Sommerblau - Mia March - E-Book

Sommerblau E-Book

Mia March

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Beschreibung

Drei Frauen, drei Schicksale. Ein Sommer, der alles verändert. Blaues Meer, der Himmel in Azur und der beste Blaubeerkuchen von Maine: Der Sommer in Boothbay Harbor könnte nicht schöner sein. Doch Veronica, die in einem kleinen Diner arbeitet, kann keinen Sommer mehr genießen, seit sie vor vielen Jahren ihre neugeborene Tochter zur Adoption freigeben musste. Erst die Begegnung mit zwei Besucherinnen des kleinen Küstenstädtchens hilft ihr, wieder nach vorn zu blicken: Gemma, ungewollt schwanger, und Bea, auf der Suche nach ihrer Mutter. Im Laufe des Sommers werden die drei Frauen zu Freundinnen. Und entdecken, dass das große Glück manchmal nur einen kleinen Augenblick entfernt liegt. «Geschickt verwebt Mia March leichte und ernste Themen. Das perfekte Rezept für einen unterhaltsamen Sommerroman.» (USA Today) «Mia Marchs neuer Roman über die Schicksale dreier Frauen ist wieder ein Glückstreffer! Bewegend und dramatisch, leichtfüßig und humorvoll. Ein wahres Lesevergnügen.» (Romantic Times)

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Seitenzahl: 464

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Mia March

Sommerblau

Roman

Aus dem Englischen von Katharina Naumann und Juliane Pahnke

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

Widmung«Ich kann nicht ...1 Bea2 Veronica3 Gemma4 Bea5 Veronica6 Gemma7 Bea8 Veronica9 Gemma10 Bea11 Veronica12 Gemma13 Bea14 Veronica15 Gemma16 Bea17 Veronica18 Gemma19 Bea20 Veronica21 Gemma22 Bea23 Veronica24 GemmaEpilogBemerkung der AutorinDanksagungen
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Für meinen geliebten Max,

der aus mir eine Mutter gemacht hat.

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«Ich kann nicht die Stunde bestimmen oder den Ort oder den Blick oder die Worte, die den Grundstein legten. Es ist inzwischen zu lange her. Aber ich steckte schon mittendrin, ehe ich überhaupt wusste, dass es begonnen hatte.»

(Fitzwilliam Darcy in Stolz und Vorurteil)

 

«Mir ist klar geworden, dass ich unmöglich und grob zu dir war, als ich dich beim Turkey Curry Buffet gesehen habe. Und ich habe diesen Rentier-Pullover getragen, den meine Mutter mir am Vortag geschenkt hatte. Aber die Sache ist, also, was ich sagen will, wenngleich ziemlich unartikuliert, also, hm, tatsächlich könnte es, obwohl es nicht den Anschein hat, so sein, dass ich dich mag. Sehr sogar.»

(Mark Darcy in Bridget Jones – Schokolade zum Frühstück)

 

«Der Tatsache bin ich mir absolut bewusst: Falls ich morgen den Beruf wechsle und Astronaut werde und dann der erste Mensch auf dem Mars bin, werden die Zeitungen folgende Schlagzeile bringen: ‹Mr. Darcy auf dem Mars gelandet›.»

(Colin Firth)

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1 Bea

Der Brief, der Beas Leben verändern sollte, traf ein, als sie in der Küche von Boston’s Crazy Burger an einer Bestellung von vier Vesuv-Specials arbeitete – drei Frikadellen, die zehn Zentimeter hoch abwechselnd mit karamellisierten Zwiebeln, Speck, Schweizer Käse, Salat, Tomaten, sauren Gurken und scharfer Soße gestapelt wurden. Ihre neue Mitbewohnerin Nina, die den Sommer über zur Untermiete in dem schäbigen Drei-Zimmer-Apartment wohnte, das Bea jetzt also mit zwei Fremden teilen musste, steckte den Kopf durch die Tür und sagte, sie habe ein Einschreiben für Bea angenommen und den Brief mitgebracht, weil sie ohnehin zum Mittagessen ins Crazy Burger kommen wollte.

