Solheim 02 | AMERIKA - Jón Faras - E-Book

Solheim 02 | AMERIKA E-Book

Jón Faras

0,0
4,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Inmitten der verwaisten Weiten Nordamerikas thront Fleet City auf hohen Pfeilern, die diesen letzten Ort nordamerikanischer Zivilisation vom umliegenden Land abheben. Es ist das Zentrum des menschlichen Lebens, die letzte Metropole der Erde. Weit im Norden scheint Fleet City unerreichbar fern, als Ninive Solheim mit den wenigen Gefährten, die ihr noch geblieben sind, um ihr Überleben kämpft. Doch die Gefahren durch wilde Kreaturen und den herannahenden Winter sind nur ein Teil ihrer Sorge - ebenso schwer wiegt der Verlust von Isaak, von dem sie nicht weiß, ob er noch am Leben ist und sie ihn jemals wiedersehen wird. Der zweite Teil der Geschichte um Ninive Solheim und ihre Gefährten knüpft in einer neuen Umgebung an die offenen Enden des ersten Bands an. Nachdem die persönliche Vergangenheit Ninives kein Geheimnis mehr ist, gibt es ein großes Ziel: Aarick Zervett und seine mysteriöse Gefolgschaft zu verfolgen, um hinter das Geheimnis des Sangres zu kommen, das unsere Welt für immer verändert hat. Die Solheim-Reihe 01 EUROPA - erschienen 2013 02Solheim 02 | AMERIKA - erschienen 2014 03 ATLANTIS - erschienen 2016 04 ANDROMEDA - geplant 2019 05 EDEN - geplant 2021 Kurzroman "Solheim Noir" - erschienen 2014

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



SOLHEIM

02 | AMERIKA

von Jón Faras

Eine Dystopie

© 2014 Jón Faras

Alle Rechte vorbehalten.

www.facebook.com/jonfaras

Coverdesign: Vivian Tan Ai Hua

www.facebook.com/aihua.art

gewidmet

Craig B

(mit dem ich drei Mails wechseln durfte)

+

Audrey Tautou

(die vielleicht mit mir auf MySpace befreundet war)

INHALTSVERZEICHNIS

 

01 | SOLARIS

02 | DREI JAHRE SPÄTER

03 | INAKTU

04 | PHOENIX

05 | SOUTHWARK

06 | INTEL

07 | ZITADELLE

08 | EINBERUFUNG

09 | SAYURI

10 | WOLFEN

11 | INCA PLACE

12 | LAUSCHANGRIFF

13 | MISSION

14 | DER ALTE FRANZOSE

15 | FREQUENZORTUNG

16 | SÄGEWERK

17 | DIE LOGE

18 | FEYO

19 | SHIKAZA

20 | TREIBJAGD

21 | TREIBENDE ENERGIE

22 | GUARDIAN

23 | WITWE

24 | TALWÄRTS

25 | FUNKVERKEHR

26 | DOCKLANDS

27 | FLIRT

28 | CYPRIEN

29 | ONE NIGHT STAND

30 | GOMORRAH

31 | BOUR

32 | AMITAIN

33 | PING

34 | BRIEFING

35 | ANGEZAPFT

36 | ABSCHIED

37 | BOOTE

38 | ÜBERRASCHT

39 | SCHLAF

40 | ARCHIPEL

41 | DOOR PARK

42 | ANNÄHERUNG

43 | LIEBE

44 | KONZENTRATOR

45 | HÉRNAN

46 | ZUWACHS

47 | GEISTERSTADT

48 | MADRIBELLE

49 | DIEBE

50 | NATIONALMUSEUM

51 | DIE GESANDTEN

52 | SIAM

53 | WEGE

54 | KOORDINATEN

55 | REGENCY POINT

56 | LIBERTINE YARD

57 | ANKOMMEN

58 | QUETZAL

59 | FOX/LYNX

60 | CONTAINER

61 | MONTERREY

62 | AIMLESSLY

63 | NEOKARIBIK

64 | TEA TIME

65 | TYMAN

66 | FENJA

67 | RAUSCH

68 | HAVANNA

69 | CONCLUSIO

70 | DAS LETZTE ABENDMAHL

71 | ALLIANZ

72 | OPER

73 | DER VORHANG FÄLLT

74 | SCHERBEN

75 | LICHT

Solheim 03 | ATLANTIS

01 | SOLARIS

Gleißende Helligkeit badete Ninive. Tausende Eiskristalle warfen das Licht der Wintersonne zurück und hüllten sie ein in die schattenlose Umgebung. Ihr Weg war nicht lang hinauf zu dem großen Segel, das sich silbern im arktischen Wind blähte, doch Entfernung spielte hier im Norden, wo der Schnee hüfthoch lag und ganze Platten aus Eis die Felsvorsprünge bedeckten, nur eine untergeordnete Rolle. Ein Blick zurück zeigte die kleine Kolonie der Solaris-Nomaden unter ihr. Sie wirkte zum Greifen nah, und dennoch war Ninive bereits seit einer Stunde unterwegs, immer den Abhang hinauf.

Betrachtete man das Große und Ganze, dann war sie bereits seit einigen Wochen unterwegs. Und ein Blick zurück, hätte ihr auch viel mehr gezeigt als nur eine arktische Postkartenansicht einer kleinen Siedlung aus idyllischer Ferne. Ninive hätte ihren Aufbruch aus Paris gesehen, den Abschied von guten Freunden, das Wiedersehen mit Vertrauten aus ihrer Vergangenheit und am Ende die Trennung von Isaak. Mit ihm und seinem Team war sie aufgebrochen, um die undurchsichtigen Pläne einer Gruppierung namens Children of Chou, die unter dem zwielichtigen General Aarick Zervett Regierung und Militär der wichtigsten europäischen Stadtstaaten unterwandert hatten, zu untersuchen.

Und ganz nebenbei hatte sie einiges über sich und ihre Vergangenheit erfahren. Entstanden und aufgewachsen im Rahmen eines Pariser Forschungsprojekts, bei dem geklonte Menschen mit besonderer Begabung – der sogenannten Sangre-Energie – gezüchtet wurden, war sie einer von wenigen Klonen, die ein selbstständiges Leben führen konnten. Durch diese genetische Veranlagung hatte sie eine besonders enge Bindung zum Sangre, das in den letzten einhundert Jahren seit dem ersten Auftreten dieser zuvor unbekannten Energie im Jahr 2013 die Welt entscheidend verändert hatte. Das globale Handels- und Kommunikationsnetz war zusammengebrochen. Die Menschen hatten sich zum größten Teil in wenige große Städte zurückgezogen, Geisterstädte und verwilderte Landstriche waren zurückgeblieben, und die wenigen Kolonisationsprojekte, verbliebenen kleinen Städte und Stationen von Militär und Forschung lebten in ständiger Gefahr durch schwere Naturkatastrophen.

Ninive rutschte mit dem linken Fuß auf einem vereisten Stein aus und griff hastig in den Tiefschnee, um sich abzufangen. Sie hatte das Segel fast erreicht. Es war an einer langen, biegsamen Stange befestigt, die sich etwa zehn Meter empor in den Himmel reckte und vom Wind wie ein Grashalm gebogen wurde. Das Segel bestand aus einer Vielzahl flacher Solarzellen, die die Sonnenenergie in Strom für die Kolonie unten am Fuße des kleinen Bergs umwandelten.

Es hatte bereits seit 2085 keinen transatlantischen Kontakt mehr gegeben, und auch die Verbindungen zwischen den einzelnen europäischen Städten wie Paris oder Hamburg waren immer schwächer geworden. Das Sangre hatte zudem Löcher in das Land gerissen, Zugänge zu Orten, deren Existenz Ninive noch immer nicht ganz verstand. Sie wurden Korridore genannt, da sie einen Durchgang von einem Ort zu einem anderen darstellten.

Als Ninive mit Isaak und ihren Begleitern – den Klonen Sequana, Sasha und Solvejg, dem Sangreforscher Bertrand Gallea und der Psychologin Eva Aden – am Ende der Suche in den Jylland-Kolonien ankam, entdeckten sie einen künstlich geschaffenen Durchgang zu den Korridoren. Und nach einigen ruhigen Tagen in den Dünen der jütländischen Nordseeküste, in denen sie nach der Reise wieder zu Kräften gekommen waren, machten sie sich auf den Weg in die Korridore, um Aarick Zervett und seine Children of Chou zu finden.

Doch bald gerieten sie in einen Kampf mit den Bewohnern der Korridore, den Visaren, und wurden von Isaak und Eva getrennt. Als sie schließlich einen Ausweg fanden, standen sie im beginnenden Winter nahe der Hudson Bay und wurden schließlich von einem Stamm der Solaris-Nomaden gefunden, einer Gruppe, die sich dem Leben in den Städten verweigerte und einen neuen Weg suchte, das Land für sich als Lebensraum zu nutzen.

Ninive zog zwei lange Eisenhaken aus ihrem Gürtel und legte sie um den Mast des Segels. Sie klopfte große Klumpen Schnee von ihren Stiefeln und setzte die schmalen, stählernen Fußspitzen in eine Schiene entlang des Masts. Sie atmete tief durch, dann spannte sie die Muskeln und zog sich am Mast hoch, Stück für Stück bis sie die Hälfte der Masthöhe hinter sich gelassen hatte.

