Wenn es Frühling wird in Wien - Petra Hartlieb - E-Book
SONDERANGEBOT

Wenn es Frühling wird in Wien E-Book

Petra Hartlieb

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 7,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Wien, 1912. Nach einer Kindheit in Armut hat Marie Haidinger es geschafft. Seit wenigen Monaten ist sie Kindermädchen in der Sternwartestraße 71 – dem Haushalt des berühmten Schriftstellers Arthur Schnitzler im gediegenen Cottage-Viertel. Als sie für ihren Dienstherrn in der nahe gelegenen Buchhandlung auf der Währinger Straße ein Buch abholt, lernt sie eine völlig neue Welt kennen: Die Welt der Bücher. Und Oskar, den ebenso charmanten wie mittellosen Buchhändler, der ihr schon bald Avancen macht. Aber meint Oskar es auch ernst mit ihr? Wie brüchig das Glück sein kann, wird Marie klar, als Sophie, das Dienstmädchen der Schnitzlers, nach einer Abtreibung fast stirbt. Und als sie zufällig mithört, dass der Hausherr Oskar spätabends im feinen »Sacher« gesehen hat – in Begleitung einer überaus hübschen jungen Dame … Vor dem Hintergrund der Werke Arthur Schnitzlers und genau recherchierter historischer Ereignisse lässt Petra Hartlieb das Wien des großen Dichters wiederauferstehen – vom Dienstbotentrakt bis in die glamourösen Salons der freigeistigen Intellektuellen der Zeit.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 220

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Sammlungen



Wien, 1912

Marie ist erst seit wenigen Monaten Kindermädchen im Haushalt des berühmten Dichters Arthur Schnitzler. Als sie für ihren Dienstherren ein bestelltes Buch abholt, lernt sie eine völlig neue Welt kennen: die Welt des Lesens. Und Oskar, den ebenso charmanten wie mittellosen Buchhändler …

Credit: © www.sebastianreich.com

PETRA HARTLIEB wurde 1967 in München geboren und ist in Oberösterreich aufgewachsen. Sie studierte Psychologie und Geschichte und arbeitete danach als Pressereferentin und Literaturkritikerin in Wien und Hamburg. 2004 übernahm sie eine Wiener Traditionsbuchhandlung, vormals »Buchhandlung Friedrich Stock« im Stadtteil Währing. Sie heißt heute »Hartliebs Bücher«. Davon erzählt ihr 2014 bei DuMont erschienener Bestseller ›Meine wundervolle Buchhandlung‹. In ›Wenn es Frühling wird in Wien‹ spielt diese Buchhandlung erneut eine zentrale Rolle.

›Wenn es Frühling wird in Wien‹ ist die Fortsetzung des 2016 erschienenen Romans ›Ein Winter in Wien‹.

petra hartlieb

WENN ES FRÜHLINGWIRDIN WIEN

eBook 2018 © 2018 DuMont Buchverlag, Köln Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln Umschlagabbildung: © EnginKorkmaz – Depositphotos.com Satz: Angelika Kudella, Köln eBook-Konvertierung: CPI books GmbH, LeckISBN eBook 978-3-8321-8997-6

www.dumont-buchverlag.de

FÜR MEINE KOLLEGINNEN UND KOLLEGEN:Alex, Anna, Barbie, Berna, Elodie, Eva, Hanna, Jakob, Lena, Livia, Peter, Silvia und Teresa.

DIE SCHUHE WAREN mindestens eine Nummer zu klein. Marie musste ganz vorsichtig gehen, damit sie nicht stolperte. Vor allem der Teppich bereitete ihr Schwierigkeiten und sie konnte gar nicht anders, als sich an Oskars Arm festzuhalten. Das Mieder war viel zu eng, sie war so ein Ding gar nicht gewöhnt. Die Köchin hatte sie reingeschnürt und dreimal nachgefragt, ob sie sicher sei, sich das antun zu wollen. »Ja, zieh fest zu, ich will wie eine feine Dame ausschauen.«

Hoffentlich wurde ihr nicht schwindlig, schließlich konnte sie die Schnüre alleine nicht lockern.

Oskar schritt über die große, mit rotem Teppich ausgelegte Treppe, als wäre das alles völlig normal für ihn. Das riesige Stiegenhaus, die vielen Gemälde, die Marmorstufen, all das schien ihn nicht wirklich zu beeindrucken.

