Solheim 01 | EUROPA - Jón Faras - kostenlos E-Book

Solheim 01 | EUROPA E-Book

Jón Faras

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Beschreibung

Wenn du vor der Wahl stehst, die Zukunft der Menschheit oder deine eigene Vergangenheit zu retten, wie würdest du dich entscheiden? Vor diesem Konflikt steht Ninive Solheim, als sie im Jahr 2113 zu einer Reise aufbricht, die schon bald alles andere als nach Plan verläuft. Und als die quirlige Lilian, eine unglaubliche Verschwörungstheorie und nicht irdisch scheinende, geheimnisvolle Kreaturen ihren Weg kreuzen, gerät der Weg, den sie eingeschlagen hat, gefährlich aus der Bahn ... Solheim erzählt die Geschichte einer Welt einhundert Jahre in der Zukunft. Das globale Handels- und Kommunikationsnetz ist zusammengebrochen, Naturkatastrophen haben ganze Landstriche verwüstet und die Menschen in die großen Städte zurückgedrängt. Und während der Zeit technologischen und gesellschaftlichen Rückschritts gewann eine neue Energie immer mehr die Kontrolle über den Planeten: das Sangre. Doch auch wenn die Menschen schnell gelernt haben, die Energie für sich zu nutzen, ihren Ursprung kennt niemand. Und in diesem Ursprung liegt nicht nur die Erklärung für den Wandel der Welt, sondern auch Ninives Vergangenheit. Wird es Ninive und ihren Gefährten gelingen, dem Geheimnis ihrer Vergangenheit auf den Grund zu gehen? Und welche Bedrohung steckt wirklich hinter dem geheimnisvollen Sangre? Die Solheim-Reihe 01Solheim 01 | EUROPA - erschienen 2013 02 AMERIKA - erschienen 2014 03 ATLANTIS - erschienen 2016 04 ANDROMEDA - in Arbeit (Stand: Oktober 2020) 05 EDEN - geplant Kurzroman "Solheim Noir" - erschienen 2014

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SOLHEIM

01 | EUROPA

von Jón Faras

Eine Dystopie

© 2013 Jón Faras

Alle Rechte vorbehalten.

www.facebook.com/jonfaras

Coverdesign: Vivian Tan Ai Hua

www.facebook.com/aihua.art

gewidmet

Feyo Nabuyuk + Yuri Uzinski

01 | ERINNERUNGEN

Es war nicht der perfekte Moment für einen Abschied. Ninive stellte das mit einem Anflug von Bedauern fest. Natürlich, es kam ihr eigentlich sehr gelegen. Sie war niemand, dem emotionale Momente besonders behagten. Es lag nicht in ihrer Natur. Und dennoch … es hätte so viele passendere Möglichkeiten gegeben. Strömender Regen beispielsweise, der auf den Asphalt, auf die Wellblechdächer der kleinen Wartehäuschen und das knisternde Plastik der Müllbeutel in der Mitte des Bahnsteigs prasselte – ein Himmel, der den Abschied zweier alter Freunde beweinte. Oder ein sanfter, kühler Sonnenuntergang, dessen Licht wehmütig auf die beiden Personen fiel, die sich auf sehr lange Zeit – vielleicht für immer – Lebewohl sagten.

Stattdessen war die Luft unbeweglich und stickig zwischen den hohen Wänden aus Schallabsorbern, die das Gleis und den Bahnsteig von der Umgebung trennten. Die Luft war etwas zu warm für den späten Herbst und der Boden wiederum kalt. Das Licht war ein uninspiriertes Grau, nicht leuchtend genug um zu wärmen, nicht dunkel genug um die beiden im Schein einer flackernden Lampe wie in einer Theaterszene einzufangen. Sie waren nur zwei Personen auf einem Bahnsteig, die ein betont alltägliches Gespräch führten, während der Zug auf die Minute pünktlich ins Gleis einfuhr.

„Es ist ein sonderbarer Moment, oder nicht?“, brachte Ninive nach Minuten belanglosem Smalltalk schließlich hervor, als der Zug gerade mit einem ohrenbetäubenden Zischen der Druckluftbremsen zum Stehen kam. Rasmus runzelte die Stirn und deutete an, dass er nichts verstanden hätte. Ninive wiederholte ihre Frage.

„Ja, ein wenig schon“, entgegnete Rasmus, „es fühlt sich viel zu normal an.“

„Vielleicht verdrängen wir es schon jetzt?“

„Vielleicht … ich habe Angst vor dem Moment, in dem mir klar wird, dass du wirklich gegangen bist, Ninny. Ich würde gerne mit dir tauschen. Du wirst in nächster Zeit so beschäftigt sein, dass du wenig Zeit haben wirst, über solche Dinge nachzudenken.“

„Ich weiß nicht, Rasmus. Es steht vorher eine lange, einsame Fahrt an … lang genug um über viele Dinge nachzudenken.“

„Mit mir tauschen würdest du dennoch nicht wollen, oder?“, entgegnete Rasmus achselzuckend.

Ninive drehte sich von ihm ab und beobachtete, wie die Türen des Zugs langsam aufglitten. Es waren nur sehr wenige Reisende, die außer ihr auf diesen Zug warteten. Das war nicht weiter verwunderlich, denn er hielt nur an wenigen Forschungsstationen außerhalb von Paris und endete schließlich an einem Militärflughafen. Wer hier ein- oder ausstieg, gehörte entweder einem der Institute oder dem Militär an. „Ich sollte einsteigen“, murmelte Ninive schließlich.

Ihr Abteil war für einen Zug geräumig. Ein Bett, ein Schreibtisch, ein großer Sessel mit Beistelltisch direkt an einem der Fenster, ein kleines, separates Bad mit Whirlpool. Ninives eigene Wohnung, die sie erst vor wenigen Tagen geräumt hatte, war nicht größer und definitiv spärlicher eingerichtet gewesen. Und dort hatte sie immerhin fast 15 Jahre gewohnt.

„Es ist hübsch hier“, bemerkte Rasmus anerkennend und stellte einen ihrer beiden großen Koffer vor einer kleinen Kleiderkommode ab.

„Ich weiß nicht, ob ich mit so viel Luxus zurechtkomme“, entgegnete Ninive mit einem zufriedenen Lächeln.

„Dann warte ab, bis du erst an Bord des Schiffes bist. Wenn diese Broschüre stimmt, die du mir gezeigt hast, dann ist deine Unterbringung dort fast zehnmal so groß.“

„Diese Broschüre, Rasmus, ist mein Einsatzprotokoll. Aber du hast Recht, ich hoffe, ich werde mich dann nicht schon in meinen eigenen vier Wänden verlaufen. Dennoch … mir fehlt meine Wohnung jetzt schon. So viele Erinnerungen habe ich dort zurückgelassen.“

„Erinnerungen lässt man nicht zurück, Ninive, das ist das Schöne daran. Sie begleiten dich, egal wo du bist.“ Rasmus machte eine Pause und warf einen neugierigen Blick in das kleine Bad. „Erinnerst du dich zum Beispiel daran, wie wir das erste Mal zusammen dein Bad benutzt haben?“

Ninive hatte gehofft, dass er ihre gemeinsame Vergangenheit nicht mehr ansprechen würde. Daran zu denken schmerzte sie. Rasmus war für sie schon seit einigen Jahren nur noch ein guter Freund und kein Liebhaber mehr, aber es hatte eine Zeit gegeben, da wäre ihr der Gedanke, den Rest ihres Lebens ohne seine Nähe zu verbringen, vollkommen absurd vorgekommen. Sie schüttelte den Gedanken ab, bevor sie antwortete: „Ja, du sagtest, zu einer perfekten Nacht gehört ein perfekter Morgen, und dazu gehört eine gemeinsame Dusche.“

„Ja, ein perfekter Morgen“, er lachte, „nur hat sich deine Dusche nie wieder von diesem perfekten Morgen erholt.“

„Was hast du erwartet? Die Duschkabine war doch für mich alleine schon zu klein.“

Ninive trat hinter Rasmus in das kleine Bad und musterte mit kritischem Blick die Einrichtung. Sie war mit fast 1,80 m hochgewachsen und etwa einen halben Kopf größer als Rasmus. Er fand diesen Umstand immer sehr interessant. Ninive weniger. Sie war der festen Überzeugung, dass ihrem Charakter ein kleiner, zierlicher Körper wesentlich angemessener gewesen wäre. Stattdessen war sie groß und – nicht zuletzt durch das missionsvorbereitende Training der letzten Jahre – athletisch durchtrainiert. Sie hätte die perfekte Mustersoldatin verkörpern können. Aber Ninive war in erster Linie Wissenschaftlerin. Und vor allem fühlte sie sich in ihrem Inneren nicht halb so robust, wie es ihr aufgrund ihres Erscheinungsbildes oft unterstellt wurde.

„So einen Whirlpool hättest du damals gebraucht“, riss Rasmus sie aus ihren Gedanken. Er klopfte anerkennend auf den Rand der kleinen Wanne. „Dann wärst du mich bestimmt nie mehr losgeworden.“

„Komm auf keine falschen Ideen, Rasmus“, entgegnete sie, „unsere Geschichte endet nicht mit einem Whirlpool.“

„Ich kann nicht sagen, dass ich das nicht schade finde, aber ich glaube, mir bleibt keine Zeit mehr für ein Bad. Irgendwann wird sich dieser Zug schließlich in Bewegung setzen. Ich glaube“, er warf einen Blick aus dem Fenster neben dem Sessel, „ich sollte mich jetzt verabschieden.“

„Also dann …“, entgegnete Ninive und bemerkte erschrocken, dass ihre Stimme belegt war.

