Solange die Nachtigall singt - Antonia Michaelis - E-Book

Solange die Nachtigall singt E-Book

Antonia Michaelis

4,6

Beschreibung

Ein Wald, der im Nebel ein Rätsel verbirgt. Ein Wanderer, der sich verirrt. Eine Geschichte, die dem Leser den Atem raubt. Nach Abschluss seiner Tischlerlehre begibt sich Jari auf Wanderschaft, um Freiheit und Natur zu genießen. Dabei trifft er auf Jascha, das bezauberndste Mädchen, dem er je begegnet ist, und folgt ihr zu ihrer Enklave mitten im Wald. Gefangen zwischen märchenhafter Schönheit und menschlichen Abgründen wird der harmlose Tischler zum unerbittlichen Jäger. Poetisch und fesselnd erzählt Erfolgsautorin Antonia Michaelis die Geschichte einer Liebe, der kein Geheimnis zu düster und kein Opfer zu groß ist. Das Meisterwerk einer Märchenerzählerin.

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Für Tanja Heitmann und den Mops.

Dämmergrün

Etwas war geschehen.

Der Wald war zu still, die Blätter der hohen Buchen schienen zu zittern, als kostete es sie beinahe übermäßige Anstrengung, sich nicht zu rühren, als wollten die Bäume ihre rauschenden Stimmen zu einem Schrei erheben.

Etwas war geschehen.

Er wusste nicht, was. Er war nur ein Betrachter.

Er stand reglos, kaum atmend, ließ seinen Blick über das Grün der Blätter gleiten … Und dann sah er die Tiere. Auch sie waren zu still, in der Bewegung eingefroren, verharrend in einem Schritt, dem Heben eines Kopfes, dem lauschenden Aufstellen wachsamer Ohren. Da war ein Hirsch, halb verborgen im Schatten eines entwurzelten alten Baumes. Da war ein kleiner grauer Vogel, hoch in den Ästen einer Eiche. Da war ein Fuchs, ein schlanker roter Schemen im Unterholz: erstarrt, als hätte er etwas gehört, was er nicht hatte hören wollen.

Etwas war geschehen.

Irgendwo in der Tiefe seiner grünen Undurchdringlichkeit barg der Wald ein Geheimnis, irgendwo dort gab es etwas Schreckliches, vielleicht die Überreste von etwas. Irgendwo dort war Blut in den Boden gesickert, er konnte es beinahe riechen. Noch nie zuvor hatte er etwas Derartiges gefühlt, noch nie zuvor hatte ihn Stille auf diese Art schaudern lassen. Dort, in den Schatten, gab es etwas ihm Fremdes, Dunkles, das in der Welt, aus der er kam, keinen Platz hatte. Einen Moment lang glaubte er, eine Bewegung zu sehen, ein Huschen, drei weiße Schemen. Aber er irrte sich. Der Wald war still.

Und er war schön. Er war vollkommen. Jedes Blatt, jeder grazil gebogene Ast, jede Ranke war eine Perfektion in sich, goldgrün, von innen heraus leuchtend, unerklärlich.

Er trat zurück und schüttelte den Kopf, unwillig. Um den Wald wuchs ein rechteckiger Holzrahmen, und eine Glasscheibe trennte den Betrachter von der Perfektion der Bäume. Es war ein Bild, nichts als ein Bild im Fenster einer winzigen Galerie. Er hatte nicht damit gerechnet, hier so etwas zu finden wie eine Kunstgalerie. Vermutlich gab es Touristen. Wanderer, die die schmale, gewundene Straße hinaufgingen, um den wahren Wald zu betreten, vorbei an den niedrigen, aneinandergelehnten Häusern. Touristen mit Geld, die auf dem Rückweg vielleicht ein Bild erstanden. Er war ein Tourist. Ohne Geld allerdings.

Er zuckte die Schultern versuchte, über sich selbst zu lachen. Was war in ihn gefahren? Wieso stand er hier und starrte dieses Bild an? Es war nicht einmal ein interessantes Bild. Ein Landschaftsgemälde, ersetzbar durch ein Foto, ein Gemälde, das nichts zeigte als das, was ohnehin schon da war.

Nein.

Genau das war es. Dieses Bild zeigte nichts. Es verbarg etwas.

Blut war in die Erde gesickert, ein Geräusch gehört worden, der Wald erstarrt …

Aber entsprang all das nicht nur seiner Einbildung?

Er ging auch die drei steilen Stufen zur Tür der Galerie hinauf, ohne zu wissen, warum.

Er war mit dem Zug gekommen, in Zittau war er zum letzten Mal umgestiegen. Er hatte vor zwei Tagen seine Gesellenprüfung zum Tischler gemacht und beschlossen, ein paar Wochen hier oben im Wald zu wandern: nur er und die Berge und der Himmel.

Sein Name war Jari.

Er hatte vor wenigen Wochen seinen achtzehnten Geburtstag gefeiert.

In seiner Tasche steckten sein Messer, ein Portemonnaie mit dreiundfünfzig Euro zwanzig und das Handy, von dem er hoffte, dass es hier oben keinen Empfang haben würde. Auf den alten Militärrucksack hatte er sein Zelt geschnallt. Er würde seine Nase nur kurz in die Galerie stecken, wozu auch immer, dann würde er das Dorf verlassen, das Bild vergessen.

Er würde bis ganz hinauf gehen, in die Wolken, wo Nebel bereits die herbstlichen Pfade bedeckte. Und nach zwei oder drei Wochen, wenn er seine Lungen mit genügend frischer Luft gefüllt hatte, würde er irgendwo einkehren und sich ein Mädchen suchen, ein wenig Spaß haben. Er wollte etwas zu erzählen haben, wenn er nach Hause kam, so wie Matti: Matti mit dem wirren langen Haar, der mit ihm die Gesellenprüfung abgelegt hatte. Matti hatte immer eine Menge zu erzählen von den Mädchen, Matti sagte, es wäre leicht, eine zu finden, wenn man nur die Augen aufhielte.

Wenn Jari an seine bisherigen Abenteuer dachte, waren sie nicht besonders abenteuerlich gewesen und erst recht nicht erzählenswert: Begegnungen mit Mädchen im Zwielicht schummriger Partys, hektisches Verheddern in Kleidung, eine gewisse Peinlichkeit, die Angst, in der jeweiligen verborgenen Ecke entdeckt zu werden, seine Ungeschicklichkeit, ein zu schnelles Erreichen des Ziels. Er hatte keines der Mädchen wirklich und in ihrer Gesamtheit gesehen und ihre Gesichter vergessen. Bei Matti blieben sie, bei Jari war nie eine geblieben.

Jetzt, jetzt würde alles anders werden. Er würde ein wirkliches Abenteuer erleben. Drei Wochen absoluter Freiheit lagen vor ihm. Hier, wo der Wald die Grenzen zwischen den Ländern verwischte, wo es keinen Unterschied mehr gab zwischen Polen, Tschechien oder Deutschland. Er wusste noch nicht, in welchem Ort seine Wanderung enden würde und welche Sprache die Mädchen dort sprachen, er würde den Wald und die Berge entscheiden lassen; die Ungewissheit hatte etwas durchaus Reizvolles.

Matti hatte mitkommen wollen, aber dann war er doch zu Hause geblieben, und nun war Jari dankbar dafür. Matti gehörte in die Welt der Holzbretter und Hobelspäne, in die Welt, in die auch Jaris Eltern gehörten und in die Jari zurückkehren würde, vermutlich für immer. Diese drei Wochen waren seine letzte Chance, eine Weile aus der Holzbretterwelt auszubrechen, so zu tun, als käme da noch etwas anderes. Er war voll Unternehmungslust. Es war Herbst, aber für ihn war es beinahe Frühling: Alles begann. Seine Wanderung begann, seine Freiheit begann, sein Leben begann.

Als er die Tür der kleinen Galerie öffnete, ertönte das helle Klingeln eines Silberglöckchens. Er ahnte nicht, dass damit bereits alles entschieden war. Und wie bald seine Freiheit enden würde.

Sein Name war Jari.

Er war mit dem Zug gekommen, in Zittau war er zum letzten Mal umgestiegen.

Er war achtzehn Jahre alt.

»Weißt du, wohin sie uns bringen?«, sagte das erste kleine Mädchen.

»Woher soll ich das wissen?«, sagte das zweite kleine Mädchen.

»Du bist die Älteste«, sagte das dritte kleine Mädchen.

»Es ist sehr dunkel«, sagte das erste kleine Mädchen.

»Da, wo sie uns hinbringen, wird es noch dunkler sein«, sagte das zweite kleine Mädchen.

»Woher weißt du das?«, fragte das dritte kleine Mädchen.

»Ich bin die Älteste«, sagte das zweite kleine Mädchen.

Sie saßen ganz still. Sie wagten nicht, sich zu rühren, wie die Blätter im Wald, wenn etwas sie erschreckt hat: der Donner oder das Fallen eines Baumes, den der Sturm entwurzelt. Oder der Todesschrei eines Tieres. Es war nicht viel Raum, wo sie saßen. Sie brauchten nicht einmal diesen Raum, sie kauerten dicht beieinander. Sie waren nicht drei, sie waren wie eins, ein winziges, zitterndes Geschöpf in der Dunkelheit.

»Sie werden uns töten«, sagte das zweite kleine Mädchen.

»Nein«, sagte das dritte kleine Mädchen.

»Ja«, sagte das erste kleine Mädchen.

