Echte Kerzen wären schon schöner. Neue Weihnachtsgeschichten - Petra Hartlieb - E-Book

Echte Kerzen wären schon schöner. Neue Weihnachtsgeschichten E-Book

Petra Hartlieb

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Beschreibung

Weihnachten ist nicht nur das Fest der Liebe und der Besinnlichkeit. Es ist auch die Zeit der Fragen, die über Krieg oder Frieden unterm Weihnachtsbaum entscheiden: "Machen wir Bescherung vor oder nach dem Essen?", "Wollen wir uns dieses Jahr etwas schenken?" und "Echte Kerzen oder doch LED?".Von dem Irrsinn weihnachtlicher Schnäppchen-Jäger, Bären auf Motorrädern und einem Weihnachtsmann, der mit Gott in der Sauna schwitzt, erzählen Petra Hartlieb, Ingrid Kaltenegger, Uta Köbernick, Sven Kemmler, Fee Badenius, Dagmar Schönleber, Fritz Eckenga, Katinka Buddenkotte und Bernd Gieseking.Weihnachtsgeschichten von heute zum Verschenken, aber auch als kleine Feiertagsflucht vorm trubeligen Beisammensein.

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Seitenzahl: 214

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Echte Kerzen wären schon schöner

Neue Weihnachtsgeschichten

Reclam

2021 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Anja Grimm Gestaltung

Coverabbildung: Apostrophe/shutterstock

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2021

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-961925-5

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-020650-8

www.reclam.de

Inhalt

[Petra Hartlieb] Bergkristall oder: Weihnachten in einem fremden Land

[Ingrid Kaltenegger] Momenti divini

[Bernd Gieseking] Der liebe Augustin oder: Mit Gott in der Sauna

[Uta Köbernick] Und unten fuhr ein Ikarus vorbei

[Sven Kemmler] Moby Dick oder: Die Wahl

[Fee Badenius] Eine Weihnachtsgeschichte

[Fritz Eckenga] Gott und Gattin

[Dagmar Schönleber] Fast alle Lampen an oder: Ein Vorweihnachtsabend in der Familie

[Fritz Eckenga] Drinking Home For Christmas

[Katinka Buddenkotte] Die heiligen Rouladen

[Bernd Gieseking] Echte Kerzen wären schon schöner

Über die Autorinnen und Autoren

Nachweis der einleitenden Zitate

PETRA HARTLIEB

Bergkristall oder: Weihnachten in einem fremden Land

Eines der schönsten Feste feiert die Kirche fast mitten im Winter, wo beinahe die längsten Nächte und kürzesten Tage sind, wo die Sonne am schiefsten gegen unsere Gefilde steht, und Schnee alle Fluren deckt, das Fest der Weihnacht.

Bergkristall, Adalbert Stifter

Unser Land feiert verschiedene Feste, welche zum Herzen dringen. Man kann sich kaum etwas Schöneres denken, als das Eid al Fitr, das Zuckerfest, an dem die Menschen nach dreißig Tagen Fasten ein ausgelassenes Fest feiern. Schon Tage vorher wird gebacken, gekocht und dekoriert, und die Geschenke für die Kinder werden vorbereitet. Die Familien kommen zusammen, und vorbei sind die Tage der Entbehrungen und des Verzichts.

Aber in unserem Land gibt es Krieg, Zerstörung und Verfolgung, und so haben sich über die Jahre viele Menschen aufgemacht, um anderswo ein besseres Leben zu führen.

Nun versuchen sie verstreut auf der ganzen Welt so gut es eben geht, ihre Heimat in der Fremde zu finden. Meist ist das nicht leicht, und doch gibt es Gegenden, in denen es nicht so schwierig ist, denn durch Geschichte, Schicksal oder Zufall sind Orte entstanden, an denen sich viele von ihnen niederließen.

 

Ein Dorf ist es nicht, es befindet sich mitten in einer großen Stadt, und doch vergehen oft Wochen, bis die Bewohner ihr Viertel einmal verlassen, denn alles, was man zum Leben braucht, gibt es hier.

