Sommer in Wien - Petra Hartlieb - E-Book

Sommer in Wien E-Book

Petra Hartlieb

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Beschreibung

Der letzte Sommer der Belle Époque Der berühmte Dichter Arthur Schnitzler verbringt mit seiner Familie die Sommerfrische auf der mondänen Adria-Insel Brioni. Und Marie, das Kindermädchen der Familie, reist mit. Doch obwohl sie zum ersten Mal am Meer ist, sind ihre Gedanken in Wien. Oskar Nowak, der junge Buchhändler aus der Währinger Straße, geht ihr einfach nicht mehr aus dem Kopf. Ob sie als Paar eine Zukunft haben? Wenig später befindet sich nicht nur Maries Herz, sondern die ganze Welt in Aufruhr. Der Erste Weltkrieg stellt alles infrage, was bisher sicher schien …

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DER LETZTE SOMMER DER BELLE ÉPOQUE

Der berühmte Dichter Arthur Schnitzler verbringt mit seiner Familie die Sommerfrische auf der mondänen Adria-Insel Brioni. Und Marie, das Kindermädchen der Familie, reist mit. Doch obwohl sie zum ersten Mal am Meer ist, sind ihre Gedanken in Wien. Oskar Nowak, der junge Buchhändler aus der Währinger Straße, geht ihr einfach nicht mehr aus dem Kopf. Ob sie als Paar eine Zukunft haben?

Wenig später befindet sich nicht nur Maries Herz, sondern die ganze Welt in Aufruhr. Der Erste Weltkrieg stellt alles infrage, was bisher sicher schien …

© Pamela Rußmann/pamelarussmann.at

PETRA HARTLIEB wurde 1967 in München geboren und ist in Oberösterreich aufgewachsen. Sie studierte Psychologie und Geschichte und arbeitete danach als Pressereferentin und Literaturkritikerin in Wien und Hamburg. 2004 übernahm sie eine Wiener Traditionsbuchhandlung, vormals »Buchhandlung Friedrich Stock« im Stadtteil Währing. Sie heißt heute »Hartliebs Bücher«. Davon erzählen ihre bei DuMont erschienenen Bestseller ›Meine wundervolle Buchhandlung‹ und ›Weihnachten in der wundervollen Buchhandlung‹. In ›Sommer in Wien‹ spielt diese Buchhandlung erneut eine zentrale Rolle.

›Sommer in Wien‹ ist die Fortsetzung der Romane ›Ein Winter in Wien‹ und ›Wenn es Frühling wird in Wien‹.

petra hartlieb

SOMMERINWIEN

ROMAN

eBook 2019 © 2019 DuMont Buchverlag, Köln Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln Umschlagabbildung: © 123rtf / Alexander Sidorov Satz: Angelika Kudella, Köln eBook-Konvertierung: CPI books GmbH, LeckISBN eBook 978-3-8321-8449-0

www.dumont-buchverlag.de

Juli 1912

MARIE STAND AM STRAND, ein paar Meter vom Wasser entfernt, und konnte den Blick nicht abwenden. Minutenlang bewegte sie sich nicht und schaute zum Horizont. Das Wort »endlos« kam ihr in den Sinn, und da erinnerte sie sich an einen Moment in ihrer Kindheit. Sie war sieben oder acht Jahre alt gewesen und hatte das erste Mal mit den Eltern und den Geschwistern die Christmette in der weit entfernten Kirche besucht. An der Hand ihrer Mutter war die kleine Marie spät in der Nacht durch den Schnee gestapft. Drei Tage vor Weihnachten hatte es zu schneien begonnen, alles war weiß, und ein heller Mond ließ die Felder strahlen. Es war bitterkalt. Irgendwann blieb Marie stehen, legte den Kopf in den Nacken und blickte starr nach oben, und je länger sie schaute, desto mehr Sterne wurden es, und der Himmel war so groß, dass ihr ganz schwindlig wurde. Damals hatte sie das erste Mal das Wort »endlos«gedacht, sie konnte sich noch gut daran erinnern. Sie wunderte sich, dass sie dieses Wort schon gekannt hatte, war ihre Welt doch um so vieles kleiner gewesen, als sie es heute war.

Man konnte nicht erkennen, wo das Wasser aufhörte und der Himmel anfing. Was war wohl auf der anderen Seite des Wassers? Amerika? Afrika? Marie versuchte, sich an die Landkarte zu erinnern, die Herr Stock ihnen in dem großen Buch in der Buchhandlung gezeigt hatte. Sie würde Heini fragen, der wusste es bestimmt. Lachen würde er und sich freuen, dass er wieder einmal klüger war als sie, und Marie würde stolz auf ihn sein, als wäre er ihr eigener Sohn.