»Er kommt und holt uns«, sagte das dritte kleine Mädchen.

»Er ist weit weg«, sagte das zweite kleine Mädchen.

»Sie werden ihn rufen«, sagte das erste kleine Mädchen.

Dann sagten sie nichts mehr. Sie schwiegen. Die Dunkelheit war dicht, und der Boden war kalt, und die Tür war verschlossen, sie wussten es genau. Es war ein Keller, es musste ein Keller sein. Da war ein Geruch von Feuchtigkeit, ein Geruch wie eine Erinnerung. Einmal, vor sehr langer Zeit, hatte er einen Spaziergang mit ihnen gemacht, im Wald. Es war Herbst gewesen, und der Wald hatte so gerochen … Wonach hatte der Wald gerochen? Nach Pilzen? Nach fallendem Laub? Nach seinen großen, schützenden Händen? Sie konnten sich nicht erinnern. Der Wald war eine unbekannte Welt voller Geheimnisse. Die Welt, die sie kannten, bestand aus zu großen Häusern mit zu hohen Decken und zu wenigen Möbeln. Viele solche Häuser hatten sie gekannt, sie waren alle anders und alle gleich, die Bediensteten sprachen alle verschiedene Sprachen und sprachen doch dieselbe, und keines der Häuser war wie der Wald an diesem einen goldenen Herbsttag gewesen.

»Wir müssen uns festhalten«, flüsterte das erste kleine Mädchen.

»Ganz fest«, flüsterte das zweite.

»Nicht loslassen«, flüsterte das dritte.

Und sie legten die Arme umeinander, betteten die Köpfe aufeinander, atmeten den Atem der anderen in der feuchten Dunkelheit. Und keines von ihnen wusste, ob sie den Morgen erleben würden.

Das Herbstlicht füllte die winzige Galerie auf erstaunliche Weise mit flüssigem Gold.

Jari blieb einen Moment lang mitten im Raum stehen und sah sich um. Die Galerie maß nicht viel mehr als ein paar Quadratmeter. An den rau verputzten, weiß gestrichenen Wänden hingen mehr Bilder, andere Bilder, die meisten kleiner als das Bild im Fenster. Es waren öde Abbildungen heimischer Natur, Postkartenansichten von Sandsteinformationen mit klingenden Namen und – nein. Da war noch eines, das ihn erstarren ließ. Es war kaum größer als ein Schulheft. Jari brauchte nicht näher heranzutreten, um zu erkennen, dass der Wald auch auf diesem Bild ein unbehagliches Schweigen schwieg.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte jemand.

Er zuckte zusammen. Natürlich. Natürlich war er nicht allein hier. Galerien beinhalteten in der Regel Galeristen. Nicht dass er sich mit diesen Dingen auskannte …

Hinter einem schmalen alten Holztisch saß eine ausladende ältere Dame in einem violetten Strickkleid und lächelte ihn unter einer Flut von grauen Löckchen hervor an. Vor ihr stand ein unpassend modernes Kartenlesegerät.

»Nei  … nein, danke«, stotterte Jari, seltsam ertappt, »ich … ich suche nichts. Ich sehe mich nur um.« Sagte man das in einer Galerie? War es nicht eher eine Bemerkung für einen Baumarkt? Es war, in jedem Fall, eine Lüge. Natürlich suchte er etwas. Ich suche das, dachte Jari, was auf dem Bild nicht zu sehen ist. Idiot.

Die Dame im Wollkleid nickte und lächelte noch ein wenig breiter, nachsichtig. Sie saß nicht allein an ihrem Tisch, da war eine junge Frau bei ihr, ein Mädchen beinahe. Ein hässliches Mädchen unglücklicherweise. Offenbar hatten die beiden zusammen Kaffee getrunken. Auf dem Tisch, neben dem Kartenlesegerät, standen zwei leere Tassen und ein Teller mit einem übrig gebliebenen Keks, die Sorte Keks, die man im Supermarkt kauft, weil man keine Zeit hat, zu backen. Jaris Mutter verabscheute Supermarktkekse. Genau wie Doseneintopf und Tütensuppen und eingefrorene Pizza. Nichts, was nicht aus ihrer eigenen Küche kam, würde je seinen Weg auf den Tisch finden, den sie jeden Abend mit großer Sorgfalt deckte und auf dem sie noch immer die gleichen gestärkten weißen Tischtücher ausbreitete, die Teil ihrer Aussteuer gewesen waren. Ein wenig war es stets, als käme seine Mutter aus einer anderen Zeit, der »Zeit, als wir nichts hatten«, als wäre sie eine Großmutter, eine Urgroßmutter, eine Märchengestalt. Sie hatte ihre Kindheit weit jenseits der tschechischen Grenze verbracht, aber das war kein Grund, fand Jari, eine Welt aus gestärkten Tischtüchern aufzubauen.

Drei Wochen Freiheit waren auch drei Wochen ohne Tischtücher, drei Wochen, in denen er theoretisch von Supermarktkeksen leben konnte. Wenn er auf seiner Wanderung in den Bergen einen Supermarkt fand. Es war längst Zeit, zu Hause auszuziehen, er wusste es, und vielleicht war sein Entschluss, zu wandern, auch eine Flucht. Ein Bruch. Wenn er zurückkam, würde er endlich ein eigenes Leben beginnen. Ein Leben zwischen Brettern und Hobelspänen, sicher, aber immerhin ein Leben im Hier und Jetzt.

»Er ist in Gedanken«, sagte das Mädchen. »Er hat die Frage nicht gehört. Ein Träumer.«

Sie hatte leise gesprochen, kaum hörbar, aber Jari fuhr hoch. »Wie?«

Er hörte die beiden Frauen lachen, ein Duett aus dem tiefen, alten Lachen der älteren und dem hellen Lachen der jüngeren Frau. Sie lachte wie das Silberglöckchen an der Tür. Das war allerdings alles, was sie mit dem Wort Silberglöckchen verband. Sie trug eine starke Brille mit großen, eckigen Gläsern, hinter denen ihre Augen winzig wirkten, und sie blinzelte, wenn sie sprach, als könnte sie ihre eigenen Worte nicht gut genug sehen.

»Ich habe Sie gefragt«, wiederholte die Frau mit den grauen Löckchen, »ob Sie wandern wollen. Wie die anderen. Der Herbst ist schön hier oben. Aber wir kriegen einen frühen Winter dieses Jahr. Es kommen nicht mehr viele zum Wandern.«

»Ja … ich … ich bin gekommen, um zu wandern«, antwortete Jari. Er betrachtete noch immer das Mädchen. Sie war aufgestanden und bückte sich über einen großen Rucksack, den sie umständlich schloss. Etwas mit ihrem Rücken stimmte nicht. Unter dem verblichenen Kleid und der alten Strickjacke zeichnete sich deutlich ein Buckel ab. Die Wirbelsäule des Mädchens war verkrümmt, die Rippen wölbten sich auf der einen Seite hervor.

Jari sah jetzt auch ihre Schuhe, klobige schwarze Schuhe mit offensichtlich unterschiedlich hohen Sohlen, wohl um die Asymmetrie des geschundenen Körpers auszugleichen. Die dünnen Arme, die aus der Strickjacke ragten, der dünne Hals und das schmale Gesicht passten nicht zum plumpen Rest der Gestalt; nichts, gar nichts passte zusammen. Um den Kopf hatte sie ein schwarz-grau gemustertes Tuch geschlungen, das selbst Jaris Mutter zu altmodisch gewesen wäre. Vorn ragten ein paar kurze, strohig blonde Haarsträhnen darunter hervor.

Er dachte an die Schönheit des Waldes auf dem Bild. Das Mädchen war in allem das Gegenteil. Ich habe, dachte er, noch nie ein so hässliches Mädchen gesehen. Es war natürlich nicht ihre Schuld. Eine Laune der Natur hatte sie zu dem gemacht, was sie war. Du Glückliche, dachte er, du bist sicher vor Jari, dem Verführer, Jari, dem Raubtier. Beinahe lachte er laut über sich selbst. Harr. Jari, das Raubtier mit den Tischlerhänden, der Verführer mit der Mutter, die noch immer seine Hemden bügelt.

»Welchen Weg wirst du nehmen, mein Junge?«, fragte die Frau mit den grauen Löckchen.

»Ich dachte, ich gehe hinauf zum großen Bären, über die Sturmhöhe«, antwortete er und lauschte den Worten nach. Sie klangen in seinen Ohren wie das Rauschen der Bäume im Wind, wie Gewitterwolken, wie der Beginn von etwas Großartigem. Er war noch nie hier gewesen. Die klingenden Worte stammten aus dem Reiseführer, den sein Vater ihm geschenkt hatte. Er hatte ihn zu Hause liegen lassen. Mit voller Absicht.

»Danach … weiß ich noch nicht. Der Wald wird entscheiden.«

»Lass dich nicht vom Bären fressen«, sagte das hässliche Mädchen leise und lachte wieder ein Glöckchenlachen. Ihre Worte, dachte Jari, passen nicht ganz zu ihrem Äußeren, sie sind zu keck, zu … Er wusste nicht, was. »Lass dich nicht vom Sturm davonwehen!«

Die Galeristin lachte ebenfalls, und ihr ganzer ausladender violetter Wollleib zitterte dabei.