Vor den Lokalen sitzen Männer mit langen Bärten und weiten Mänteln, die Wasserpfeifen rauchen. Frauen mit Kopftüchern gehen über den Markt, sie ziehen schwere Einkaufswägen und müde Kinder hinter sich her. Es riecht nach Schaffleisch und Pfefferminztee, und es gibt Schriftzeichen, die nicht so aussehen, wie man sie in diesem Land üblicherweise gebraucht.

Wenn man genauer hinsieht, dann erkennt man, dass die Welt jenseits der großen Straße eine andere ist. Andere Leute, andere Geschäfte, ja, selbst die Häuser sehen anders aus, die Lichter in den Fenstern leuchten nicht so grell, die Autos, die neben den Gehsteigen parken, sind kleiner und moderner.

Kein Ortsschild, keine Grenze trennt das Viertel von den anderen, lediglich in jede Himmelsrichtung geht eine Straße, und gegen Westen und Osten liegen die Gleise der Straßenbahn im Asphalt.

In einem der zentralsten Häuser am Markt ist der Bäcker untergebracht, von weitem riecht man die frischen Fladenbrote, bestreut mit Sesamsamen; und die Süßigkeiten in den Schaufenstern lassen die vorbeigehenden Kinder an der Hand ihrer Mutter langsamer werden.

Mhamed stand seit drei Jahren nahezu jeden Tag in der Backstube, die Sommer wie Winter lediglich durch ein kleines Fenster zum Hinterhof gekühlt wurde. Den Teig konnte er inzwischen ohne Waage zusammenrühren, blind konnte er die Brote formen, und seine Nase sagte ihm, wann er die fertigen Laibe aus dem Ofen ziehen musste.

Vorne im Verkaufsraum stand er weniger gerne, er liebte die Ruhe hinten in der Backstube. Die Hitze, die der Ofen ausstrahlte, machte ihm nichts aus, hatte er doch das Gefühl, dass er, seit er in diesem Land war, immerzu fror. Was er aber gerne machte, war, die verschiedenen Brote so in den großen Schaufenstern zu platzieren, dass die Leute, die daran vorbeigingen, einen rechten Appetit bekamen.

In seinem früheren Leben war Mhamed ein Handelsvertreter gewesen, einer, der immer auf Reisen gewesen war und es geliebt hatte, fremde Städte zu sehen, in Hotelzimmern zu übernachten, neue Menschen kennen zu lernen. Doch eines Tages konnte man in seinem Land nirgendwo mehr hinreisen, und selbst wenn, hätte er keine Produkte mehr gehabt, die er hätte verkaufen können, und selbst wenn, hätte es keine Geschäfte mehr gegeben, die ihm diese Produkte abgekauft hätten.

Nun stand er also hier, in der Backstube eines fremden Landes, in das ihn das Schicksal geführt hatte, und knetete Brot, gab ein paar Löffel Salz dazu, streute Sesamsamen obendrauf, so als hätte er nie etwas anderes getan.

Faizah kannte er seit seiner Kindheit. Sie hatte im Nachbardorf gelebt, und ihre Väter waren über hundert Ecken miteinander verwandt gewesen, doch erst als sie sich als junge Erwachsene bei einem Opferfest gegenübergesessen hatten, waren ihm ihre grünen Augen aufgefallen. Das Tuch hatte sie nachlässig übers Haar gezogen, und immer wieder hatte er hinschauen müssen, ob da nicht irgendwo eine Strähne hervorblitzte. Die Verlobungszeit war kurz gewesen, denn der Krieg war schließlich auch in ihre Dörfer gekommen, und so hatten die Eltern gegen eine Hochzeit plötzlich nichts mehr einzuwenden gehabt, sie hatten wohl gedacht: Wer weiß, vielleicht können Mhamed und Faizah einander gegenseitig beschützen.

Wenn er die Augen schloss, dann sah er Faizahs strahlend grüne Augen, und er erinnerte sich, wie sie das erste Mal vor ihm ihr Tuch vom Kopf gezogen hatte in der Nacht ihrer Hochzeit, auf der sie gefeiert hatten, als gäbe es kein Morgen.