Nachdem ein Herr in einer schwarzen Livree ihre Karten abgerissen hatte, führte Oskar sie in den Zuschauerraum des k. k. Hofburgtheaters. Er schien zu spüren, wie der Raum auf Marie wirkte, knapp hinter dem Einlass blieb er stehen und beobachtete sie, wie sie sich mit offenem Mund und großen Augen umblickte. Die mit rotem Samt bezogenen Sessel, die üppig verzierten Logen, die vielen Lichter überall und der riesige Kristallluster in der Mitte des Saals. So einen Prunk hatte sie, das Mädchen vom Land, noch nie gesehen.

»Verzeihen Sie, Sie können hier nicht stehen.«

»Pardon, darf ich bitte durch?«

»Gestatten?«

Die beiden wurden von den anderen Gästen ins Innere des Raumes geschubst und Marie hielt die abgerissenen Karten fest in der Hand. Oskar hatte darauf bestanden, dass sie sie an der Tür vorzeigte, obwohl Marie ihm den Umschlag bereits in der Tramway in die Hand hatte drücken wollen.

»Das sind deine Karten. Du hast sie geschenkt bekommen und du nimmst mich freundlicherweise mit. Also behältst du die Karten auch.«

Seitdem hielt Marie die beiden kleinen Papierstreifen fest in der Hand. Nur als sie kontrolliert und abgerissen wurden, ließ sie sie kurz los.

»Wo sind unsere Plätze?« Oskar hielt ihre Hand immer noch fest.

»Ich weiß es nicht.« Marie sprach ganz leise.

»Du musst auf die Karten schauen, da steht’s.«

Mein Gott, wie dumm sie sich vorkam. Ein dummes, kleines Kindermädchen vom Land, das Dame spielen wollte. Und ins Theater ging. Wahrscheinlich hatten die feinen Leut’ sie alle längst bemerkt und tratschten über sie. Rasch las sie vor: »Fünfte Reihe, Platz sechs und sieben.«

»So teure Plätze hatte ich noch nie!« Oskar zog sie begeistert weiter und sie suchten die fünfte Reihe.

Marie war froh, als sie sich setzen konnte, die Schuhe drückten unangenehm und durch das enge Mieder war sie doch ein wenig kurzatmig.

»Und?« Oskar strahlte sie an, als würde das alles ihm gehören und er es ihr stolz präsentieren.

»Es ist … es ist … überwältigend.«

»Ja, das stimmt. Ich kann mich so gut daran erinnern, wie ich das erste Mal hier war.«

»Wann war das?«

»Ich weiß es genau. Ich war siebzehn. Herr Stock hat mir die Karte zum Geburtstag geschenkt, allerdings Stehplatz. Nicht so nobel wie dein erster Theaterbesuch.«

»Tja, ich kann’s mir ja leisten«, lachte Marie, die sich inzwischen ein wenig entspannt hatte. Die Theaterkarten, die der Herr Doktor ihr zu Weihnachten geschenkt hatte, kosteten fast so viel, wie sie in einem Monat in seinem Haushalt als Kindermädchen verdiente.

»Ja, du bist eine feine Dame und ich nur ein einfacher Buchhändler, da hab ich richtig Glück, dass du mich mitnimmst.«

Inzwischen hatten alle ihre Plätze eingenommen, nur hier und da huschten noch ein paar Menschen durch die Gänge, ein Klingeln ertönte und Oskar drückte ihre Hand und flüsterte: »Pst. Es geht los.«

Marie war wie gebannt. Sie sog die Bilder in sich auf, versuchte jede Szene zu verstehen und gleichzeitig dachte sie immer wieder an ihren Dienstherrn, aus dessen Feder diese Worte geflossen waren. Es war schier unvorstellbar: All das, was sie hier auf der Bühne sah, war zuerst im Kopf des Herrn Doktor Schnitzler gewesen, dann hatten es diese wunderbaren Menschen da vorne auswendig gelernt und erzählten es jetzt für sie. Ja, Marie hatte das Gefühl, dass die Bleibtreu und der Korff diese Sätze nur für sie sprachen, sie vergaß die Menschen rundherum. Sogar, dass Oskar neben ihr saß, war ihr gar nicht mehr bewusst, und als hinter ihr ein älterer Herr einen Hustenanfall bekam, schreckte sie hoch und drehte sich vorwurfsvoll um.