„Pass auf dich auf, Ninny, auch wenn wir uns nicht wiedersehen, solange es dir gut geht, ist mir egal, wo du bist“, er ignoriert mit einem leichten Kopfschütteln ihre Hand, die sie zur Verabschiedung ausgestreckt hielt, und nahm sie in den Arm. „Ich wünsche dir alles Gute dort draußen, aber vergiss die Jahre mit mir nicht. Nimm die Erinnerungen mit.“

Wenige Sekunden später war er aus dem Abteil verschwunden. Ninive blieb alleine zurück und bewegte sich nicht, um das Gefühl der letzten Umarmung noch einen Moment länger aufrecht zu erhalten. Sie hatte einige Sekunden mit den Tränen gekämpft und sie schließlich besiegt. Doch die Schwere, die jetzt auf ihr lag, war wesentlich schlimmer. Sie nahm kaum wahr, dass draußen am Bahnsteig Signale die Abfahrt einläuteten, und erst der Ruck des anfahrenden Zuges löste sie aus ihrer Starre. Sie beschloss, nicht hinaus auf den Gang vor dem Abteil zu gehen und zu gucken, ob Rasmus noch am Bahnsteig wartete. Er würde es wohl ohnehin nicht tun, dazu kannte er sie zu gut. Diese Erkenntnis versetzte ihr einen erneuten Stich. Ihr wurde bewusst, dass sie den einzigen engen Freund, den sie in ihrem Leben hatte, nicht mehr wiedersehen würde.

02 | FALLENLASSEN

Das Geräusch der Räder auf den Schienen war hier in der Wartungskammer, die im Bereich der Kopplungen am Übergang zwischen zwei Waggons hing, deutlich hör- und spürbarer als im gut isolierten und abgeschirmten Passagierbereich des Zuges. Mathieu stellte den kleinen Servierwagen achtlos in eine Ecke der Kammer und lehnte sich an die Kante der kleinen Werkbank, die von den Eisenbahningenieuren hin und wieder zur Reparatur kleinerer Ersatzteile genutzt wurde.

„Und, bei dir alles ruhig?“, erkundigte sich Christine.

Sie hatte sich im Schneidersitz auf einem Stapel metallener Kisten niedergelassen und rauchte. Mathieu beobachtete sie einen Augenblick lang. Sie hatte ihre Schuhe mit dem kleinen, schmalen Absatz ausgezogen und zupfte gedankenverloren an der Naht ihrer Nylonstrumpfhose oberhalb der Zehen herum. Christine war in Mathieus Augen eine Schlampe. Aber erstens war sie eine nette Schlampe, und zweitens war er Schlampen nicht ganz abgeneigt. Er beobachtete Christines Zehen, die sich unter dem transparenten Nylon bewegten, als wollten sie ausbrechen. Er konnte nur ahnen, was es bedeuten musste, wenn man den ganzen Tag oder die ganze Nacht Schicht als Room Service in einem fahrenden Zug hatte und dabei Absatzschuhe tragen musste.

„Lass mich dir helfen“, bot sich Mathieu an, stieß sich von der Werkbank ab und griff nach einem ihrer Füße, um diesen zu massieren. Christine streckte ihm bereitwillig ihr Bein entgegen, und Mathieu warf dabei einen schnellen Blick unter ihren Rock, den sie bei dieser Bewegung unachtsam hochrutschen ließ. So fing es fast immer an. Wäre da nicht das glänzende Nylon, das sich fest um Christines volle Schenkel spannte, Mathieu hätte versucht, diese Routine zu durchbrechen, um ihren schnellen Nummern in den gemeinsamen Pausen etwas mehr Feuer zu verleihen. Doch so genügte ihm der Blick in ihren Schritt und das Gefühl ihrer Strumpfhose in seinen Händen als Vorspiel.

„Mmmhhh, das ist gut“, seufzte Christine aufrichtig und sah Mathieu an. „Und?“

„Was und?“, gab Mathieu brummend zurück.

„Bei dir alles ruhig?“

Unglaublich, dachte Mathieu, sie meint das wirklich ernst! Christine hatte das Konzept höflicher Floskeln, die keine Erwiderung erforderlich machen, ebenso wenig verstanden, wie die Tatsache, dass Routine beim Sex die Lust töten konnte. Mathieu beschloss, die Dinge ein wenig interessanter zu gestalten.

„Alle Passagiere in meinem Wagen sind im Speisewagen zum Dinner, bis auf eine Frau. Ein ziemlich heißes Gerät“, begann er und arbeitete sich Christines Bein hoch. „Groß und blond, ziemlich geiler Körper.“

„Warum erzählst du mir das?“, erkundigte sich Christine irritiert, unterbrach ihn aber nicht und zog gierig an ihrer Zigarette. „Hat sie große Titten?“

„Hübsche Brüste hat sie, aber das eigentliche Highlight ist ihr Arsch“, entgegnete Mathieu und griff Christine unter den Rock. Diese quietschte kurz auf und ließ dabei fast ihre Zigarette fallen.

„Allerdings“, ergänzte Mathieu und ließ seine Hände einen Moment ruhen, „schien sie bedrückt zu sein. Sie sah irgendwie verheult aus, glaube ich…“

„Hey Casanova“, Christine schnippte die Zigarette auf den Boden und griff nach Mathieus Hemdkragen, „erzähl mir von ihrem Hintern, solange du meinen langsam mal wieder beachtest, aber hör auf mit dem emotionalen Scheiß, sonst kriegst du nur wieder keinen hoch.“

Ninive hatte das Essen kaum angerührt. Der Abschied lastete schwer auf ihr. Es war nicht nur ein Abschied von Rasmus, sondern auch ein Abschied von Paris, der Stadt, die ihr von ihrer Geburt an dreißig Jahre lang eine Heimat gewesen war. Sie hatte immer gedacht, sie hätte keine enge Bindung zu der Stadt. Sie hatte gedacht, so etwas wie Heimat würde es für sie nicht geben. Immerhin war sie ein Klon, gezeugt von einer Maschine in einer Fabrik, aufgezogen in einem Heim der Regierung. Seit ihrer Geburt hatte Ninive – wie alle Klone – regelmäßig Neurohemmer bekommen, die die Aktivität in bestimmten Regionen ihres Gehirns regeln sollten. Die Langzeitwirkung dieses Vorgehens war aber noch weitgehend unerforscht. Es gab Vermutungen, die eine Parallele zwischen den Neurohemmern und einer besonderen Form von Autismus herstellten, der bei einigen Klonen im Erwachsenenalter auftrat.

In Ninives Fall war alles weitgehend nach Plan verlaufen. Die Hemmer hielten bestimmte unterbewusst und instinktiv gesteuerte Vorgänge in ihrem Gehirn in kontrollierbaren Bahnen. Das sorgte aber dafür, dass sie mit zunehmendem Alter emotionale Erfahrungen machte, die normale Menschen im Kindesalter durchlaufen. Dieses plötzliche Gefühl des Heimatverlustes führte sie darauf zurück.

Der Gedanke, dass das Einsetzen dieser Empfindung mit den Neurohemmern zu tun hatte, beruhigte sie auf einer rationalen Ebene. Doch auch diese Erkenntnis verhinderte nicht, dass Ninive zum zweiten Mal an diesem Abend in Tränen ausbrach. Ein Gefühl unendlicher Einsamkeit ergriff sie. Sie zog ihre Knie nah an den Oberkörper und versuchte sich wieder unter Kontrolle zu bringen, doch es wurde nur noch schlimmer. Ninive ließ sich seitwärts aufs Bett sinken und vergrub ihr Gesicht in der Bettdecke. Dabei fiel ihr etwas ein, das Rasmus vor Jahren zu ihr gesagt hatte, als sie beide noch ein Liebespaar waren. Lass dich fallen, versuche nicht, gegen deinen Körper anzukämpfen! Das war sein Rat gewesen. Damals ging es zwar um ein ganz anderes Gefühl, doch es brachte die Chemie ihres Körpers ähnlich durcheinander.

Ninive atmete tief ein. Dann presste sie ihr Gesicht tief in die Bettdecke und schrie ihren Schmerz heraus.

Minuten später war sie erschöpft, aber sie fühlte sich wieder ausgeglichener und gefestigt. Ein Moment der Nüchternheit folgte. Ninive fühlte noch immer die Einsamkeit, die sie umgab. Doch es war jetzt ein Gefühl wie von einem kalten, auffrischenden Wind. Ungemütlich – wie jede Veränderung – aber mit der Aussicht auf Erneuerung. Der Gedanke daran beruhigte sie und ließ sie frösteln.

Sie erhob sich vom Bett und ging in das kleine Bad. Dort drehte sie das warme Wasser für den Whirlpool auf und betrachtete sich dann im Spiegel. Ninive trug nie viel Make-up oder ähnliches, doch das wenige, das sie trug, war jetzt gründlich ruiniert. Dunkle Mascaraspuren zogen sich um ihre Augen und über ihre Wangen. Sie schminkte sich vorm Spiegel ab, dann zog sie sich aus und stieg vorsichtig in das heiße Wasser des Whirlpools. Dünne Schwaden aus Wasserdampf stiegen über dem Wasser auf. Ninive betrachtete diese nachdenklich und spürte, wie das Kribbeln ihren Körper verließ, als sich die Haut an das warme Wasser gewöhnt hatte.