Ihre Augen waren immer noch grün, doch da war kein Strahlen mehr, und ihr Tuch trug sie hier, in der neuen Heimat, so eng gebunden, dass nicht ein einziges Haar daraus hervorlugte. Er vermisste die Nächte, in denen sie im kleinen Vorgarten ihres Hauses gesessen, den Sternenhimmel betrachtet und stundenlang über Gott und die Welt geredet hatten. Der kleine Bassam hatte drinnen in seiner Wiege geschlafen. Auch damals war nicht alles gut gewesen, aber der Krieg schien einen Bogen um ihren Landstrich zu machen.

Nun war ihre Sprache nur noch voll zärtlicher Worte, wenn sie mit den Kindern sprach, und gemeinsam gelacht hatten sie schon lange nicht mehr. Auch gab es keinen Vorgarten, in dem sie sitzen konnten. Ihre kleine Wohnung über der Bäckerei hatte nur zwei Zimmer, beide Fenster gingen in den engen Hof, die Sterne konnte man nicht sehen, dafür roch es Tag und Nacht nach frisch gebackenem Brot.

Gleich im ersten Jahr nach ihrer Hochzeit hatte Faizah einen Sohn geboren, dem sie den Namen Bassam, der Lächelnde, gegeben hatten. Die Namensgebung war geradezu prophetisch gewesen, denn ihr Erstgeborener war ein ruhiges, freundliches Kind. Als Faizah einige Jahre darauf wieder in freudiger Erwartung gewesen war, war es in ihrem Dorf für Männer zu gefährlich geworden und Mhamed hatte beschlossen, das Land zu verlassen. Faizah war zurückgeblieben, die Trennung hatte ihnen beiden Angst gemacht, aber mit einem Vierjährigen an der Hand und einem Ungeborenen im Bauch hätte man diese Reise nicht antreten können. Und nun, lange vier Jahre später, lebten sie als Familie in diesem fremden Land. Er hatte eine gute Arbeit, sie hatten ein Dach über dem Kopf und genug zum Leben. Bassam, das immer vergnügte Kind, war ernst und nachdenklich geworden, Sanna, die kleine Tochter, wich ihrem großen Bruder und der Mutter kaum von der Seite. Doch in Faizahs grüne Augen war das Strahlen nicht zurückgekehrt.

Die Eltern hatten keine Probleme damit, dass auch Bassam in der Schule ein Türchen des Adventskalenders öffnen durfte, kleine Weihnachtsgeschenke bastelte und der begeisterten Sanna Geschichten über das Jesuskind erzählte. Ihre Nachbarn in der alten Heimat waren Christen gewesen, sie hatten eine enge Freundschaft gepflegt und kurzerhand alle Feste gemeinsam gefeiert – die der Christen und die der Muslime. So waren auch sie in den Tagen vor Weihnachten in einer freudigen Stimmung, überlegten, was sie am Heiligen Abend kochen sollten, und Faizah hatte sogar ein paar kleine Geschenke besorgt, eine Puppe für Sanna und ein Puzzle für Bassam.

Am Tag vor dem Heiligen Abend, wie es hier genannt wurde, war die Luft lau und mild, und ein blauer Himmel mit dünnen Wolken spannte sich über die ganze Stadt. Fast frühlingshaft war es, und so kamen die Kinder auf die Idee, ihre Khala, ihre Tante Nesrin zu besuchen. Ihre Khala Nesrin war die ältere Schwester ihrer Mutter und ein paar Monate vor ihnen ins fremde Land gekommen. Allein war sie damals gereist und alleine lebte sie auch nun, in einem anderen Stadtteil, gar nicht so weit entfernt von dem ihren.

Die Kinder rannten durch das Stiegenhaus hinab in die Backstube, beide noch in ihren Nachtkleidern, und baten ihren Vater um Erlaubnis. Sie wurde ihnen erteilt, und so liefen sie wieder zur Mutter zurück, damit diese die Kinder anzog, oder eigentlich nur das Mädchen, der Junge begann sich selbst anzukleiden und stand bald ungeduldig da.