Isaak fehlte ihr, und mittlerweile hatte Ninive keine Probleme mehr, sich das einzugestehen. Als Klon waren fast dreißig Jahre ihres Lebens von rationaler Erziehung, Ausbildung und dem Glauben an die Neurohemmer – ein Standardmedikament für Klone, das die emotionalen Prozesse unterband – bestimmt, bis sie Isaak traf und er ihr die Wahrheit erzählte. Eine Wahrheit, mit er sie zuerst nicht zurechtkam. Die Neurohemmer waren in ihrem Fall nur ein Placebo. In Wirklichkeit war sie selbst Herrin ihrer Gefühlswelt und das machte ihr schwer zu schaffen. Isaak war in ihr Leben gekommen, hatte ihr den Boden unter den Füßen weggezogen und ihr am Abgrund der Wahrheit einen harten Stoß verpasst. Doch er war auch ab diesem Moment ihre Konstante und ihr Halt im Leben gewesen. Und während ihrer Reise nordwärts hatte sie sich in ihn verliebt.

Ninive dachte an ihre erste und letzte gemeinsame Nacht in den Dünen der Jylland-Kolonien zurück. Sie hatten gemeinsam beschlossen, dass eine Beziehung zwischen ihnen beiden nicht infrage kam, solange sie zusammen auf der Jagd nach den Children of Chou waren. Denn es stand zu viel auf dem Spiel. Zervett und seine Leute hatten ein Gerät in die Finger bekommen, dass sich Konzentrator nannte, und mit dem man neue Risse zu den Korridoren öffnen konnte. Und durch diese Risse drangen die Wesen der Korridore nach Europa und würden den Kontinent früher oder später überrennen. Doch auch wenn sie keinen Gedanken daran verschwenden durften, ob es eine gemeinsame Zukunft für sie geben konnte und wie diese aussehen würde, nichts hatte sie davon abgehalten, im dürftigen Schutz von Dünengras und Sand miteinander zu schlafen.

Ninive klammerte sich an den Mast, als sie eine Metallschlaufe um ihren Gürtel legte und mit einem Karabinerhaken am Mast befestigte. Sie dachte an diese Nacht zurück und spürte die Einsamkeit noch mehr. Dabei dachte sie auch an Solvejg, die ebenfalls wieder alleine war. Mit Eva war sie nicht nur von ihrer Freundin getrennt, sondern auch von ihrer behandelnden Psychologin. Im Gegensatz dazu kam ihr das Verlangen Isaaks Nähe zu spüren fast nichtig vor.

Mit einer Hand zog sie sich ein Stück um den Mast herum und sah nun in Richtung Norden. Dort war am Ende eines langen Tals eine kleine Geisterstadt. In einem der verlassenen Häuser hatten sie die Korridore wenige Wochen zuvor verlassen. Natürlich war die Wahrscheinlichkeit sehr gering, dass Isaak ebenfalls dort aus den Korridoren auftauchen würde. Sofern er es überhaupt geschafft hatte, den Visaren zu entkommen, war er vermutlich in einem ganz anderen Teil der Welt gelandet. Vielleicht nicht einmal wie sie in Nordamerika. Und dennoch stieg sie jeden Tag hier hinauf und hielt nach ihm Ausschau. Sie atmete schnell ein und aus, dann konzentrierte sie die Sangreenergie in ihrem Inneren auf ihre Augen. Sie blinzelte und spürte das Rauschen des Bluts, dann riss sie die Augen auf und ihr Blick schnellte vorwärts, ungeachtet des beißenden Winds. Für einen Moment bestand sie nur aus Augen, alles andere nahm sie nicht mehr wahr. Sie suchte das weite, trostlose Weiß ab, konzentrierte sich auf den Rand der Geisterstadt, suchte den Weg entlang des Tals ab – und doch war wieder nichts von Isaak, Eva oder irgendjemand anderem zu sehen. Das Rauschen des Bluts nahm zu und hüllte ihre Sinne in einem ohrenbetäubenden Wirbel ein. Ninive blinzelte hastig und spürte, wie ihre Augen brannten und Tränen auf ihren Wangen fast augenblicklich zu Eis erstarrten.

Unten in der Kolonie erhob sich Sequana, nachdem sie sekundenlang beobachtet hatte, wie aus der Glut Flammen hervorsprangen und am Holzscheit, das sie nachgelegt hatte, empor leckten. Sie klopfte sich den Staub von den Knien und hielt sich kurz die Seite, dort wo seit einigen Wochen eine Kugel steckte, die sie nicht umgebracht hatte, die ihr aber seitdem Schmerzen bereitete, wenn sie sich unbedacht bewegte.

Dabei ging es ihr noch verhältnismäßig gut. Gallea, mit dem sie den größten Teil ihrer Reise verbracht hatte, saß in einem alten Sessel und hatte die Füße hochgelegt. Seit zwei Tagen hatte er sich nicht viel bewegt. Er war bei ihrer Flucht aus Amsterdam – kurz bevor Sequana die Kugel in ihre Seite traf – in einer alten Industrieruine abgestürzt und auf dem Steißbein gelandet. Je kälter die Tage waren, desto schwerer fiel ihm das Gehen.

„Du solltest Solvejg von der Kugel erzählen“, sagte Gallea, der sie offenbar sehr genau beobachtete. „An meinem Rücken ist nicht mehr viel zu machen, aber dich könnte sie wieder zusammenflicken.“

„Bertrand, sieh dir unsere Gruppe doch an! Ich kann mich jetzt nicht um meine Schmerzen kümmern“, erklärte ihm Sequana nicht zum ersten Mal. „Ninive ist mit ihren Gedanken nur bei Isaak, Solvejg hält sich tapfer, doch sie hat ihre Geliebte verloren. Sasha ist eine Psychopathin, die glücklicherweise auf unserer Seite ist, und du … ich will dir nicht zu nahe treten, aber du strahlst nicht gerade Führungsstärke aus.“

„Du bist unsere Anführerin, Sequana“, entgegnete Gallea, „daran hat niemand Zweifel, selbst wenn du dich in Solvejgs Fürsorge begibst. Sie hat nur durch Beobachten Erstaunliches über die Medizin gelernt. Sie kann dich in wenigen Tagen so behandeln, dass du auch wieder eine schmerzfreie Anführerin bist.“

Sequana schüttelte den Kopf. „Nein, ich brauche Ninive bei klarem Verstand, bevor ich mir das erlauben kann. Und deshalb rede ich jetzt mit ihr. Wir alle wissen, dass Eva und Isaak keine großen Chancen gegen die Visaren hatten. Ich für meinen Teil halte es für besser, wenn wir uns auf die Version einigen, dass sie tot sind. Bis sie selbst das Gegenteil beweisen.“

„Du selbst hast Cédric und auch Sasha nicht aufgegeben, bis wir sie gefunden hatten“, gab Gallea zu bedenken.

„Ich habe an die Fährte geglaubt, nicht daran, jemanden lebend zu finden. Tut mir leid, Bertrand, wenn das kalt klingt, aber wer sich selbst an persönliche Schicksale knüpft, der … Ninive und Isaak haben die richtige Entscheidung getroffen, als sie die Mission über ihre eigenen Gefühle stellten. Jetzt ist es an der Zeit, dass sie dazu steht!“

Ein Räuspern erklang im Dunkeln des Zimmers hinter Galleas Sessel und Solvejg erschien im schwachen Licht des Feuers. Sie hatten sie nicht hereinkommen hören, und Sequana wäre es lieber gewesen, ein direktes Gespräch mit ihr zu führen, doch auch Solvejg musste der Realität ins Auge blicken. Und Sequana schätzte die jungenhafte, schmale Frau so ein, als würde es ihr leichter fallen als jedem anderen von ihnen.

„Ist Eva tot?“, fragte sie schlicht.

„Nein“, flüsterte Gallea matt.

„Ja“, sagte Sequana fest, fügte dann aber hinzu: „Solange wir nicht sicher wissen, dass sie lebt, sollten wir nichts anderes als ihren Tod annehmen. Sonst bringen wir uns alle unnötig in Gefahr und finden die Children of Chou niemals.“

„Das ergibt Sinn“, sagte Solvejg und krempelte die Ärmel ihres Jumpsuits hoch. „Hose runter Bertrand! Ich habe eine Salbe der Nomaden gemacht, die für deine Wirbel hilfreich sein wird.“

Sequana grinste schief und schnappte sich ihre Felljacke, die sie über ihren Kevlar-verstärkten Jumpsuit zog. „Ich lasse euch dann mal lieber alleine …“

02 | DREI JAHRE SPÄTER

„Ich habe sie! Endlich habe ich sie!“

Sie lagen sich minutenlang in den Armen. Eva hätten fast die Freudentränen übermannt, aber sie brachte sich noch schnell genug wieder unter Kontrolle. Stattdessen lachte sie ausgelassen und drückte Isaak einen überschwänglichen Kuss auf die Wange, bevor sie ihn losließ. Sie hatten fast zwei Jahre Wartezeit hinter sich, die ihr schlimmer vorgekommen war als die vierzehn Monate in der Wildnis zuvor.

Drei Jahre waren mittlerweile vergangen, seitdem sie von Europa aus in die Korridore aufgebrochen und wenig später ihre Gefährten verloren hatten. Eva dachte zurück an den Tag, an dem sie Isaak halbtot durch eine Art großen Fuchsbau aus dem Horrorland der Visaren zurück in die wirkliche Welt gezogen hatte. Sie waren irgendwo in den weiten Wäldern Nordamerikas gelandet. Wo genau, das wusste sie bis heute nicht. Eva hatte einen kleinen Unterstand gebaut und mit den Kenntnissen der Humanmedizin, die sie auch als Psychologin in Hamburg hatte lernen müssen, ihren Bruder zurück ins Leben geholt.