03 | EIN HALBER TAKT

Kurz nach ein Uhr nachts hatte der Zug die letzte Zwischenhaltestelle verlassen. Die Ankunft am Aéroport Camaret wurde gegen sieben am nächsten Morgen erwartet. Ninive war daher früh zu Bett gegangen, doch nach zwei Stunden unruhigen Schlafes hatte das Anfahren des Zugs sie endgültig geweckt. Eine Zeitlang lag sie wach im Bett und starrte zur niedrigen Decke ihres Abteils, in der Hoffnung, die Müdigkeit wiederzufinden und einzuschlafen. Doch schließlich stand sie auf, ging zum Fenster und ließ sich in den Sessel sinken. Mit einer Geste in Richtung des Controlpads, das sich neben der Abteiltür in einer Wandhalterung befand, löschte sie das zum Schlafen gedimmte Ambientlight ganz. Es wurde stockdunkel um sie herum, doch nur den Bruchteil einer Sekunde später hatten sich ihre Augen an die neuen Lichtverhältnisse gewöhnt und sie sah den Sternenhimmel hinter ihrem Fenster.

Es war erst wenige Tage nach Neumond und so war es vor allem das Sternenlicht, das Schemen und Schatten in die schwarze Landschaft zeichnete, die draußen vor dem Fenster vorbeiflog. Ninive versuchte Konturen zu erkennen, doch das Licht war zu schwach und der Zug zu schnell. Sie fragte sich, wie so eine Nachtfahrt wohl vor hundert Jahren zur Zeit der letzten Jahrtausendwende gewesen war. In der Zeit bevor das globale Netz zusammenbrach, bevor Naturkatastrophen das Land entvölkerten und den überlebenden Teil der Menschheit in die großen Städte zurückdrängten.

Entlang der Zugstrecke gab es auch jetzt noch hin und wieder kleine Ansiedlungen, die sich in den Schutz des Bahndammes gedrängt um Forschungseinrichtungen und Stützpunkte scharten, doch früher – das hatte Ninive in alten Filmen gesehen – lagen ganze Dörfer und Kleinstädte über das Land verbreitet mit Tausenden schimmernder Lichter in der Nacht, dort wo jetzt nur schwarze Wildnis war.

Sie ließ das Licht im Abteil wieder hochfahren, bis der Raum in ein dämmriges kaltes Weiß getaucht war. Sie ging hinüber zu ihrem Koffer – die Kleiderkommode hatte sie für eine Nacht nicht einräumen wollen – und zog sich an. Dabei fiel ihr Blick auf den engen, anthrazitfarbenen Overall, der die Basis des leichten Kampfanzugs, der Standardarbeitskleidung für alle nichtmilitärischen Personen an Bord des Schiffes, war. Die dazugehörigen Kevlar verstärkten Schutzteile hatte Ninive in einem zweiten Koffer mit biometrischem Sicherheitsschloss, in dem sich auch ihre Notfallwaffe befand, eine Lettic Schockpistole. Zur Vorbereitung auf die Mission gehörte auch ein Waffentraining. Ninive hatte sogar eine Berechtigung für schwere Sturmwaffen, diese wurden aber im Regelfall nur den Soldaten ausgehändigt.

Mit einem leisen Klicken öffnete sich die Abteiltür und Ninive trat hinaus auf den Gang. Es war hier einige Grad wärmer als in ihrem Abteil, dessen Klimatisierung bereits auf Schlaftemperatur eingestellt war. Dennoch fröstelte sie, eine Auswirkung ihres Kreislaufs, den sie zur Nachtzeit immer drosselte. Sie zog die Strickjacke, die sie lose über ein schlichtes, nicht besonders warmes Top gezogen hatte, enger um sich und blickte dann unschlüssig den Gang zu beiden Seiten hinunter. In Fahrtrichtung sah sie am Ende des Wagons zwei Männer, die sich am Fenster stehend angeregt aber leise unterhielten.

Ninive war nicht nach Gesellschaft zumute, und so wandte sie sich zur anderen Seite und ging den Gang ein Stück hinab. Zwei Abteile weiter hielt sie plötzlich inne. Sie hörte Musik aus dem Inneren des Abteils. Musik gehörte zu den Disziplinen, die Ninive beherrschte. Jeder Klon, der in die Ausbildung zu einem der großen Institute ging, hatte die Möglichkeit, Musik als Logik und Kombinatorik bildendes Fach zu wählen. Allerdings kam das nur sehr selten vor, denn um in dieser Disziplin einen Exzellenzgrad zu erreichen, fehlte es den Klonen in ihrer biologischen Anlage an musischer Begabung. Ninive hatte ihren Exzellenzgrad erreicht – mehr noch, ihre Fähigkeiten und ihr Verständnis der Musik gingen weit über den analytischen Aspekt hinaus. Wie weit, das wusste außer Ninive selbst niemand, denn nachdem sie herausgefunden hatte, wie sie selbst Einfluss auf die Neurohemmer in ihrem Hirn nehmen konnte, hatte sie diese bei Bedarf herunter reguliert und damit etwas getan, das ihr als Klon streng verboten war.

Mit dem Rücken gegen die kühle, holzvertäfelte Abteilwand gelehnt, sah Ninive durch das Fenster hindurch ins dunkle Nichts. Sie konzentrierte sich ganz auf die Musik. Die tiefen Töne eines Ambient-Pianos spürte sie leicht in ihrem Inneren vibrieren, die fragile Melodie einer Violinenstimme drang hingegen nur leise zu ihr durch. Ninive spürte die Schläfrigkeit, die sie noch kurz zuvor so vermisst hatte, langsam wieder in ihr aufsteigen. Sie widerstand der Vernunft, die ihr riet, in ihr Abteil zurückzugehen und sich ins Bett zu legen. Sie drehte den Kopf zur Seite und lehnte ihre Schläfe an die Wand, spürte das langsamer werdende, schwache Pochen ihres Pulses. Ninive schloss die Augen und atmete langsamer.

Gerade als sie fast im Stehen eingeschlafen wäre, setzte die Melodie für einen halben Takt aus und dann erneut ein. Die Erkenntnis, dass die Musik nicht vom Band kam, sondern von jemandem gespielt wurde, bewegte Ninive dazu, ihre Augen für einen Moment zu öffnen. Und in diesem Moment sah sie die Feuer draußen vor den Fenstern. Es waren mehrere helle, flackernde Lichtpunkte unweit der Bahntrasse, die sich ihrerseits zu bewegen schienen. Ninive stieß sich mit etwas Mühe von der Abteilwand ab und ging näher an das Fenster, um besser sehen zu können. Sie spähte hinaus in die Nacht. Die flackernden Lichter kamen offenbar von Fackeln, die die umliegende Landschaft gespenstisch beleuchteten. Vorbeifliegende Baumkronen wurden in das tanzende Licht getaucht und verschwanden wieder im Dunkeln, kurz darauf öffneten sich wildwachsende weite Wiesen dem Lichtschein. Doch die Quelle des Lichts war nicht zu erkennen.

Und dann wurde der Zug erschüttert. Es war wie das Grollen eines Erdbebens. Ninive reagierte blitzschnell und fing sich ab, bevor sie das Gleichgewicht verlor. Sie sah den Gang entlang. Die beiden Männer am anderen Ende des Waggons waren durch die Erschütterung hingefallen und standen gerade wieder vom Boden auf, sonst war niemand in Sichtweite. Mehr aus Neugier als aus ernsthafter Sorge um die beiden Mitreisenden ging Ninive zu ihnen hinüber.

„Alles in Ordnung?“, erkundigte sie sich bei ihnen. Einer der beiden Männer nickte.

„Was kann das gewesen sein?“, fragte der andere.

Ninive antwortete nicht und wandte sich zurück zum Fenster. Die Lichter draußen waren verschwunden, und der Zug schien mit unverminderter Geschwindigkeit weiter zu fahren. Sie wartete noch einige Minuten auf dem Gang, doch als auch niemand vom Zugpersonal auftauchte, der die Passagiere über irgendwelche Zwischenfälle informierte, beschloss sie zurück in ihr Abteil zu gehen und es ein weiteres Mal mit dem Schlafen zu versuchen.

04 | SOZIALTAUGLICH

„Wir haben uns in unsere Käfige zurückgezogen. Wir waren dazu bestimmt unsere Freiheit über alles andere zu stellen. Wir sollten aus der Geschichte lernen und nicht die Geschichte zurückspulen. Die Maxime war Fehler zu vermeiden, die bereits einmal gemacht wurden. Und im vergangenen Jahrhundert hat die Menschheit schwerwiegende Fehler gemacht. Angefangen von der Erblast der Industrialisierung über die Radikalität des gesellschaftlichen Wandels, nicht zu vergessen die Unzahl an Kriegen, Genoziden, Kriegsmassakern, die völlige Unterschätzung der Digitalisierung, die völlige Überschätzung des Egos gegenüber dem Kollektiv, die Erfindung des Terrorismus‘, den Aufbau der Börsen und des Schuldenhandels und … ich könnte lange weiter machen. Und auch dieses Jahrhundert fing nicht besser an. Die Dotcom-Bubble, 9/11, der Zusammenbruch Europas, die atomare Fehleinschätzung, die Gleichgültigkeit gegenüber dem Klimawandel, der russische Bürgerkrieg, das Ende der transpazifischen Diplomatie, der große Blackout von 2028, die Fragmentierung des globalen Netzes.