Sie war hellwach und hatte die Augen weit geöffnet. Sie wollte nichts verpassen, jedes Wort, jede kleine Geste nahm sie in sich auf und hoffte, sich alles für immer merken zu können.

Dabei war der Tag sehr lang gewesen und am frühen Abend war sie so müde gewesen, dass sie Angst gehabt hatte, sie würde im Theater einschlafen, sobald die Lichter ausgingen.

Lili war bereits um halb sechs hellwach und Marie hatte große Mühe, die aufgeweckte Zweijährige ruhig zu halten. Die gnädige Frau war immer sehr grantig, wenn sie zu früh geweckt wurde, und nachdem Marie aus dem Arbeitszimmer des Herrn Doktor spätnachts noch Licht gesehen hatte, nahm sie an, dass auch er noch schlief. Marie war ebenfalls viel zu spät eingeschlafen. Ständig hatte sie an den bevorstehenden Theaterbesuch und an Oskar gedacht. Einmal war sie mitten in der Nacht aufgestanden und hatte kontrolliert, ob die beiden Theaterkarten noch auf der Kommode lagen.

Diese beiden Karten für das k. k. Hofburgtheater waren das Kostbarste, das Marie jemals besessen hatte. Als ihr der Herr Doktor diesen Umschlag zu Weihnachten in die Hand gedrückt und Heini sie genötigt hatte, das Kuvert vor ihrer aller Augen zu öffnen, hatte sie zu weinen begonnen, weil sie so glücklich gewesen war. Lili war auf einen Sessel geklettert und hatte Marie mit ihrer kleinen, klebrigen Hand die Tränen weggewischt und der neunjährige Heini hatte sich fast ein wenig über Maries Gefühlsausbruch erschrocken.

Heute waren die Kinder trotz der morgendlichen Dunkelheit früh aufgestanden. Heinrich war in gedrückter Stimmung, weil seine Eltern für ein paar Tage nach Salzburg reisten, die gnädige Frau war übellaunig, schimpfte beim Kofferpacken ständig mit dem Dienstmädchen, ja sogar die gutmütige Anna, die in der Küche den Herrschaften eine kleine Jause für die Reise bereitete, war grantig.

Endlich fuhren Herr und Frau Schnitzler ab, und als sie ins Autotaxi stiegen, das sie zum Bahnhof bringen sollte, stand Marie mit Lili auf dem Arm an der Haustür. Die Kleine winkte dem schwarzen Wagen nach, bis er aus der Sternwartestraße verschwunden war. Heini war natürlich viel zu groß für so ein albernes Winken und hatte sich zu Anna in die Küche verzogen.

»So, jetzt trinken wir erst mal einen guten Kaffee!« Anna war sichtlich erleichtert, dass die Herrschaften endlich weg waren und Ruhe ins Haus einkehrte. »Heini, bist du so lieb und schaust mit der Lili ein Buch an? Ich muss noch was mit Marie besprechen.«

»Nein, ich will bei euch bleiben!« Heinrich blickte die Köchin finster an.

Die lachte nur und schob die beiden aus der Küche. Marie bewunderte sie für ihre Autorität und dafür, dass die Kinder sie einfach immer respektierten.

»Dafür spiel ich gleich mit dir Mensch-ärgere-dich-nicht«, sagte Marie, stellte zwei Kaffeetassen auf den Tisch und schloss die Tür hinter ihnen.

»Weißt du schon, was du anziehst?«

»Heute? Fürs Theater?«

»Natürlich, Herzchen. Wohl kaum fürs Mensch-ärgere-nicht-Spielen. Ach, ich bin ganz aufgeregt, ich würde da nicht hingehen, ich tät mich das nicht trauen.«

»Ja, ja, mach mir nur noch mehr Angst, ich hab eh schon die ganze Nacht kein Auge zugetan.«

»Ach, das wird schön, du wirst wie eine feine Dame aussehen und der Oskar ist ja ein galanter Bursche.«

»Ja, aber er kennt sich so gut aus mit dem Theater und ich bin ein ungebildetes Bauernmädel.«

»Er wird dich nicht abprüfen danach. Geht ihr dann eigentlich noch aus?«

»Ich glaube nicht. Das schickt sich nicht, so spät in der Nacht. Außerdem muss ich ja heim zu den Kindern.«

»Die Herrschaften sind nicht da und ich pass schon auf, dass den Kindern nichts passiert.«

Marie konnte heute nur ins Theater gehen, weil die Köchin angeboten hatte, die Kinder zu übernehmen. Sie war es auch gewesen, die die Herrschaften gefragt hatte, ob Marie für den Theaterbesuch an diesem Abend ausnahmsweise frei bekommen könne. Denn auch wenn Herr und Frau Schnitzler nicht im Haus waren, wollten sie sicher sein, dass sie sich keine Beschwerde einhandelten, wenn Marie ausging, obwohl es nicht ihr freier Abend war.