Isaak war nicht wirklich ihr Bruder. Er war genau genommen etwa einhundert Jahre älter als sie, hatte jedoch fast genau diese Zeitspanne unfreiwillig im Kälteschlaf verbracht, sodass er so alt aussah, wie sie mit Mitte dreißig war. Allerdings hörten beim Alter die äußerlichen Ähnlichkeiten auch bereits auf. Während Eva mit ihrer dunkelbraunen Haut, den ebenmäßigen Gesichtszügen und der weiblichen Figur einer klassischen Schönheit entsprach, war der blonde, eher blasse Isaak weder besonders groß noch besonders klein, hatte ein eher durchschnittliches Gesicht und nur seine muskulöse Figur war auf den ersten Blick bemerkenswert, sofern er sie nicht unter weiter Kleidung verhüllte. Allerdings war Isaak der geborene Anführer, ohne dass er es besonders betonen musste. Seine Ausstrahlung und Wirkung auf Menschen war so einnehmend, dass sich eigentlich kaum jemand die Frage nach seinem Aussehen stellte. Isaak gab den Menschen Halt und ließ sie in die unwahrscheinlichsten Dinge vertrauen, offenbar ohne es selbst zu bemerken.

Wäre ihm diese Fähigkeit in vollem Umfang bewusst gewesen, er hätte wohl jeden Menschen verführen können, dessen war sich Eva sicher. Und genau aus diesem Grund – und weil seine meerblauen Augen ein weiteres Detail waren, dass man erst sah, wenn man ihn näher betrachtete – hatte Eva entschieden, ihn als ihren Bruder zu betrachten. Vor zwei Jahren in den einsamen Nächten im Wald, als Eva im Schein eines kleinen Feuers viel Zeit hatte um den schwach atmenden Isaak zu betrachten, als sie seine Wunden verarztete und zusah, wie er wieder zu Kräften kam und wie selbstverständlich ihren Weg in die richtige Richtung lenkte.

Und dieser Weg führte sie schließlich in die Kolonien vor Fleet City. Nach den Aussagen der Bewohner dort war Fleet City die einzige verbliebene Stadt relevanter Größe auf dem Gebiet der ehemaligen Vereinigten Staaten und Kanadas. Einst unter dem Namen Skull City während der Zeit des Eisenbahnbaus zwischen Ost- und Westküste gegründet, war die Stadt im Laufe der Jahrhunderte immer schneller gewachsen, und als die Menschen im durch die Naturgewalten besonders gebeutelten Nordamerika vor Stürmen, Fluten, Tsunamis, Erdbeben und sintflutartigem Dauerregen flohen, trafen sie sich hier im Zentrum des Kontinents, der als einziger ihnen bekannter Ort von allen Naturkatastrophen verschont geblieben war.

Die Stadt wuchs dadurch noch weiter, und bald gab es ein massives Flüchtlingsproblem, das schließlich so gelöst wurde, wie es Menschen an unterschiedlichsten Orten der Welt in ihrer Geschichte schon so oft getan hatten: die Flüchtlinge bekamen eigene Ghettos vor der Stadt.

Doch damit nicht genug, ein Konsortium aus den wichtigsten Konzernen der Stadt – darunter Kema Industries und Al Jarni & Foster – beschlossen, die gesamte Stadt in den Grenzen vor der Ankunft der Flüchtlinge auf ein gigantisches Podest – Floß genannt – zu stellen, das wiederum durch unzählige gigantische Hovermodule mehrere hundert Meter in die Luft gehoben werden konnte. Dieses Floß wurde dann auf ein System an Pfeilern und Dämpfern gesetzt, sodass die Hovermodule im Normalfall nur die Stabilität unterstützen und nicht die ganze Stadt tragen mussten.

Zurück am Boden blieb ein gigantischer Krater, dort wo das alte Skull City einst stand, um den sich die unzähligen Kolonien und Lager der Flüchtlinge scharten. Skull City war noch immer der offizielle Name des gesamten Stadtgebiets, inklusive der Vororte am Boden, doch niemand gebrauchte ihn mehr – zumindest nicht in der Kolonie, in der Eva und Isaak die letzten zwei Jahre verbracht und auf ihre Genehmigung für ein Ticket hoch nach Fleet City gewartet hatten.

Dabei war es ihnen beiden nicht so schlecht ergangen. Evas medizinische Ausbildung hatte sie in ihrer Kolonie schnell zu einer gefragten Person gemacht, auch wenn es fast ein Jahr gedauert hatte, bis sie so gut Englisch sprechen konnte, dass sie Isaak nicht mehr als Übersetzer brauchte. Während in den europäischen Städten Deutsch und Französisch die vorherrschenden Sprachen geworden waren, kam Isaak noch aus einer Zeit, als es fast selbstverständlich war, Englisch zu sprechen.

Er selbst hatte einen Platz als Späher in der Miliz gefunden und sich alle Mühe gegeben, auch nur ein einfacher Späher zu bleiben. Während Eva ihre Rolle als Ärztin der kleinen Siedlung angenommen und sich eingelebt hatte, war Isaak stets darauf bedacht gewesen, sich nicht zu heimisch zu fühlen. Sie hatten von Anfang an auf ihre Fahrkarte hinauf nach Fleet City gewartet, und auch wenn es nun zwei Jahre gedauert hatte, sie waren nur zu Besuch in der Kolonie.

„Glaubst du, wir werden dort oben jemanden wiedertreffen?“, fragte Eva vorsichtig.

„Ich hoffe, wir finden Zervett“, entgegnete Isaak.

„Schon, aber ich meinte …“

„Ich weiß“, Isaak lächelte vage, was bei ihm nicht oft vorkam. „Solvejg war mit Sequana und den anderen unterwegs, ihre Überlebenschancen sind besser als unsere waren.“

„Ich habe keine Zweifel, dass sie lebt“, entgegnete Eva und registrierte nicht zum ersten Mal, dass er es vermied, Ninives Namen zu nennen. „Aber diese Welt ist groß, wie soll ich sie jemals wiederfinden?“

„Sobald wir in Fleet City sind, hören wir uns nach verdächtigen Dingen um und gehen denen nach.“

„Zum Beispiel ob irgendwo seltsame Typen mit Blitzen anstatt Augen aufgetaucht sind?“

„Ich entnehme deinem Sarkasmus, dass du keine bessere Idee hast, oder?“

Eva sparte sich die Antwort und umarmte ihn stattdessen ein weiteres Mal. „Wir fliegen nach Fleet City!“

„Richtig“, er fuhr ihr fest mit der Hand über den Rücken. „Das bedeutet, wir sollten unsere Sachen packen.“

„Was in deinem Fall nicht lange dauern dürfte“, bemerkte Eva mit einem Blick in Isaaks Ecke der kleinen Behausung, die nur aus einem einzigen Raum bestand. Das einzige, was hinter zwei Wänden und einer Tür abgetrennt lag, war eine Toilette. Alles andere inklusive der wenig luxuriösen Dusche, der schäbigen Küchenzeile und den beiden Betten war im selben Raum. Isaak hatte seinen großen Rucksack nie ganz ausgeräumt, während der Rest ihres kleinen Heims eindeutig Evas Handschrift trug.

„Trenn dich von unserem Zuhause“, entgegnete Isaak grinsend und begann sich die Kleidung auszuziehen. „Ich geh duschen, um bei unserer Ankunft nicht sofort nach Flüchtling auszusehen.“

„Warte, ich komme mit“, sagte Eva, „sonst reicht das warme Wasser wieder nicht. Packen kann ich danach, wir haben noch etwas Zeit, bis wir uns melden müssen.“

Obwohl die Zeit nicht drängte, verließen sie keine zwei Stunden später die Wohnung und machten sich auf den Weg zur Abflugstation der Fleet City Shuttles. Eva verschloss mit etwas Wehmut aber ohne echtes Bedauern die Tür zu ihrer Wohnung und schulterte ihre Tasche. Sie sah zu Isaak in seiner olivfarbenen Cargohose und dem dunklen Strickpullover, dessen Löcher nicht auf den ersten Blick zu erkennen waren, da er ein schwarzes Longsleeve darunter angezogen hatte. Und trotzdem sahen er und sie selbst in ihrer braunen Arbeiterhose und dem ramponierten, dunkelroten Mantel sofort nach Flüchtlingen oder Arbeitern aus der Kolonie aus, die sich besonders gründlich gewaschen hatten.

„Fein herausgeputzt für den großen Tag, was?“, war trotzdem die erste Reaktion, die ihnen der Vorsteher der Kolonie, Dominik van Hugsbrúck entgegenbrachte. Eigentlich war er nur der Besitzer eines Saloons in der Mitte der Ansiedlung, doch dank seines weitgefassten Kundenkreises, seiner Hinterzimmer, in denen nur wenige der hier unten geltenden Gesetze unverletzt blieben, und seines umtriebigen Geschäftssinn, der nur von seinem Gemeinschaftsgefühl übertroffen wurde, sah ihn jeder als den Chef dieser Kolonie.

„Man tut was man kann“, erwiderte Isaak. Er wusste, dass Dominik seine Floskeln liebte.

„Na dann wollen wir mal unsere Glückskinder zu denen da oben schicken, was?“ Er grinste breit und nahm den Schlüssel von Eva entgegen.

„Danke für alles Dominik“, sagte Eva und gab ihm die Hand.

„Die Kolonie sollte euch danken“, entgegnete van Hugsbrúck. „Wie viele Leben mehr hätten wir sonst gelassen ohne deine heilenden Hände. Oder Isaaks tödliche Hände“, er lachte. „Nein wirklich, der Junge hat mehr Ossfhang und Wolfen mit bloßen Händen getötet als der Rest der Miliz zusammen.“

„Blödsinn“, entgegnete Isaak knapp. „Trotzdem nett von dir, dass du persönlich zum Abschied gekommen bist.“

„Du unterschätzt mich, Isaak“, van Hugsbrúck deutete den Flur hinab und sie gingen zur Eingangstür der Wohnbaracke, in der ein junger Mann lehnte, der aussah, als wäre er gerade aus einem Western entsprungen. Cowboyhut, kariertes Bauwollhemd, Jeans mit Lederverstärkung zum Reiten, entsprechende Stiefel und unfassbar aggressiver Rasierwassergeruch.