»Der Bär ist nur ein Felsen. Aber das weißt du sicher. Und die Sturmhöhe ist erstaunlich windstill. Ein schöner Platz mit einer Bank, um zu rasten.« Sie wandte sich an das Mädchen. »Gehst du nicht auch dort entlang?«

Das Mädchen nickte. Sie hatte inzwischen alle Schnallen an ihrem Rucksack festgezurrt. Als sie sich – ein wenig mühsam – wieder aufrichtete, sah Jari, dass es kein Rucksack war. Es war eine altmodische Kiepe aus Holz und Lederriemen, ein Museumsstück. Er ließ seinen Blick wieder über das altmodische Kleid und die unförmige Strickjacke gleiten, über das Kopftuch. Vielleicht war sie Mitglied in irgendeiner Sekte, in irgendeinem abgelegenen kleinen Ort, in dem die Leute Dinge wie Handys und Fernsehen dem Teufel zuschrieben und bestritten, dass der Mensch vom Affen abstammte. Natürlich, dies war der beste Ort für solche Menschen, ein Gebirgszug voller alter Sagen und Märchen, ein Gebiet jenseits von Zeit und Gesetzen …

»Du solltest mit dem Bus fahren«, sagte die Frau mit den Löckchen. »Natürlich ist es ein Umweg, die Vögel, die über den Wald fliegen, haben es kürzer; die Straße führt außen herum. Aber du bist kein Vogel, mein Kind. Der Weg durch den großen Wald ist zu mühsam.«

»Das ganze Leben ist zu mühsam«, erwiderte das Mädchen und lächelte. Das Lächeln verzog ihren Mund zu einer seltsam schiefen Linie, als ließe sich einer ihrer Mundwinkel nicht richtig bewegen. »Du weißt, dass ich die Luft brauche. Und die Bewegung ist gut für die Beine … stärkt auch die Muskeln im Rücken …«

»Werde mir nur nicht zu stark, mein armes Lamm«, sagte die Frau mit den Löckchen, ihre Stimme eine bittere Mischung aus Ironie und Mitleid. »Irgendwann brichst du dir dein Rückgrat mit dieser Kiepe. Ich verstehe nicht, weshalb du nicht jemand anderen die Bilder bringen lässt.«

»Doch, das verstehst du«, sagte das Mädchen. »Du vertraust deine Galerie auch niemandem an.« Sie schulterte die Kiepe und nickte zum Abschied. »In einem Monat komme ich wieder. Dann sprechen wir über das Geld. Falls sie verkauft werden.«

»Sie werden immer verkauft«, sagte die Frau. »Diese Bilder immer. In einem Monat dann …« Sie hievte ihr Wollkleid von dem kleinen Stuhl und hielt die Tür der Galerie auf.

»Und du?«, fragte sie, als fiele ihr Jaris Existenz erst jetzt wieder ein. »Gehst du auch? Über die Sturmhöhe, zum großen Bären?«

Jari hörte den Spott in ihrer Frage. »Ja«, sagte er fest. »Ja, ich gehe auch.«

»Dann habt ihr ein Stück des Weges gemein«, sagte die Frau. »Wie wäre es, wenn du ihr die Kiepe trägst?«

»Ja. Ja, natürlich.« Er machte einen Satz zur Tür und fiel beinahe die Stufen herunter. Er hätte selbst darauf kommen können. »Warte! Warte, ich helfe dir …«

Er sah, wie die Frau mit den Löckchen zufrieden nickte, ehe sie die Tür hinter ihm schloss. Das Silberglöckchen klingelte wieder.

Dann stand Jari in der schmalen Straße, die nicht einmal einen Bürgersteig besaß, stand dem Mädchen gegenüber. Er hatte eine Hand ausgestreckt, um ihr die Kiepe abzunehmen, doch sie reagierte nicht, sie sah ihn nur an, und er verharrte in der Bewegung, verunsichert. Ihre kleinen Augen hinter den dicken, übergroßen Brillengläsern musterten ihn von Kopf bis Fuß, als könnte sie ihn erst hier draußen, außerhalb der Galerie, richtig erkennen. Es war ihm unbehaglich, auf diese Weise gemustert zu werden. Was guckst du mich so an?, wollte er sagen, böse beinahe. Es gibt nichts Besonderes zu sehen. Es gibt nur Jari Cizek, Cizek wie der Zeisig, die Haare braunscheckig wie das Gefieder des Zeisigs – wenn auch zum Glück ohne die gelben Stellen –, die Augen von einem Grün wie das Moos auf den Ästen, über die der Zeisig hüpft, ein ganz und gar gewöhnlicher Vogel, ein gewöhnlicher Junge.

»Du musst mir nicht helfen«, sagte das Mädchen. »Die Kiepe ist leer. Du hast deinen Rucksack zu tragen. Lass sie reden, die alte Kupplerin.« Damit wandte sie sich ab und ging die Straße hinauf, ihr Schritt unregelmäßig und wiegend, das eine Bein zog sie ein wenig nach.

»Aber …« Jari folgte ihr, doch er kam rasch ins Schwitzen, die verdammte Straße wurde hier oben steiler und steiler. Bei den letzten Häusern des Dorfes, wo die Straße zu einem ungeteerten Wanderweg wurde, blieb er stehen.

»Warte!«, rief er. »Wir haben den gleichen Weg, oder nicht?«

Warum rief er ihr nach? Warum ließ er sie nicht gehen, trödelte, wartete, bis er allein war mit dem hohen Himmel und den Bergen? War das nicht sein Plan gewesen? Was wollte er mit diesem verkrüppelten Mädchen? Da war etwas in ihrem Blick gewesen, das ihn festgehalten hatte. Etwas in ihrer Stimme, dieser hellen Stimme, die so wenig zu dem grauen Kopftuch passte. Etwas, das ihn auf unerklärliche Art faszinierte.

Sie wartete wirklich, bis er neben ihr war. Sie sagte nichts. Sie gingen gemeinsam weiter, schweigend, zwischen Obstwiesen, dann führte der Weg im angenehm kühlen Schatten am Waldrand entlang. Unten im Tal hatte der Herbst einen rötlichen Schleier über das Land gelegt. Die Städte und Straßen waren weit fort, waren winzig und unwichtig geworden. Aus der Höhe rief mit aller Macht der Wald.

»Du bringst also Bilder zu dieser Galerie?«, fragte Jari schließlich.

»Das Wetter ist schön«, sagte das Mädchen.

Er stutzte. Und begriff. »Nein«, sagte er. »Nein, ich frage nicht aus Höflichkeit. Ich frage, weil ich es wissen will.« Wollte er das? »War eines der Bilder das im Fenster?«

»Ja.«

»Und ein anderes das ganz kleine, das drinnen zwischen zwei größeren hängt?«

»Ja.«

Er atmete tief durch. Er hatte also recht gehabt.

»Wer malt sie? Jemand in dem Ort hinter dem Wald, aus dem du kommst? Kann man sie dort nicht verkaufen?«

»Weniger Touristen«, erwiderte das Mädchen und zuckte die Schultern. »Wo ich herkomme, gibt es keinen Bahnhof. Keine Hotels. Keine ausgeschilderten Wanderwege.«

Jari nickte.

»Ich«, sagte sie.

Er starrte sie an. »Wie bitte?«

»Du wolltest wissen, wer die Bilder malt. Ich male sie. Ich lebe davon.«

»Nein.«

»Nein?« Sie sah ihn an, ein spöttisches Lachen in ihren winzigen Augen, so weit fort, hinter Gläsern.

»Ich meine: wirklich?«, fragte Jari. »Kann man vom Bilderverkaufen leben?«

»Die Touristen sind gute Käufer.«

»Aber – die Bilder …« Es war schwer, mit ihr Schritt zu halten, trotz ihres humpelnden, wiegenden Gangs. Sie musste diesen Weg tausendmal gegangen sein, sie war die Höhe und die Steigung gewohnt. »Was ist darauf?«, fragte er.

Sie schwieg eine Weile. »Der Wald«, antwortete sie schließlich. Aber es war keine Antwort.

»Da ist noch etwas«, beharrte Jari. »Etwas hinter den Bäumen. Hinter den Tieren. Es ist …«

»Einbildung«, antwortete sie und lachte, da war wieder der silberne Ton des Glöckchens – oder war es der Gesang eines Vogels, der in ihrem Lachen mitschwang? Ein kleiner Vogel, dachte Jari, unauffällig grau, aber mit einer wunderschönen Stimme. Der Vogel auf dem Bild.

»Eine Nachtigall«, sagte er laut.

Sie zuckte kaum merklich zusammen. Es war, als hätte das Wort etwas in ihr ausgelöst, das sie nicht an die Oberfläche ließ, als zitterte diese Oberfläche wie die Blätter auf dem Bild.

»Der große Bär«, sagte sie. »Wir sind da. Das ist die Sturmhöhe.«

Der Felsen ragte direkt vor dem Waldrand auf. Er war vielleicht zehn Meter hoch, jedoch nicht schroff und bedrohlich, wie Jari ihn sich vorgestellt hatte. Mit seinen abgerundeten Kanten wirkte er wie ein Gebilde aus Wachstropfen, übergroßen Wachstropfen, die vom Himmel gefallen waren, einer über den anderen.