«Ein Einschreiben? Von wem?», fragte Bea und warf einen flüchtigen Blick auf den dicken Umschlag, während sie die karamellisierten Zwiebeln aus der Pfanne auf die Burger gleiten ließ. Mhhh. Seit drei Stunden briet sie jetzt schon Zwiebeln, und trotzdem machte der Geruch sie noch hungrig.

Nina drehte den Umschlag um. «Der Absender ist ein gewisser Baker Klein, Twelve State Street in Boston.»

Bea zuckte mit den Schultern. «Sagt mir nichts. Kannst du ihn für mich aufmachen und vorlesen? Ich hab mit diesen Burgern alle Hände voll zu tun.» Ihre Chefin Barbara wurde verrückt, wenn sich jemand anderes als die Angestellten in der Küche aufhielt, aber Bea war neugierig, was in dem dicken Brief stand. Und Crazy Barbara, wie sie ihre Chefin hinter ihrem Rücken nannten, war gerade im Büro und ging die Vorratsbestellungen durch.

«Klar», sagte Nina. Sie öffnete den Umschlag, zog einen Brief heraus und las vor: «Meine liebe Bea.»

Bea erstarrte, Salatblätter in beiden Händen. «Wie bitte?» So hatte ihre Mutter immer die Briefe angefangen, die Bea während ihrer Zeit am College von ihr bekommen hatte. «Schau doch mal nach – steht da eine Unterschrift?»

«Da steht Mommy.»

Bea hob eine Augenbraue. «Also, da meine Mutter vor über einem Jahr gestorben ist, kann er definitiv nicht von ihr sein.»

«Die Handschrift ist etwas krakelig», sagte Nina. «Aber da steht eindeutig Mommy.»

Das ergab keinen Sinn. Doch Beas Mutter hatte ihre Briefe tatsächlich immer mit Mommy unterschrieben. «Kannst du den Brief auf den Stuhl da legen, Nina? Ich lese ihn lieber gleich in Ruhe. Danke fürs Vorbeibringen.»

Beas Fünfzehn-Minuten-Pause war ohnehin längst fällig. Ihre Schicht hatte um elf angefangen, und inzwischen war es schon kurz vor zwei. Sie liebte die Arbeit in dem angesagten Burger-Restaurant in Bostons Back Bay, obwohl es nur ein Übergangsjob sein sollte. Vor einem Jahr hatte sie das College abgeschlossen und bis jetzt noch keine Anstellung als Lehrerin gefunden. Nur ihre pingelige Chefin machte sie wahnsinnig. Wenn Bea ihre Pause auch nur um eine Minute überzog, kürzte Barbara ihr sofort den Lohn. Die Frau liebte es, ihren Leuten den Lohn zu kürzen. Letzte Woche war sie mit einem Lineal angekommen und hatte einen Vesuv-Burger nachgemessen. Weil er nur neun Zentimeter hoch war, hatte Barbara satte fünf Dollar von Beas Gehalt abgezogen.

Bea gab noch ein bisschen mehr scharfe Soße auf den letzten Burger, maß nach und tat noch etwas mehr Salat dazu. Schließlich setzte sie eine Brötchenhälfte obenauf und platzierte ihr Werk zusammen mit Zwiebelringen und Pommes frites auf einen Teller. Sie läutete die Glocke, um der Kellnerin zu signalisieren, dass die Bestellung fertig war, und rief Manny, dem anderen Koch, zu, dass sie Pause machen würde. Dann nahm sie den braunen Umschlag mit nach draußen in die Gasse hinter dem Restaurant. Sie hielt ihr Gesicht in die Sonne und sog die frische Luft ein. Der warme Junitag fühlte sich wunderbar auf ihrer Haut an, nachdem sie den halben Tag neben der Fritteuse verbracht hatte.