»Gehen Sie nur, meine Liebe. An diesem Tag spielt die Bleibtreu, sie ist die bessere Besetzung.« Der Doktor hatte wohlwollend genickt, als Anna ihm die Bitte vorgetragen und Marie stumm danebengestanden hatte.

Der Tag zog sich endlos dahin, draußen war es nass und kalt und die Kinder wollten das Haus nicht verlassen. Als Lili ihr Mittagsschläfchen hielt, überredete sie Heini, in seinem neuen Karl May zu lesen, und Marie legte sich für eine halbe Stunde aufs Kanapee im Kinderzimmer.

Natürlich waren beide Kinder dabei, als sie ihre Toilette machte, und als sie ihr einziges gutes Kleid anzog, sah Heinrich sie skeptisch an. »Die Kleider von der Mama sind aber irgendwie anders«, meinte er vorsichtig.

»Ja, Heini, deine Mama ist auch eine feine Dame und ich bin nur ein Kindermädchen.«

»Aber heute bist du auch eine feine Dame!« Heinrich schlang seine Arme um sie und drückte sein Gesicht in ihren Schoß. Da schossen Marie gleich wieder die Tränen in die Augen vor lauter Rührung. Was hatte sie nur für ein Glück, dass sie diese Stellung bekommen hatte! In diesem schönen Haus mitten im Cottageviertel, mit Dienstherren, die sie gut behandelten, und den reizenden Kindern, die ihr vom ersten Tag an so zugetan waren.

»Du könntest dir doch ein Kleid von der Mama ausborgen«, schlug Heini vor.

»Nein, Heini, das kann ich nicht. Erstens gehört sich das nicht und zweitens würde es mir nicht passen. Deine Mama ist doch viel größer als ich.«

»Und dicker auch«, kicherte Heini und das wiederum steckte Lili an und sie krähte fröhlich vor sich hin: »Dicker, dicker, dicker.«

Eine halbe Stunde bevor Oskar sie abholen kam, saß sie fix und fertig in der Küche und traute sich nicht mal mehr ein Glas Wasser zu trinken. »Stell dir vor, ich muss im Theater aufs Klo!«

»Na ja, die werden auch Toiletten haben. Selbst die feinen Leut’ müssen manchmal aufs Klo.«

Pünktlich um sechs klingelte es und Oskar stand vor der Tür. Er küsste Marie die Hand und die Köchin wurde mit einer tiefen Verbeugung bedacht.

»Wunderschön siehst du aus.«

»Findest du? Danke.« Marie warf noch einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel, bevor sie sich ihren Mantel umwarf. Das Sonntagskleid war schlicht, aber es hatte einen guten Schnitt und betonte Maries zierliche Figur. Im letzten Moment hatte Anna noch einen Riss im Saum entdeckt und ihn kunstvoll geflickt. Gestern hatte sich Marie die Schuhe vom Kindermädchen der Schmutzers von gegenüber ausgeborgt. Sie waren zwar eine Nummer zu klein, aber ihre eigenen Sonntagsschuhe erschienen ihr zu klobig und trotz des mehrmaligen Polierens bekam Marie sie nicht mehr zum Glänzen.

»Hast du die Karten?«

»Jessas, die Karten!« Vor lauter Aufregung hatte Marie den Umschlag in ihrem Zimmer liegen gelassen. Heini rannte schnell die Treppe hoch und holte ihn.

»So, Kinder. Ihr seid schön brav und folgt der Anna. Ich komme bald wieder und dann erzähl ich euch alles. Gute Nacht.«

Nun saß sie also hier, in diesem wunderschönen Theater, umgeben von lauter feinen, gebildeten Menschen. Die Müdigkeit war wie weggeblasen und sie musste sich beherrschen, nicht ganz aufrecht im Theatersessel zu sitzen. Natürlich bemerkte sie, dass Oskar sie immer wieder von der Seite ansah, einmal strich er ihr eine Haarsträhne aus dem erhitzten Gesicht.

