein sieben Meter hoher, rollbarer Auslegerkran vor sich hin. Die Kolosse durften sie jedoch nur fahren, wenn etwasgefunden wurde. Keiner wollte wertvollen Schmuck zerschmettern.
Das widerte jemand ganz besonders an:
Rico Preller stützte sich neben seinem Bruder an einer Schaufel ab. Doch sah er, nach Martins neuester Prognose, miserabel aus. Der einst so lebhafte Mann sank immer tiefer in den Abgrund. Er war siebenundzwanzig Jahre alt, besaß ein schmales, matt gebräuntes Gesicht und unter schmalen Brauen duselten müde blaue Augen.
Martin grinste, als ihm die unterschiedlich anliegenden Ohren seines Bruders auffielen, die durch kraftloses Haar lugten. Sie saßen so schief wie Ricos Hirnhälften. Zum Ausgleich trug der eine goldene Kreole am linken Ohrläppchen. Da hindurch hätte Martin zu gern eine Kette gefädelt und Rico über die zerfurchte Kraterlandschaft geschliffen. Sechs Jahre schmarotzte er sich schon bei Martin durch. Wie oft hätte er ihn einfach hinausgeworfen – wäre er nicht sein Bruder. Den Vorschlag, dass Rico einmal zum Psychiater gehen sollte, hatte er nie von sich gegeben, weil ein Psychologe mit zerrauftem Haar aus dem Fenster getürmt wäre, hätte er Rico als Patient.
Um noch mehr Zeit totzuschlagen (die Uhr stand erst auf fünf Uhr abends) stampfte Martin zu der in abgeschürften Turnschuhen lungernden Gestalt.
„He, Rico. Jemand zu Hause?“ Durch die dunkelblonden Haare hinter Ricos Ohren, die bis über die Schultern ragten, hörte dieser so schlecht, wie auch ohne.
Beim zweiten Ruf schrak der zusammen. Aus Absicht reagierte er erst Sekunden später und hob träge seinen Kopf. Er erkannte seinen kleineren – pardon – jüngeren Bruder (Martin war ein paar Zentimeter größer als Rico, was den seit dem Übergang ins Erwachsenenalter ärgerte), der ihn kopfschüttelnd angrinste. In Martins etwas blasserem Gesicht zierten wasserklare Augen und eine wuchtigere Nase als Ricos Prachtzinken.
Rico starrte ihn in die verzogene Miene. „Was gibt’s?“ Er murrte wie ein Schlaftrunkener, den man aus dem Bett geworfen hatte.
„Du brauchst mal wieder ‘ne Mütze Schlaf.“ Martins Lächeln erschlaffte so plötzlich, wie er es aufgesetzt hat. „Nicht, dass du mir umkippst, wenn der Aufseher kommt.“
Rico winkte ab. „Dann such’ ich mir ‘nen andern Platz zum Arbeiten. Vorher geige ich Pippich noch, was ich von ihm halte!“ Dreizehn Stunden totrackern, jeden Tag für nichts und wieder nichts. Hirnrissig! „Wenn der Depp wenigstens drei Detektoren besorgen könnte, hätten mir schon Tonnen von Schrott ausgebuddelt.“
Martin musterte ihn mit nachdenklicher Stirn, riss die Lider hoch und starrte auf etwas hinter Ricos Rücken, dämpfte die Stimme: „Äh, der Aufseher steht hinter dir.“
Rico fuhr auf und blinzelte nach hinten. Er sah bloß ein paar Arbeiter, die zehn Meter von ihnen entfernt ihre Spaten in den staubenden Grund rammten. „Ha, ha“, schnaubte er. Jähzorn stach in seines Bruders Augen. „Ich dachte schon, du meinst es ern...“, und stockte, zischte durch die Zähne und zeigte unauffällig an Martin vorbei.
„Bei mir zieht das nicht, Bruderherz.“
Ein raues Husten erklang ... und: „Warum gammelt ihr hier rum, ihr Nichtsnutze?“
Abrupt wirbelte Martin herum. Doch schwang er seinen Spaten mit sich, dessen Spitze gegen des Aufsehers Knie knallte.