Und dann kam die Landflucht, der permanente Blackout, der Quasi-Zerfall der Staatengebilde. Das alles ist eine unverrückbare Konsequenz. Wir können daran nichts ändern. Doch das alles gibt uns nicht das Recht, uns in eine Gesellschaftsordnung zurück zu flüchten, die Ausgangspunkt der meisten dieser Miseren gewesen ist, nur weil es uns beim Vergessen und Ignorieren hilft. Sehen Sie, meine Studenten haben vor einigen Wochen eine Befragung durchgeführt, eine Befragung einfacher Passanten auf der Straße. Es ist erschreckend zu sehen, wie viele Bürger unserer noch immer hochentwickelten Stadt keine Antwort mehr auf die Frage wissen, was sie mit New York verbinden. Der letzte Überseekontakt liegt noch keine 30 Jahre zurück, es gibt nur eine Erklärung für diese Amnesie: sie ist gewollt! Die Gesellschaft will vergessen, weil die Vergangenheit ungemütlich ist. Aber das ist gefährlich! Wer weiß schon, was sich anderswo in der Welt zusammenbraut? Wir haben durch die Revolte der Natur und die großen Blackouts nicht nur den Kontakt zu wichtigen Städten verloren, sondern auch zu einer großen Zahl von Krisengebieten. Niemand weiß, was dort vor sich geht. Ist denn niemandem die Gefahr bewusst, die sich darin verbirgt?“

Rasmus Riga – freier Dozent am Institut für Gesellschafts- und Kulturforschung der Beauvoir-Stiftung – hielt inne und ließ den Blick durch den großen, kaum gefüllten Stadtsaal gleiten. Er hätte auf die nicht weiter nennenswerte Zuschauerzahl beim „Forum für kulturelles Lernen“ als Beispiel für das von ihm gepredigte gefährliche Vergessen hinweisen können, doch wem machte er etwas vor? Die wenigen Anwesenden waren von der Regierung abgestellte Musterzuhörer oder Polizisten in Zivil, einige Studenten des Instituts, die mehrheitlich an seinen in der zurückliegenden Stunde präsentierten Ergebnissen mitgewirkt hatten, und ein paar wenige Endzeitpropheten, die auf Inspiration für ihre verwirrte Straßenpolemik hofften. Rasmus tröstete sich damit, dass seine Studenten gekommen waren, obwohl sie den Inhalt des Vortrags bereits kannten. Er bedankte sich beim Publikum für das Zuhören ohne sich die Mühe zu machen, seinen Sarkasmus zu verstecken, dann verließ er die Bühne, packte seine Sachen zusammen und verließ das Gebäude durch den nächsten Ausgang.

Er sah auf die Uhr. Es war kurz nach zehn. Zeit genug um ein Stück zu Fuß am Seine-Ufer entlang zu gehen, bevor er sich ein Shuttle westwärts nahm, wo er zu einem Blind Date im Underdock erwartet wurde. Das letzte Mal, dass er im Underdock war, war an dem Tag, als Ninive ihm erzählt hatte, wann ihre Mission starten würde. Er wusste zu dem Zeitpunkt bereits seit fast zwei Jahren, dass dieser Moment irgendwann kommen würde, aber als ihn ihre Nachricht erreicht hatte, war es dennoch wie ein Schock für ihn. Er war übermüdet an diesem Tag und hatte sie nicht direkt zurückgerufen, obwohl er wusste, dass ihre gemeinsame Zeit nun mit jeder Minute ablief. Er hatte ein schlechtes Gewissen deswegen gehabt, auch wenn er wusste, dass sie ihm keine Vorwürfe machen würde.

Ninive verkörperte alles das, was Rasmus einer fiktiven Antiheldin andichten würde, wenn er irgendwann neben seiner Arbeit Zeit dafür finden würde, sich der Schriftstellerei zu widmen. Er hatte große Pläne, wollte über die Zukunft schreiben, wie sie sich entwickelt hätte, hätten nicht die Blackouts und die Revolte der Natur, wie die andauernde globale Serie von Naturkatastrophen seit den späten 2030er Jahren genannt wurde, die Weltgesellschaft auseinandergerissen. Und auch wie sich Ninive und Rasmus entwickelt hätten, wäre sie nicht abgereist. Und wäre sie kein Klon, erinnerte er sich, und damit ist alles, was ich schreibe, keine alternative Zukunft sondern nur noch Fiktion.

Ein Leben mit ihr war nicht immer einfach gewesen, und die rationale Einsicht, dass er sich unter einer funktionierenden Beziehung etwas anderes vorstellte, überwiegte meistens. Doch wenn es darum ging, in einer Liga aus Superhelden den Planeten zu retten, dann wären Ninive und er in einem Team, soviel war klar. Sie hatten sich das erste Mal beim Kickboxen getroffen. Eine sehr prosaische Art sich zu treffen, kein guter Anfang für eine Superheldengeschichte. Aber Rasmus hatte es eher mit Antihelden, also nahm er diesen Umstand hin.

Bevor er Ninive kennengelernt hatte, war Rasmus ein eindeutiger Gegner des Klon-Programms gewesen. 2015 entdeckten Forscher eine Art Energie im menschlichen Organismus, die bei einigen Probanden einer weitgehend geheim gehaltenen Studie besonders stark ausgeprägt war. Diese Probanden konnten konditioniert werden und waren zu Dingen fähig, die man bis dahin ins Reich der Legenden geschoben hatte. Das Bewegen kleiner Gegenstände mittels Gedankenkraft, das Anpassen der eigenen Wahrnehmung auf thermische Felder und ähnliche Dinge. Nichts, was ihnen Superheldenkräfte verliehen hätte, aber medizinisch beachtenswerte Entdeckungen. Als das Forschungsprogramm einige Zeit später – der Medienrummel um diese Entdeckung war bereits wieder verebbt – zu der Erkenntnis kam, dass sich aus einfachen menschlichen Zellen und der entdeckten Energie, die nach dem Namen des Forschungszentrums Sangre-Energie genannt wurde, Föten entwickeln ließen, wurde – anfangs noch abseits der Augen der Öffentlichkeit – damit begonnen, menschliche Klone zu züchten, die ein besonders hohes Maß an Sangre-Energie hatten.

Die ersten Versuche überlebten nicht lange, doch die Forscher machten schnell Fortschritte und so wurden vor mittlerweile fast 80 Jahren die ersten Kinder der Öffentlichkeit präsentiert, die reine Sangre-Klone waren. Doch bald stellte sich heraus, dass die Fähigkeiten durch die Konzentration der Sangre-Energie nicht so stark gefördert wurden, wie angenommen. Als dann in den Folgejahren einige der ersten Klone mit Gewaltausbrüchen Schlagzeilen machten, in deren Folge schließlich sogar zwei Menschen starben, stand das Programm kurz vor dem Aus. Doch unter Zusicherung, dass die Klone zukünftig innerhalb einer geschlossenen Anstalt bleiben müssen, konnte es schließlich fortgesetzt werden.

Erst in den letzten fünfzig Jahren machte die Entwicklung der Neurohemmer, die den Klonen zur Kontrolle ihres Stoffwechsels eingepflanzt wurden, einige entscheidende Fortschritte, sodass den Klonen unter strengen Auflagen ab dem 16. Lebensjahr Freigang gewährt wurde. Ninive gehörte zu den wenigen Klonen, die mit 21 Jahren erfolgreich ihre „Sozialtauglichkeit“ nachweisen und fortan ein Leben außerhalb der Forschungsanstalt führen konnten.

Rasmus wandte sich vom Fluss ab und stieg einige Stufen hoch zur Haltestelle. Er schüttelte die trüben Gedanken ab und blinzelte in das Licht der gegenüberliegenden Schaufenster, die sich dicht an dicht entlang der schmalen Ufergasse drängten. Es war Zeit sich auf den Weg zu machen. Das Blind Date wartete und Rasmus hatte nicht vor, die nächste Nacht alleine zu verbringen.

05 | LILIAN

Ninive hingegen hatte die Nacht alleine verbracht. Nachdem sie in ihr Abteil zurückgekehrt war, hatte sie endlich den dringend benötigten Schlaf gefunden. Doch die Nacht war kurz, und gegen sechs Uhr saß Ninive im Speisewagen und kämpfte mit ihrem Frühstück. Ihr war nicht nach essen zumute. Und eigentlich war ihr auch immer noch nicht nach Gesellschaft zumute, dennoch hatte sie sich dazu durchgerungen in den Speisewagen zu gehen. Irgendwann musste sie sich ohnehin unter ihren Mitreisenden blicken lassen. Und nun saß sie alleine an einem Tisch in einer Ecke des Wagens und drehte nachdenklich einen Apfel in ihrer Hand, ohne diesen zu essen.

„Pardon, darf ich?“ Die Frage riss sie aus ihren Gedanken, und erschrocken stellte Ninive fest, dass sie die Frau, die diese gestellt hatte, nicht hatte kommen sehen. Eine Nachlässigkeit, die sie ärgerte.

Ninive machte eine knappe Geste, doch die Frau hatte bereits ihr gegenüber Platz genommen und unsanft ihren übergroßen Kaffeebecher auf dem Tisch abgestellt, so dass einige Tropfen bis auf Ninives Tellerrand spritzten. Ninive sah langsam auf, warf einen nachdrücklichen Blick auf den verspritzten Kaffee und begutachtete dann ihre Gegenüber. Sie war eine zierliche Frau mit einem schmalen Gesicht und großen dunklen Augen, vor der ihr Kaffeebecher wie eine übergroße Schüssel wirkte, die sie in ihren schmalen, knochigen Fingern hielt. Die wilden, leicht gewellten dunkelbraunen Haare hatte sie an ihrem deutlich ausgeprägten Hinterkopf mit einem altmodisch geblümten, blauen Tuch nachlässig hochgebunden. Ihre Haut war deutlich dunkler als Ninives. Vermutlich eine Spanierin, nahm Ninive an.

„Ich bin Lilian“, stellte sich die Frau vor und ihr Mundwinkel zuckte knapp, als sie Ninives Blick begegnete, der sie etwas zu lange und eingehend gemustert hatte um nicht aufzufallen. Sie sprach den Namen eindeutig französisch aus.

„Ich hätte dich eher für eine Spanierin gehalten“, entgegnete Ninive ungelenk.