»Der Bär steht, sagt man«, erklärte das Mädchen. »Er ist vor langer Zeit aus dem Wald gekommen und einfach dort stehen geblieben, versteinert, als das Licht auf ihn fiel. Er brauchte die Schatten des Waldes zum Leben.« Sie lachte. »Da ist die Bank, auf der die Touristen ausruhen, siehst du? Man hat eine schöne Aussicht von hier. Möchtest du ausruhen?«

Die Bank war aus hellem Holz, sie musste vor Kurzem erneuert worden sein. Ein Papierkorb stand daneben, mit zwei Plastiktrinkpäckchen darin. Jari hätte gern ein wenig auf der Bank gesessen und ins Tal hinabgesehen. Er war verschwitzt vom Aufstieg. Er griff in seine Tasche, wollte das Handy herausholen und nachsehen, wie lange sie gebraucht hatten, um die Sturmhöhe zu erreichen. Doch dann ließ er es. Der Blick des Mädchens, der auf ihm ruhte, hatte etwas Irritierendes, und das Handy, der Papierkorb, die Bank kamen Jari auf einmal dumm vor.

»Nein«, sagte er. »Ich muss nicht ausruhen. Gehen wir weiter.«

»Überleg es dir gut. Es ist der letzte Ausblick vor den Schatten«, wiederholte sie. »Im Wald scheint die Sonne anders.«

Er schüttelte den Kopf und ging voraus, folgte dem Weg, am Bärenfelsen vorbei, unter die Bäume.

Ja, hier begann er. Der Wald.

Der Weg stieg jetzt nur noch sacht an, aber er war schmaler geworden. Das Mädchen holte Jari mit zwei Schritten ein. Auf einmal schien sie es noch eiliger zu haben. Sie lief ihm voraus wie ein Hund, wie ein Kind, um eine Kurve – und beinahe glaubte er schon, er würde sie nicht mehr finden, wenn er selbst um die Kurve kam. Doch da stand sie, umgeben vom schützenden, dichten Grün der Zweige, und sah ihm entgegen. Und lächelte wieder; ihr schräges, seltsames Lächeln. Dann setzte sie die Kiepe ab.

Jari blieb ebenfalls stehen. Er begriff nicht, was geschah.

Da hob sie die Hand zu ihrem rechten Mundwinkel, ihre Nägel schienen etwas zu suchen, eine Unebenheit der Haut … Sie fanden sie, und mit einem Ruck zog das Mädchen etwas ab, das Jari zuvor nicht bemerkt hatte, eine Art durchsichtiges Pflaster. Er zuckte zusammen. Es musste wehtun. Doch sie lächelte, anders jetzt. Sie lächelte nicht mehr schräg. Sie nahm die übergroße Brille mit den dicken Gläsern ab und ließ sie fallen, löste beinahe gleichzeitig das grau gemusterte Kopftuch und schüttelte ihr Haar aus.

»Wa  … was …«, begann Jari und brach ab.

Das Haar des Mädchens war lang und glänzend schwarz. Die wenigen strohigen blonden Strähnen hatte sie mit dem Kopftuch gelöst. Ihre Augen waren nicht mehr klein und weit fort, sie waren groß, tief und dunkel, und ehe Jari noch etwas sagen oder denken konnte, hatte sie sich auch die Strickjacke vom Leib gerissen und ließ das verblichene Kleid zu Boden gleiten. Sie stieg daraus empor wie aus einem Strudel hässlich gemeinen grauen Wassers. Sie war nicht nackt. Sie trug noch ein Kleid unter dem ersten, ein Kleid von der Farbe der Baumrinde im Schatten, tiefbraun und eng an ihrem Körper anliegend. Ihr Körper. Ihr Körper war plötzlich ein anderer. Schlank und biegsam war er, der Rücken gerade, die Haltung aufrecht wie die einer Tänzerin. Unter dem Kleid zeichneten sich beinahe ein wenig zu deutlich ihre Brüste ab. Sie hob die Hände über den Kopf, streckte und dehnte sich wie nach langem Schlaf und schüttelte als Letztes die schweren schwarzen Schuhe ab. Ihre Beine waren genau gleich lang.

Sie stand vor ihm, barfuß, strich die schwarzen Wellen ihres Haares zurück und sah ihn an.

»Das … das ist nicht wahr«, flüsterte Jari.

Sie lachte ihr Glöckchenlachen, laut, übermütig, noch klarer als zuvor, sie lachte über sein dummes Gesicht. Vermutlich stand er mit offenem Mund da.

»Es ist nicht gut«, sagte sie, »wenn die Leute im Dorf zu genau wissen, wer man ist.«

Jari sah von dem Mädchen zu dem Haufen Kleider auf dem Boden und zurück.

Es war eine unglaubliche Verwandlung.

Die junge Frau, die er jetzt vor sich hatte, war nicht nur nicht mehr hässlich. Sie war das Schönste, was er je gesehen hatte. Schöner als die Nacht. Schöner als der Mond. Schöner als die Sonne. Schöner sogar als die Idee der Schönheit. Sie war perfekt. So perfekt, dass sie ihm beinahe Angst machte. Sie breitete die Arme aus und wirbelte einmal im Kreis wie ein übermütiger Windstoß, das tiefbraune, lange Kleid flog um ihre Knie und gab zwei ebenfalls perfekt geformte Beine frei. Jari schluckte.

Schließlich stand sie still, schwer atmend, und bückte sich, um den Haufen Kleider in der Kiepe zu verstauen. Sie musste das Kleid mit Polstern ausgestopft haben, um die Illusion des Rippenbuckels zu erzeugen, die verschieden hohen Schuhe hatten ihren Gang wiegend und seltsam gemacht. Jari konnte nicht aufhören, den Kopf über die Täuschung zu schütteln. Er wollte lachen, aber das Lachen blieb ihm im Hals stecken. Ihre Schönheit nahm ihm den Atem.

So, mein Kind, bist du nun noch sicher vor Jari, dem Verführer, Jari, dem Raubtier? Dem Raubtier, das zu ungeschickt ist und vielleicht auch zu schüchtern, um ein Raubtier zu sein … Oder ist er es, der nicht sicher vor dir ist? Er fühlte sich hilflos und unerfahren neben ihr, mehr noch als zuvor. Ein kleiner Junge, naiv, leicht zu täuschen. Der Wald war tief und nahm sie auf, als wäre sie ein Teil seiner selbst, ihre Schönheit ein Teil seiner Schönheit.

Der Wald war tief, und er folgte ihr hinein.

Flammseide

Sie wanderten lange so zu zweit durch den Wald. Der Boden stieg an und fiel wieder ab, steil hinauf und hinab führte der Pfad sie, zwischen Buchenstämmen hindurch, wo hohe Gräser im Wind schaukelten. Knorrige Eichen säumten den Weg; sie krallten ihre Wurzeln um runde Felsköpfe. An sumpfigen Stellen balancierten sie über umgestürzte Birkenstämme. Violette Blütenstauden ragten aus dem Wasser, hier und da eine gelbe Lilie. Jaris Mutter liebte Lilien, sie hatte ein ganzes Zwölferset an Servietten mit gelben Lilien bestickt.

Jari beobachtete einen Frosch, der im feucht glänzenden Morast saß und ihn mit goldenen Augen ansah. »Bis wohin gehen wir zusammen?«, fragte er.

»Das ist eine Frage, die nur du beantworten kannst«, sagte sie sanft und sprang leichtfüßig auf einen weiteren Baumstamm, eine weitere scheinbar zufällige Brücke durch den Sumpf. »Du bist ein Wanderer. Du kannst gehen, wohin du willst.«

Er nickte. »Ich habe drei Wochen Zeit, mich gründlich in den Bergen zu verlaufen.«

»Du hast bereits damit begonnen«, sagte sie und lachte. »Vorsicht!«

Ihre Warnung kam zu spät, Jaris Füße rutschten auf einem glatten Stamm ab, und im nächsten Moment landete er rücklings im Sumpf. Sie watete auf ihren nackten Füßen zu ihm und streckte die schlanke Hand aus, um ihm hochzuhelfen. Die Berührung ihrer Finger war ihm beinahe unangenehm. Als sei dies bereits eine zu intime Geste, viel intimer als alles, was die namenlosen Mädchen in den schummrigen Ecken seiner Vergangenheit getan hatten. Er stand auf, sah an sich hinab; seine Jeans war getränkt mit dem Wasser des Moores. Er fluchte, und sie legte lächelnd den Finger an die Lippen.

»Still, still.« Sie stand ganz dicht vor ihm und sah zu ihm auf. Ihre dunklen Augen waren wie das Moor. Man konnte nicht dahintersehen. »Wanderer«, sagte sie leise, »hast du auch einen Namen?«

»Jari«, antwortete er. »Aber in der Lehre haben sie mich nur bei meinem Nachnamen genannt. Cizek. Der Zeisig.«

»Ein Zeisig«, wiederholte sie nachdenklich und strich mit einer Hand durch sein Haar, das verklebt war vom Schlamm. Er musste aussehen wie ein kompletter Idiot. »Was ist ein Zeisig für ein Vogel?«

»Er ist klein und unscheinbar«, sagte Jari. »Unbedeutend. Er tut nichts, als zu existieren. Er lebt in den Tag hinein. Nur wenn man ihm ein wenig näher kommt, bemerkt man die gelben Federn in seinem Kleid. Wenn man ihm näher kommt, ist er bunt.«

»Und er fällt gern in den Schlick und macht sich diese schönen gelben Federn schmutzig«, sagte sie. »Aber ich mag sein Lied.«

Er fing ihre Hand, als sie sie zurückzog, und die Berührung war noch immer wagemutig, obwohl es nur eine Hand war. Er hielt sie fest. Und in seinem Kopf standen glasklar, gestochen scharf die Worte: Ich flirte. Ich flirte mit einem Mädchen im Wald, dem schönsten Mädchen der Welt. Das war nicht der Plan. Sie wird gehen, in ihr Dorf, und ich bin erst am Anfang meiner Wanderung.