Sie zog die Unterlagen aus dem Umschlag und erstarrte. Es gab keinen Zweifel: Das war eindeutig die Handschrift ihrer Mutter. Bea suchte das Datum, an dem der Brief geschrieben wurde. Es lag über ein Jahr zurück.

Meine liebe Bea,

wenn du diesen Brief liest, bin ich nicht mehr da. Dann bin ich wahrscheinlich schon ein ganzes Jahr lang tot. Ich schreibe dir diese Zeilen, weil es ein Geheimnis gibt, das ich nicht mit ins Grab nehmen möchte. Etwas, das ich dir schon in dem Moment hätte erzählen müssen, als du im Alter von nur einem Tag in meine Arme gelegt wurdest. Ich bin nicht deine leibliche Mutter, meine liebe Bea, auch wenn du für mich immer meine Tochter warst. Aber die Wahrheit ist, dass dein Vater und ich dich adoptiert haben.

Ich bin nicht stolz darauf, dich all die Jahre belogen zu haben. Vielleicht habe ich mich geschämt, weil ich kein Kind gebären konnte. Etwas, das dein Vater und ich uns so sehnsüchtig gewünscht haben. Doch zum Glück kamst du in unser Leben. In dem Moment, als die Frau von der Adoptionsstelle dich in meine Arme legte, gehörtest du zu mir. Es war, als hätte ich dich geboren, und ich vermute, dass ich es selbst glauben wollte. Darum haben dein Vater – Gott hab ihn selig – und ich uns entschieden, dir nichts über deine wahre Herkunft zu erzählen.

Dieses Geheimnis lastet mit jedem Tag schwerer auf meinem Herzen. Aber ich schaffe es in meinem Zustand einfach nicht, mit dir darüber zu sprechen, ich habe keine Kraft mehr. Darum erfährst du auf diese Weise davon. Du sollst die Wahrheit kennen – weil jeder ein Recht darauf hat, seine Herkunft zu kennen. Davon bin ich heute überzeugt, und es tut mir unendlich leid, dass mir nicht mehr die Zeit bleibt, mit dir persönlich darüber zu sprechen und deine Fragen zu beantworten.

Ich wünschte, ich wäre mutig genug gewesen, vom ersten Augenblick an ehrlich mit dir zu sein. Dir zu sagen, wie dankbar ich damals war, wie sehr du schon zu mir gehörtest, ehe ich dir überhaupt begegnet bin. Seit der Sekunde, als die Adoptionsstelle uns anrief und die Neuigkeit verkündete.

Ich hoffe, du kannst mir eines Tages vergeben, meine liebe Tochter. Du bist und bleibst meine Tochter, und ich liebe dich von ganzem Herzen.

Deine Mommy

Bea blickte auf und blinzelte in die Sonne, die Augen voller Tränen. Ihre Hand zitterte. An den Brief waren Papiere geheftet, die wie offizielle Dokumente aussahen. Adoptionspapiere, ausgestellt vor zweiundzwanzig Jahren. Von der Helfende-Hände-Adoptionsagentur in Brunswick, Maine.

Bea stopfte den Brief und die Unterlagen zurück in den Umschlag und lief in der Gasse auf und ab. Sie blieb stehen, zog den Brief wieder heraus und las ihn ein zweites Mal. Die Worte, geschrieben mit schwarzer Tinte, begannen vor ihren Augen zu verschwimmen. Hätte es dir erzählen sollen. Frau von der Adoptionsstelle. Tut mir leid. Du sollst die Wahrheit kennen. Wenn nicht die Handschrift ihrer Mutter und das Briefpapier gewesen wären, auf dem ihre Mutter all ihre Korrespondenz verfasst hatte, hätte Bea geglaubt, jemand spiele ihr einen üblen Streich.

Adoptiert? Wie bitte?