Heini und Lili waren wie ausgewechselt, seit sie am Meer waren. Wie junge, ausgelassene Hunde tobten sie über den Strand. Sie hatten die Schuhe ausgezogen, plantschten mit den Füßen im Wasser, und Lili versuchte, über die kleinen Wellenkämme zu hüpfen.

»Geht nicht so weit rein, Kinder! Ihr macht euch schmutzig.«

Maries Rufe verhallten ungehört, und sie hoffte, dass sie die nassen Kinder unbemerkt an der gnädigen Frau vorbeischmuggeln konnte, um sie fürs Mittagessen umzuziehen.

Besonders Heini erweckte den Anschein, als wäre ein großes Gewicht von seinen Schultern genommen. Er wirkte viel jünger als noch vor ein paar Wochen, seine Augen leuchteten, und Marie war froh, ihn so glücklich zu sehen. Anfang Juni hatte die schriftliche Aufnahmeprüfung für das Gymnasium stattgefunden, und obwohl er ein guter Schüler war, war er sehr aufgeregt gewesen.

»Und wenn ich es nicht schaffe?«, hatte er immer wieder gefragt. Besonders das Rechnen fiel ihm schwer, wusste Marie. Und dass es für seine Eltern selbstverständlich war, dass der Bub aufs Gymnasium gehen würde, machte die Sache für ihn nicht leichter. Ein paarmal, kurz bevor er sein Nachtlicht ausschalten und schlafen sollte, rief er Marie an sein Bett und sagte: »Wenn ich es nicht schaffe, dann ist der Vater ganz enttäuscht und die Mutter bös auf mich.«

»Aber Heini! Wie kommst denn nur auf die Idee? Warum sollst du es nicht schaffen? Du bist doch so ein gescheiter Bub! Wenn du nicht aufs Gymnasium gehst, wer denn dann?«

»Glaubst du?«

»Aber sicher. Und jetzt schlaf.«

»Warst du auch auf dem Gymnasium?«

»Ich?« Marie lachte. »Nein, du Dummerchen. Bei uns gab es kein Gymnasium. Ich musste schon arbeiten, wie ich so alt war wie du.«

»Ich muss aber auch arbeiten. Rechnen und schreiben und Gedichte auswendig lernen. Und Klavier üben muss ich auch noch.«

»Ja, das stimmt. Du musst auch arbeiten. Und jetzt schlaf gut, mein Lieber.«

»Und, Marie?«

»Ja, Heini?«

»Ich hab’s dir schon so oft gesagt: Es heißt nicht ›wie‹. Du musst sagen: ›als ich so alt war wie du‹.«

»Das lern ich nie. Und du schlafst jetzt!«

Natürlich hatte er es geschafft – gleich im ersten Anlauf und ohne zusätzliche mündliche Prüfung. Doch noch Tage nach der Prüfung wirkte Heinrich erschöpft und müde und konnte sich gar nicht so recht über seinen Erfolg freuen.

Ein wenig blühte er auf, als ihm die Eltern mitteilten, er würde für eine Woche mit ihnen nach Vöslau fahren.

»Der Onkel Julius hat Geburtstag«, erzählte er Marie. »Und ich darf mit. Ich wohne bei Tante Helene und meinen Cousins. Und die Lili bleibt da. Die ist zu klein.«

»Bin nicht klein!«, empörte sich Lili prompt und stampfte zornig mit dem Fuß auf. Wütende Tränen traten ihr in die Augen. Gelassenheit war nicht ihre größte Stärke.

»Ja, aber weißt du, die Eltern wohnen im Hotel und ich bei Tante Helene. Und die Marie darf auch nicht mit. Deswegen musst du dableiben. Aber danach fahren wir ja alle zusammen in den Urlaub.«

»Ich auch?« Lili sah den großen Bruder erwartungsvoll an.

»Jetzt erzähl doch deiner Schwester keine Geschichten.« Marie blickte Heini streng an.

»Ja, natürlich, du auch. Wir fahren doch ans Meer! Der Vater hat’s gesagt. Weißt du das noch nicht? Wir alle! Vater, Mutter, Lili, du und ich.« Heini war richtig laut geworden.