»Und wie heißt du?«, fragte er.

»Jascha.«

»Jascha?« Er schüttelte den Kopf. »Das ist ein Männername.«

»Nicht nur. Es ist auch ein Name für eine Frau. Wenn man im Wald ganz auf sich gestellt ist, muss man manchmal ein Mann sein und manchmal eine Frau … Es gibt so viele Dinge, die nur ein Mann tun kann!«

Sie riss sich los und lief weiter, ihr Lachen neckisch, ihr Haar wie ein schwarz glänzender Pinselstrich auf dem Waldbild, das sie durchquerte. Er rannte ihr nach, froh, dass der Weg hier wieder trocken und eben war.

»Holz hacken!«, rief sie. »Wasser tragen! Mauern ausbessern! Bären jagen!« Sie drehte sich nach ihm um. »Manche versteinern, wenn man auf sie schießt.«

»Gibt es hier Bären?«

Sie zuckte die Schultern. »Wölfe gibt es. Sie hatten sie schon ausgerottet hier, aber es sind wieder welche eingewandert, von Polen her. Jetzt sind sie geschützt, und sie vermehren sich. Die Menschen in den Dörfern haben Angst vor ihnen.«

»Und du?«, fragte Jari und wurde sich gleichzeitig bewusst, was sie zuvor gesagt hatte. Allein im Wald. Auf sich gestellt. Mauern ausbessern. »Warte«, sagte er. »Die Menschen in den Dörfern? Bist du denn keine von ihnen?«

»Aber nein.« Sie schüttelte den Kopf und ließ ihr glänzendes schwarzes Haar wieder fliegen. »Ich lebe nicht in einem Dorf, auch wenn die Galeristin das glaubt. Ich habe es dir schon gesagt: Es ist nicht gut, wenn die Leute zu viel über einen wissen. Ich … ich lebe im Wald.«

»Im Wald?«

Es hätte ihn nicht erstaunt, wenn sie in die Krone einer Buche oder einer Eiche hinaufgezeigt hätte, wenn sie gesagt hätte: Dort oben, siehst du? Dort oben ist mein Nest.

»Es gibt ein Haus da, ein altes Haus. Es ist jetzt nur noch mein Haus. Mein Vater … ist gestorben.«

»Das tut mir leid.«

Sie zuckte die Schultern. »Es ist eine Weile her.«

»Eine Weile?« Wie lang war die Weile, die sie allein im Wald lebte? »Wie alt bist du?«, fragte er.

»Ich habe vor zwei Wochen meinen achtzehnten Geburtstag gefeiert.«

Jari nickte. »Dann sind wir beinahe genau gleich alt. Jascha und Jari.«

Sie gingen langsam weiter, ernster jetzt.

»Jari und Jascha«, wiederholte sie. »Der Zeisig und …«

»Die Nachtigall«, sagte er.

»Warum? Warum die Nachtigall? Du hast es schon einmal gesagt. Wie kommst du darauf?« Beinahe klang sie wütend.

»Oh, wenn du lieber etwas anderes bist … Jascha, die Schnepfe?«, schlug er vor, grinsend. »Oder Jascha, die Zaunkönigin?«

»Zäune«, erwiderte sie, »haben wir keine in diesem Wald.«

Etwas raschelte ganz nah im Dickicht, etwas Großes, und Jari fiel erst jetzt auf, dass der Wald um sie dichter geworden war. »Ein Reh«, flüsterte Jascha. »Oder ein Hirsch.«

»Ein Reh … kein Mensch?«

Sie schüttelte den Kopf. »Menschen gibt es nur wenige hier.«

Auf einmal schien sie zu frieren, er sah sie zittern, und sie griff in eine der Taschen ihrer altmodischen Kiepe und brachte einen Mantel zum Vorschein, den sie um sich schlang, ehe sie weiterging. Der Mantel war, wie Jascha selbst, wie der Wald, atemberaubend schön. Es war, als hätte jemand in seinem Stoff alle Pflanzen und Tiere des Waldes verwoben. Jari sah einen Fuchs zwischen den Ranken auf ihrem Ärmel hindurchspähen, er sah tausend kleine Vögel zwischen den blühenden Ästen auf ihrem Rücken nisten, beinahe hörte er sie singen. Er sah ein Wiesel durch den Efeu am Saum huschen, er sah Augen im gewebten, bestickten Dickicht. Jascha setzte die Kiepe wieder auf.

»Komm mit«, sagte sie.

»Ja«, sagte Jari. »Lass uns weitergehen. Dieser Teil des Waldes ist zu kühl und zu schattig.«

»Ich meine nicht: Lass uns weitergehen. Ich meine: Komm mit mir«, wiederholte sie. »Zu dem Haus im Wald. Es ist ein wenig einsam dort.« Sie flüsterte jetzt. »Komm mit mir, nur für eine Nacht. Verjag die Einsamkeit.«

Er nickte. »Ich könnte ein Bett für die Nacht brauchen. Warum nicht ein Bett in einem Haus im Wald.«

Und während sie weitergingen, sang es in Jaris Herzen, ein übermütiges Zeisiglied. Er ging mit dem schönsten Mädchen der Welt, er, ein einfacher Tischlergeselle, ein brauner, unscheinbarer Vogel. Er war es, den sie auserwählt hatte, ihr zu folgen. Aber gleichzeitig war ihm merkwürdig kalt, als brauchte auch er einen Mantel, gewebt aus der Schönheit des Waldes.

Kehr um, sagte die Stimme seiner Mutter, die aus einer Welt zwischen bestickten Tischtüchern und gestärkten Hemden zu ihm drang, kehr um, mein Junge, solange du noch kannst.

Er ignorierte die Stimme. Er verjagte die Kälte und betrank sich an Jaschas Schönheit: dem Licht, das auf ihren Haaren spielte, den Falten des Stoffes um ihre Gestalt. Sie war wie ein bewegtes Gemälde. Ach was, dachte er und warf alle Bedenken über Bord. Er konnte seinen Plan genauso gut ändern. Zuerst das Mädchen, dann die Wanderung: ein draufgängerischer Satz, den er zu Hause wiederholen konnte. Sieh mal an, würde Matti sagen, unser schüchterner Cizek wird erwachsen. Zuerst das Mädchen, dann die Wanderung.

Denn war der Grund, aus dem Jascha ihn mitnahm, nicht eindeutig? Sie brauchte einen, der die Einsamkeit vertrieb. Sie brauchte einen Bettgefährten für diese Nacht. Und wenn da noch etwas war, etwas Dunkles, Fremdes hinter ihrem eindeutigen Ziel wie das Dunkle, Fremde in dem Bild … dann wollte er jetzt in diesem Moment nichts davon wissen.

Es war weit bis zu dem Haus im Wald, weiter, als er gedacht hatte. Ihre Wanderung durch den bergigen Wald zog sich Stunde um Stunde hin. Einmal durchquerten sie eine Klamm, hohe Felswände säumten ihren Pfad zu beiden Seiten, und Jari sah die Bäume mit ihren Ästen über die Felsen sehen wie neugierige Wächter. Der Fluss, der die Klamm einst gegraben hatte, war verschwunden, der Boden war bedeckt mit kunstvoll gefärbten Herbstblättern. Doch es war kalt in der Klamm, das Herbstlicht drang nicht auf ihren Grund, und Jari spürte eine gewisse Erleichterung, als die Felsen niedriger wurden.

»Gibt es keinen anderen Weg?«, fragte er fröstelnd.

Jascha zuckte die Schultern. »Man könnte vielleicht über die Felsen klettern, außen herum, über die Gebirgshänge. Aber es wäre gefährlich und ein weiter Umweg dazu. Die Klamm ist wie ein breiter Weg.«

Jari sah sich um. »Ein breiter Weg«, murmelte er. »Sie ist mehr wie … ein Tunnel. Ich mag sie nicht.«

»Aber wenn man hier ist«, entgegnete Jascha, »weiß man, dass man die Hälfte des Weges geschafft hat.«

Der Nachmittag kam und ging, das Licht wechselte seine Farbe, von Gold zu Rot, von Rot zu Violett, und zwischen den Bäumen kroch die Dämmerung heran. Wenn die Müdigkeit Jari zu übermannen drohte, stellte er sich vor, was ihn erwartete: stellte sich Jascha vor, die ihren Mantel ablegte, die sich, ebenfalls erschöpft, auf ein weiches Sofa fallen ließ; sie schob in seiner Vorstellung ihr Kleid hoch, höher und höher … Sie trug nichts darunter, sie winkte ihn zu sich heran … Diese Bilder verjagten die Kälte des Abends und auch die Müdigkeit.

Noch immer ging es hinauf und hinab, um Gruppen von Felsen herum, und Jari erkannte längst keinen Weg mehr, dem sie folgten. Die Vögel verstummten, einer nach dem anderen.

»Jetzt sind wir bald da«, sagte Jascha.

»Woher weißt du das?«, flüsterte Jari. »Es ist dunkel wie in einem Keller hier …«

Sie legte den Finger an seine Lippen. »Kein Keller«, erwiderte sie, sanft, aber bestimmt. »Es ist nur der Wald.« Sie nahm ihn bei der Hand und zog ihn mit sich, und er stolperte, ungeschickt und müde, über morsche Äste und durch Vorhänge von Ranken. Wenn es ein Haus im Wald gab – gab es denn keine Straße, die zu diesem Haus führte?