Der Brief und die Papiere waren von einer Anwaltskanzlei geschickt worden, von der Bea noch nie gehört hatte. Ihre Mutter war lange verwitwet gewesen und nicht besonders wohlhabend. Als Cora Crane letztes Jahr starb, gab es nur das spärlich möblierte gemietete Cottage auf Cape Cod, um das Bea sich kümmern musste. Sie war die Schubladen und Schränke durchgegangen und hatte all die Erinnerungsstücke an ihre Mutter mitgenommen. Wenn der Brief irgendwo im Haus gewesen wäre, hätte sie ihn gefunden. Ihre Mutter hatte es offenbar absichtlich so eingerichtet, dass Bea die Neuigkeit erst einige Zeit nach ihrem Tod erfuhr. Zu einem Zeitpunkt, wo sie langsam mit der Trauer fertigwurde.

Bea versuchte, sich ihre Mutter vorzustellen – der mit Abstand liebste Mensch, den sie kannte –, wie sie in ihrem Bett im Hospiz saß und diesen Brief voller Qual schrieb. Aber noch ein Bild drängte sich ihr auf: ihre Mutter und ihr Vater vor zweiundzwanzig Jahren, wie sie Bea als Säugling zu sich holten. «Das ist Ihre Tochter», wird die Adoptionsagentin gesagt haben. Oder so was Ähnliches.

Aber wenn ich nicht ihre Tochter bin, wer zum Teufel bin ich dann?, fragte Bea sich. Sie dachte an das gerahmte Foto, das auf ihrem Nachttisch stand. Es war ihr liebstes Familienfoto. Bea war darauf vier Jahre alt und saß auf den Schultern ihres Vaters. Ihre Mutter stand neben ihnen und schaute lachend zu Bea auf. Hinter ihnen ein Baum, der mit roten und orangen Blättern wie entflammt aussah. Bea trug das Batmancape, das sie monatelang jeden Tag hatte anziehen wollen, und dazu eine rote Mütze, die ihre Mutter ihr gestrickt hatte. Cora hatte diese alten Lieblingssachen all die Jahre aufgehoben, und nun bewahrte Bea sie in einem Karton in ihrem Kleiderschrank auf. Ihr kam ein anderes Foto in den Sinn, das sie auf dem Schreibtisch in ihrem Zimmer aufgestellt hatte. Es zeigte sie mit ihrer Mutter bei Beas College-Abschlussfeier vor gut einem Jahr und nur wenige Wochen nachdem bei ihrer Mutter Eierstockkrebs diagnostiziert worden war. Doch Beas Mutter wollte ihre Tochter unbedingt zu ihrer Abschlussfeier begleiten. Zwei Monate später war sie tot.

Cora Crane: Klavierlehrerin mit einer Engelsgeduld, dunklen Locken, strahlend blauen Augen, die für jeden Menschen ein Lächeln übrig hatte. Cora Crane war ihre Mutter. Keith Crane, ein gutaussehender Bauarbeiter, der ihr während ihrer Kindheit jeden Abend vor dem Zubettgehen ein irisches Lied vorsang, bis er starb, als sie neun war. Er war ihr Vater. Die Cranes waren wunderbare, liebevolle Eltern gewesen, die Bea jeden Tag ihres Lebens das Gefühl gaben, geliebt zu werden. Wenn jemand anderes Bea zur Welt gebracht hatte, änderte das gar nichts. Aber trotzdem: Wer waren ihre richtigen Eltern? Ein flaues Gefühl machte sich in Beas Magengrube breit.

«Bea!» Crazy Barbara kam nach draußen gestürmt und funkelte sie an. «Was zur Hölle machst du hier? Wir sind mitten im Mittagsansturm! Manny hat gesagt, du wärst schon vor zwanzig Minuten rausgegangen.»

«Ich habe nur gerade ziemlich komische Neuigkeiten erhalten», sagte Bea. Ihr war schwindelig. «Ich brauche noch ein paar Minuten.»

«Also, solange nicht jemand gestorben ist, gehst du zurück an die Arbeit. Sofort», schnaubte Barbara aufgebracht. «Macht einfach mitten im größten Chaos ein Päuschen. Wo sind wir denn hier?»