„Das höre ich nicht zum ersten Mal“, entgegnete Lilian und ignorierte großzügig Ninives wenig höflichen Gesprächseinstieg. Sie kramte einen eingeschweißten Keks aus der Bauchtasche ihres löchrigen Kapuzenpullovers hervor, riss die Folie auf und tunkte ihn mit etwas zu viel Schwung in den Kaffee. „Wie heißt du?“

„Oh, entschuldige“, murmelte Ninive und beäugte den Keks in Lilians Hand mit Argwohn. „Ich heiße Ninive Solheim und bin…“

„Ah, der Klon“, unterbrach Lilian abrupt und wirbelte den tropfenden, eingeweichten Keks in einer ausladenden aber unbestimmten Geste durch die Luft. „Ich habe davon gehört. Die haben dich echt gut zusammengebaut.“

„Äh … Danke … schätze ich.“ Sie beobachtete weiterhin den Keks, während nun Lilians neugieriger Blick auf ihr ruhte. Ihr fiel auf, dass die Hände ihrer Gesprächspartnerin immer wieder zuckten, als wäre sie nervös. „Eigentlich wollte ich sagen, dass ich als Agentin des Sangre-Instituts an dieser Mission teilnehme, aber du hast es sicher besser zusammengefasst.“

„Lass dich nicht dadurch irritieren“, Lilian hielt ihre Hand vor Ninive in die Luft, „ich habe eigentlich sehr ruhige Hände, aber wenn ich nachts zu wenig schlafe, brauche ich am Morgen meine Ration Kaffee, um meine Finger wieder unter Kontrolle zu bekommen.“

„Konntest du letzte Nacht auch nicht schlafen?“

„Ich war selbst schuld. Wenn ich anfange Klavier zu spielen, vergesse ich die Zeit.“

„Ach du warst das?“, Ninives Blick hellte sich auf, „ich habe dich gestern gehört?“

Ninive erzählte Lilian von der vergangenen Nacht und wie sie vor ihrer Abteiltür ihre Musik gehört hatte, bis die Erschütterung des Zuges sie schließlich unterbrach.

„Weißt du, was das gewesen ist?“, fragte Ninive beiläufig. Lilian zuckte mit den Achseln.

„Keine Ahnung, aber wenn der Zug erschüttert wird, dann muss etwas Ungewöhnliches passiert sein. Doch solange wir am Ziel ankommen …“ Sie deutete mit dem Kinn zum Fenster.

Draußen erstreckte sich im grauen Licht des bewölkten Morgens eine weite Bucht, an deren Ende bereits die hohen Türme und Flugaufbauten des Aéroport Camaret zu sehen waren. Doch was Ninive – wie auch viele der anderen Mitreisenden im Speisewagen – deutlich mehr faszinierte, war das Meer. Die meisten Menschen hatten in den letzten drei Jahrzehnten ihre angestammte Stadt nicht mehr verlassen, und die wenigen, die es taten, reisten meistens zwischen den Großstädten hin und her und bekamen die wilde Landschaft dazwischen und vor allem das Meer oder die Berge nie zu Gesicht.

Unter dem stürmisch-grauen Himmel war die See aufgepeitscht und trieb hohe Wellen in die geschützte Bucht. Gegenüber des Aéroport auf der anderen Seite der Bucht ragte eine felsige Landzunge weit in die Öffnung zum Meer hinein. Mit jeder größeren Welle verschwanden die Felsen in einem Vorhang aus Gischt. Ninive betrachtete das ferne Schauspiel der Naturgewalten, dann plötzlich verengte sie die Augen und legte die Stirn in Falten.

„Was ist?“, fragte Lilian von der Seite, die offenbar interessierter Ninive als das Meer beobachtet hatte.

„Ich … weiß nicht …“, gab Ninive zögernd zur Antwort, ich dachte, ich hätte etwas … gesehen.

„Das ist alles neu für dich, hm?“ Lilian warf ihrerseits einen Blick über die Bucht, schien aber wenig beeindruckt.

„Nein … ja, das ist neu für mich, aber das meine ich nicht“, entgegnete Ninive langsam. Sie spähte erneut zu den Felsen, als sich der nächste Gischtschleier legte. Ohne den Bick abzuwenden stand sie auf und ging zum Fenster. Dann konzentrierte sie sich auf ihre Augen, sammelte alle Energie. Sie spürte, wie sich ihre Gliedmaßen taub anfühlten, wie sie das Blut in ihren Ohren rauschen und in ihren Schläfen pochen hörte, wie sie alles auf ihren Blick fokussierte. Der Zug schwankte leicht auf den Schienen. Ninive klammerte sich mit den Händen an die kleine Reling unterhalb des Fensters, um nicht einfach umzukippen. Ihr Gleichgewichtssinn entglitt ihr. Und dann riss sie die Augen auf und bestand nur noch aus ihren Augen.

Das Licht war gleißend und pulsierend, als ihr Blick vorwärts schnellte und die Umgebung scannte. Ein weiteres Schwanken des Zugs in einer langgezogenen Kurve und sie hätte beinahe ihren Fokus verloren. Doch dann erkannte sie die Muster in einem Meer aus Linien, die das Land zu beiden Seiten der Bucht formten. Sie fokussierte weiter auf die felsige Landzunge und fand dort schließlich, was sie gesucht hatte. Inmitten der tosenden Wellen und regnenden Gischt auf einem niedrigen Felsen stand jemand. Ein Mensch ganz offensichtlich, auch wenn Ninive keine Details erkennen konnte. Die Person machte mit ihren Armen langsame, kreisende Bewegungen, als richtete sie ihre Gesten an die anrauschenden Wellen. Doch dann hielt die Person plötzlich inne und richtete beide ausgestreckten Arme auf die gegenüberliegende Buchtseite. Ninive fokussierte sofort auf die Silhouette des Aéroport Camaret, der am oberen Ende eines steilen Küstenabschnitts aufragte. Etwas bewegte sich dort. Ninive versuchte scharf zu stellen.

Und dann gab es eine erneute Erschütterung des Zuges. Stärker als in der vorangegangenen Nacht. Lilian warf einen Blick auf die übrigen Mitreisenden im Speisewagen, die sich abrupt vom Anblick des Meeres losrissen. Stimmengewirr füllte sofort den Raum und Lilian stellte beunruhigt fest, dass der Zug dieses Mal an Fahrt verlor. Sie wandte sich wieder Ninive zu und sprang erschrocken auf. Die blonde Frau war zu Boden gefallen – vermutlich durch die Erschütterung – und lag dort in eigenartig verdrehter Haltung, die Glieder bewegungslos, schwer atmend und die Stirn auf den Boden des Speisewagens gepresst.

„Hey, Meds!“, rief Lilian in Richtung der anderen Mitreisenden, unter denen sie auch Mitglieder des Sanitätertrupps vermutete, „wir haben hier einen Notfall!“

Sie kniete sich neben Ninive und drehte sie behutsam auf den Rücken. Ihre Haut fühlte sich kühl und schweißnass an, ihre Finger waren kalkweiß und blutleer. Ninive stöhnte auf und ihre Augenlider flatterten, bevor sie sie einen Spalt aufmachte.

„Geht es dir gut?“ Lilian warf einen Blick zu den Mitreisenden, doch diese waren durch die Erschütterung des Zuges, der mittlerweile zum Stillstand gekommen war, so abgelenkt, dass keiner ihren Hilferuf gehört hatte.

„Leg mir etwas über die Augen, bitte“, Ninives Stimme klang schwerfällig. Lilian sah sich um und griff nach einer großen Stoffserviette, mit der sie Ninives Augen abdeckte. Diese atmete tief durch.

„Danke.“ Die Stimme war noch immer schwerfällig, doch klang sie nun etwas ruhiger. Lilian atmete auf.

„Kann ich noch etwas für dich tun?“

„Meine Arme … und Beine … sind wie eingeschlafen, ich …“ Ninive brach ab. Lilian wartete eine Sekunde ab, dann griff sie nach Ninives Arm und begann damit, das Gefühl und das Blut zurück in die Gliedmaßen zu massieren. Zumindest hoffte sie das.

06 | TECHNISCHER DEFEKT

Als Ninive wieder zu sich kam, lag sie in einem Bett. Obwohl sie sich schwach und noch etwas benommen fühlte, erkannte sie sofort, dass sie nicht in ihrem Abteil war. Zwar sahen die meisten Abteile im Zug gleich aus, hatten die identische Einrichtung, dieselbe Anordnung von Mobiliar und spärlicher Dekoration, doch in ihrem Abteil lagerten keine schweren Waffen. Sie stützte sich mit etwas Mühe auf ihre Ellenbogen und betrachtete die Umgebung. Die Vorhänge vor den Fenstern waren zugezogen, wofür sie sehr dankbar war, denn ihre Augen brannten noch immer. Die Tür zum Bad war einen Spalt geöffnet und sie hörte, wie ein Wasserhahn abgestellt wurde. Kurz darauf trat Lilian durch die Tür und an ihr Bett.

„Ich würde ja fragen, wie es dir geht, aber wir haben nicht die Zeit dafür … was hast du gesehen?“, fragte Lilian und setzte sich auf die Kante des Bettes.

„Wieso? Was ist passiert? Warum … warum fahren wir nicht mehr? Sind wir schon angekommen? Wie lange war ich weg?“ Ninive spürte den Anflug eines Schwindelgefühls und ließ sich auf das Bett zurücksinken.

„Ich gebe dir die Kurzfassung, wenn du mir dann deine Informationen gibst. Und dann schläfst du, wir brauchen dich vielleicht später einsatzbereit. Details müssen warten.“

„Gut … ich habe Gestalten gesehen, am Aéroport“, begann Ninive und rieb sich die Schläfen, „es war nur ein kurzer Augenblick, bevor ich … kollabiert bin.“

„Was für Gestalten hast du gesehen? Konntest du sie erkennen?“

„Nein, keine Details, ich habe auf etwas anderes geachtet und …“, Ninive brach ab. Sie dachte an die Gestalt auf den Felsen, die ihren Blick erst auf den Aéroport gelenkt hatte. Wie glaubwürdig war diese Geschichte wohl? Und vielleicht hatte sie sich auch getäuscht unter dem Einfluss des nie zuvor gesehenen Meeres.