Als die Mutter fertig war, sagte sie:

»Bassam, gib Acht: Weil ich dir das Mädchen mitgehen lasse, so müsst ihr recht aufpassen und gleich, nachdem ihr bei der Khala gegessen habt, wieder nach Hause kommen, denn die Tage sind kurz und die Sonne geht bald unter.«

»Ich weiß es schon, Mutter«, sagte Bassam.

»Und pass gut auf Sanna auf, dass sie nicht hinfällt oder verloren geht.«

»Ja, Mutter.«

»So, Inshalla, geht noch zum Vater und sagt, dass ihr jetzt fortgeht.«

Nachdem sich die Kinder verabschiedet hatten, zogen sie Hand in Hand los. Die Mutter sah ihnen nach, wie sie über den Markt in Richtung Straßenbahn gingen, über Bassams Schulter hing die Ledertasche, in die der Vater noch ein Brot für die Tante gepackt hatte. Die kleine Schwester hielt der Bub fest an der Hand, und Sanna machte schnelle Schritte, um mit dem Bruder mitzuhalten.

Gerne wäre Faizah mitgegangen, sie sorgte sich, wenn die Kinder alleine unterwegs waren, obwohl Bassam schon acht Jahre alt war und sehr vernünftig und verständig. Erst seit einem halben Jahr lebten sie hier bei Mhamed, neun Monate lang hatten sie in einem türkischen Lager auf die nötigen Papiere gewartet, denn der abenteuerliche Weg, den Mhamed illegal gegangen war, war mit den Kindern zu gefährlich gewesen. Schon in dieser Hölle aus Zelten, schlechtem Essen und gefährlichen Menschen hatte sie sich auf den Jungen verlassen können. Er war immer in der Nähe geblieben, hatte sich nie an den Raufereien der anderen Kinder beteiligt und sich rührend um Sanna gekümmert.

Die Kinder liebten ihre Tante Nesrin, sie war viel älter als ihre Mutter, so dass sie zu den Kindern fast wie eine Großmutter war, die die beiden nach Strich und Faden verwöhnte.

Bassam hatte den Weg schon einmal alleine zurückgelegt. Seine Eltern erlaubten ihm zwar nie, ihr Viertel ohne ihre Begleitung zu verlassen, aber zur Khala durften sie, das war eine Ausnahme. Einmal war sie krank gewesen, und seine Mutter hatte keine Zeit gehabt, da hatte er die Einkäufe zu Tante Nesrin gebracht, ja, er hatte ihr sogar eine Suppe warm gemacht. Der Vater konnte sowieso nie weg aus seiner Backstube, und die Mutter putzte die Wohnungen von fremden Leuten, jeden Nachmittag. Und wenn sie heimkam, dann putzte sie in ihrer kleinen Wohnung gleich weiter.

Bassam kannte den Weg genau, gleich da vorne, am Ende des Marktes musste man in die Straßenbahn steigen, vier Stationen fahren und dann noch in eine andere Linie umsteigen. Er hob seine kleine Schwester über die hohen Stufen in die Bahn. Es war kein Sitzplatz frei, alles war voller Menschen mit schweren Einkaufssäcken. Ein junger Mann stand mitten im Wagen und hielt einen kleinen Tannenbaum, um den ein Netz gewickelt war. Sanna stellte sich daneben, blickte Bassam fragend an und begann, an den Nadeln zu zupfen.

»Lass das«, zischte ihr Bruder in ihrer Sprache, die Sprache, die die meisten Menschen hier nicht verstanden. Doch der junge Mann lächelte sie freundlich an, Bassam senkte die Augen, Sanna lächelte zurück.

»Bassam?«

»Ja, Sanna?«

Sie waren ausgestiegen und warteten an der Haltestelle auf die andere Bahn.