»Das weiß ich nicht. Jetzt beruhig dich doch mal! Wann denn?«

Heini legte den Kopf schief, runzelte die Stirn und sah ein wenig aus, als machte er sich Sorgen, dass der versprochene Urlaub vielleicht doch nicht stattfinden würde, weil Marie von nichts wusste. »Na, in den Ferien. Wir fahren ans Meer. Gaaaanz lange! Auf eine Insel, da kommt man nur mit dem Schiff hin. Und wir wohnen im Hotel, und die Insel gehört einem Mann, den kennt der Vater, und wir werden meinen zehnten Geburtstag da feiern.«

»Und wer sagt dir, dass ich mitkommen werde?«

»Na, du musst mitkommen. Du bist doch unser Fräulein! Wer soll denn sonst auf uns aufpassen? Also auf mich muss man ja nicht mehr aufpassen, aber auf die Lili.«

»Also zu mir hat keiner was gesagt, bis jetzt. Und jetzt packen wir deine Sachen für Vöslau.«

»Frag mal die Anna, die weiß bestimmt, ob du mitfährst. Sicher fährst du mit! Und außerdem mag ich gar nicht so gerne nach Vöslau. Hans und Karl sind schon fast erwachsen, die reden eh nicht viel mit mir, und die Elly ist ein dummes, kleines Mädchen.«

Den ganzen Nachmittag überlegte Marie, ob sie wohl den Herrn Doktor auf diesen Urlaub ansprechen sollte, vielleicht bildete der Heini sich da etwas ein oder es war sonst irgendein Missverständnis. Sie konnten doch nicht einfach so weit weg fahren, ohne ihr das vorher zu sagen? Schließlich fragte sie die Köchin, und die sagte lachend: »Ja sicher, Herzchen! Die brauchen dich doch da.«

Als Heinrich mit den Eltern nach Vöslau abreiste, fühlte sich Marie geradezu erleichtert. Die Herrschaften waren weg, nur Lili blieb in ihrer Obhut, und auch wenn die Kleine sehr lebhaft, ja manchmal geradezu anstrengend war, hatte Marie doch bedeutend mehr Freiheiten, wenn sie nur das eine Kind beaufsichtigen musste. Sie verwöhnte die Kleine: Marie erlaubte ihr, in der Früh im Schlafanzug zu trödeln, am Abend durfte sie länger aufbleiben, und Anna kochte nur Dinge, die Lili sich wünschte.

Die ganze Zeit überlegte Marie, ob sie es wagen sollte, zu Oskar in die Buchhandlung zu gehen. Schließlich wollte sie nicht, dass die Herrschaften dachten, sie würde ihre Abwesenheit für amouröse Verabredungen ausnutzen – besonders der gnädigen Frau war die Bekanntschaft zwischen dem jungen Buchhändler und ihrem Kindermädchen ein Dorn im Auge. Und nachdem die kleine Lili die Buchhandlung liebte und ihrem Oskar seit einem gemeinsamen Zoobesuch sehr zugetan war, war Marie sicher, dass die fast Dreijährige ihren Eltern bei deren Rückkehr brühwarm erzählen würde, dass sie in der Buchhandlung gewesen seien. Also ließ sie es lieber bleiben, ging mit Lili in den Türkenschanzpark und auf der Währinger Straße Kuchen essen. An der Buchhandlung ging sie bei diesen Gelegenheiten rasch vorbei und warf nur einen kurzen Blick durch die Schaufenster. Doch Oskar war nirgendwo zu sehen. Vielleicht konnte sie ja noch ein paar Besorgungen machen, wenn Heini mit den Eltern wieder da war, dann würde sie Oskar vor der Abreise auf diese Insel noch kurz sprechen. Ansonsten würde sie ihm in jedem Fall einen Brief schreiben.

Und tatsächlich – nach ihrer Rückkehr aus Vöslau hatte die gnädige Frau glücklicherweise eine ganze Liste mit Erledigungen, die Marie übernehmen sollte: Die Kleidung der Kinder musste in Ordnung gebracht werden, für die kleine Lili sollte sie einen Badeanzug besorgen und noch einiges mehr. Die beiden waren so aufgeregt, dass Marie sie nur schwer bändigen konnte.

»Hast du auch einen Schwimmanzug, Marie?« Lili sprach seit Tagen von nichts anderem als von ihrem neuen Badeanzug und davon, wie sie damit ins Wasser springen würde. »Wie ein Fisch werde ich dann schwimmen, Marie. Schau, so!« Und dann hüpfte sie vom Canapé auf den Teppich und bewegte die kleinen Arme und Beine wie ein Frosch.