„Ja, ein gewaltiges Schauspiel“, bemerkte Lilian, als würde sie auf Ninives Gedanken antworten, „als ich das erste Mal nach Camaret rausgefahren bin, habe ich auf nichts anderes achten können.“

„Nein, so war das nicht“, entgegnete Ninive und richtete sich erneut auf. „Ich habe eine Person gesehen, unten an den Felsen auf der Landzunge. Deshalb habe ich fokussiert, deshalb habe ich auf nichts anderes geachtet, bis …“

„Eine Person auf den Felsen?“, Lilians Stimme klang wider Erwarten nicht ungläubig, wie Ninive befürchtet hatte, sondern alarmiert. Eigenartigerweise beruhigte sie das ein wenig.

„Sie stand da mitten in der Gischt, und als ich sie endlich richtig im Blick hatte, deutete sie zum Aéroport. Doch bevor ich den richtig fixieren konnte, kam die Erschütterung … was war das eigentlich?“

„Ein technischer Defekt“, entgegnete Lilian etwas zu hastig um Ninive nicht argwöhnisch werden zu lassen. „Das Tech-Team sieht sich das gerade an. Deshalb stehen wir jetzt auch.“ Lilian erhob sich von der Bettkante. „Du ruhst dich jetzt aus, wir brauchen dich später einsatzfähig.“

„Schon okay, ich fühle mich gut“, Ninive schlug die Decke zurück, doch Lilian schüttelte den Kopf und drückte sie mit Nachdruck zurück in die Kissen.

„Für deine Mission ist noch keine Zeit, versuche zu schlafen, ich wecke dich, sobald wir dich brauchen.“

Lilian warf ihr einen langen Blick zu, dessen Bedeutung Ninive nicht einordnen konnte, dann wandte sie sich zur Tür und verließ das Abteil. Ninive rieb sich die Augen und spürte noch immer ein leichtes Brennen. Sie hatte jahrelanges intensives Training zur Anwendung der Sangre-Techniken hinter sich gebracht und war so fokussiert und erfahren wie kaum ein anderer Klon. Das visuelle Fokussieren war nichts Neues für sie und sie hatte schon längere und intensivere Erfahrungen damit gemacht, doch noch nie hatte ihr das so zugesetzt.

Die Intensität ging von der Person unten auf den Felsen aus, das konnte sie spüren. Und je länger sie darüber nachdachte, desto sicherer war sie, dass sie sich diese Person nicht eingebildet hatte. Außerdem war Lilians Reaktion eine deutliche Bestätigung gewesen. Kannte sie die Person auf den Felsen? Wusste sie, was hier wirklich vor sich ging? Ninive hatte ihr den technischen Defekt von Anfang an nicht abgekauft. Allerdings schien es ihr, als wäre es Lilian nicht darum gegangen, sie zu überzeugen. Entweder wollte sie ihr damit einen unmissverständlichen Befehl geben, im Bett zu bleiben und abzuwarten, oder aber sie wollte ihr etwas anderes mitteilen, das sie nicht offen aussprechen konnte oder wollte.

Egal wie es war, Ninive musste etwas unternehmen. Sie kannte Lilian seit dem Frühstück und war sich nicht einmal sicher, ob ihr Dienstgrad überhaupt zuließ, dass sie von ihr Befehle entgegennehmen musste. Und für den Fall, dass Lilian ihr etwas mitteilen wollte, gab es keinen anderen Weg als herauszufinden, was hier wirklich vor sich ging. So schlug sie erneut die Decke zurück. Ihre Beine fühlten sich noch immer taub an. Mit den Knöcheln ihrer Finger massierte sie langsam das Gefühl in ihre Oberschenkel zurück und zog dann die Knie an den Körper.

Etwas spannte sich und zog an ihrem Fußgelenk. Ein schmerzhaftes Kribbeln schoss durch ihr rechtes Bein. Ninive schob mit dem linken Fuß die Bettdecke ganz zur Seite und blickte auf Handschellen, die ihren rechten Fuß am Bettgestell festhielten. Einen leisen Fluch ausstoßend schob sie sich näher an das Fußende des Betts und sah sich die Handschellen an. Es war nicht die Standardausrüstung des Militärs, soviel konnte Ninive erkennen. Es bestanden wenig Zweifel, dass Lilian sie an das Bett gefesselt hatte, aber was hatte sie vor? Gehörte sie gar nicht zum Militär und zur Missionsbesatzung?

Ninive rieb sich erneut die Augen, doch das Brennen hatte nun weitgehend nachgelassen. Und sie hatte andere Probleme. Sie musste sich von den verdammten Handschellen befreien. Sie warf einen schnellen Blick durch das Abteil und analysierte die Möglichkeiten. Sie hatte gelernt Handschellen, Schlösser, Türen und ähnliche Dinge mit allerlei provisorischen Gegenständen zu öffnen. Im Bad waren solche Hilfsmittel vermutlich zu finden, doch bis dahin kam sie nicht. Besser sah es da schon mit der Sammlung an Waffen aus, die Lilian praktisch überall im Abteil deponiert hatte.

Ninive hatte keine große praktische Erfahrung mit Waffen, doch über Funktionsweise, ballistische Eigenschaften und Munitionstypen wusste sie bestens Bescheid. Sie machte eine Pistole auf dem Sessel am Fenster ausfindig, die sich am besten dazu eignete, ein Schloss aufzuschießen, ohne dass Ninive ihren Fuß riskieren musste. Das freie linke Bein schwang sie zur Seite über die Bettkante und lehnte sich dann mit dem Oberkörper soweit vor, dass sie mit ihren Fingerspitzen gerade den Sessel erreichte. Sie kam jedoch nicht weit genug, um diesen näher ans Bett zu ziehen.

Ruckartig schob sie sich ein Stück weiter nach vorne und bereute es sofort, als der metallene Ring der Handschelle in die Haut an ihrem Fußgelenk einschnitt. Ninive biss sich auf die Unterlippe und blendete den Schmerz aus. Immerhin war sie jetzt so nah an den Sessel herangekommen, dass sie ihre Finger in den altmodischen Polsterstoff krallen konnte. Mit einer weiteren Kraftanstrengung zog sie den Sessel näher zum Bett, doch dabei rutschte die Pistole herunter und über den Boden zurück in Richtung Fenster.

Seufzend griff Ninive zur anderen Waffe, die noch auf dem Sessel lag. Es war eine schwere, unhandliche Shotgun. Die Handschelle am Fußgelenk aufzuschießen war nun keine Option mehr, wenn sie das Abteil noch mit allen Zehen verlassen wollte. Also blieb nur das andere Ende der Fessel, das um das Bettgestell geschlossen war. Ninive schwang mit Mühe den Lauf der Shotgun herum und setzte an.

Der Knall war ohrenbetäubend. Ninive hatte ihre gesamte praktische Erfahrung mit Waffen am Schießstand gesammelt, in optimaler Position mit einfach zu beherrschenden Waffen. Jetzt hatte sie sich weit zurückgelehnt, um mit dem langen Lauf die richtige Stelle anvisieren zu können, und den Rückstoß völlig unterschätzt. Die Waffe entglitt ihr und der Lauf der Shotgun schlug zurück und prallte gegen ihre Schläfe. Wimmernd ließ sie sich aufs Bett sinken, während die Waffe geräuschvoll zu Boden fiel. Immerhin hatte der Schuss sein Ziel nicht verfehlt. Sie rollte sich auf die Seite und zog die Beine eng an den Körper, gegen das Flackern vor ihren Augen ankämpfend.

07 | SEAMUS

Als Lilian in das Abteil zurückkehrte, war Ninive verschwunden. Sie war nicht besonders überrascht, eine Handschelle als einzige Sicherheit gegen eine Sangre-Agentin war nicht gerade eine Glanzleistung gewesen, doch Lilian hatte nur wenig Zeit zum Handeln und der Gedanke, Ninive in ihrem Abteil festzuhalten war ohnehin eine Improvisation. Doch auch Ninive schien nicht sehr besonnen vorgegangen zu sein. Der Holzboden an der Ecke des Bettes war zersplittert und zeigte deutliche Schusspuren der schweren Shotgun. Die Schubladen der Kommode waren rausgerissen und ihre Kleidung durchwühlt worden, das Kopfkissen hatte Blutspuren, der Sessel war nach hinten gekippt und die Polster wie auch die Matratze waren aufgeschlitzt.

Immerhin war Ninive gründlich gewesen, wenn sich Lilian auch gewünscht hätte, sie wäre etwas subtiler vorgegangen. Aber vermutlich spielte das jetzt keine Rolle mehr. Die Tür des Abteils war unbeschädigt und abgeschlossen, und da auch die Fenster nicht geöffnet waren, konnte sich Ninive nur im Bad versteckt haben. Lilian zog die Taser Gun aus ihrem Hosenbund und schob langsam die Tür zum Bad auf.

„Halt!“

Lilian ließ die Taser Gun sinken, als sie direkt in den Lauf einer Pistole blickte.

„Ninive, lass mich erklären …“, begann Lilian, doch Ninive schnitt ihr das Wort ab.

„Wirf den Taser weg! Hast du noch andere Waffen bei dir?“

„Nein“, Lilian legte die Taser Gun auf den Boden und trat sie mit dem Fuß zurück in Richtung Bett. Sie rechnete ihre Chancen aus, einen direkten Angriff auf Ninive zu starten, doch die Gefahr, sie oder sich selbst dabei ernsthaft zu verletzen, war zu groß. Außerdem war mit einem Klon, der unter Stress stand, nicht zu spaßen.