»Gleich, gleich …«, wisperte Jascha.

Und da erhob ein anderer kleiner Vogel seine Stimme, ganz nah. Seine Melodie war süß und zugleich voller Trauer, und Jari kannte seinen Gesang. Zu Hause, in den Sommerzweigen des weißen Jasmins, hatte dieser Vogel jede Nacht vor dem Küchenfenster gesungen, klein und unscheinbar grau: eine Nachtigall. Sie standen und lauschten, dicht nebeneinander, und Jari fühlte, dass Jascha wieder begonnen hatte zu zittern.

»Was ist?«, fragte er. »Es ist nur eine Nachtigall.«

»Still!«, flüsterte Jascha und löste ihre Hand aus seiner, und er sah im allerletzten Licht, wie die schwarzen Schatten ihrer Hände sich dem Gesang entgegenstreckten. »Still, still, meine Nachtigall!« Dann packte sie seine Hand abermals und zog ihn mit sich. Sie rannten durchs dunkle Unterholz, als flöhen sie vor dem winzigen Vogel. Und plötzlich war da die dunkle Mauer eines Hauses direkt vor ihnen. Jaschas Hände fanden eine Tür, rissen sie auf und zogen Jari hinein. Er hörte, wie sie einen Riegel vor die Tür legte, vernahm das Zischen eines Streichholzes … Eine Kerzenflamme fraß die Dunkelheit. Jari sah, dass er in einem Flur stand. Neben ihm lehnte Jascha an der Wand, den Kerzenhalter in Händen, keuchend vom Rennen.

»Es war nur eine Nachtigall«, wiederholte Jari. Dann sah er sich um. »Ist die Tür nie verschlossen?«

»Doch«, flüsterte Jascha. »Jetzt ist sie verschlossen. Nichts kann von draußen herein. Sorge dich nicht, mein Wanderer.«

Aber nicht ich bin es, dachte Jari, der sich sorgt. Er wollte den Arm um ihre schmalen Schultern legen, ihr sagen, dass sie keine Angst zu haben brauchte, er sah in diesem Moment eine Schwäche an ihr, die er zuvor nicht gesehen hatte. Doch sie schüttelte die Schwäche ab und lächelte.

»Komm«, sagte sie, »wir machen ein Feuer. Es ist kalt. Ich wusste nicht, dass du kommst, sonst hätte ich sie gebeten, den Kamin warm zu halten …«

»Sie?«

»Natürlich«, sagte sie ernst. »Die Flammen.« Dann lachte sie. »Guck nicht so entsetzt, Cizek-Zeisig. Ich bin nicht übergeschnappt. Wenn man mit sich alleine lebt, spricht man mit beinahe allen Dingen. Wo lebst du?«

»Bei meinen Eltern«, antwortete Jari, leise, hoffend, sie würde seine Antwort nicht hören. Er war sich sicher: Sie würde ihn auslachen.

Sie lachte nicht. »Das muss schön sein«, sagte sie und seufzte. Da erinnerte er sich wieder, dass ihr Vater gestorben war. Vielleicht war es noch nicht lange her. Er würde vorsichtig sein mit dem, was er sagte.

Jascha führte ihn eine Treppe hinauf. Auf dem Weg entzündete sie Öllampen, die an den Wänden angebracht waren. In ihrem warmen gelben Licht sah Jari das Haus zuerst. Es war riesig. Ein Haus voller Treppen und Räume, voller Korridore, Zimmer und Zimmerchen, alt und erhaben, die Räume hoch und hallend. Und dennoch verströmte es eine einladende Behaglichkeit.

Jari streifte die Schuhe am Fuß der ersten Treppe ab, um den sorgfältig gebohnerten Holzboden und die weichen Teppiche nicht schmutzig zu machen. Auch an den Wänden hingen an manchen Stellen Teppiche, gewebt, gestickt oder geknüpft, mit verschlungenen Mustern wie Jaschas Mantel. Sie zog hier und da einen langen Vorhang vor einem der hölzernen Sprossenfenster zu, wenn sie vorüberkamen, um die Nacht auszuschließen. Schließlich öffnete sie die Tür zu einem weiträumigen Bad mit einer großen Wanne, entzündete auch dort eine Lampe und drehte am Schaltknopf eines kleinen Badeofens. Ein Zischen ertönte.

»Gas«, sagte Jascha. »Gewöhnlich dauert es nicht lange, bis das Wasser warm ist. Ich dachte, du willst sicher duschen nach dem langen Weg.«

Jari nickte dankbar. »Habt ihr keinen Strom?«

»Wer – wir?«, fragte sie. Und einen Moment sah sie merkwürdig misstrauisch aus.

»Du und die Flammen«, sagte er und lachte.

Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Wozu?«

Er wusste keine Antwort auf die Frage.

»Ich kümmere mich um das Feuer im Kamin«, sagte sie. »Siehst du, das Kaminzimmer ist gleich dort hinter der Schiebetür. Komm zu mir, wenn du fertig bist.«

»Duschst du nicht?«

»Gästen«, sagte Jascha lächelnd, »lasse ich gewöhnlich den Vortritt.« Sie streckte eine Hand aus und berührte sein Haar. »Und nur der Zeisig ist in den Sumpf gefallen. Er hat noch immer Schlamm im Gefieder.«

Er wartete, bis sie die Tür hinter sich geschlossen hatte. »Die Nachtigall nicht«, ergänzte er dann.

Erst als er den Rucksack auf den Boden gleiten ließ, merkte er, wie schwer sein Gepäck während der letzten Stunden geworden war. Sein Rücken schmerzte, er fühlte sich so zerschlagen, als hätte er einen Dreißig-Tage-Marsch hinter sich. Er schnallte das Zelt ab, um saubere Kleider zu suchen. Das Zelt. Heute Nacht würde er es nicht brauchen. Morgen vielleicht. Morgen würde er irgendwo im Wald in diesem Zelt liegen, allein, und sich an das erinnern, was heute geschehen war.

Er zog die schmutzigen Kleider aus, stieg in die Wanne und drehte an den beiden Metallknöpfen, einem für kaltes und einem für heißes Wasser. Heiß und Kalt, Weiß und Schwarz, Gut und Böse. Das Vermischen der Gegensätze schien ihm symbolisch, er wollte darüber nachdenken, aber er war zu müde. Er wollte über so viele Dinge nachdenken. Über Jascha natürlich zuallererst.

Gästen, hatte sie gesagt, lasse ich gewöhnlich den Vortritt.

»Du bist nicht der Erste, den sie mitnimmt, Cizek«, sagte Jari zu sich selbst. »Dummer kleiner Vogel, was hast du dir eingebildet?«

Das Wasser weckte seine Lebensgeister wieder. Er fand ein Stück Seife und wusch sich den Schlamm aus den Haaren. Erst als er sich die Seife aus den Augen rieb, fiel ihm auf, dass es keinen Duschvorhang gab. Er konnte von der Wanne aus das ganze Bad überblicken, und einen erschreckenden Moment lang erschien es ihm unendlich groß. Dann begriff er, dass die ganze Wand gegenüber der Dusche aus einem einzigen Spiegel bestand. Auch neben der Wanne gab es einen mannshohen Spiegel, der sich in der Spiegelwand widerspiegelte, und so pflanzte sich das Bild der Dusche und des Fliesenbodens bis in die Unendlichkeit fort, eine Scheinwelt voller glitzernder Wassertropfen. Er sah sich selbst in der Scheinwelt stehen, den Zeisig mit dem nassen, zerzausten Gefieder. Eine Weile betrachtete er sich durch Jaschas Augen, ließ seinen – ihren – Blick über den nackten Körper in der Duschwanne wandern – und auf einmal schämte er sich, drehte die Hähne zu und wickelte sich in ein Handtuch.

Er dachte an zu Hause und an die Tischlerei und Matti mit dem wirren Haar, der neben ihm an der Werkbank gestanden hatte. Daran, wie sie zusammen in den See gesprungen waren, schon von Kindheit an. Matti hatte sich nie darum geschert, ob jemand in der Nähe war oder nicht, und er hatte selten eine Badehose griffbereit gehabt. Ein kleiner Wilder, hatte Jaris Mutter gesagt und gelächelt. Aber Jari ohne Badehose in einen See springen zu lassen, wäre ihr nicht in den Sinn gekommen. Und so war Jari stets der geblieben, der sich schämte, und Matti der, der unbeschwert in Seen sprang. Jari konnte die Mädchen in seiner Sammlung an einer Hand abzählen. Bei Matti hätten Hände und Füße nicht gereicht. Von wegen Raubtier. Was dachte Jascha über ihn?

In den Saum des Handtuchs waren winzige Blätter gestickt. Er fand das Ornament als Schnitzerei im Rahmen des Fensters wieder. Die weißen Vorhänge schienen aus dem Kerzenlicht selbst gewebt. In einer Vase auf dem Fensterbrett standen zwei einzelne Herbstzweige mit winzigen, leuchtend roten Beeren. Alles in diesem Haus, dachte Jari, ist schön, vollkommen, perfekt wie das Mädchen selbst, das darin lebt. Er trat näher an den Spiegel. Das Moosgrün seiner Augen glänzte im Kerzenlicht auf eine neue Art und Weise. War die Schönheit ansteckend?