»Warum hat der Mann einen Baum gehabt?«

»Das machen die hier. Weißt du, morgen ist Weihnachten, da stellen sich die Menschen einen Baum ins Zimmer und stecken Kerzen drauf.«

»Warum?«

»Das weiß ich auch nicht. Ich hab’s in der Schule gelernt. Aber warum sie das machen, das haben sie uns nicht erzählt.«

Die Tante wartete schon auf die Kinder und winkte ihnen vom Fenster aus zu. Sie nahm ihnen die Jacken ab, führte sie in die Küche, wo ein reichlich gedeckter Tisch bereitstand, und fragte sie, wie es ihnen auf dem Weg ergangen war. Die Kinder stürzten sich auf die Leckereien, Sanna erzählte begeistert vom Straßenbahnfahren und dem Tannenbaum des jungen Mannes. »Khala, weißt du, warum man sich einen Baum ins Zimmer stellt?«

»Das weiß ich leider auch nicht, Sanna, aber es geschieht zu Ehren des größten Festes der Christen. Da feiern sie, dass Jesus geboren wurde. Es gibt gutes Essen, und die Kinder bekommen Geschenke.«

»Bekommen wir auch Geschenke, Khala?«

»Nein, weil ihr keine Christen seid. Ihr bekommt die Geschenke nach dem Ramadan, das weißt du doch.«

Bassam tunkte sein Brot nachdenklich in den Humus und überlegte kurz, ob er vom Nikolaustag in seiner Schule erzählen sollte. Da hatte er auch ein Geschenk bekommen, ein kleines Säckchen mit einer Mandarine, Schokolade, Nüssen und einem kleinen Buch. Die Mandarine und die Schokolade hatte er sofort gegessen, die Nüsse seinem Sitznachbarn geschenkt, Nüsse mochte er nicht. Das kleine Büchlein über einen Heiligen namens Nikolaus hatte er neben seinem Bett liegen, und immer vor dem Einschlafen las er ein wenig darin.

»Ihr solltet dann heimgehen, Kinder.« Die Tante unterbrach seine Gedanken. »Es wird früh dunkel, und kälter wird es auch.«

»Ja, Tante. Wir gehen gleich.«

Daraufhin stand Tante Nasrim auf und packte Bassams Umhängetasche voll mit allerlei Essen und Naschereien. Vom mitgebrachten Brot schnitt sie noch zwei dicke Scheiben ab, bestrich sie mit Butter und steckte sie in die Tasche des Jungen.

Die Tante küsste beide Kinder und schob sie zur Tür hinaus, nicht ohne sie vorher zu ermahnen, nicht zu trödeln, mit keinem Fremden zu sprechen und auf dem kürzesten Weg nach Hause zu gehen.

Viel kälter war es geworden, seit sie von zu Hause aufgebrochen waren, auch war der Himmel nicht mehr blau mit dünnen Wolken, vielmehr war alles wie von einem grauen Tuch bedeckt. Der Wind pfiff kalt durch die Gasse, und Bassam wies seine kleine Schwester an, ihre Hände in die Jackentasche zu stecken, sie hatten beide ihre Handschuhe vergessen.

Zum Glück kam die Straßenbahn rasch und die Kinder stiegen ein. Diesmal waren nicht viele Leute unterwegs, sie bekamen sogar einen Sitzplatz, Sanna rutschte ans Fenster und drückte ihre Nase gegen die kalte Scheibe.

Nach einer Weile schob Bassam seine Schwester zur Seite, wischte mit dem Jackenärmel die angelaufene Scheibe sauber und versuchte zu erkennen, wo sie gerade waren. Die Fahrt kam ihm viel zu lange vor, sie hätten längst an der Umsteigestelle sein müssen. Als er bemerkte, dass keine anderen Menschen mehr im Wagen waren, sie und der Fahrer waren die Einzigen, blieb die Straßenbahn auch schon stehen, und die Türen gingen auf. Durch den Lautsprecher schallte eine Ansage, aber Bassam verstand kein Wort und beschloss, einfach sitzen zu bleiben und abzuwarten.

Der Fahrer öffnete die kleine Tür und kam nach hinten in den Wagen. Sanna hielt Bassams Hand und schaute den Mann neugierig an, der sich vor die Kinder stellte und zu reden begann. Bassam verstand nur wenige Worte, kaputt, Garage, aussteigen. Der Fahrer deutete mit dem Arm in Richtung Tür, und da packte Bassam seine kleine Schwester und sprang mit ihr aus dem Wagen.