Ninive musterte Lilian offensichtlich auf der Suche nach möglichen weiteren Waffen. Lilian warf einen schnellen Blick auf ihren weiten Kapuzenpullover und die Cargohose. Darunter konnte sie ein ganzes Arsenal an Waffen tragen. Ninive würde ihr nicht glauben, solange sie weitere Waffen vermutete. Also blieb nur eine Möglichkeit. Lilian zuckte mit den Schultern und griff nach dem Saum ihres Pullovers.

„Halt! Was wird das?“, Ninive fuchtelte mit der Pistole vor Lilians Gesicht rum.

„Du willst doch sicher einen Beweis dafür, dass ich keine weiteren Waffen trage, richtig? Ich ziehe jetzt Pullover und Hose aus, damit du dir sicher sein kannst, und dann hörst du mir zu, in Ordnung?“

Ninive nickte zögernd, trat aber dann einen halben Schritt zurück – mehr ließ das kleine Bad nicht zu – und entspannte sich etwas. Lilian zog sich den Pullover über den Kopf und öffnete den Gürtel ihrer Armeehose.

„Du musst wissen, dass ich dich nur zu deinem eigenen Schutz gefesselt habe. Es gibt ein paar Sachen, die du wissen solltest …“

Ninive ließ die Waffe ein paar Zentimeter sinken. „Und was wäre das …?“

Lilian hielt für eine Sekunde inne und sah Ninive an. Offenbar ging ihr Plan auf. Sie ließ die Hose herunter gleiten und beobachtete Ninive erneut. Eine zufällige, grazile Bewegung ihres schmalen, sehnigen Körpers, der nun nur noch in einem engen, schwarzen Body steckte, reichte aus, um den Klon abzulenken. Lilian hatte vermutet, dass Ninive es nur deshalb auf diese Mission geschafft hatte, weil sie sich Stück für Stück aus der Abhängigkeit der Neurohemmer befreit hatte, und sie bewunderte sie dafür. Doch in einem solchen Fall reichte ein kleiner, unerwarteter sexueller Reiz aus, um den Klon aus dem Konzept zu bringen. Und wenn auch nur für eine Sekunde.

Lilian griff an ihren Hinterkopf zum Haarknoten unter dem Kopftuch. Blitzschnell zog sie eine kurze, dünne Nadel hervor, sprang vorwärts und stach sie Ninive seitlich in den Hals, während sie mit der linken Hand nach der Pistole griff. Ein Schuss löste sich, der die Holzverkleidung der Decke durchschlug, dann fielen Ninive, Lilian und die Pistole zu Boden.

Ninive griff nach Lilians Handgelenk, doch ein Gefühl von Trägheit durchlief bereits ihren Körper. Lilian thronte über ihr und ihre Knie drückten so auf ihre Schlüsselbeine, dass jede Bewegung der Arme und des Oberkörpers schmerzte.

„Entschuldige, aber es ist die einzige Möglichkeit, dich zu retten“, hörte sie Lilian bedauernd sagen, dann verschwamm die Umgebung um sie herum und ihr wurde schwarz vor Augen.

Die Wunde vom Lauf der Shotgun an der Schläfe hatte aufgehört zu bluten, doch als Ninive im Gerangel mit Lilian zu Boden gefallen war, hatte sie sich den Hinterkopf aufgeschlagen. Die Wunde blutete nicht stark, doch Lilian wollte kein Risiko eingehen. Aus einem kleinen Notfallkasten unter dem Waschbecken holte sie Verbandszeug und versorgte Ninives Kopfwunden, bevor sie zur Tür des Abteils ging und Seamus hereinließ.

Der hochgewachsene Mann, der aber fast ebenso schmal war wie Lilian, zog den Kopf ein, als er durch die Tür ins Abteil schlüpfte. Er warf Lilian ein Grinsen zu und sah sich im Abteil um.

„Ihr habt es aber wild …“ Lilian schnitt ihm scharf das Wort ab: „Spar dir den Scheiß! Überleg dir lieber, wie wir unseren Klon hier rauskriegen, ohne dass wir das halbe Militär auf den Fersen haben.“

Seamus lachte: „Da ich wusste, wie deine Art der Überredung aussieht, habe ich schon vorgesorgt. Wegen der Reparaturen läuft die Stromversorgung auf Sparflamme und ich habe die Abweiser überbrückt. Wir können einfach aus dem Fenster. Aber zieh dir vorher was an, ist kalt draußen.“

Lilian warf einen Blick aus dem Fenster, bevor sie sich ihre Kleider angelte und anzog. Ein paar Meter offene Böschung mussten sie überwinden, dann empfing sie das schützende Gewirr aus Unterholz und Buschwerk. Schützend zumindest vor den Blicken der Crew des Zugs. Die Gefahren, die in der Wildnis lauerten, waren eine ganz andere Sache. Aber ein Problem nach dem anderen.

Es war eine mühsame Arbeit, Ninive durch das kleine Zugfenster nach draußen zu bugsieren. Seamus hatte ihr mit einigen aus dem Bettlaken gerissenen Streifen Beine und Handgelenke gefesselt, um sicher zu gehen, dass Ninives erste Reaktion nach ihrem Erwachen sie nicht alle vernichten würde. Doch das erschwerte das Tragen nur noch mehr. Immerhin hatte Seamus mit dem Ausschalten der Abweiser gute Arbeit geleistet. Diese seitlich an den Waggons angebrachten Leitschienen standen bei normalem Betrieb unter Hochspannung und machten ein Aussteigen fast unmöglich. Der Weg die Böschung herunter verlief schnell und ohne Zwischenfälle, doch als sie schließlich im schützenden Unterholz angekommen waren, ließ sich Lilian zu Boden fallen und atmete tief durch.

08 | SEQUANA

Das Hotelzimmer, in dem er erwachte, entsprach nicht ganz den Vorstellungen, die er von seinem Blind Date am Vorabend noch hatte. Noch schlaftrunken wälzte sich Rasmus auf den Rücken und betrachtete die Decke des Zimmers. Holzgetäfelt in sich dezent absetzenden Quadraten. Die Einrichtung sah schlicht und dennoch teuer aus, jene Art von Mobiliar, das sich nicht durch übermäßige Schnörkel oder Ornamentik beweisen musste. Halbhohe Wände aus Glas trennten das große Zimmer in einzelne Bereiche. Wasser rann im Inneren der Wände hinab, durch feine Luftdüsen in wechselnde Muster geformt und durch blassblaue Strahler in ein leicht pulsierendes Licht gehüllt. Die in die Wand eingelassenen Displays taten ihr Übriges.

Rasmus setzte sich auf und schwang die Beine über die Bettkante. Seine nackten Füße spürten den weichen Teppichboden. Er warf einen Blick zur anderen Seite des zerwühlten Bettes. Sein Blind Date der letzten Nacht schlief noch. Sie hatte die Decke zur Seite geschoben – zumindest hoffte Rasmus, dass es so war, und nicht er ihr die Decke weggezogen hatte. Er betrachtete ihre zerzausten, schwarzen Haare, die kleinen blassen Muttermale entlang ihrer Wirbelsäule und den transparenten schwarzen Stoff, der sich über ihren Hintern spannte.

Sie ist auffallend schön, dachte Rasmus, als er sich auf den Weg ins Bad machte. Es war nicht so, als wäre er nicht schon mit ein paar schönen Frauen im Bett gewesen im Laufe seines Lebens, aber keine davon hatte er bisher bei einem Blind Date getroffen. Er warf ihr einen weiteren Blick zu, sah dass sie sich umdrehte, offensichtlich noch immer schlafend. Er wollte sich über sein Glück nicht beschweren. Für einen Augenblick zufrieden mit der Welt schob er die Tür zu, ohne sie abzuschließen. Kurz darauf – Rasmus hatte einen Fuß bereits in der Dusche – ging die Tür auf, und sie stand im Türrahmen, noch immer mit zerzausten Haaren und noch immer halbnackt. Rasmus zog seinen Fuß zurück und drehte sich um. Er hatte an diesem Tag nichts Besonderes vor, und die Dusche konnte warten.

Gerade als sie ihr Gespräch beendet hatte, sah Sequana Síde ihr Blind Date der letzten Nacht vor dem Café auftauchen. Sie setzte ihre Sonnenbrille ab und ein mädchenhaftes Lächeln auf, bevor sie seinen Blick abpasste und ihm etwas zu energisch zuwinkte. Während er sich seinen Weg durch die vielen kleinen runden Tische und schmalen Stühle bahnte, schüttelte sich Sequana ärgerlich. Fast wäre sie aus der Rolle gefallen.

„Hey!“, grüßte Rasmus und setzte sich. Sequana musterte ihn. Sie fand ihn noch immer attraktiv, das machte ihren Job deutlich leichter.

„Frühstück?“, fragte sie und reichte ihm die Speisekarte.

„Vielleicht eher Brunch“, murmelte Rasmus und warf einen mäßig interessierten Blick auf die Karte. Sequana sah auf seine Hände. Er trommelte mit seinen Fingern unruhig auf der Tischkante.

„Du wirkst so angespannt, ich dachte, darum hätten wir uns gekümmert?“, bemerkte Sequana mit einem Lächeln.

„Ich bin total entspannt.“ Rasmus folgte ihrem Blick und nahm die Hände vom Tisch. „Ich bin es nur nicht mehr gewohnt, mit einer fremden Frau beim Frühstück zu sitzen“, gab er zu.

„Damit wir uns nicht falsch verstehen, ich mache sowas hier auch nicht jeden Tag“, entgegnete Sequana bestimmt. Er reagierte erschrocken, hob beschwichtigend die Hände und wollte zu einer Entschuldigung ansetzen.