Er stieg in eine saubere Jeans und schlüpfte in ein sauberes T-Shirt. Beinahe wünschte er, er hätte das weiße Hemd mitgenommen, das seine Mutter im Schrank, fertig gestärkt und gebügelt, für festliche Gelegenheiten aufbewahrte. Das grüne T-Shirt, bedruckt mit den Worten SPRITZIG AUTOGLAS – IMMER FÜR SIE DA erschien ihm mehr als unpassend.

Schließlich fuhr er sich mit den Fingern durchs Haar, um es notdürftig zu kämmen, mit den rauen, schwieligen Tischlerfingern, stopfte seine dreckigen Kleider in den Rucksack und trat hinaus in den Flur.

Die Schiebetür glitt zur Seite wie ein Windhauch. Sie war federleicht, aus mehreren Holzrahmen gefertigt, bespannt mit weißem Stoff.

Einen Moment blieb Jari stehen und nahm den Raum in sich auf wie ein Bild. Es war, als hätten sich alle Flammen und Flämmchen, die Jascha im Haus entzündet hatte, in dem hohen Kamin versammelt, dessen Feuerschein alles zu einem warmen Glühen brachte. Da war ein Sofa, bedeckt mit den Fellen von Füchsen. Vor dem Kamin lag ein weiterer behaglicher Teppich, und in jedem der sechs hohen Fenster stand eine Vase mit einem einzelnen Zweig, dessen ornamentale Form sich vor den hellen Vorhängen abzeichnete wie ein Scherenschnitt. Eine Tür führte in einen angrenzenden Raum – aber, nein, es war keine Tür. Es war nur ein weiterer Spiegel. Verwirrt schüttelte Jari den Kopf.

»Du siehst aus wie auf der Flucht«, sagte Jaschas Stimme vom Sofa her, und da erst entdeckte er sie zwischen den Fellen. Sie hatte sich umgezogen – sie trug jetzt einen Rock und einen dünnen Pullover im selben rötlichen Braunton wie das Fuchsfell, und um ihre Schultern lag ein Seidenschal, über und über bestickt mit glitzernden winzigen Mustern in den Farben des Feuers.

»Willst du den Rucksack nicht irgendwo ablegen?«

Jari nickte. Er stellte den Rucksack neben den Korb mit dem Feuerholz und wünschte, er hätte ihn verstecken können; er wirkte so fremd hier, so störend, so wenig ästhetisch. Das zusammengefaltete Plastikzelt erschien ihm plötzlich unerträglich hässlich.

Jascha stand auf und führte ihn vors Feuer, drückte ihn aufs Sofa. Sie sah ihn einen Moment lang an, lächelnd. Sie lächelt viel, dachte er – aber ihr Lächeln hielt stets etwas zurück, wie das Bild in der Galerie. Etwas war hinter diesem Lächeln geschehen, etwas, das sie nicht preisgab.

»Es ist … wunderschön hier«, flüsterte er.

»Ja«, sagte sie einfach. »Schönheit ist wichtig. Aber essen ist auch wichtig. Es ist beinahe elf. Ich gehe nachsehen, was ich in der Küche finde.«

Als sie die Schiebetür öffnete, glaubte Jari, im Bad Wasser rauschen zu hören. Einen panischen Moment lang fragte er sich, ob er vergessen hatte, die Dusche abzustellen. Aber er erinnerte sich genau. Er hatte sie abgestellt. Er musste sich das Rauschen eingebildet haben.

»Kann ich … kann ich dir helfen? In der Küche?«

Sie schüttelte den Kopf. »Warte hier.«

Jari lehnte sich auf dem Sofa zurück und ließ seinen Blick durch den Raum gleiten. Und je länger er sich umsah, desto mehr winzige, behagliche Dinge entdeckte er: Bücher in hohen Regalen, ein Schachspiel auf einem Beistelltisch, ein Cello, in die Ecke gelehnt, einen Notenständer. An einer fein geschnitzten spanischen Wand lehnte eine Harfe. Dahinter sah er einen kleinen Tisch mit einer Holzkiste, auf der sich Notenblätter stapelten. Auf dem Notenständer lag ein weiteres Instrument. Er stand auf und ging hinüber. Eine Oboe.

Als er über ihr dunkles Holz strich, kam Jascha zurück. Sie trug ein Tablett mit zwei dampfenden Tellern voll Nudeln, Fleisch und Gemüse, der Duft raubte ihm beinahe den Atem. Er war unglaublich hungrig.

»Spielst du all diese Instrumente?«, fragte er und hielt die Oboe hoch.

Sie schüttelte den Kopf, während sie die Teller auf einen weiteren Tisch stellte. »Nein. Lass uns essen.«

Sie saßen nebeneinander auf dem Sofa, die Teller auf den Knien, und sahen in die Flammen, während sie aßen.

»Hast du das gemacht?«

»Das Essen?« Sie lachte. »Nein. Es ist vom Himmel gefallen.«

Sie saß ganz nah, ihre Schultern berührten sich beinahe. Sie roch nach Seife. Sie hatte geduscht. Wann? Wie konnte sie geduscht und Nudeln gekocht haben, während die Zeit im Wohnzimmer nur gereicht hatte, um vom Sofa aufzustehen und mit den Fingern das dunkle Holz einer Oboe zu betasten? Gab es unterschiedliche Zeiten in diesem Haus? Oder war sein eigenes Zeitgefühl angegriffen von der Müdigkeit?

Jascha goss Wein aus einer Karaffe in zwei silberne Becher. Sie sahen alt aus, verziert mit den Ornamenten einer vergessenen Zeit. Jascha hob ihren Becher, und als der Wein ihre Lippen benetzte, sah er, wie rot sie waren. Auch ihre Wangen waren rot, rot von der Wärme des Feuers. Er schob seinen Teller fort und streckte die Hand nach ihr aus, und sie nahm sie und hielt sie fest, doch gleichzeitig erlaubte sie der Hand nicht, ihr Gesicht zu berühren.

Schließlich gab sie sie wieder frei, und er griff nach dem zweiten Becher. Wollte sie nicht, dass er sie anfasste? Noch nicht? Wozu hatte sie ihn mitgenommen, wenn nicht, um sie zu berühren?

Der Wein schmeckte ungewohnt, und sie sah sein Stirnrunzeln.

»Das sind die Früchte des Waldes«, wisperte Jascha. »All die Beeren und Blüten, die im Geheimen in seinen Schatten wachsen.«

Jari trank den Becher leer, und beim letzten Schluck hatte er sich an den bittersüßen Geschmack gewöhnt. Das Licht im Raum wurde noch weicher, die Schatten, die das Feuer warf, tanzten um ihn, als wären noch mehr Gestalten im Raum. Er schloss einen Moment die Augen.

»Nein«, flüsterte er. »Wir sind allein.«

»Ganz allein«, flüsterte Jascha. »Aber nein, nein, das ist ja nicht wahr. Wir sind zu zweit.« Er spürte, wie sie ihren Kopf an seine Schulter lehnte, und legte sein Kinn auf ihr weiches Haar. »Ganz allein zu sein ist schrecklich. Der Wind heult draußen, wenn du ganz allein bist, und klagt und weint in den Ästen. Die Kälte wird unerträglich kalt und die Dunkelheit unerträglich dunkel. Und in den Ecken lauert die Angst. Wenn du ganz allein bist im Wald, wirst du verrückt. Dann bist du verloren. Ausgeliefert. Hilflos. Dann hat dich die Nacht.«

Er zog sie in seine Arme, streichelte ihr Haar, ihr Gesicht, ihren Hals. Sie ließ es geschehen, mehr noch, sie suchte seine Nähe wie ein verlorenes Kind.

»Jetzt bleibt die Nacht schön draußen«, sagte er. »Der Zeisig ist vielleicht nur ein kleiner, unbedeutender Vogel. Nur ein Tischlergeselle. Aber wenn die Kälte kommt, kann er dich wärmen.«

Jetzt, jetzt, dachte er – da schlüpfte sie ganz plötzlich aus seinen Armen und stand auf.

»Lass mich für dich spielen, Cizek-Zeisig.«

Sie holte das Cello und setzte sich damit auf einen Lederhocker, der neben dem Sofa stand. Dann schob sie den langen Rock ein wenig hoch, nur ein wenig, öffnete die Beine, platzierte den hölzernen Körper des Instruments dazwischen und setzte den Bogen an. Und Jari biss sich auf die Lippen, um ruhig sitzen zu bleiben.

Ihre dunklen Augen ließen ihn nicht los, während sie begann, dem Instrument mit dem Bogen eine Melodie zu entlocken, ein Lied, süß und schwer wie das der Nachtigall. Die Töne stiegen bis zur Decke des hohen Raumes, glitten durch eine Ritze in der Schiebetür nach draußen, füllten das ganze große alte Haus und machten die Nacht zu einem einzigen Klangkörper. Er kannte das Stück nicht, vielleicht erfand sie es, während sie spielte. Nie hatte er jemanden so wunderschön Cello spielen gehört.

Aber er konnte nichts gegen die abstruse Vorstellung tun, er wäre das Cello, das sie hielt. Er war es, dem sie die Melodie entlockte, er, den ihre Finger liebkosten … Er war es, der den Bogen auf seiner Haut spürte, wenn sie über die Saiten strich, überflüssig zu sagen, an welcher Stelle. Er war der engen Jeans, die er trug, dankbar und verfluchte sie gleichzeitig.

Wusste Jascha nicht, was sie tat, oder tat sie es mit voller Absicht?