Keinen Pulsschlag später und der Kopf von Matthias Pippich explodierte. Ein gorillaartiger Schrei trümmerte aus seiner Kehle. Die Arbeiter hielten sich die Ohren zu. Rico lachte wie ein Geisteskranker.
Nach Augenblicken des Jammerns und Herumhüpfens versuchte Pippich das pulsierende Bein aufzustellen. Erst zuckte sein Gesicht, dann stand er beidfüßig auf dem Boden, ohne zu schwanken. Der Schmerz brannte weiter. Diesen ließ er sofort an den Brüdern aus: „Wie kann man so blöd sein!“, und deutete überzogen auf sein Knie. „Ich würd’ euch feuern, bräuchten wir nich’ jeden Mann hier. Heute macht ihr Deppen bis neun – kapiert?!“ Rico hielt die Luft vor Pippichs fischigem Atem an. „Los, weitermachen, oder ihr bekommt ‘nen Einlauf!“
Martin nickte. Auch noch am Freitag!
Rico aber rührte sich keinen Meter. Er kicherte ungestört weiter. Wer das Weichei zum Aufseher gewählt hat, war besoffen oder plemm plemm. Geschieht dir recht, Fettsack.
Pippichs herunterfallende Wangen blähten sich rot auf. Wut sprengte seine kahle Kopfhaut. „Was ist mit dir, Trantüte?! Auf der Schaufel ausruhen, das haben mir gern!“
Rico verstummte. Nachdem er Pippich ewige Sekunden lang anstarrte lachte er weiter. „Ein Trottel sind Sie. Kann das so wehtun, dass Sie gleich ‘nen Cha-Cha aufführen?“ Sein Gesicht versteifte. „Geh’ lieber in deine Baracke und glotz’ uns zu –“, wobei er zu einem grauen Bürohäuschen auf unprofilierten Rädern und mit zugezogenen Jalosinen zeigte, „– was mir in jeder Sekunde machen. Mehr als du in deinem verdreckten Leben.“ Ricos Hochmut stieg, als Pippich die Fäuste ballte. „Lass mich raten: Warst mal ein stinkreicher Millionärssohn, der alles für Stripperinnen, Schampus und Glücksspiele verjubelt hat. Ohne Beziehungen würdest du längst auf der Straße hocken, wie mir! Was denken Sie – falls Sie das überhaupt können?“
Der Aufseher starrte Rico fassungslos an und öffnete seine quellenden Kiefer. „Du denkst wohl, du kannst bei allen ‘ne große Lippe riskieren ...“
„Nur bei Typen wie dir. Nie gearbeitet und jedem Befehle aufdrängen, der mehr drauf hat als du. Typisch Snob.“
„Jetzt reicht’s! Einer mehr oder weniger, das ist kein Verlust.“ Pippich wirkte leicht angespannt. Doch brodelte in seinem Inneren Lava, als sprengte sich in wenigen Sekunden der Mount Saint Hellens zum zweiten Mal in die Luft. „Heute dulde ich dich noch. Aber ab Morgen setzt du keinen Fuß mehr auf dieses Gebiet!“ Er lockerte seine Fäuste. „Wenn du heute noch richtig arbeitest, kriegst du sogar deinen ganzen Monatslohn. So fies bin ich gar nicht – oder? Was denkst du?“
Rico wechselte einen Blick mit Martin. Der sandte ihm einen Hauch voll Schwermut.
„Schön.“ Rico hob seine flache Hand. „Wenn ich den Scheck abends nich’ hier drauf liegen seh’, sorge ich dafür, dass der Laden für moderne Urmenschen schließt, und Sie in die Steinzeit zurückjagt – klar?!“
Pippich knurrte, nickte aber. Er wollte Rico auf die Intensivstation des nahe liegenden Krankenhauses prügeln. Zu feige war er, den Appell an sich selbst umzusetzen.
Kurzerhand schwenkte sich der Aufseher herum und humpelte von der Menge davon. Er merkte nicht einmal, dass er seine Fäuste gegen die Taillenseiten knallte. Kurz vor seiner Kanzel hielt er inne, entsann sich und grübelte: Woher weiß der das von den Weibern und dem Spielrausch?