»Ich? Nein, ich habe keinen Badeanzug. Ich brauch auch gar keinen. Ich geh sicher nicht ins Wasser.« Allein beim Gedanken, in so ein Meer zu steigen, wurde Marie schon ganz flau im Magen.

»Lili, warum bist schon wieder so wild! So benimmt sich keine feine Dame, steh sofort vom Boden auf.« Die gnädige Frau war unbemerkt ins Kinderzimmer getreten, Marie hatte sie nicht kommen gehört und zog das sich sträubende Mädchen rasch vom Teppich hoch.

»Aber ich übe doch schwimmen! Schau mal, Mama, wie ich schon schwimmen kann!«

Olga Schnitzler zog eine Augenbraue hoch und beachtete das Kind nicht weiter. Zu Marie gewandt sagte sie: »Marie, gehen Sie bitte mit den Kindern auf die Währinger Straße. Sie müssen beide zum Friseur, dann besorgen Sie den Badeanzug für Lili. Ah ja, und bitte noch zu Herrn Stock in die Buchhandlung. Der gnädige Herr hat etwas bestellt, und Heini darf sich noch zwei Bücher aussuchen. Er braucht Lesestoff für die Ferien.«

»Sehr wohl, gnädige Frau.« Marie versuchte, sich ihre Freude nicht anmerken zu lassen. Wie schön, dass sie noch einmal in die Buchhandlung gehen konnte! So hatte sie Gelegenheit, sich von Oskar verabschieden zu können.

Nachdem ihr Anna eine Einkaufsliste gegeben und der Doktor ihr das Geld überreicht hatte – nicht ohne sie zu ermahnen, auf das Wechselgeld zu achten –, zogen sie endlich los. Die Kinder plapperten in einem fort und steckten Marie mit ihrer guten Laune regelrecht an. Es war kaum vorstellbar, dass die kleine Lili im Frisiersalon auch nur fünf Minuten stillsitzen würde. Also plante Marie, erst den Badeanzug zu besorgen, dann in die Buchhandlung und zum Greißler zu gehen und erst danach den Friseurbesuch zu absolvieren. So waren die Kinder vielleicht schon ein wenig müde und ließen sich in Ruhe die Haare schneiden.

Lili war so vernarrt in ihr neues, blau-weiß geringeltes Badekostüm, dass Marie sie nur mit großer Mühe davon überzeugen konnte, es nicht sofort anzuziehen und so die restlichen Besorgungen zu erledigen. Erst als Heini zu ihr sagte, sie solle sich nicht wie ein Baby benehmen und so etwas dürfe man nur zum Baden anziehen, lenkte sie ein.

»Jö, das Fräulein Marie. Welche Ehre! Und die bezaubernden Kinder. Guten Tag, gnädiger Herr, grüß Gott, Fräulein Lili.« Herr Stock kam hinter dem Tresen hervor und verneigte sich lachend vor Marie und den Kindern. Ihr war es ein wenig unangenehm, doch die beiden liebten die Vorstellung und spielten gerne mit. Heini stellte sich vor den Buchhändler, warf sich in Pose wie ein feiner Herr und sagte: »Der Herr Papa hat Bücher bestellt. Die würden wir gerne abholen. Schnitzler wär der Name.«

»Der Herr Schnitzler, na, dann schauen wir mal. Und brauchen Sie denn auch noch neue Lektüre?«

»Ja, sehr gerne. Ich hätte gerne wieder einen neuen Band von Karl May.«

Während Herr Stock mit dem neunjährigen Heinrich höflich Konversation führte, hielt Lili Maries Hand fest und kicherte. Sie war Herrn Stock gegenüber immer ein wenig schüchtern, obwohl das eigentlich sonst nicht ihre Art war. Doch plötzlich riss sie sich los und hüpfte lachend durch die Buchhandlung: Aus dem Hinterzimmer war Oskar getreten, der längst die Stimmen der neuen Kunden erkannt hatte. Marie blieb stehen und sah zu, wie die Kleine ihn begrüßte. Seit ihrem gemeinsamen Ausflug in die Menagerie vor ein paar Wochen hatte Lili ständig von Oskar gesprochen und gefragt, wann sie ihn denn wiedersehe und ob sie ihn nicht einmal einladen könnten. Marie war das sehr unangenehm, vor allem, wenn die Herrschaften in der Nähe waren; sie versuchte Lili dann immer zu bremsen. Doch nun freute sie sich am Anblick des fröhlichen kleinen Mädchens, und wenn sie Oskar dabei zusah, wie er in die Knie ging, sich dem Kind zuwandte und es schließlich hochhob, musste sie vor Rührung schlucken. Auf einem Arm hielt er Lili, den anderen streckte er Marie entgegen und strahlte sie an: »Das freut mich aber, dass ihr mich besuchen kommt. Was verschafft mir die Ehre?«

»Wir holen etwas ab. Und dann wollen wir uns verabschieden. Wir fahren auf Urlaub.« Marie sprach den Satz zögernd, als könnte sie es selbst nicht glauben.