„Das ist Jeremy Cassidy“, stellte van Hugsbrúck vor. „Er ist ein guter Freund von mir, der heute erst von einer längeren Reise durch die umliegenden Kolonien zurückgekommen ist. Er hat ebenfalls ein Ticket hoch zum Floß bekommen.“

„Howdy!“, grüßte Jeremy und rieb sich flüchtig durchs Gesicht, als würde der Staub der Prärie noch an ihm kleben.

„Willkommen an Bord“, entgegnete Eva und warf Isaak einen Seitenblick zu.

„Gibt es einen besonderen Grund, warum du uns bekannt machst, Dominik?“, fragte Isaak, bevor er Jeremy ebenfalls knapp grüßte.

„Grund? Wo denkst du hin?“, Dominik grinste. „Fleet City ist kein gemütlicher Ort, nicht so überschaubar und freundlich wie unsere Kolonie. Ein Freund mehr kann dort oben eine Hilfe sein.“

„Na dann“, Isaak öffnete die Tür und sie traten auf die Straße. „Gegen Hilfe habe ich nichts einzuwenden.“

03 | INAKTU

Das Wasser war kalt auf ihrer Haut. Etwas zu kalt vielleicht, doch nach tagelanger Reise ohne ausreichend fließendes Wasser kam der große, flache Waldsee mit dem schmalen Wasserfall, der ihn speiste, gerade Recht. Sie hatten es geschafft, vor dem ersten Wintereinbruch soweit nach Süden vorzudringen, dass sie auch jetzt noch Wasserläufe und Seen fanden, die nicht bereits zugefroren waren.

„Ich geh raus, bevor ich erfriere“, sagte Sasha und watete durch das Wasser in Richtung des Ufers.

„Frostbeule!“, rief ihr Sequana hinterher und ließ sich rückwärts fallen. Ninive sah sie im klaren Wasser untertauchen. Es waren einige fast ausgelassene Momente gewesen. Die Drei waren vom Lager der Solaris-Nomaden aus aufgebrochen um Feuerholz und Wasser zu suchen, und als sie den kleinen See schließlich gefunden hatten, der ruhig und unberührt im kalten Waldidyll lag, war eine von ihnen auf die Idee gekommen, ins Wasser zu springen und sich die Reise der letzten Tage vom Leib zu spülen.

Ninive fragte sich, ob es so auch gewesen war, als sie jung waren. Alle drei Klone waren im selben Forschungsprojekt entstanden und die ersten acht Jahre ihres Lebens aufgewachsen. Ihre Heimat war eine Parkvilla in Paris, an die sie und Sasha keine Erinnerungen hatten. Nur Sequana, die selbst dort gewesen war, hatte von einigen Erinnerungsfetzen erzählt, nach denen sie als Kinder zusammen einige unbeschwerte Jahre verbracht hatten, bevor das Forschungsprojekt ein jähes Ende fand.

Ninive wurde aus ihren Gedanken gerissen, als sich Sequanas Arme unter Wasser um ihre Beine schlangen und diese unter ihr wegzogen. Sie ruderte mit den Armen in der Luft, doch sie hatte bereits das Gleichgewicht verloren. Mit einem lauten Platschen tauchte Ninive der Länge nach ins kalte Nass und strampelte sich prustend von Sequanas Griff frei.

„Ich kriege dich!“, rief Ninive Sequana zu, die nur wenige Meter vom Wasserfall entfernt wieder aufgetaucht war. Dann machte sie einen Satz vorwärts und sprang Sequana mit voller Wucht um, sodass beide erneut der Länge nach ins Wasser fielen. Sie rangen spielerisch miteinander, bis sie schließlich erschöpft und lachend voneinander abließen. Ein schriller Pfiff erklang und sie sahen hinüber zum Ufer. Sasha stand dort, bereits wieder angekleidet, wenn auch noch mit nassen Haaren, und neben ihr war Solvejg, die wild mit den Armen in ihre Richtung winkte.

„Was läuft denn bei denen?“, fragte Sequana.

„Vielleicht wollen sie mitmachen, aber das Wasser ist ihnen zu kalt?“ Ninive lachte noch immer ausgelassen, doch Sequanas Gesichtsausdruck verriet Anspannung.

„Ich glaube, die wollen, dass wir zu ihnen kommen. Vielleicht ist etwas passiert?“

Mit einem schnellen Blick zu den anderen Ufern des Sees, um sicherzugehen, dass dort nicht etwas lauerte, folgte Ninive Sequana mit schnellen Schritten zum Ufer. Ihre Haut fühlte sich durch die Kälte taub an und je näher sie dem Ufer kamen desto seichter wurde das Wasser und ließ sie den kalten Wind auf ihrer Haut spüren.

„Beeilt euch!“, rief Sasha ihnen zu, als sie in Hörweite waren. Es war unüberhörbar Besorgnis in ihrer Stimme.

„Das Lager wurde angegriffen!“, rief Solvejg dazwischen. „Es waren die Wolfen! Unzählige! Sie haben uns völlig überrannt!“

Sequana und Ninive wurden augenblicklich schneller und sprangen förmlich ans Ufer. Sasha warf ihnen ihre Tücher zu, mit denen sie sich hastig soweit abtrockneten, dass der schneidende Wind keine Eisschicht auf ihnen zurücklassen würde, dann schlüpften sie eilig in ihre Kleider und folgten Solvejg und Sasha zurück zum Lager.

Ninives Gedanken rasten, während sie durch den lichten Wald zurückliefen. Sie wusste, dass Solvejg nicht übertreiben würde. Das war ihr fast nicht möglich. Wenn sie so aufgeregt Hilfe suchte, dann musste es wirklich schlimm um den Stamm stehen. Und das würde ihre Reise weiter nach Süden aufhalten.

Natürlich dachte Ninive auch an die Menschen des Stamms, die in Gefahr waren oder von den Wolfen getötet wurden, doch Sequana hatte ihr in den letzten Jahren immer wieder den Sinn dafür geschärft, dass die Mission vor allem anderen zählte. Und so ertappte sich Ninive bei dem Gedanken, dass tote Mitglieder der Nomaden sie deutlich weniger aufhalten würden als Verletzte, die gepflegt werden mussten, denn auch Sequana würde diese nicht einfach sich selbst überlassen. Das hoffte Ninive zumindest.

Sie wurden langsamer, als sie sich dem Rand des Waldes näherten. Sie wussten nicht viel über die Wolfen. Sie kamen zweifellos aus den Korridoren, doch davon abgesehen wussten sie nur, dass sie etwa zwei Meter große menschenähnliche Wesen waren, deren Körper mit Ausnahme des Gesichts mit einem dichten, schwarzgrauen Fell bedeckt war. Ninive hatte erst einmal einige dieser Kreaturen gesehen, als sie nachts mit Sasha die Lagerwache übernommen hatte. Für sie sahen die Wolfen aus wie große, schlanke Bären mit Menschengesicht und angespitzten Zähnen.

Ninive bemerkte, dass die anderen drei, die nun neben ihr im Buschwerk kauerten, sie erwartungsvoll ansahen. Erst wollte sie zu einer Frage ansetzen, doch dann wurde ihr klar, was von ihr erwartet wurde. Sie konzentrierte das Sangre in ihrem Inneren und fokussierte es auf ihre Augen. Das gewohnte Rauschen des Bluts schwoll an und ihr Blick schoss vorwärts und streifte durch das Lager. Sie hatte gelernt, ihre Kraft besser zu dosieren, seitdem sie diese fast täglich einsetzte. Sie brauchte nicht viel Energie, um die Situation im kleinen Lager zu erfassen, und ließ das Sangre wieder ruhig in ihrem Inneren fließen, bevor ihr schwarz vor Augen wurde.

„Wie schlimm ist es?“, fragte Sequana.

„Schlimm“, entgegnete Ninive ruhig. „Die Zelte sind fast alle zerstört, viele Tote – tatsächlich habe ich keinen einzigen Überlebenden sehen können – aber die Boards scheinen unversehrt.“

„Keinen Überlebenden?“, Sequana sah zum Lager hinüber. „Bertrand…!“

Es war nur ein kurzer Augenblick, in dem Ninive erkannte, dass Sequana den kühlen Kopf verlor, doch er reichte, um sie am Handgelenk zu packen und festzuhalten, bevor sie losstürmen konnte.

„Mach keinen Scheiß!“, fuhr Ninive sie an. „Was ist, wenn die Wolfen noch in der Nähe sind?“

„Bertrand ist dort im Lager, und er kann sich mit seinem verletzten Rücken kaum wehren“, Sequana wollte ihren Arm zurückziehen, doch Ninive hielt ihn hart fest. „Jetzt lass mich los!“

„Du hast mir doch gesagt, es zählt nur die Mission, Sequana! Die Chance, dass du noch etwas für Bertrand tun kannst, ist winzig. Und selbst wenn, wird sie nicht bedeutend kleiner werden, wenn wir mit Bedacht vorgehen!“

„Bertrand ist ein Teil meiner Mission!“, fauchte Sequana zurück und stieß mit der freien Hand hart gegen Ninives Schulter, die jedoch eisern festhielt.

„Sei vernünft…“, begann Ninive, doch dann erkannte sie das schwache blaue Licht, das plötzlich Sequanas Haut überzog.

„Was hast du gemacht, Sasha!“, Ninive ließ Sequanas Handgelenk los, bevor das Licht auch sie erreichte.

„Sie hat nicht effizient gedacht. Du schon. Sie musste ruhig gestellt werden.“

„Bist du wahnsinnig? Wir stehen immer noch auf derselben Seite, du kannst doch nicht einfach …“, erneut wurde Ninive unterbrochen. Solvejg schnipste aufgeregt mit den Fingern.