Schließlich riss er seinen Blick los, sah wieder ins Feuer und hörte ein leises Lachen zwischen den Tönen. Dann, endlich, stellte Jascha das Instrument beiseite. Jetzt, jetzt.

»Komm, mein Zeisig«, sagte sie, und er stand gehorsam auf. »Es ist Zeit, schlafen zu gehen. Das Feuer wird noch ein Weilchen brennen.«

Er folgte ihr durch die Flure des Hauses, eine weitere Treppe hinauf, und sie öffnete die Tür zu einem Zimmer mit einem großen, breiten Bett. Das seidene Betttuch war einladend zurückgeschlagen. Jetzt.

»Das ist das Gästezimmer«, sagte sie. »Ich hoffe, du schläfst gut darin. Es gibt ein eigenes Bad … gleich dort in der seitlichen Wand ist die Tür.«

Er stand vor dem Bett und starrte sie an. »Jascha«, sagte er.

»Jari«, sagte sie. Sie nahm seine Hände in ihre und hielt sie einen Moment. Dann drehte sie sich um und schloss die Tür behutsam hinter sich.

Er ging zum Fenster hinüber und hämmerte mit der Faust auf das Fensterbrett, enttäuscht, wütend.

»Das kannst du nicht machen!«, flüsterte er. »Das kannst du nicht tun, verstehst du? Was bist du für ein Geschöpf, vollkommen und gleichzeitig …« Er wusste nicht, was sie war. »Wozu hast du mich hergeholt? Was willst du von mir? Macht es dir Spaß, mich hinzuhalten?«

Und dann legte er die Stirn an die kalte Fensterscheibe und fluchte lautlos. Vielleicht war es seine Schuld gewesen. Vielleicht hatte er, wieder einmal, alles falsch gemacht, vielleicht war er, wie immer, zu ungeschickt und zu schüchtern gewesen. Hatte sie darauf gewartet, dass er direkter wurde? Dass er die Initiative ergriff?

Er streifte seine Kleider ab, löschte die Kerze, die sie dagelassen hatte, und kroch unter die Decken.

»Morgen«, wisperte er in die Dunkelheit. »Morgen ist auch noch ein Tag.«

In dieser Nacht aber war er allein mit sich und seiner Phantasie, ganz allein. In seinem Kopf hörte er das raue Lachen der anderen Lehrlinge, am lautesten das von Matti mit dem wirren langen Haar, Matti, der in Seen sprang, Matti, mit dem er so viele Nächte vertrunken hatte.

»Hey, Cizek!«, rief er. »Was ist los? Lass dir doch nicht von einem Mädchen auf der Nase herumtanzen! Hast du nicht zwei gesunde Hände?«

»Halt bloß den Mund«, knurrte Jari.

Aber einen Moment lang sehnte er sich nach Matti. Er dachte an einen seiner letzten Besuche bei ihm – Matti hatte die Tür seiner winzigen Wohnung geöffnet, nur in Unterhemd und rasch übergestreifter Jeans, ein breites Grinsen im Gesicht.

»Komm rein, komm rein«, hörte er ihn wieder sagen.

»Störe ich? Du bist nicht allein …«

»Das ist nur Annelie. Wird Zeit, dass du sie kennenlernst«, hatte Matti gesagt und gelacht. »Ich kenne sie allerdings selbst erst seit vorgestern. Ich liebe sie. Alles an ihr. Wow, Jari, was für ein Mädchen … Ich liebe ihre Ohrmuscheln, ihre Zehennägel, jedes ihrer Haare …«

Das waren eine Menge, und sie waren, wie Jari feststellte, violett gefärbt.

Annelie saß in Mattis winziger Küche, ebenfalls in Jeans und Unterwäsche, und blies ihm auf freundliche Weise den Qualm einer Zigarette entgegen. Hinter ihr spielte der Wind mit den herabhängenden Blättern einer halb toten Graslilie. Mattis letztes Mädchen, das wusste Jari noch, hatte die Graslilie gekauft und dorthin gestellt, um etwas »Natur« in die Wohnung zu bringen, und Matti hatte offenbar seit ihrem Weggang vergessen, sie wegzuwerfen. Allerdings auch, sie zu gießen.

Es war seltsam, wie sehr er Matti mochte, gerade dafür, dass er vergaß, Graslilien zu gießen. Die Freundschaft, die sie verband, war unerklärlich und existierte seit Kindertagen. Sie nannten es nicht Freundschaft, Freundschaft hätte so weich geklungen, und in einer Welt aus Holzbrettern und Spänen konnte man es sich nicht erlauben, weich zu wirken, ohne den Spott der anderen auf sich zu ziehen. So sprachen sie nicht von Freundschaft, Matti und er. Sie sprachen von Bier.

Jari sah Annelie an und grinste. Matti ist ziemlich sicher davor, Graslilien von ihr geschenkt zu bekommen, dachte er. Sie hatte einen Drachen auf die rechte Brust tätowiert, den man oben aus dem BH lugen sah. Ihr violettes Haar war beinahe so wild wie Mattis eigenes.

Einen Moment lang malte Jari sich aus, was für ein Gesicht seine Mutter gemacht hätte, wenn er Annelie als sein eigenes Mädchen mitgebracht hätte in ihren gebügelten, gestärkten Haushalt. Er sah ihr sorgsam verborgenes Entsetzen vor sich und musste grinsen. Vielleicht sollte er Matti fragen, ob er sich Annelie einmal ausleihen konnte? Aber dann dachte er an den abschätzigen und irgendwie enttäuschten Blick seines Vaters. Der alte Tischlermeister hatte so eine milde Art, enttäuscht von seinem Sohn zu wirken, dass einem die Lust verging, ihm überhaupt unter die Augen zu kommen; mit oder ohne Mädchen. Was schwierig war, wenn man in seiner Tischlerei arbeitete und bei ihm lernte. Matti hatte es leichter …

»Wir kaufen uns übrigens zusammen ein Motorrad, Annelie und ich«, verkündete er. »Demnächst. Irgendwann. Und fahren zu zweit darauf durch die Wüste. Oder um die Welt. Oder durch alle Wüsten um die Welt.«

»Soso«, sagte Jari. »Und hast du wohl noch ein Bier im Kühlschrank?«

Er merkte, dass er laut gesprochen hatte. Als wäre Matti hier. In diesem Raum, der so weit entfernt war von enttäuschten Vätern und bügelnden Müttern und Bierflaschen – von allem, was er bisher gekannt hatte. Aber da war kein Matti, da war nur er, Jari, und die Dunkelheit. Er wälzte sich auf die andere Seite.

Ganz allein zu sein ist schrecklich, hatte Jascha gesagt. Die Kälte wird unerträglich kalt und die Dunkelheit unerträglich dunkel. Wenn du ganz allein bist, wirst du verrückt. Dann bist du verloren. Ausgeliefert. Hilflos. Dann hat dich die Nacht.

Er wusste nicht, wie spät es war, als er jäh aus dem Schlaf hochfuhr. Es war noch immer völlig dunkel. Da war ein Geräusch. Er lag reglos unter der Decke ausgestreckt und lauschte. Etwas heulte. Klagte. Litt. Draußen in der Nacht. Er war nicht zu Hause, das Bett fühlte sich anders an. Er tastete um sich … das Bett war zu breit. Das Bett, in dem er zu Hause bei seinen Eltern schlief, war schmal und beinahe zu kurz für ihn. Er hatte darin geschlafen, seit er zehn Jahre alt war.

Wo war er?

Seine Hände fanden einen Nachttisch neben dem Bett, eine Kerze, Streichhölzer. Er entzündete die Flamme. Und erinnerte sich, als hätte er die Flamme in seinem Kopf entzündet. An das hässlichste Mädchen der Welt. Das schönste Mädchen der Welt. An schwarzes Haar, das zwischen den Stämmen des Waldes durch die Luft wirbelte, an erhobene Arme, schlanke, blasse Hände, laufende bloße Füße im Laub. Das Lied der Nachtigall. Die Angst einer zitternden Hand in seiner.

Ist die Tür nie verschlossen?

Jetzt ist sie verschlossen. Nichts kann von draußen herein.

Jari ging barfuß zum Fenster, die Kerze in der Hand, und zog den Vorhang beiseite. Die Nacht war undurchdringlich schwarz. Er öffnete das Fenster, so leise er konnte, und zuckte zurück vor dem kalten Wind. Jetzt war das Heulen deutlicher, aber es war im Grunde kein Heulen, es war mehr ein Weinen, beinahe menschlich. Wölfe. Jascha hatte gesagt, es gäbe Wölfe hier oben im Wald. Die Menschen in den Dörfern hätten Angst vor ihnen. Er konnte die Menschen verstehen. Jedes einzelne winzige Haar auf seinen bloßen Armen stellte sich auf, während das leise Wehklagen seine Ohren füllte.

Lag auch Jascha alleine in ihrem Bett und hörte den Wölfen zu? Waren es Wölfe? Konnte es etwas anderes sein? Ein Fuchs? Ein Vogel? Ein verletztes Reh? Er wünschte, er hätte Jascha in den Armen halten können, sie festhalten und sich an ihr festhalten. Zu zweit hätte die Kälte dort draußen ihnen nichts anhaben können. Er wusste nicht, wo sie schlief. Das Haus war zu groß. Er würde sich darin verirren und sie niemals finden.

Das Weinen drang bis in sein Herz und riss daran.

»Hört auf!«, rief er in die Nacht hinaus. »Hört doch auf!«

Und zu seinem Erstaunen verstummte das Weinen tatsächlich.