»Wer fährt in den Urlaub?«, fragte Oskar etwas verwirrt und stellte Lili wieder auf den Boden.

»Na wir! Mama und Papa und Marie und ich!«, rief Heini, der gerade nach hinten gekommen war.

»Wirklich? Das ist ja toll! Und ihr dürft mit?«, fragte Oskar und sah dabei nur Marie an. Die nickte etwas verlegen mit dem Kopf.

»Du hast mich vergessen! Ich darf auch mit auf Urlaub!«, sagte Lili trotzig und stampfte mit den Füßen auf.

»Wo fahrt ihr denn hin?«

»Ja, Lili, du darfst auch mit. Wir fahren ans Meer … irgendwo in den Süden …«, sagte Marie, doch Heini unterbrach sie ungeduldig: »Ans Meer. Auf eine Insel. Die gehört einem Freund von Papa!«

»Wir fahren mit dem Zug!«, fiel Lili wiederum ihrem Bruder ins Wort.

»Mit dem Zug? Auf eine Insel?« Oskar lachte. »Wie soll das denn gehen?«

»Nein, die Lili ist dumm. Wir fahren erst mit dem Zug und dann mit einem Schiff«, stellte Heini klar.

Da wurde Marie erst bewusst, dass man nur mithilfe eines Schiffes auf eine Insel gelangen konnte. Sie würde auf ein Schiff steigen müssen und damit übers Meer – wie sagte man – schwimmen? Fahren?

»Wie heißt denn die Insel, Marie? Wohin fahrt ihr denn?«

»Ich hab den Namen vergessen …«, sagte Marie und wurde rot.

Heini schaute sie triumphierend an. »Aber ich weiß den Namen! Brioni! Die Insel heißt Brioni.«

»Na, dann schauen wir doch gleich mal, wo das ist.« Friedrich Stock war zu ihnen getreten und zog aus einem der unteren Regale einen großen, schwarzen Atlas. Er blätterte ein wenig hin und her, dann legte er das Buch aufgeschlagen vor sie hin. Natürlich fand Heini es als Erster. Aufgeregt tippte er mit dem Finger auf einen kleinen braungrünen Fleck, umgeben von blauer Farbe.

»Schau mal, Lili. Das Blaue da, das ist das Meer. Und da fahren wir mit dem Schiff drüber. Und hier, hier ist die Insel. Da werden wir wohnen.« Die Kinder drängten sich vor dem Buch, und Friedrich Stock nickte Oskar und Marie zu: »Geht’s doch mal kurz nach hinten ins Büro. Der Oskar muss noch was fertig machen, und die Marie kann ihm helfen.«

»Ich auch helfen!«, rief Lili begeistert und wollte schon loslaufen.

»Nein, nein. Du bleibst schön bei mir, junge Dame. Komm, wir schauen mal, ob wir für dich auch noch ein Buch für die Ferien finden.« Stock nahm Lili bei der Hand und führte sie in die kleine Kinderabteilung.

»Weißt du, wie lange ihr wegbleibt?«, fragte Oskar Marie leise, als sie außer Hörweite waren.

Marie lehnte sich an den mit Papieren und Büchern vollgeräumten Schreibtisch und antwortete: »Ich weiß es nicht genau. Zwei oder drei Wochen sicher. Heini hat gesagt, die Eltern hätten ihm versprochen, seinen Geburtstag auf der Insel zu feiern. Der ist am 9. August.«

»Das wird dir gefallen! Wirst sehen, du wirst gar nicht wiederkommen wollen!«, sagte Oskar und sah sie dabei an, als wünschte er sich, dass sie ihm widersprechen würde.

Ganz bestimmt will ich wiederkommen, dachte Marie, sagte dann aber: »Warst du schon einmal am Meer?«

»Ich? Nein.«

»Aber ich fürcht mich schon recht vor dem Schifffahren«, platzte es aus ihr heraus.