„Da unten läuft jemand, der kein Wolfen ist“, teilte sie den anderen ruhig mit. „Euer Streit ist unlogisch, ich gehe zu ihm.“

Ninive sah Sasha an, dann folgte sie Solvejg wortlos. Hinter ihr hörte sie, wie Sasha Sequana offenbar freigelassen hatte und sie sich giftige Wortgefechte lieferten. Sie achtete nicht darauf, stattdessen schloss sie zu Solvejg auf und warf ihr ein dankbares Lächeln zu.

Die Gestalt, die Solvejg gesehen hatte, war einer der Nomaden aus ihrem Stamm. Ninive hatte mit ihm hin und wieder ein paar flüchtige Worte gewechselt, als nach einigen Monaten bei den Nomaden ihre Englischkenntnisse gut genug waren. Sein Name war Inaktu, ein eher schweigsamer Mann, den sie als Krieger schätzte, und mit dem sie sich vor einigen Wochen einige Nachtwachen geteilt hatte.

„Was ist geschehen, Inaktu?“, fragte sie schnell, als Solvejg keine Anstalten machte, das Gespräch zu eröffnen.

„Die Wolfen waren da, es müssen hunderte gewesen sein“, Inaktu war anzusehen, dass es ihm Mühe bereitete ruhig zu bleiben. „Ich war mit Amitain auf der Suche nach Beeren, als sie aus den Bergen kamen. Wir haben uns im Wald versteckt, gegen diese Horden hätten wir keine Chance gehabt, aber sie haben das ganze Lager zerstört … und wir konnten nur zusehen.“

„Du hast so deinen Sohn gerettet“, entgegnete Ninive und sah sich um. „Wo ist Amitain jetzt?“

„Er umrundet das Lager auf der anderen Seite um sicherzugehen, dass wir auf keine Wolfen mehr stoßen. Die sind plötzlich wie auf Kommando abgezogen, das war ungewöhnlich. Wir wollten nicht direkt ins Lager sondern aus sicherer Entfernung beobachten, ob sie wieder zurückkommen.“

„Dann geh und such ihn. Und dann kommt ihr zu uns ins Lager“, Ninive warf einen Blick über ihre Schulter zurück. Sequana war verschwunden, vermutlich war sie bereits dabei, Gallea zu suchen. Auch Sasha war nicht mehr zu sehen. „Solvejg, wir gehen jetzt ins Lager und verschaffen uns einen Überblick.“

Das Lager war in einem schlimmen Zustand. Die Zelte waren eingestürzt, die Planen zerrissen und unbrauchbar. Gerätschaften aus dem Hab und Gut der Nomaden lagen überall verstreut. Und dazwischen die Leichen der Stammesmitglieder. Ninive war darauf eingestellt gewesen, ein Blutbad vorzufinden, doch der Zustand der toten Körper, von den Bissen und Schlagwaffen der Wolfen zerfetzt, war deutlich schlimmer, als sie sich vorgestellt hatte.

Sie fanden Sequana und Sasha vor den Resten von Bertrands Zelt. Sasha gab ihnen ein Zeichen und sie hielten Abstand von Sequana, die vor den Überresten Bertrand Galleas kniete.

„Er sieht ziemlich übel aus“, Sasha deutete in die Richtung des toten Professors. „Seht ihn euch nicht an.“

„Wir haben zwei Überlebende gefunden, Inaktu und seinen Sohn“, berichtete Ninive, um sich von Sequana abzulenken. Der Tod Galleas bedrückte auch sie, und sie konnte Sequanas Trauer verstehen, doch gleichzeitig fühlte sie sich betrogen. Sequana hatte ihr in den letzten drei Jahren ihre eigene Trauer über den Verlust Isaaks ausgetrieben und sie so davor gerettet, darin zu versinken.

„Du hast gesagt, die Boards wären okay?“, fragte Sasha.

„Ich habe nur einen flüchtigen Blick drauf geworfen, aber sie sahen in Ordnung aus“, entgenete Ninive.

„Wir sollten sichergehen und nachsehen!“

04 | PHOENIX

Die Tür fiel hinter ihr zu und die Musik klang augenblicklich dumpf und distanziert. Lilian liebte Prokofieff, doch heute hielt sie es nicht länger im Konzertsaal aus. Es war nicht das Orchester, das ihr nicht ganz so lebhaft vorkam wie an anderen Tagen, es war auch nicht die Luft, die stickig wirkte und ihr das Atmen zu erschweren schien. Lilian trug den ganzen Tag nun schon Gedanken mit sich herum, von denen sie nicht wahrhaben wollte, dass diese existierten. Es war mittlerweile mehr als zehn Jahre her, dass sie und Seamus ein Paar gewesen waren, und sie hatten die Art von Freundschaft entwickelt, die jede Art ernsthafter Liebesbeziehung für immer ausschloss. Und trotzdem hatte es ihr Probleme bereitet, als sie an diesem Morgen Seamus mit einer anderen Frau beim Sex überrascht hatte.

Vielleicht kam erschwerend hinzu, dass Lilian mittlerweile seine Vorgesetzte war, und er mit dieser Frau den Bereitschaftsraum entweiht hatte, was streng genommen in ihren Verantwortungsbereich fiel. Doch Lilian wusste, dass es damit eigentlich nichts zu tun hatte. Sie war im Rang eines Captains bei der Black Phoenix Sondereinheit, eine Art Geheimdienst, der die Vorkommnisse im Zusammenhang mit den Korridoren in Fleet City untersuchte. Lilian hatte ihr eigenes Team, und jedes Team war eine weitgehend selbstständige Einheit mit eigenem Quartier, das der vollen Gewalt des jeweiligen Captains unterstand.

Am anderen Ende des großen Foyers lag das Prelude, eine Cocktailbar, die von den Gästen der Philharmonie und des angrenzenden Theaters nach den Konzerten und Aufführungen gerne besucht wurde. Doch jetzt war sie noch fast leer. Gedämpftes Licht und leise Elektromusik füllten den hohen Raum und gaben Lilian das Gefühl, wieder frei atmen zu können.

"Miss Réval, Sie haben freie Platzwahl", begrüßte sie Rob. Er war der Barkeeper und Leiter der Bar, und kannte den größten Teil seiner Stammkundschaft. Dennoch bildete sich Lilian gerne ein, dass er sie besonders mochte, da sie sich von dem sonstigen Publikum auf Ebene 2 der Pyramide abhob, auch wenn sie mittlerweile öfter Abendgarderobe trug als früher.

Lilian entschied sich für einen Tisch im äußeren Teil der Cocktailbar. Die große gläserne Außenhaut der Pyramide war geöffnet und die kühle Nachtluft kämpfte gegen die Warmfront der Heizpilze zwischen den Tischen. Die Pyramide erhob sich unweit des Zentrums von Fleet City. Auf dem Gelände eines ehemaligen Industriegebiets, war um 2020 ein gigantisches Konstrukt entstanden, das neuen Wohn- und Arbeitsraum auf mehreren Ebenen schaffte. Das Pyramidenartige Bauwerk, das fast zwei Jahrzehnte zur endgültigen Fertigstellung gebraucht hatte, war ein eigenes Ökosystem, das unabhängig vom sonstigen Fleet City um sich herum auskommen konnte. Und abgesehen davon, dass auf einigen Ebenen der Pyramide die Verwaltungs- und Sicherheitsorgane der Stadt saßen, existierten Pyramide und Stadt wie zwei parallele Welten.

Lilian hatte als Führungsperson des Black Phoenix eine Wohnung auf Ebene 2 der Pyramide, doch zusätzlich hatte sie sich eine Loftwohnung in einem ehemaligen Industriegebäude unten in der Stadt gekauft, in die sie immer dann umzog, wenn sie für einige Tage nicht im Dienst war. Die ihr völlig weltfremd erscheinende High Society von Ebene 2 war nicht die Art von Gesellschaft, mit der sie sich gerne umgab. Dazu kam, dass außer ihr nur noch Seamus bei Black Phoenix arbeitete. Ihre anderen Gefährten, mit denen sie vor drei Jahren Fleet City durch die Korridore erreicht hatte, lebten nicht in der Pyramide. In dem alten Industriegebäude in dessen zweitem Stockwerk sich Lilians Loft befand, belegte die restlichen Etagen ihr gemeinsames Hauptquartier. Denn auch wenn sie unterschiedliche Wege gingen, ihr gemeinsames Ziel war noch immer das Finden von Aarick Zervett und des Ursprungs des Sangres.

Einige Minuten später brachte ihr Rob eine Flasche Bier an ihren Tisch. Es galt als nicht besonders stilvoll Bier zu trinken, schon gar nicht in einer Cocktailbar. Das Bier, das in Fleet City serviert wurde, war nicht besonders gut. Lilian dachte an das Bier in Paris und seufzte. Und dennoch bestellte sie es immer wieder. Es war ihr Anker zu ihrem Selbst, das sich ansonsten auf Ebene 2 sehr leicht vergessen ließ.

Lilian stand auf, ließ das Bierglas und ihre Handtasche auf dem Tisch zurück und stellte sich mit der Flasche an den Rand der breiten Brüstung, von der aus sie das tief unter ihr liegende Fleet City beobachten konnte. Der große Universitätskomplex am Fuße der Pyramide zwischen Henry-Ford- und Lincoln-Street war von ihrem Blickwinkel aus nicht zu erkennen, doch etwas weiter südlich zog sich die Ivory Lane lichterreich von West nach Ost, verband die weitläufigen Parks um das Nationalmuseum und den Dainbrick District mit seinen Wolkenkratzern über die Ivory Cross, das historische Zentrum der Stadt, bis zum Regierungsbezirk am Rande des Door Parks, der Downtown Fleet City im Westen begrenzte. Südlich der Ivory Lane schloss sich dann das geschäftige Herz der Stadt an, die großen Konzernanlagen, der ehemalige Hafen und die alten Docklands zu beiden Seiten des 250 Jahre alten Kanals, der einst, als die Stadt noch als Skull City komplett auf Höhe des Erdbodens lag, die wichtigste Handelsverbindung nach Osten gewesen war.