Sie standen in einer Halle, in der sich lauter Straßenbahnen befanden, wahrscheinlich war das eine Art Garage für Straßenbahnen, dachte Bassam und ging zielstrebig in Richtung Ausgang.

»Komm Sanna, komm mit, wir müssen zurück, damit wir den richtigen Weg finden.«

»Ja, Bassam.«

»Wir suchen uns einfach die Station in die andere Richtung und fahren wieder zurück. Dann erkenne ich es bestimmt wieder, und ich weiß, wo wir umsteigen müssen.«

»Ja, Bassam.«

Die Mutter hatte ihm genau zwei Straßenbahnfahrscheine mitgegeben, einen für die Hinfahrt, einen für die Rückfahrt. Sanna war noch klein, sie brauchte keinen. Doch er wusste – die Mutter hatte es ihm erklärt –, dass ein Fahrschein immer nur in eine Richtung zählte, er hatte seinen schon entwertet, das Zurückfahren war also verboten. Doch sie hatten keine Wahl. Er wechselte die Straßenseite, hielt dabei die kleine Schwester fest an der Hand, und nach kurzer Zeit kamen sie an eine Kreuzung mit einer Straßenbahnhaltestelle. Bassam achtete nicht auf die Nummer der Linie, er war froh, als ein Wagen um die Kurve bog und sie rasch hineinspringen konnten. Kalt war es geworden, der Wind pfiff durch ihre dünnen Jacken, wenigstens Sanna hatte eine Mütze auf. Bassam zog die Kapuze seines Pullis tief ins Gesicht.

Es waren wenige Leute in der Straßenbahn, und die Kinder setzten sich ganz nach hinten. Schließlich hatte Bassam keinen gültigen Fahrschein, da wollte er nicht in der Nähe des Fahrers sitzen. Wer weiß, vielleicht durfte der auch kontrollieren?

Lange fuhren sie. Bassam sah aus dem Fenster, verzweifelt hoffend, dass ihm irgendetwas bekannt vorkommen würde, ein Haus, ein Geschäft, eine Haltestelle. Doch genauso angespannt blickte er immer wieder zur Tür, um einen Kontrolleur gleich zu erkennen. Dass diese ganz normal aussahen, wusste er, sein Vater und er waren einmal kontrolliert worden. Der Mann damals hatte keine Uniform angehabt, war eigentlich recht freundlich gewesen. Er hatte nur kurz die Fahrscheine angesehen, genickt und war weitergegangen.

Inzwischen waren sie schon sehr lange unterwegs, und die Stadt sah ganz fremd aus. Es gab kaum Häuser, dafür viel mehr Bäume, und die Abstände zwischen den Stationen wurden länger. Plötzlich zog ihn Sanna am Ärmel und deutete begeistert nach draußen:

»Schau mal, Bassam! Es schneit!«

»Ja, Sanna, ich sehe es. Jetzt sei schön still, ich muss aufpassen, dass ich die richtige Station nicht verpasse.«

Bassam wusste längst nicht mehr, welche die richtige Station war. Er hatte keine Ahnung, wo sie sich befanden und was er jetzt tun sollte. Das Wichtigste jedoch erschien ihm, ruhig zu bleiben, damit Sanna nur keine Angst bekam. Sie vertraute ihrem Bruder vollkommen und war überhaupt nicht beunruhigt, baumelte mit ihren kurzen Beinen und zeichnete Striche an die angelaufene Fensterscheibe. Da stieg ein Mann ein, mit dicken Stiefeln und einer blauen Mütze auf dem Kopf, und als Bassam ihn erblickte, erfasste ihn Panik. Das musste einer der Kontrolleure sein, der Junge war sich sicher. Stiefel und Mütze trug er, weil er den ganzen Tag draußen unterwegs sein musste. Der Wagen stand noch in der Station, der Mann machte keine Anstalten, sich zu setzen und schaute in ihre Richtung, da packte Bassam seine kleine Schwester am Arm, riss sie vom Sitz und drückte den Knopf an der Tür. »Wir müssen hier raus, komm schnell«, rief er und sprang mit Sanna an der Hand aus dem Wagen. Hinter ihnen schlossen sich die Türen, die Straßenbahn fuhr davon.