»Das musst du nicht. Es ist sicher ein kleines Schiff. Und die Strecke ist kurz.«

Sie schwiegen beide, blickten sich einen langen Moment in die Augen, und Marie wusste, dass Oskar, genau wie sie, an Fanni Gold dachte. Die junge Frau war eine Bekannte von Oskar und wäre vor wenigen Wochen beinahe das Opfer einer schrecklichen Schiffskatastrophe geworden. Es war ein Wunder, dass sie den Untergang des großen Ozeandampfers tatsächlich überlebt hatte. Und obwohl Marie diese Fanni nicht kannte, musste sie seitdem oft an sie denken. »Weißt du was Neues von der Fanni?«

»Nein. Sie ist wohl immer noch in New York und lebt da bei ihrem Onkel. Ich hab die Golds vor Kurzem besucht, da hat Herr Gold erzählt, dass er sich für nächste Woche eine Schiffspassage kaufen wird. Er will nach Amerika, um sie nach Hause zu holen. Aber er fürchtet, sie wird sich weigern, auf das Schiff zu steigen.«

»Das versteh ich. Ich würde an ihrer Stelle auch auf keines mehr gehen.«

»Aber wenn sie zurückwill nach Wien, gibt es leider keine andere Möglichkeit.«

Wär gar nicht so schlecht, wenn sie in Amerika bliebe. Dieser Gedanke blitzte kurz in Marie auf, und sofort schämte sie sich dafür.

»Was denkst du gerade?« Oskar war ein bisschen näher an sie herangetreten und berührte vorsichtig ihre Hand.

»Ich weiß auch nicht. Dass wir uns dann so lange nicht sehen werden.« Marie hörte sich den Satz aussprechen und war selbst erstaunt über ihren Mut.

»Ja, aber du darfst dafür in den Urlaub fahren. Und ich muss arbeiten. Schreibst du mir?«

»Ja. Ich schreib dir. Aber ich kann gar nicht gut schreiben.« Marie hatte in ihrem kurzen Leben noch nicht viele Briefe geschrieben. Ein paar an ihre Eltern in der alten Heimat, aber nachdem alle unbeantwortet geblieben waren, hatte sie es irgendwann aufgegeben.

»Du erzählst mir einfach jeden Tag, was du erlebt hast. Beschreibst mir den Himmel und das Meer und schickst mir ein paar Sandkörner.« Oskar sah sie verträumt an. »Ich möcht auch mal mit dir ans Meer.«

»Ja, das wär schön. Ich will aber lieber in die Berge. Ich mag das Wasser nicht so gern. Vor allem, wenn es so groß ist.«

»Ja, wenn du wiederkommst, dann machen wir eine Wanderung. Auf den Schneeberg. Das ist ein richtig hoher Berg.«

»Gut, das machen wir.«

»Warte, wir schauen noch mal, was im Baedeker über Brioni steht. Da: Ihr fahrt mit dem Motorboot von Pola. Schau, da steht’s: Von Pola mit dem Motorboot mehrmals täglich vom Molo Elisabetta in ¾ Stunden für 1Krone. Brioni Grande, die größte der Inseln, ist mit immergrünen Parkanlagen, bewaldeten Hügeln, Wiesen und Weingärten bedeckt. An der Ostseite Brioni, mit Hafen und den Gasthäusern, im Frühling und Herbst wegen des milden Klimas, im Sommer als Seebad besucht. Hach, wie gerne würde ich mitfahren.«

»Dann fahr doch mit! Wir fragen Vater einfach, ob du mitfahren kannst.« Heinrich war unbemerkt ins Büro getreten, und sein Gesicht strahlte vor Begeisterung über die gute Idee.

»Nein, Heini, das geht nicht. Weißt du, ein Kindermädchen braucht ihr, wenn ihr verreist. Aber keinen Buchhändler. Außerdem muss ich hier arbeiten. Herr Stock kann doch nicht so lange ohne mich.«

»Ja, eh. Aber du bist doch auch unser Freund. Nicht nur unser Buchhändler.«

»Heini, du bist lieb! Weißt, was? Wenn ihr wieder zurück seid, dann machen wir eine Wanderung. Nur du und die Marie und ich. Wie findest du das?«

»Gut. Ich kann lange gehen. Ich geh ganz viel spazieren mit dem Vater.«

»Das ist hervorragend. Ich will nämlich auf einen richtigen Berg.«

NUN FUHR SIE ALSO in den Urlaub, die Marie. Wie aufgeregt sie war, er verstand das gut, das wäre er wohl auch. Sie hatte wirklich großes Glück mit der Familie Schnitzler, nicht viele Mädchen konnten in so jungen Jahren ans Meer reisen. Doch es war auch ein wenig befremdlich, dass die Herrschaften einfach vergessen hatten, Marie über die bevorstehende Reise zu informieren, dachte Oskar.