Lilian kam die Stadt außerhalb der Pyramide von ihrem Beobachtungsposten bereits meilenweit entfernt und unwirklich vor, wie musste es dann erst sein, zum Erdboden zurückzukehren? Sie hatte Fleet City seit ihrer Ankunft nicht einmal verlassen. Es war nicht notwendig gewesen, denn es schien keine Welt außerhalb des Floßes zu geben, auf dem die Stadt lag. Außerdem hatte sie Angst, was passieren könnte, wenn sie die Stadt verließ.

Als Lilian, Rasmus, Seamus, Ilyena und Lumière vor drei Jahren Zervett und seinen Children of Chou durch die Korridore gefolgt waren, landeten sie im Keller des Gebäudes, das heute als ihr Quartier diente. Überrascht stellten sie fest, dass sie jedoch nicht als Gäste nach Fleet City gekommen waren, sondern als existierende Einwohner der Stadt. Das Gebäude war bereits auf Lilian als Besitzerin eingetragen, und sie arbeitete auch bereits als Agentin bei Black Phoenix. Keiner von ihnen wusste damals, wie das sein konnte. Rasmus stellte die Theorie auf, dass sie durch die Korridore nicht nur einen anderen Teil der Erde erreicht hatten, sondern auch eine Art paralleles Universum, in dem sie nun eine andere Version von sich einnahmen. Lilian hielt wenig von dieser Theorie, doch solange sie keine bessere hatte, überließ sie Rasmus die Interpretation ihrer Lage. Es war immer noch besser eine unwahrscheinliche Erklärung zu haben als gar keine.

Lilian nahm einen großen Schluck aus der Flasche, erst dann hörte sie das Vibrieren in ihrer Handtasche. Hastig wandte sie sich von der Stadt ab und kramte nach ihrem Comdevice. Ein Alarmcode leuchtete auf dem Display auf, versehen mit einer schwarzen Kennzeichnung. Es war ein interner Alarm der Black Phoenix. Und es war dringend.

Seufzend stellte sie das Bier nach einem letzten Schluck auf den Tisch, schlüpfte aus ihren unbequemen Pumps und steckte sie in ihre Handtasche, bevor sie barfuß die Bar und das Foyer der Philharmonie durchquerte und über den großen Fidelity Plaza in Richtung ihres Appartements eilte.

Als sie keine Viertelstunde später in schwarzer Einsatzkleidung die Zentrale von Black Phoenix auf Ebene 3 betrat, wurde sie bereits von der wachhabenden Agentin in Empfang genommen.

„Was liegt an?“, fragte Lilian knapp.

„Einbruch in die Asservatenkammer, Captain“, berichtete die Agentin.

„Was denn, in unsere Asservatenkammer?“

„Korrekt, Ma’am. Wir konnten die Einbrecherin festnehmen. Es lief ohne Komplikationen ab.“

„Da passt doch was nicht zusammen“, murmelte Lilian zu sich selbst. Niemand konnte so dumm sein, in die Zentrale des Black Phoenix einzubrechen. Und wenn es doch jemand versucht hatte, war es wenig wahrscheinlich, dass sich diese Person einfach so festnehmen ließ.

„Die Einbrecherin sitzt in Verhörraum 3“, ergänzte die Agentin.

„Okay. Danke. Ich werde mich mit ihr unterhalten, gehen Sie zurück auf den Bereitschaftsposten.“

Lilian eilte den Gang zu den Verhörräumen hinab. Ihre Neugier trieb sie an. Sie öffnete die Tür und trat in den Raum, in dem ein Verhörsessel stand, an den die Delinquentin gefesselt war. Lilian sah sie entgeistert an, dann schloss sie die Tür des Raums von innen ab und gab über ihr Comdevice den Befehl, die Überwachungsgeräte für den Raum abzuschalten.

„Hi Lil! Hübsch habt ihr es hier oben!“ Die Gefangene lachte.

„Ilyena, was machst du hier? Bist du wahnsinnig?“ Lilian schüttelt den Kopf und öffnete über eine kleine Konsole an der Seite des Verhörsessels Ilyenas Fesseln. „Gibt es keinen besseren Weg mit mir Kontakt aufzunehmen?“

„Du glaubst, ich war in eurer kleinen Schatzkammer, um deine Aufmerksamkeit zu haben? Hältst du mich für so einfallslos, mein Schatz?“

„Was soll der Auftritt?“, fragte Lilian knapp.

„Es befand sich etwas in der Asservatenkammer, das für uns von großem Interesse sein dürfte. Ich habe mich heute Nachmittag mit meinem Informanten aus dem Watchtower unterhalten. Er hat mir verraten, wo der Chip geblieben ist, auf den Zervett seine Daten gespeichert hatte.“

„In unserer Asservatenkammer? Aber wieso?“

„Er hat ihn einem seiner Agenten anvertraut, einem gewissen Seth Warren. Der ist aber dummerweise beim volltrunkenen Randalieren nach einer High-Society-Party von der District Police aufgegriffen worden und alle verdächtigen Gegenstände wurden beschlagnahmt.“

„Schön und gut, die District Police konfisziert in solchen Fällen alle Gegenstände, aber spätestens am nächsten Tag hätte er diese zurückbekommen müssen.“

„Das ist korrekt, aber der Chip war nicht mehr bei der District Police. Jemand beim Black Phoenix hat diesen beschlagnahmt.“

„Aus welchem Grund?“

„Das herauszufinden überlasse ich dir, Lil“, Ilyena rieb sich die Handgelenke, „aber ich würde mal bei deinem Freund Joseph anklopfen, wenn ich du wäre.“

„Bei Jo?“ Lilian biss sich auf die Unterlippe. Captain Joseph Martin war in den ersten zwei Jahren beim Black Phoenix ihr Mentor gewesen. Er führte ein Black Phoenix Team, das sich Guardians nannte. „Um den kümmere ich mich später.“

Die Guardians waren auf die Beobachtung aller Vorgänge mit Bezug auf die Korridore spezialisiert, daher hatte Jo ein reges Interesse daran, Lilian in sein Team aufzunehmen. Aarick Zervett hatte nach seiner Ankunft seinen Platz in den Reihen einer Vereinigung von Größen der Wirtschaft gefunden, die sich in Anlehnung an alte Freimaurer-Traditionen nur Die Loge nannte. Und genau diese war der erklärte Feind der Guardians.

„Das bedeutet, wir haben jetzt Zervetts Daten?“ Lilians Puls ging schneller. Es war das erste Mal seit Monaten, dass ein Erfolg bei der Suche nach den Children of Chou in Aussicht stand.

„Wir hätten sie, wenn der Chip noch dort gewesen wäre. Dummerweise war er nicht auffindbar, aber in eurem Register ist er noch verzeichnet.“

„Du meinst, irgendjemand hat ihn vor dir gestohlen? Das kann dann nur ein Insider gewesen sein.“

„Ich weiß nur, dass er nicht mehr da ist. Ich schlage vor, wir rufen bei nächster Gelegenheit das Team zusammen.“

„Sag den anderen Bescheid, übermorgen kann ich runter kommen.“

„Gut, ich muss nur noch hier raus, aber da kannst du sicher etwas drehen, oder?“

„Ich riskiere damit meinen Job, Ilyena“, knurrte Lilian.

„Ja, aber du riskierst ihn für mich“, Ilyena zwinkerte ihr verführerisch zu. Lilian schnaubte verächtlich.

„Bilde dir bloß nichts Falsches ein!“, sagte sie. „Ich lasse die Überwachung deaktiviert und lösche die Einträge deiner Festnahme. Aber du musst schnell abhauen, bevor die Wachablösung kommt.“

„Wird gemacht“, Ilyena sah, dass Lilian aufstand und zur Tür ging. „Ach Lil ... warte, ich habe noch etwas für dich.“ Lilian kramte einen kleinen Protokollchip aus ihrer Tasche und reichte ihn Lilian.

„Was ist das?“

„Die Logs der Dockstationen für die Shuttles aus den Kolonien hoch zum Floß.“

„Äh ... ja und?“

„Mir sind zwei Namen aufgefallen, die gestern ihre Bewilligung erhalten haben. Eva Aden und Isaak Aaronsson, falls dir das noch etwas sagt?“

05 | SOUTHWARK

„Unsere Wohnung unten in den Kolonien war ein Traum gegen das hier!“, murrte Eva und warf ihr spärliches Hab und Gut auf die harte Pritsche in der Ecke des kahlen Raums.

„Wir sind ja nur für ein paar Tage hier, bis wir die Freigabe für eine Anstellung und eine richtige Wohnung haben, Eva“, sagte Isaak beschwichtigend und trat testweise gegen die zweite Pritsche im Raum, die gefährlich ächzte.

Isaak hatte sich im Gegensatz zu seiner Begleiterin die anfängliche Euphorie noch erhalten, die sie bereits ergriffen hatte, als die Shuttlecars vom Militärflugfeld der Western Colonies abhoben und in einem weiten Bogen südwärts zum Floß aufstiegen. Und als sie über den südlichen Rand des gigantischen Konstrukts, auf dem die Metropole thronte, aufstiegen, war die Skyline Fleet Cities ein überwältigender Anblick und mit nichts zu vergleichen, dass sie beide je zuvor gesehen hatten. Nur Jeremy schien nicht besonders beeindruckt.

„Du warst zuvor schon auf dem Floß?“, hatte Isaak ihn gefragt.