«Eigentlich …», setzte Bea an. Sie konnte kaum einen klaren Gedanken fassen. Es schien ihr unmöglich, jetzt noch den Bestellwahnsinn in der Küche abzuarbeiten. «Ich möchte gern nach Hause gehen, Barbara. Ich habe gerade etwas echt Verrücktes erfahren, und …»

«Verdammt noch mal! Du gehst zurück an die Arbeit, oder du bist gefeuert, so einfach ist das. Ich bin diese Entschuldigungen wirklich leid – jeden Tag hat irgendwer Kopfschmerzen, oder die Großmutter ist krank. Mach deine Arbeit, oder ich finde jemanden, der das Geld wert ist.»

Bea hatte drei Jahre lang für Crazy Burger gearbeitet, seit letztem Sommer sogar in Vollzeit. Sie war die beste Köchin in dem Laden und außerdem die schnellste. Aber für Crazy Barbara war niemand gut genug. «Weißt du, was? Ich kündige.» Sie nahm die Schürze ab, drückte sie der ausnahmsweise mal sprachlosen Barbara in die Hand und ging wieder rein, um ihre Handtasche aus dem Schließfach zu holen.

Sie steckte den Brief in die Tasche und lief die halbe Meile nach Hause wie betäubt. Ihre Wohnung lag in einem vierstöckigen Haus, und als sie aufgeschlossen hatte und in den Flur stürmte, stolperte sie über den Rucksack, den dort jemand abgestellt hatte. Gott, sie hasste es, mit Fremden zusammenleben zu müssen. Sie ging durch den engen Flur, trat dabei auf Boxershorts und schloss die Tür zu ihrem Zimmer auf und hinter sich direkt wieder ab. Dann ließ sie die Tasche auf den Boden fallen und sank auf ihr Bett. Das alte Kissen mit Kreuzstichstickerei drückte sie sich fest an die Brust. Und blieb stundenlang reglos so sitzen.

***

«Wow, Bea! Dann war dein ganzes Leben eine Lüge?»

Bea starrte Tommy Wonkowski an, das Pizzastück auf halbem Weg zu ihrem Mund. Er war der Runningback des legendären Beardsley-College-Footballteams. Vor einer halben Stunde hatte sie noch auf dem Bett gelegen und an die Decke gestarrt, in dem verzweifelten Versuch, mit dem gestrigen Schlag klarzukommen. Dann klingelte das Telefon: Tommy wartete bei Poe’s Pizzeria auf sie und erkundigte sich, ob er sich die Zeit für ihr Date vielleicht falsch notiert habe. Bea hatte sich gezwungen, aufzustehen und die zwei Blocks zur Pizzeria zu laufen. Seit sie den Brief ihrer Mutter bekommen hatte, hatte sie ihr Zimmer nicht verlassen. Aber als sie Tommy jetzt gegenübersaß, wünschte sie, das Date einfach abgesagt zu haben. Nachdem ihr ganzes Leben auf den Kopf gestellt worden war, brauchte sie Ruhe und Zeit für sich. Tommy Wonkowskis Gesellschaft bot weder das eine noch das andere. Sie wusste nicht mal mehr, warum sie einem Date mit ihm überhaupt zugestimmt hatte, aber es passierte ja auch nicht alle Tage, dass eine so gutaussehende Sportskanone sie einlud. Als sie sich letzte Woche bei einem Schreibseminar an der Universität kennengelernt hatten, wo Bea hin und wieder als Tutorin einsprang, war sie von seinem guten Aussehen und der Tatsache verzaubert worden, dass er sie um Längen überragte. Bea war eins achtzig groß, und neben Tommy fühlte sie sich auf einmal winzig. Ein wunderbares Gefühl für jemanden, der sich nie traute, hohe Schuhe zu tragen.