Er studierte noch einmal genau den Atlas, prägte sich die Lage der Insel ein, gerade so, als wäre er Marie in den nächsten Wochen näher, wenn er nur genau wusste, wo dieses Brioni lag. Abreise war in vier Tagen, er hatte also nicht mehr viel Zeit, das zu erledigen, worüber er schon seit Längerem nachdachte. Am Mittwoch hatte Marie Geburtstag, zweiundzwanzig Jahre alt würde sie werden. Und obwohl sie das Datum nur mal beiläufig erwähnt hatte, hatte Oskar es sich sofort eingeprägt und schon länger überlegt, was er ihr schenken könnte. Sein Budget war bescheiden, aber für ein paar Blumen und ein Buch würde es reichen. Und vielleicht gab ihm Herr Stock einen kleinen Vorschuss auf sein Gehalt, dann könnte er ihr noch einen leichten Strohhut für die Reise besorgen.

»Was meinst du? Welches Buch soll Marie als Nächstes lesen?«

Herr Stock sah von der Buchhaltung auf und lachte: »Na, du hast dir ja fest vorgenommen, das Mädel zu einer gebildeten Frau heranzuziehen. Gut so.«

»Ja, die beiden Heidi-Bände hat sie verschlungen.«

»Gib ihr Thomas Mann. Tonio Kröger.«

»Das ist viel zu dramatisch. Ich glaube, das ist nichts für ein junges Fräulein.«

»Peter Pan?«

»Da wird im zweiten Teil nur mehr gekämpft.«

»Na, du bist aber kritisch. Roseggers Waldbauernbub?«

»Ich weiß nicht … ein bisserl fad.«

Jetzt grinste Friedrich Stock ihn nur mehr schief an.

»Was hältst du von Bergkristall?«

»Ja, warum nicht? Ist nicht langweilig und nicht so dick, und es geht gut aus.«

Oskar holte das kleine Bändchen aus dem Regal und verpackte es sorgfältig. Stock sah ihm amüsiert zu.

»Meinst du, ich kann da hingehen und ihr Blumen bringen?«

»Ich weiß es nicht. Aber ich würde es riskieren. Vielleicht hast du ja Glück und ihre Herrschaften sind eh nicht zu Hause.«

»Ja, dann geh ich morgen nach der Arbeit rauf.« Oskar zögerte, gab sich dann aber einen Ruck und sagte: »Du, Friedrich? Könnte ich einen kleinen Vorschuss auf den Lohn bekommen? Dann kann ich noch ein kleines Geschenk kaufen.«

Am nächsten Tag eilte Oskar in der Mittagspause ins Blumengeschäft, kaufte ein hübsches Sträußchen und ging beim Handschuh-Peter vorbei, denn dort gab es eine riesige Auswahl an Damenhüten. Oskar fühlte sich sehr seltsam, als ihn die ältliche Verkäuferin ausfragte, um seinen Wunsch nach einem »Sommerhut für ein Mädchen« etwas zu spezifizieren.

»Na ja, nicht zu groß und nicht recht mondän. Es ist ein einfaches Fräulein. Aber sie fährt ans Meer, und da braucht man doch einen Hut, oder?«

»Ja sicher. Mit der Sonne im Süden ist nicht zu spaßen. So ein Hut schützt vor Sonnenstich und Sonnenbrand. Wie wär’s mit dem hier?« Die Verkäuferin hielt ihm einen kleinen Strohhut mit einem schmalen hellblauen Band hin und schaute ihn erwartungsvoll an.

Der Hut überschritt Oskars Budget bei Weitem, er nahm ihn trotzdem. Dann gab es halt in den nächsten zwei Wochen keinen Theaterbesuch, und man konnte schließlich auch mal eine Zeit lang von Kartoffeln leben.

Ganz aufgeregt war er, als er am Abend die Sternwartestraße hinaufging. In der einen Hand hielt er den kleinen Blumenstrauß, in der anderen den Hut, den die Verkäuferin in ein dünnes Seidenpapier eingewickelt hatte. Das Buch hatte er unter den Arm geklemmt. Er klingelte und Sophie, das Dienstmädchen, öffnete die Tür.