„Fast mein ganzes Leben“, hatte dieser entgegnet, „bis auf die letzten Jahre.“

Nach der Landung war es dann jedoch vorerst vorbei mit den überwältigenden Eindrücken der Stadt. Sie landeten auf einem abgelegenen Nebenflugfeld des großen Airports und wurden über lange Rollbänder und Brücken in das angrenzende Stadtviertel Southwark gebracht, in dem sich die Unterkünfte der Neuankömmlinge in guter Nachbarschaft zu Quarantänestationen und Gefangenenlagern befanden. Die alten Häuser des Viertels, die in den siebziger oder achtziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts erbaut worden sein mussten, waren heruntergekommen und ohne architektonische Sorgfalt geflickt worden, wo immer der Verfall die Sicherheit der Bewohner zu stark bedrohte.

„Wie viele Nächte wir hier wohl bleiben müssen?“ Eva sah aus dem kleinen Fenster des Raums, das zu einem belebten Hinterhof führte.

„Eine Woche oder zwei. Das soll der Regelfall sein“, entgegnete Isaak, „aber ich habe Hoffnung, dass wir nicht so lange warten müssen. Du bist Ärztin und ich habe Sangre-Fähigkeiten. Das sollte uns helfen.“

„Hältst du es für eine gute Idee, mit dem Sangre hausieren zu gehen?“, fragte Eva vorsichtig.

„So lange es dem Zweck dienlich ist. Nach allem was ich gehört und gesehen habe geht man hier sehr viel offener mit der Sangre-Energie um als in Paris und selbst in Hamburg.“

„Das ist mir auch aufgefallen. Hast du die vielen Wagen gesehen, die in den Straßen unterwegs waren?“

„Ja, es scheint so, als haben sie hier das Sangre als willkommene Entschädigung dafür gesehen, dass herkömmliche Energieflüsse wie elektrischer Strom oder ähnliches nicht mehr so funktioniert wie vor hundert Jahren.“

„Also ist diese Stadt so, wie es die Welt war, aus der du kommst?“

„Nicht ganz“, Isaak lachte, als er an die Metropolen zur Zeit des letzten Millenniums dachte. „Unsere damaligen Städte schwebten nicht auf gigantischen Flößen in der Luft, um nur damit anzufangen.“ Er trat neben sie ans Fenster und betrachtete ebenfalls das Treiben im Hof. Menschen aller Art hatten sich dort versammelt, Kinder spielten, ganze Familien saßen zusammen, tauschten ihre Geschichten aus, befeuerten große Grillschalen in der Mitte des Hofs, auf denen große Lagen an Gemüse, Pilzen und vereinzelt sogar Fleischstücke schmorten. Es war ein buntes Durcheinander im pflanzenlosen Betongrau.

Isaak dachte an eine Zeit zurück, die über einhundert Jahre in der Vergangenheit lag, die aufgrund der vielen Jahre im Kälteschlaf für ihn aber noch greifbar schien. Er dachte an die Tage in den Parks seiner Münchner Heimat, die Kreuzberger Sommer während seiner Studienjahre in Berlin – damals, als die Stadt noch existierte – und schließlich die Nächte in Williamsburg, als er vergeblich versucht hatte, als Musiker auf der anderen Seite des Atlantiks Fuß zu fassen.

„Vielleicht ist dieser Ort aber näher an dem Leben, das ich einst hatte, als es jeder andere Ort ist, der auf dieser Erde noch existiert“, fügte Isaak nach langer Pause hinzu.

„Du vermisst dein früheres Leben, oder?“, fragte Eva behutsam.

„Nein. Eigentlich nicht. Ich vermisse das, was ich aus meinem damaligen Leben hätte machen wollen“, Isaak seufzte leise, „aber ich habe es nicht gemacht. Wenn du denkst, dir steht die ganze Welt offen, und alle Möglichkeiten dieser Erde liegen vor dir, dann neigt man dazu, die Chancen, die sich bieten, nicht beim Schopf zu packen und sich stattdessen damit zu begnügen, dass morgen auch noch ein Tag ist, an dem man sich um Zukunftspläne Gedanken machen kann. So lebt man in den Tag hinein und stellt irgendwann fest, dass einem die Zeit wegläuft.“

„Was bedeutet das?“ Eva sah ihn vorsichtig an. Sie hatten trotz drei Jahre gemeinsamer Flucht selten über seine Vergangenheit gesprochen. „Denkst du, du hast durch alles was passiert ist eine zweite Chance bekommen?“

„So kann man das sicher sehen. Es war in jedem Fall ein Weckruf. Hier in dieser Welt muss ich mir all die Dinge erkämpfen, die damals selbstverständlich gewesen sind. Damals habe ich so sehr den Gedanken gehabt etwas Bedeutendes zu leisten, dass ich gezögert und auf die eine richtige Gelegenheit gewartet habe. Jetzt versuche ich jeden Tag so zu handeln, dass ich ein Stück weiterkomme, ohne darüber nachzudenken, was andere darüber denken oder ob ich wahrgenommen werden.“

„Du hast einen immensen Einfluss darauf gehabt, dass Ninive die Wahrheit über ihre Vergangenheit und über sich selbst erfahren hat, Isaak.“

„Ich hoffe nur, dass sie das auch als Gewinn für ihr Leben sieht.“

„Das tut sie“, sagte Eva bestimmt. „Und nicht nur sie. Denk an deine Begleiter … Lilian und die anderen. Ich habe sie nur einmal getroffen, doch in jedem Gespräch über die Mission und die bevorstehenden Aufgaben schwang dein Name mit.“

„Und dennoch … wenn man mich fragt, welche Momente in meinem Leben diejenigen waren, in denen ich das Gefühl hatte, andere Menschen zu inspirieren, dann denke ich an die Abende auf den Wiesen am East River oder in Brooklyns Kneipen. Ich, ein paar Leute, ein paar Zuhörer und unsere Musik. Das war für mich der Höhepunkt meines Lebens.“

„Und jetzt sollst du die Welt vor dem Sangre retten?“, Eva lächelte und legte ihren Kopf an seine Schulter. „Die Welt ist unfair, hm?“

„Jaja, ist ja gut, ich hör schon auf mich in eine Sinnkrise reinzusteigern. Aber Erinnerungen sind eine gemeine Sache!“

„Weißt du“, Eva gab ihm einen freundschaftlichen Klaps auf den Hintern, „auf dem Weg hierher sind wir an einer Art Markt vorbeigekommen. Ziemlich chaotische Angelegenheit. Aber da waren Straßenmusiker. Vielleicht solltest du mit denen sprechen? Oder ihnen zuhören? Wir können jetzt nicht viel mehr tun als warten.“

„Das, meine Liebe“, entgegnete Isaak plötzlich wieder unternehmungslustig, „ist eine ausgezeichnete Idee! Kommst du mit?“

„Frag Jeremy“, sagte Eva und begann in ihrem Gepäck zu kramen, „ich werde nach den Duschen suchen und mich ausruhen. Diese Fliegerei hat mir Kopfschmerzen gemacht.“

Isaak fand Jeremy in seinem Zimmer ein Stockwerk tiefer. Er teilte sich die Unterkunft mit einer älteren Frau, die von der Anreise jedoch so erschöpft war, dass sie seit Jeremys Ankunft dort geschlafen hatte, ohne dass er bislang ein Wort mit ihr hätte wechseln können.

„Bist du sicher, dass sie noch lebt?“, fragte Isaak scherzhaft, als sie das Haus verließen und die Straße hinunter zum Markt gingen.

„Alle paar Minuten jault sie im Schlaf auf“, sagte Jeremy und verdrehte die Augen, „das werte ich als eindeutiges Zeichen.“

„Ich wunder mich, dass so viele Menschen hier in den Unterkünften sind. Das Floß mag zwar gigantisch groß sein, aber irgendwann ist kein Platz mehr für all diese Flüchtlinge.“

„Ja, das behaupten die Führer dieser Stadt auch. Die Wahrheit ist, dass immer noch große Gebiete auf dem Floß ungenutzt und nicht bewohnt sind. Weite Teile der ehemaligen Industriegebiete zum Beispiel. Es wäre also genug Platz für viele, viele Bewohner der Colonies. Dennoch werden die meisten der Ankömmlinge nach einigen Wochen wieder zurück in die Bodenkolonien geschickt, wenn sie sich hier oben nicht als wertvolle Stütze der Gesellschaft erweisen.“

„Das klingt nach einem sehr utopischen Gesellschaftsansatz“, bemerkte Isaak.

„Eben deshalb ist das auch nur die Theorie. Abgesehen davon, dass ich diesem doch eher darwinistischen Ansatz nicht viel abgewinnen kann, ist die Wahrheit, dass es vor allem denjenigen gelingt, hier oben Fuß zu fassen, die Kontakte haben. Oder aber die richtigen Leute bestechen können. Für alle anderen heißt es: hoffen, dass sie Glück haben.“

„Ich dachte, die Fahrkarte hoch auf das Floß wäre bereits das Auswahlverfahren.“

„Nun, es eröffnet zumindest Möglichkeiten“, sagte Jeremy mit einem Grinsen.

Isaak zog die Brauen hoch und ließ sich dann von dem Markt ablenken, der nun direkt vor ihnen lag. Es war ein großer, dreckiger aber vor allem lebhafter Platz mit unzähligen Marktständen, Straßenhändlern, die ihre Ware auf einfachen Decken ausbreiteten und dazwischen immer wieder Straßenkünstler, Musiker und Gassenprediger.

„Du scheinst dich sehr mit dem Schicksal der Koloniebewohner und Flüchtlinge zu beschäftigen“, nahm Isaak dann das Gespräch wieder auf.