Inzwischen war der Schneefall dichter geworden, und nun erst bemerkte Bassam, dass es fast schon dunkel war. Wie spät es wohl war? Er hatte keine Uhr und auch kein Zeitgefühl, wusste nur, dass sie längst hätten zu Hause sein müssen, die Eltern würden sich schreckliche Sorgen machen und ihn ausschimpfen.

Sanna schien das alles wenig auszumachen. Sie lachte, trat auf den weichen Flaum, suchte mit dem Fuß absichtlich jene Stellen, wo er dichter zu liegen schien, hob ihr Gesichtchen gegen den Himmel und versuchte die dicken Flocken mit der Zunge zu fangen.

Sie waren in einem Teil der Stadt, in dem Bassam noch nie gewesen war, ja, er wusste nicht einmal, dass es hier solche Gegenden gab. Es sah alles ganz anders aus als bei ihnen zu Hause. Große Häuser für reiche Leute, davor parkähnliche Gärten, riesige Bäume, die ihre kahlen Äste in den dunklen Himmel streckten.

Inzwischen fiel der Schnee so dicht, dass Sannas rote Jacke schon ganz weiß war, ihre Schuhsohlen knirschten beim Gehen, der Boden war ebenmäßig mit dem weißen Pulver bedeckt. Sie war immer noch begeistert, und Bassam war froh, dass seine kleine Schwester anscheinend keine Angst hatte, war er mit seiner eigenen Angst doch schon beschäftigt genug.

Der Weg führte ein wenig aufwärts, und warum Bassam in diese Richtung ging, konnte er nicht sagen. Vielleicht dachte er, dass man von oben einen Überblick haben und er dann den Weg nach Hause finden würde. Hinter ihnen sah man die Fußspuren nur noch ganz kurze Zeit, so rasch wurden sie vom Schnee bedeckt.

»Ich sehe keine Häuser mehr, Bassam.«

»Vielleicht sind nur die Gärten hier so groß, dass wir sie wegen des Schneiens nicht sehen können.«

»Ja, Bassam.«

»Wir werden jetzt den Weg zurückgehen und die Straßenbahn suchen. Ich habe zwar keinen Fahrschein mehr, aber ich kann ja den Leuten erzählen, dass wir uns verlaufen haben.«

»Wo sind wir denn, Bassam?«

»Ich weiß es nicht, aber ich bring dich schon heim.«

»Ja, Bassam.«

Doch sie fanden nicht mehr zurück zur Station, rings um sie herum war nichts als das brennende Weiß, überall das Weiß, das einen immer kleineren Kreis um sie zog und dann in einen lichten, streifenweise niederfallenden Nebel überging, der alles Weitere verhüllte.

Irgendwo waren die Kinder falsch abgebogen, und so liefen sie immer weiter weg von der Station, deren Straßenbahn sie wieder zurück in die Stadt gebracht hätte. Niemand war auf den Straßen, sie sahen kaum Häuser und stapften leicht bergan durch das dichte Schneetreiben. Das kleine Mädchen ging ohne Murren neben Bassam, bemüht, mit ihm Schritt zu halten. Er wechselte immer wieder die Hand und wies seine kleine Schwester an, die andere in die Jackentasche zu stecken, damit sie nicht zu kalt werde. Irgendwann blieb er stehen, hängte seinen Anorak an einen Gartenzaun, befahl Sanna, es ihm mit ihrem Jäckchen gleichzutun, schlüpfte aus seinem Kapuzenpulli und streifte ihn Sanna über den Kopf, bevor er die Jacke wieder über sein T-Shirt zog. »Der ist mir doch viel zu groß«, kicherte sie und schlenkerte mit den Ärmeln. »Das macht nichts«, sagte Bassam, half ihr, die Jacke wieder anzuziehen, und klopfte den nassen Schnee von ihrer Mütze. »Steck jetzt schön deine Hände in die Ärmel, sonst erfrieren sie.«