In der Pause verließen die beiden den Theatersaal und gingen über eine verwinkelte Treppe nach oben, wo an kleinen Stehtischen Leute standen und sich angeregt über das Stück unterhielten. Oskar fragte, ob sie etwas trinken wolle, doch Marie lehnte ab. Sie stellten sich an eines der großen Fenster. Die Schuhe drückten inzwischen schmerzhaft und sie lehnte sich ein wenig an Oskar, der ganz vorsichtig einen Arm um ihre Schultern legte.

»Und? Gefällt es dir?«

»Ja. Sehr.« Marie drückte seine Hand. »Ich bin wirklich im Theater, ich kann’s kaum glauben. Wenn das meine Oma wüsste.«

»Wieso deine Oma?«

»Ich hab meine Oma schon seit vielen Jahren nicht mehr gesehen. Ich weiß gar nicht, ob sie noch lebt. Aber wie ich damals vom Hof wegmusste, da hab ich ihr versprechen müssen, dass ich einmal ein Theater besuche. Und jetzt bin ich da.« Als Marie an ihre Großmutter dachte, traten ihr die Tränen in die Augen, sie blickte starr aus dem Fenster und betrachtete das Rathaus gegenüber, ohne es wirklich zu sehen. Sie hoffte, dass Oskar ihre Tränen nicht bemerkte. Er schien es zu spüren, sagte nichts und hielt sie noch ein wenig fester im Arm.

Sie wanderten auf dem breiten Gang hin und her, schauten sich die Gemälde berühmter Schauspieler an, die die Wände verzierten, und Marie versuchte, nicht an ihre schmerzenden Füße und die volle Blase zu denken, als ein Klingeln das Ende der Pause anzeigte.

»So, jetzt wird es dramatisch«, sagte Oskar und führte sie zielgerichtet über eine andere Stiege wieder nach unten zu ihren Plätzen.

ANNA HATTE DAS kleine Licht im Vorzimmer brennen lassen, ansonsten war es still und dunkel im Haus.

Mein Gott, wie war Marie froh, aus diesen Schuhen zu schlüpfen, ihre Fersen brannten, wahrscheinlich hatte sie auf beiden Seiten eine dicke Blase. Sie hängte den Mantel ordentlich auf und legte den Hut auf die Ablage, bevor sie in die Küche ging und ganz leise den Teekessel auf den Herd setzte. Ins Bett konnte sie jetzt noch nicht gehen, so aufgewühlt, wie sie war, war an Einschlafen sowieso nicht zu denken.

Sie hatte zum ersten Mal eine Verabredung gehabt! Abgesehen von den zwei Spaziergängen, die sie bisher mit Oskar im Türkenschanzpark unternommen hatte. Aber da war es schließlich Nachmittag gewesen und sie hatten gerade mal eine Stunde gedauert.

Sie goss Tee auf und schlich schnell aufs Klo. Wie sie das Problem mit dem Mieder lösen würde, wusste sie noch nicht, Hauptsache, sie war die Schuhe los und konnte sich erleichtern. Marie war nicht sicher, was aufregender war: dass sie abends ein echtes Rendezvous gehabt hatte oder dass sie im Theater gewesen war. Und zwar nicht in irgendeinem Bauerntheater, sondern im k. k. Hofburgtheater, wo die Karte fast so viel kostete, wie sie verdiente, und jedes Wort, das die Schauspieler auf der Bühne gesprochen hatten, aus der Feder ihres Dienstherrn stammte.

»Was sitzt du denn da im Dunkeln?«

Marie fuhr zusammen. Trotz ihrer Leibesfülle war die Köchin unbemerkt in die Küche getreten.

»Mein Gott, hast du mich erschreckt. Wieso schläfst du nicht? Geht’s den Kindern gut?« Marie war aufgesprungen und wollte schon an Anna vorbei zur Tür hinaus.

»Bleib da, Herzchen, natürlich geht’s den Kindern gut. Ich bin bloß neugierig. Wie war es denn?« Anna goss sich Tee ein und stellte einen Teller mit Keksen auf den Küchentisch, bevor sie sich mit einem zufriedenen Seufzer setzte.