„Schon gut“, Sequana lachte ihn ermunternd an. „Ich weiß, dass du mir nichts unterstellen wolltest … aber, da ist mehr oder?“

Sie lehnte sich nach vorne über den kleinen Tisch. Sie legte ihre schmale Hand auf seinen Unterarm, sah ihn verständnisvoll mit sanftem Blick an, während sich der tiefe Ausschnitt, für den sie sich entschieden hatte, bezahlt machte. Wenn dies nicht nur ein Job wäre, würde ich mich selbst verachten, dachte sie für eine Sekunde.

„Nein, ist schon gut“, er reagierte abwehrend und lehnte sich zurück, wieder die Karte studierend.

„Es geht da um eine andere Frau, oder? Eine unerfüllte Liebe vielleicht?“, sie behielt einen Augenblick ihre Haltung, dann lehnte auch sie sich wieder zurück.

„Nein … ich meine, vielleicht sollten wir über etwas anderes sprechen“, Rasmus winkte die Bedienung heran.

„Natürlich“, stimmte Sequana zähneknirschend zu. „Über was unterhält man sich denn in deiner Welt, nachdem man zusammen im Bett war?“

Die Bedienung kam und sie bestellten beide nur einen Kaffee. Kein gutes Zeichen, das wusste Sequana. Sie hatte es sich zu einfach gemacht. In den meisten Fällen, auf die sie angesetzt war, reichten Flirtkünste aus dem Lehrbuch und das blinde Vertrauen in die Libido ihres Gegenübers. Doch jetzt wusste sie, warum man sie auf Rasmus angesetzt hatte. Er war kein ganz so einfacher Fall. Kurzzeitig überlegte sie, ob sie ihm einen Quickie auf der Herrentoilette vorschlagen sollte, um die Situation zu rebooten, entschied sich aber, dass er nicht der Typ dafür war.

„Entschuldige, ich wollte dich nicht mit irgendwas bedrängen, aber als Frau hat man es bei dem heutigen Gesellschaftswandel nicht mehr so leicht, wie vor einigen Jahrzehnten. Und nach einer Nacht wie dieser, der Hingabe zu einem Fremden, der eigentlich nicht einmal über Nacht bleiben wollte, habe ich wohl versucht, mein Gewissen mit der Illusion einer emotionalen Bindung reinzuwaschen.“ Sequana senkte ihren Blick, dann griff sie nach ihrer Tasche und stand auf. „Entschuldige Rasmus, es war eine sehr schöne Nacht … und ein sehr schöner Morgen, aber ich sollte es wohl dabei belassen.“

Sie hatte die nächste Kreuzung noch nicht ganz erreicht, da hatte er sie eingeholt. Ihr Plan war aufgegangen. Rasmus war am Beauvoir-Institut, warum hatte sie nicht sofort gemerkt, dass sie es mit einem dieser Weltverbesserer zu tun hatte, die gegen den Gesellschaftswandel anredeten? Sie hätte es sich viel einfacher machen können.

„Ich musste noch den Kaffee bezahlen“, sagte er wie zur Entschuldigung.

„Warum bist du mir gefolgt?“, sie musste die Situation jetzt richtig ausspielen, er durfte nicht den Verdacht gewinnen, auf eine Masche reingefallen zu sein.

„Weil du Recht hast. Ich schulde dir ein Gespräch … nein, das ist doch Blödsinn. Wahrscheinlich schulde ich dir gar nichts, denn wir haben uns beide auf diese Nacht eingelassen, aus freien Stücken. Wir hatten beide unseren Spaß – zumindest hoffe ich das – und es sollte keine Rolle spielen, ob wir Mann oder Frau sind, unsere Entscheidung ist doch alles, was zählt. Aber da ich nicht nach dem Sex gegangen bin, kannst du wohl tatsächlich etwas mehr Offenheit erwarten.“

Sequana hörte ihm zu und konnte sich nur mühsam davon abhalten, die Stellen seines Monologs zu zählen, die sie unsinnig fand. Sie hatte sich für die Rolle des Sensibelchens entschieden, jetzt musste sie dabei bleiben. Auch wenn dadurch die Attraktivität ihrer körperlichen und jetzt wohl auch emotionalen Beziehung deutlich litt.

„Schon gut“, unterbrach sie ihn schließlich, „ich finde, wir vergessen die letzte Viertelstunde und beginnen unser Gespräch nochmal von vorne. Okay?“

„Klar“, Rasmus nickte und zu Sequanas innerer Freude schien er selbst froh darüber zu sein.

„Gut. Also, dann erzähl mir von dir … egal was.“

„Egal was …?“ Rasmus zögerte. Was er beruflich machte, hatte er als Icebreaker für ihr erstes Gespräch am Vorabend genutzt. „Über meine Arbeit will ich nicht mehr erzählen, damit langweile ich dich vermutlich nur. Du hast nach einer anderen Frau gefragt. Es gibt … es gab eine Frau, allerdings war sie nur eine Freundin. Ich habe sie erst vor wenigen Tagen verabschiedet. Wahrscheinlich für immer. Wir kannten uns sehr lange und es war nicht ganz einfach. Vielleicht bin ich deshalb auf emotionale Bindungen gerade etwas schlecht zu sprechen.“ Rasmus lachte.

„Wenn du sagst ‚für immer verabschiedet‘, meinst du damit …“

„Nein, sie ist nicht gestorben, falls du das meinst“, er hob abwehrend die Hände, „sie ist auf eine große Reise gegangen.“

„Wirklich? In eine andere Stadt?“

„Ja, so könnte man das sagen … in eine andere Stadt.“

„Aber du bist ihr nicht gefolgt“, stellte Sequana fest.

„Nein, ich … wieso sollte ich? Wir waren kein Paar … gut, wir waren es früher einmal, aber das ist lange genug her um zu wissen, dass wir keine gemeinsame Zukunft gehabt hätten. Sie war ein …“, er brach ab.

„Ein was?“, erkundigte sich Sequana wie beiläufig und ergriff gedankenverloren seine Hand, während sie um eine Ecke bogen und sich die Seine und ihre kleine Promenade vor ihnen erstreckte.

„Sie war ein besonderer Mensch. Nicht nur im Positiven. Kompliziert.“

„Komplizierter als du?“, bemerkte Sequana mit gut gemeintem Sarkasmus.

„Mindestens genauso kompliziert. Sie war ein Klon.“

09 | CAMARET

 

Es gab Leben außerhalb der großen Städte. Nicht alle Menschen hatten sich während der großen Landflucht in die Metropolen zurückgezogen, einige waren in ihren kleineren Heimatstädten geblieben, aller Gefahren zum Trotz. Camaret-sur-Mer war dank des nahen Stützpunkts, der noch immer von den Pariser Militärs genutzt wurde, von der Entwicklung der Großstadt nicht unbeeinflusst geblieben. Das galt zumindest bis vor drei Jahren, als Camaret-sur-Mer Opfer einer Springflut wurde. Weite Teile der Stadt wurden zerstört und der Kontakt zwischen dem Ort und dem Aéroport Camaret auf der anderen Seite der Bucht brach ab.

Am Rande von Camaret-sur-Mer stand ein Haus, das noch bewohnt war. Es thronte am Rande der Steilküste über dem Meer, alt und windschief. Wie alle anderen Häuser in der Umgebung auch, war es von einem verwilderten Garten umgeben, und ein verwitterter Holzzaun trennte diesen von einer schmalen Straße, die Stück für Stück von der Natur zurückerobert wurde. Ein Licht brannte hinter einem der Fenster im Erdgeschoss.

Ein Stockwerk darüber erwachte Ninive in einem kleinen Dachzimmer. Der Rest eines verblassenden Schmerzes pochte dumpf hinter ihren Schläfen, und ihr Körper fühlte sich an wie gerädert. Sie lag in einem Bett, das bei jeder Bewegung ächzte. Es dauerte einige Augenblicke, bis sie sich an den Kampf mit Lilian im Zug erinnerte. Instinktiv zog sie die Beine an und stellte erleichtert fest, dass sie nicht erneut an ein Bett gefesselt war. Ein schwacher Mondschein fiel durch ein schmales Fenster mit blinden Scheiben in den Raum. Das Licht reichte aus, um an der gegenüberliegenden Wand des Raumes, der bis auf das Bett und einen klapprigen Stuhl leer war, die Umrisse einer Tür zu erkennen.

Ninive stand vorsichtig aus dem Bett auf. Unter ihren Füßen spürte sie einen unebenen, kühlen Holzboden, der laut ächzte, als sie sich der Zimmertür näherte. Sie hielt inne und sah sich um. Sie war noch immer barfuß, konnte jedoch in der Nähe des Bettes oder der Tür keine Schuhe oder Stiefel finden. Sie atmete angespannt und nahm die letzten Schritte bis zur Tür. Erneut ächzte der Boden laut. Ninive fragte sich, wo sie war und warum. War noch jemand in ihrer Nähe?

Trotz des verräterischen Holzbodens öffnete sie die Tür so leise wie möglich. Ein Quietschen der Scharniere erklang, doch wenn ihre Schritte ungehört geblieben waren, sollte das Geräusch der Tür nicht weiter verhängnisvoll gewesen sein. Vor ihr erstreckte sich ein kurzer Flur, der nach wenigen Metern an einer Treppe endete, die nach unten führte. Von dort drang Licht durch das Treppengeländer nach oben und warf schmale, lange Schatten an die Wände. Ninive ging zur Treppe. Ihre Füße spürten einen dicken, fransigen Teppich, der das Knarren der Bodendielen dämpfte. Die geblümte Tapete hatte gelbliche Ränder von Wasserflecken und blätterte an vielen Stellen ab oder war wellig geworden. Auch spürte sie immer wieder Stellen, an der der Teppich morsch geworden war.