»Guten Abend. Die Herrschaften sind schon zu Tisch. Sie wünschen?«

Sophie tat immer, als würde sie ihn nicht erkennen, als wäre er ein feiner Herr, der dem Herrn Doktor seine Aufwartung machte. Gut, ein, zwei Mal war er ja auch schon in Arthur Schnitzlers Arbeitszimmer gewesen. Der von ihm verehrte Dichter hatte ihn hereingebeten, als er ein Buch geliefert hatte.

»Ich wollte nur etwas abgeben, für die Marie.«

Sophie starrte neugierig auf den Blumenstrauß in seinen Händen. »Ich weiß nicht, ob das jetzt passend ist. Sie ist mit den Kindern gerade nach oben gegangen.«

»Ich verstehe. Na ja, dann könnten Sie ihr das vielleicht geben. Mit den besten Grüßen von mir.«

Sophie merkte wohl, wie enttäuscht Oskar war. Sie zögerte kurz und öffnete die Tür ein bisschen weiter. »Einen Augenblick, ich schaue nach, ob sie kurz kommen kann. Wollen Sie inzwischen so lange hier warten?«

»Wenn es keine Umstände macht.«

Oskar stand in der kleinen Diele und wusste nicht, wohin mit seinen Händen, er legte das Päckchen mit dem Buch auf den kleinen Tisch und den eingewickelten Hut, der ihm nun viel zu groß, ja geradezu peinlich vorkam, darauf. Den Blumenstrauß hielt er verlegen in den Händen.

Da öffnete sich die Tür des Salons, er hörte laute Stimmen, und plötzlich stand der Herr Doktor Schnitzler vor ihm. Am liebsten hätte sich Oskar irgendwohin verkrochen, doch es war zu spät. Der Doktor hatte ihn längst gesehen und kam mit ausgestreckter Hand auf ihn zu. »Ja, wen haben wir denn da zu so später Stunde? Der Buchhändler? Hab ich etwas bestellt und vergessen abzuholen? Kommen Sie doch rein, Herr …, wie war doch gleich der Name?«

»Nowak. Oskar Nowak. Einen schönen guten Abend, Herr Doktor. Ich wollte nicht stören, ich sehe, Sie haben Besuch.«

»Ach, Sie stören nicht. Es ist nur mein Bruder mit seiner Frau und unser Nachbar. Wir sprechen über unseren bevorstehenden Urlaub. Ach, da fällt mir ein, wir könnten noch einen Reiseführer brauchen. Haben Sie einen lagernd? Oder ein Buch über Brioni?«

»Ja, haben wir sicher. Ich kann morgen nachschauen und Ihnen etwas schicken lassen. Ich darf mich empfehlen, Herr Doktor. Meine Verehrung! Ich wünsche noch einen schönen Abend und einen erholsamen Urlaub.«

»Ja, warum verlassen Sie uns denn schon? Kommen Sie doch kurz herein. Ein Buchhändler ist immer willkommen.« Und schon schob er Oskar durch die offene Tür in den Salon.

»Wir haben noch einen Gast! Meine Lieben, das ist ein fleißiger Buchhändler, Herr Nowak. Es ist der Gehilfe vom Stock unten in der Währinger Straße.«

»Teilhaber. Ich bin inzwischen Kompagnon von Herrn Stock. Entschuldigen Sie bitte die Störung, ich wollte …« Da bemerkte Oskar erst, dass er noch immer den Blumenstrauß in den Händen hielt und ihn alle ein wenig verwundert anschauten.

»Bitte schön, darf ich vorstellen: Meine Schwägerin Helene, meine Gattin kennen Sie ja schon.« Von hinten war Sophie herangetreten und nahm Oskar ohne großes Aufsehen die Blumen ab.

»Guten Abend, meine Damen. Ich ersuche Sie höflichst, die Störung zu entschuldigen.«

»Ach, Sie stören uns nicht. Darf ich Ihnen noch meinen Bruder vorstellen und Herrn Schmidl? Er ist Textilfabrikant und ein lieber Freund und Nachbar.«

»Guten Abend. ›Buchhandlung Stock‹ sagten Sie? Sehr gut! Da hab ich schon meine Schulbücher gekauft, und meine Tochter Hansi liebt Ihr Geschäft. Wenn es nach ihr ginge, würde sie den ganzen Tag nur lesen.«