»Hach, es war wunderschön!«

»Ja, und?«

»Was, und?«

»Ein bisschen mehr musst schon erzählen! Wie ist das Theater? Waren nur feine Leut’ da? Was haben die Damen angehabt? Um was geht es in dem Stück? Hast du alles verstanden? Habt ihr euch geküsst?« Anna beugte sich erwartungsvoll vor und steckte sich einen Keks in den Mund.

»Was du alles wissen willst! Da sitzen wir ja die ganze Nacht. Du musst mir zuerst mal das Mieder ein wenig aufschnüren, ich krieg gar keine Luft.«

Sie saßen bis spätnachts in der Küche und Marie erzählte, beschrieb die Marmortreppe und die Gemälde an den Wänden, die mit rotem Samt bezogenen Sitzplätze und die große Bühne – »Weißt du, Anna, das ist nicht einfach nur so ein Podest, wie du es vom Kirtag kennst, das ist eine riesige Fläche, die geht so weit nach hinten, dass du gar nicht so weit schauen kannst«. Sie erzählte von den schicken Kleidern der Herrschaften und wie Oskar weltmännisch ihre Mäntel an der Garderobe abgegeben hatte und davon, dass sie sich gar nicht so unwohl gefühlt habe zwischen all den noblen Leuten. »Nur auf’s Klo hab ich mich nicht getraut und die Schuhe haben schrecklich gedrückt.«

»Und das Stück? Wie hat’s dir gefallen? Hast du alles verstanden? Und was soll das überhaupt heißen: Das weite Land?«

»Das heißt, dass die Seele ein weites Land ist. Das Stück ist – na, wie soll ich sagen? – irgendwie traurig.«

»Traurig? Wieso traurig?«

»Ja, weißt du, das sind lauter Menschen, die eigentlich alles haben, aber nicht zufrieden sind. Paare, die sich betrügen und zusammen in den schönsten Häusern wohnen und in den besten Hotels Urlaub machen, sich aber ständig belügen und betrügen. Dieser Friedrich Hofreiter, der hat ständig Gschichtln mit anderen Weibern und seine Frau weiß es sogar, aber der ist es irgendwie egal und sie hat auch einen Verehrer, der bringt sich sogar um. Also eigentlich ist alles schrecklich. Und dass sich das der Doktor ausgedacht hat – kaum zu glauben.«

»So viel hat der sich da gar nicht ausgedacht.«

»Wie meinst du das?«

»Der war nicht immer so brav. Der hat schon einige Herzen gebrochen, das sag ich dir, bevor ihn die gnädige Frau an die Leine gelegt hat.«

»Das kann ich mir gar nicht vorstellen.«

»Mir hat das Mädchen vom Salten erzählt, dass er sogar mal ein Kind gehabt hat mit einer anderen. Aber das hat er nie anerkannt und es ist gestorben. Die Frau auch, ein paar Jahre später. An einer Blinddarmentzündung, sagt man. Aber wahrscheinlich an gebrochenem Herzen.«

Marie wollte das alles gar nicht wissen. Sie verehrte den Herrn Doktor Schnitzler, sie fand ihn klug und gerecht, und wie er mit seinen Kindern umging, war einfach nur anbetungswürdig. Der Spaß, den er mit der kleinen Lili hatte! Selten ließ er eine Gelegenheit aus, sie auf den Arm zu nehmen, und hörte immer aufmerksam zu, wenn sie ihre drolligen Geschichten erzählte oder irgendwelche Lieder sang, die sie aufgeschnappt hatte. Mit Heini machte er regelmäßig Spaziergänge, unterhielt sich mit ihm wie mit einem Erwachsenen, über griechische Götter, Elektrizität, Astronomie und viele andere Themen.