„Du fragst dich, ob ich so was wie ein politischer Aktivist bin?“, vermutete Jeremy treffsicher. „Ja, ich bin der Kopf einer Organisation hier in Fleet City, die versucht, den Menschen zu helfen. Und als solcher bin ich auch für vier Jahre vom Floß verbannt worden. Deshalb war ich unten in den Kolonien. Aber schließlich habe ich doch die Bewilligung erhalten, wieder zurückzukehren.“

„Dann war es diese Art von Hilfe, die Dominik meinte, als er uns zusammen auf den Weg schickte?“

„Sowas in der Art“, entgegnete Jeremy. „Auf jeden Fall werde ich schon dafür sorgen, dass ihr beide nicht wieder zurück müsst, wenn ihr hier nicht alleine Fuß fasst.“

„Das weiß ich zu schätzen“, sagte Isaak, als sie sich durch die belebte Hauptgasse der Marktstände schlängelten, „ich habe aber Hoffnung, dass wir es auch so schaffen und du deine Hilfe anderen anbieten kannst.“

Isaak sah zu einem der Stände ein Stück rechts von ihnen, der alte gebrauchte Musikinstrumente verkaufte.

„Ich werde mich mal etwas dort drüben umsehen. Wir treffen uns später in der Unterkunft wieder, Jeremy?“

„Klar, ich habe auch noch ein paar Erledigungen zu machen.“

„Ach, Jeremy“, Isaak drehte sich nochmal zu dem anderen Mann um, „wie heißt die Organisation, für die du arbeitest?“

„Offiziell gibt es diese Organisation nicht mehr. Man hat uns als terroristische Vereinigung verboten … aber inoffiziell nennen wir uns noch immer Der Schwarze Turm.“

06 | INTEL

Treffen wie diese waren selten geworden in den letzten Monaten. Seamus bedauerte das. Er dachte gerne an die Zeit zurück, als er mit Isaak, Lilian, Ilyena und ihrem damaligen Gefährten Martin wochenlang auf gemeinsamen Missionen war. Sicher, diese Nähe konnte ihre Beziehungen auch hin und wieder sehr strapazieren, aber er zog eine eingeschworene Gemeinschaft mit ihren Problemen und Tücken jederzeit einem Leben vor, das mittlerweile fast etwas zu bürgerlich anmutete. Als Mitglied des Black Phoenix hatte er ein neues Team und neue Kammeraden gefunden, mit denen er auch nach Dienstschluss viel Zeit verbrachte. Doch seine alten Mitstreiter wieder zusammen in einem Raum zu sehen, ließ ihn wehmütig werden.

Natürlich waren nicht alle versammelt. Er dachte an Isaak, den sie seit drei Jahren nicht mehr gesehen hatten. Und auch Ninive, die einige Zeit in der Geisterstadt von Camaret und später auf der Reise nordwärts nach Hamburg ihre Begleiterin gewesen war, hatte er soweit als Teil ihres Teams gesehen, dass ihm ihre Abwesenheit nun einmal mehr schmerzhaft bewusst wurde.

Er angelte einige Flaschen Billigbier aus dem kleinen Kühlschrank unter dem Tresen in einer Ecke der umgebauten Lagerhalle, die jetzt ihr Hautquartier war, und ging zu dem großen, geschwungenen Versammlungstisch hinüber, den Rasmus in irgendeinem Hinterhofladen von einem Antiquitätenhändler in Chapel Shire gekauft hatte. Er stellte die Flaschen auf den Tisch und schob sie dann mit Schwung zu den drei Personen hinüber, die bereits am Tisch saßen.

„Das zerkratzt die Holzoberfläche“, bemerkte Rasmus protestierend und wischte mit dem Ärmel über die kaum sichtbare Spur, die die Flasche gezogen hatte.

„Es ist nur ein Tisch, Rasmus“, sagte Ilyena, lehnte sich im Stuhl zurück und schwang ihre nackten Füße auf die Tischplatte.

„Das ist ein Designerstück!“, empörte sich Rasmus, „das Glas zerkratzt das Holz.“

„Er hat aber nichts gegen deine hübschen Füße gesagt“, Seamus grinste, als er sich auf die andere Tischseite neben Lumière setzte. Ilyena winkte ihm mit ihren Zehen zu und streckte ihm die Zunge raus. Sie war ihm mit jedem Tag, den sie in Fleet City verbrachten, sympathischer geworden. Seamus hatte der anfangs sehr verschlossenen und undurchschaubaren Ilyena nur sehr schwer vertrauen können, als sie ihre ersten Begegnungen hatten. Sie war eine Hexe, eine unkontrollierte Somatonikerin mit Sangre-Fähigkeiten, über die sie nicht gerne und nur sehr wenig sprach. Und sie stammte aus den Reihen des Schwarzen Turms, einer Organisation, die in Europa als gefährliche Terroristen bekannt waren. Doch mittlerweile liebte er Ilyena. Als Freundin.

„Wo bleibt Lil?“, fragte Ilyena in den Raum hinein.

„War sie schon einmal pünktlich zu unseren Treffen?“, brummte Lumière.

„Sie hat einen wichtigen, beanspruchenden Job“, warf Rasmus ein, woraufhin Lumière abfällig schnaubte, was ihm wiederum einen bösen Blick von Ilyena einbrachte. Die Dynamik ihrer kleinen Gruppe hatte sich seit einiger Zeit nicht sehr verändert, dachte Seamus bei sich. Dass Rasmus Lilian bei jeder Gelegenheit verteidigte, weil er ganz offensichtlich in Lilian nicht nur eine Anführerin sah, war Seamus schon früh aufgefallen. Nur beschränkte sich Rasmus darauf, das Wort für Lilian nur dann zu ergreifen, wenn sie nicht da war. So wie Seamus ihn einschätzte, spielten dabei drei Dinge eine Rolle: Erstens war Rasmus sehr darauf bedacht, nicht den Anschein zu erwecken er wolle sie bevormunden. Und in der Tat konnte sich Lilian selbst sehr gut verteidigen, so dass zweitens ein Parteiergreifen für sie in ihrer Gegenwart nicht notwendig war. Und drittens war Rasmus ein Feigling. Das beschränkte sich natürlich nur auf seine Gefühle für Lilian. Ansonsten hatte Seamus Hochachtung davor, dass Rasmus auch die heikleren Tage ihrer gemeinsamen Mission, die sie schließlich nach Fleet City geführt hatte, ohne Schwäche zu zeigen überstanden hatte – und das ohne jede Ausbildung, die ihn dazu befähigte. Rasmus war davor Dozent an einem Pariser Wissenschaftsinstitut gewesen, und auch jetzt in Fleet City hatte er wieder eine akademische Stelle angenommen.

„Hi alle“, Lilian erschien in der Tür am oberen Ende der Treppe, die von dem Hauptquartier in das darüber liegende Loft führte, in dem sie wohnte, wenn sie nicht im Dauereinsatz in der Pyramide war. „Sorry für die Verspätung.“

„Wir haben das Bier schon mal geöffnet“, sagte Seamus zur Begrüßung. Er betrachtete Lilian, als sie die Treppe herunterkam. Sie hatte offensichtlich kurz zuvor geduscht. Ihre vollen, dunklen Haare waren noch nicht richtig trocken unter dem Tuch, mit dem sie diese wie üblich zurückgebunden hatte, und sie trug eine zu weite, löchrige Cargohose und einen ebenso weiten und löchrigen Strickpullover, unter dem ihr schwarzer BH hindurchschimmerte. Ein eindeutiges Zeichen, dass sie ihren Dienst beendet und den Titel Captain für den Rest des Tages abgelegt hatte.

„Danke“, sagte sie schlicht, als ihr Seamus eine Flasche reichte. Sie nahm einen großen Schluck, ließ sich aber nicht die Zeit sich zu setzen. „Wir haben Neuigkeiten, Leute. Dank Ilyena, muss ich hinzufügen.“

Ilyena wedelte begeistert mit ihren Füßen.

„Ich fange mit dem Wichtigsten an: Isaak ist in Fleet City.“

Seamus verschluckte sich fast an seinem Bier, und auch die anderen – Ilyena ausgenommen – sahen überrascht auf.

„Hast du ihn getroffen?“, fragte Seamus.

„Nein. Aber Ilyena hat die Logs der Kolonieshuttles abgefangen und seinen und Evas Namen entdeckt. Und ich habe mir das heute offiziell bestätigen lassen.“

„Seinen und Evas Namen?“, fragte Lumière, „das bedeutet, sie sind alleine?“

„So sieht es aus“, Lilian nickte, „und das ist auch der einzige Punkt, der mir dabei Sorgen macht. Die Namen von den Klonen sind nicht mit auf der Liste. Und wenn Ninive nicht bei Isaak ist, dann muss etwas passiert sein.“

„Eva wäre noch weniger freiwillig ohne Solvejg gereist“, warf Rasmus ein, „bei Isaak und Ninive könnte auch ein Plan dahinterstecken.“

„Wie dem auch sei, sie sind in Southwark. Und mir sind zwei bekannte Gesichter lieber als gar keins“, fuhr Lilian fort. „Ich werde dafür sorgen, dass wir die beiden bald wieder bei uns haben.“

„Darauf trinke ich“, murmelte Seamus und nahm sein Bier zur Hand.

„Außerdem hat Ilyena die Spur zu dem Intelchip weiterverfolgen können, den Zervett mit den Daten zum Sangre bespielt hat“, wechselte Lilian direkt zum nächsten Thema.

„Leider war die Spur schon kalt“, sagte Ilyena und nahm die Füße vom Tisch, „jemand beim Phoenix hat den Chip sichergestellt, als ihn Zervetts Agent Seth Warren an die District Police verloren hatte.“

„Er hat Zervetts Chip an die Polizei verloren?“, fragte Lumière verwundert.

„Ja, der Depp!“, Ilyena deutete eine Trinkbewegung an. „Wenn ich mich volllaufen lasse und das Mobiliar zerlege, sollte ich darauf achten, keine wertvollen Gegenstände dabei zu haben.“

Alle lachten.