Inzwischen war es ganz und gar dunkel geworden, die Kinder wussten nicht, wie lange sie schon unterwegs waren, und vor allem Sanna war erschöpft. »Sind wir bald zu Hause?«, fragte sie den Bruder, der erneut versuchte, sie zu beruhigen. Längst hatte er keine Ahnung mehr, wo sie sich befanden, es sah hier überhaupt nicht mehr nach Stadt aus. Überall waren hohe Bäume, und nur selten sahen die Kinder ein Haus weit hinten in einem der parkähnlichen Gärten.

»Können wir nicht irgendwo klingeln und dann Mama anrufen?« Sanna war stehen geblieben und starrte durch ein hohes schmiedeeisernes Tor in einen Garten. Leuchtete da ein Fenster durch das Schneegestöber?

»Nein, Sanna, das können wir nicht.«

»Warum nicht?«

»Sie mögen uns nicht.«

»Wer mag uns nicht?«

»Die Österreicher, die hier wohnen. Sie mögen uns nicht. Das sagt die Mama immer.«

»Sie kennen uns gar nicht!«

»Das ist, weil wir Ausländer sind. Flüchtlinge.«

Bassam nahm Sanna noch fester an die Hand und führte sie schnellen Schrittes vom Zaun weg. Sie zog die Schultern hoch und folgte ihm.

Nur noch wenige Häuser sah man jetzt, und in der letzten Stunde war kein einziges Auto an ihnen vorbeigefahren. Sanna schien im Gehen zu schlafen und setzte müde einen Fuß vor den anderen; und so stark Bassam auch war, er konnte seine Tränen kaum mehr zurückhalten.

»Schau mal, Bassam, da vorne sind lauter kleine Lichter.«

»Wo denn, Sanna?«

»Na, da.« Sie war stehen geblieben und wies mit dem Arm nach vorne, der lange Ärmel baumelte nach unten.

Nun sah auch Bassam die vielen kleinen Lichter, die zwischen den Schneeflocken und der Dunkelheit flackerten, und ohne zu wissen, was das war, wurden die Kinder magisch davon angezogen. Als sie durch das schmiedeeiserne Tor getreten waren, blieben sie nach wenigen Schritten stehen und sahen sich um. Soweit das Auge reichte, sah man Steine, dazwischen Kreuze, die sich dunkel, fast schwarz gegen den Himmel abhoben. Und überall kleine Lichter, die flackernde Schatten auf die Steine warfen.

»Bassam, was ist das?«

»Das ist ein Friedhof, Sanna.«

»Was ist ein Friedhof?«

»Da werden die Toten begraben. Weißt du das denn nicht?«

»Doch, schon. Aber ich hab noch nie einen gesehen.«

Bassam überlegte kurz, dann fiel ihm ein, dass er in seiner alten Heimat öfter mit seiner Großmutter auf dem Friedhof gewesen war, um das Grab seines Großvaters zu besuchen. Sanna war damals noch gar nicht auf der Welt oder zu klein gewesen; und in ihrer neuen Heimat gab es kein Grab, das sie besuchen konnten.

»Schau mal, wie schön das ist.« Sanna ließ Bassams Hand los und lief ohne Furcht zwischen den Gräbern davon. »Die Lichter, sie flackern so schön.«

»Sanna! Komm zurück! Es ist dunkel, du könntest verloren gehen. Das ist gefährlich!« Bassam rannte ihr nach, und seine Stimme war voller Angst.

Da holte er sie ein, und beide Kinder fanden sich am Abgrund einer tiefen Grube wieder. Sanna wankte ein wenig, Bassam zog sie zurück.

»Schau, ich sage ja, das ist gefährlich. Wir könnten in eine Grube fallen, dann tun wir uns weh und kommen nicht mehr raus. Weine nicht, ich bitte dich, weine nicht. Wir suchen uns einen trockenen Platz, und dann essen wir die Dinge, die uns die Khala mitgegeben hat.«