Bei Marie zu Hause war es völlig anders gewesen. In letzter Zeit musste sie wieder oft an ihren Vater denken, an seine Gleichgültigkeit den Mädchen gegenüber. Selten richtete er das Wort an sie, eigentlich nur, wenn er seine knappen Befehle austeilte. Wie sehr sie ihn gefürchtet hatte! Viele Male hatte er sie mit dem Handrücken ins Gesicht geschlagen, einfach so, im Vorübergehen, scheinbar ohne Grund. Heini und Lili hingegen traten ihrem Vater vollkommen unbefangen gegenüber, ganz ohne Furcht. Er interessierte sich für sie und ihre kleinen Sorgen, ja, Heini behandelte er sogar wie einen kleinen Erwachsenen, mit Respekt und Wertschätzung. Was Anna über das Liebesleben des Herrn Doktor erzählte, konnte sie sich gar nicht vorstellen. Wahrscheinlich war das nur dummer Dienstbotentratsch. Eines wusste sie jedenfalls mit Sicherheit: Sie würde auch Kinder haben, am besten zwei, so wie die Familie Schnitzler, einen Buben und ein Mädchen. Nicht so einen Haufen Kinder, wie sie zu Hause gewesen waren, sodass die Eltern sogar ihre Namen verwechselten. Zu ihren Kindern würde sie liebevoll und aufmerksam sein.

DIE KINDER WAREN ganz aufgeregt, denn die Eltern hatten per Telegramm angekündigt, am Abend aus Salzburg zurückzukehren.

Abfahrt am Nachmittag Stop

Kommen an, wenn Ihr schon schlaft Stop

Sehen uns morgen früh Stop

1000 Küsse

Mutter und Vater

Marie hatte große Mühe, Heini und Lili ins Bett zu bringen, sie wollten um jeden Preis auf die Ankunft der Eltern warten.

»Ich bin noch gar nicht müde«, sagte Heini, als Marie ihn mehrmals aufforderte, den Schlafanzug anzuziehen. »Und ich muss mein Klavierstück noch mal üben, die Mama hat doch morgen Geburtstag.«

»Du kannst es schon ganz wunderbar, Heini. Und jetzt musst du ins Bett, morgen ist Schule.« Marie versuchte, eine gewisse Strenge in ihre Stimme zu legen. Sie tat sich immer so schwer damit, den Kindern etwas abzuschlagen. Lili wollte sich partout keine neue Windel anziehen lassen, lachend hüpfte sie auf dem Kanapee im Kinderzimmer auf und ab, und als das Kindermädchen sie auffing und festhielt, fing die Kleine laut an zu kreischen.

Endlich – eine halbe Stunde nach der üblichen Bettgehzeit – hatte Marie Lili ins Gitterbettchen verfrachtet. Sie musste die Lieblingsschlaflieder mehrmals singen. Als Lili endlich eingeschlafen war, räumte sie ein wenig auf. Sie hatte Heini erlaubt, noch zu lesen, doch der legte immer wieder sein Buch zur Seite, setzte sich auf und sah Marie zu.

»Was ist mit dir, mein Bub?« Marie setzte sich zu ihm auf die Bettkante und strich ihm durchs Haar. »Ist dein Buch nicht spannend?«

»Doch, schon.« Er legte seine Hand in ihre und drückte sie fest. »Erzähl noch mal. Wie war das im Theater?«

»Ach, Heini. Das hab ich jetzt schon so oft erzählt.«

»Einmal noch. Bitte. Danach schlaf ich auch wirklich gleich.«

»Versprochen?«

»Versprochen.«

Und dann erzählte Marie noch einmal, wie sie mit Oskar das Theater betreten hatte, wie ihre Schuhe gedrückt hatten und sie die Karten mit feuchten Fingern dem Billeteur entgegengestreckt hatte. Als sie das Treppenhaus und den Zuschauerraum des k. k. Hoftheaters beschrieb, fiel Heini ihr ins Wort. »Nicht das. Ich weiß doch, wie es da ausschaut. Ich war doch schon ganz oft mit dem Vater da.«

»Ja, aber was willst du denn dann hören?«

»Na, über das Stück.«

»Das ist nichts für Kinder.«

»Warum nicht?«

»Das verstehst du noch nicht.«

»Ich versteh schon alles. Ich komm doch dieses Jahr aufs Gymnasium.«

»Ich weiß, mein Schatz. Du bist mein großer, gescheiter Bub. Aber über das Stück kann dir dein Vater mehr erzählen, der hat’s schließlich geschrieben.«

»Und Oskar?«

»Was ist mit Oskar?«

»Hast du ihn recht gern?«

»Heini! Das ist indiskret. So eine Frage stellt ein feiner Herr nicht.« Marie strich ihm den Scheitel glatt und drückte ihm einen Kuss auf die Stirn. »So, jetzt wird geschlafen. Morgen musst du ausgeruht sein, damit die Mama einen schönen Geburtstag hat.«

»Aber wirst du den Oskar heiraten und dann auch weggehen, wie die Hedi?« Marie war schon fast bei der Tür und Heini hatte die Frage ganz leise gestellt.

Marie kehrte an sein Bett zurück. »Daran denkst du, du Dummerchen? Nein, Heini, da brauchst du keine Angst haben. Ich kenn den Oskar gar nicht richtig, er ist mehr – na, wie ein Freund halt, weißt du? Und ich wohne sehr gern bei euch. Wer sollte denn aufpassen, dass du deine Zähne ordentlich putzt und dass die Lili nicht immer aussieht wie der ärgste Dreckspatz? Du musst keine Angst haben, dass ich weggehe.« Marie steckte seine Decke fest und drehte die kleine Nachttischlampe aus. »So. Und jetzt wird geschlafen, junger Mann. Sonst bist wieder grantig morgen früh.«

Anscheinend war es ihr gelungen, Heini zu beruhigen. Er kuschelte sich zufrieden in sein Kissen. »Gute Nacht, Fräulein Marie«, kicherte er.

»Gute Nacht, gnädiger Herr.«

FRIEDRICH STOCK SASS seit einer Woche fast gänzlich im Hinterzimmer der Buchhandlung und arbeitete mit einem Verlagsvertreter nach dem anderen die Kataloge der Neuerscheinungen durch. Oskar hielt im Laden die Stellung und hatte wenig zu tun. Bei der Inventur war alles geputzt und geschlichtet worden, die neuen Bücher waren noch nicht erschienen und nach dem Ansturm des Weihnachtsgeschäftes war es recht ruhig in dem kleinen Buchgeschäft auf der Währinger Straße.

»Schau mal, ein neuer Thomas Mann erscheint. Und da, das ist hübsch, oder?« Oskar stand in der Tür zum Büro, so konnte er die Ladentür im Auge behalten und gleichzeitig einen Blick in die Kataloge werfen. Wie jedes Jahr freute er sich auf die neuen Bücher, auf frische Ware, obwohl er von den bereits erschienenen noch längst nicht alle, die er sich vorgenommen hatte, gelesen hatte.

Stock präsentierte ihm eine bunte Doppelseite und las laut vor:

»Sie soll den Namen ›Insel-Bücherei‹ führen und freundlich ausgestattete Bändchen umfassen, die jedes 50Pfennig kosten. Sie soll kleinere Werke – Novellen, Gedichtgruppen, Essays – enthalten, die zu Unrecht in Vergessenheit geraten sind oder denen wir eine besondere aktuelle Wirkung zu geben beabsichtigen, und gelegentlich auch illustrierte Bücher. Schön, oder? Ich glaube, das wird unseren Kunden gefallen. Sie starten mit Rilke, Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke. Dann kommt Cervantes, Geschichte des Zigeunermädchens.«

Das waren die Momente, die sie beide liebten: über die Kataloge der Neuerscheinungen gebeugt, auf Entdeckungstour, sich dabei vorstellend, wie die Kunden auf die neuen Bücher reagieren würden. Die Begeisterung für schön gestaltete Bände oder das neue Buch eines Lieblingsautors konnten die beiden über die viele Arbeit und den kargen Lohn hinwegtrösten.

Als der Vertreter weg war, ging Friedrich Stock in seine Wohnung gegenüber, um einen Mittagsschlaf zu halten. »Ich fühle mich irgendwie nicht wohl, meine Erkältung geht nicht richtig weg.«

»Bleiben Sie doch zu Hause, ich komme schon allein zurecht. Die paar Kunden, die heute noch kommen, können Sie mir ruhig anvertrauen«, sagte Oskar zu seinem Chef. Friedrich Stock nahm das Angebot dankend an. »Na gut, wenn du meinst. Ach, übrigens, ich hab ganz vergessen zu erwähnen, dass wir am Freitag zum Souper eingeladen sind.«

»Wer? Wir?«

»Ja, wir beide. Beim Ehepaar Gold. Du weißt schon, die große Buchhandlung am Kohlmarkt. Ich treffe mich öfter mit ihm. Du kennst ihn doch?«

»Ja, aber warum sind wir beide eingeladen?«

»Ich weiß es auch nicht genau. Er hat extra gefragt, ob du mitkommst.«

»Sehr interessant. Na gut, warum nicht?«

»Ja, er soll eine sensationelle Köchin haben.«

»Na, dann freu ich mich.«