«So weit würde ich jetzt nicht gehen», sagte sie und wünschte, sie hätte ihm nie von dem Brief erzählt. Aber ihnen waren die Gesprächsthemen schon ausgegangen, als die Kellnerin die riesige Pizza servierte, und darum hatte sie großzügig Parmesan auf ihr Pizzastück gestreut und hervorgesprudelt, was sie auf dem Herzen hatte. Rate mal, was mir gestern passiert ist? Ich habe herausgefunden, dass ich adoptiert wurde.

Aber es stimmte schon. Irgendwie fühlte es sich tatsächlich so an, als sei ihr ganzes Leben eine einzige Lüge gewesen. Die Leute – sogar Bea selbst – hatten sich immer wieder gewundert, wie extrem sich ihr Aussehen von dem ihrer Eltern unterschied. Beide waren dunkelhaarig – Bea war blond. Die Augen ihrer Mutter waren eisblau und die ihres Vaters haselnussbraun, wohingegen Beas Augen graubraun waren. Ihre Eltern waren durchschnittlich groß; sie selbst war eine Amazone. Sie war auch nicht musisch begabt wie ihre Mutter oder besaß den mathematischen Verstand ihres Vaters. Die beiden waren ziemlich introvertiert, und sie konnte reden, reden, reden. Bea erinnerte sich an mehr als eine Situation, in der Fremde oder Freunde sie ansahen und meinten: «Woher um alles in der Welt hast du diese Statur?»

Und ihr Vater antwortete darauf: «Tja, mein Vater ist ziemlich groß gewesen, fast eins neunzig», und Fotos von dem verstorbenen Großvater, den sie nie kennengelernt hatte, belegten dies. Oder ihre Mutter warf beiläufig ein: «Meine Mutter hatte Beas graubraune Augen, obwohl meine so blau sind wie die meines Vaters.» Und auch das stimmte. Sie hatte Fotos von ihrer Großmutter mütterlicherseits gesehen, die starb, als Bea noch sehr klein war.

Es war, als hätte ich dich geboren, und ich vermute, dass ich es selbst glauben wollte. Darum haben dein Vater und ich entschieden, dir nichts über deine Herkunft zu erzählen.

«Heilige Scheiße, du musst deine Mutter jetzt echt hassen», polterte Tommy mit vollem Mund weiter. «Ich meine, sie hat dich dein ganzes Leben lang über etwas so … wie sagt man?»

«Etwas so Fundamentales», sagte Bea mit zusammengebissenen Zähnen. Wie kannst du es wagen, auch nur anzudeuten, dass ich meine Mutter hassen könnte, du beklopptes Riesenbaby, wollte sie ihn anschreien. Aber erneut konnte sie nur an ein Bild denken: Cora Crane, die sterbend im Hospizbett liegt und mit letzter Kraft Beas Hand hält. Ihre liebe Mutter.

«Ich hasse sie gar nicht. Das könnte ich niemals.» Natürlich hasste sie sie nicht, und doch hatte Bea in den letzten vierundzwanzig Stunden eine merkwürdige Wut empfunden, die ihr Herz hämmern ließ, bis sich in ihrem Kopf alles drehte. Es war tatsächlich eine fundamentale Tatsache, die ihr verheimlicht worden war. Aber sie konnte ihre Mutter nicht dafür hassen. «Sie hat es mir in dem Brief erklärt. Und wenn du meine Mutter gekannt hättest …»

«Deine adoptierte Mutter.»

Sie funkelte ihn an: «Es heißt Adoptivmutter. Aber nein, für mich bleibt sie trotz allem meine Mutter. Dass sie mich adoptiert hat, ändert daran nichts, Tommy.»

Er nahm sich ein zweites Stück Pizza und biss hinein. Dabei quoll der zähflüssige Mozzarella hervor. «Irgendwie schon, Bea. Ich meine, eine andere Frau hat dich zur Welt gebracht.»

Bea lehnte sich getroffen zurück. Er hatte recht. Sie war das Kind einer anderen Frau. Einer Frau, von deren Existenz sie bis gestern noch nicht einmal geahnt hatte. Einer Frau, von der sie rein gar nichts wusste. Es gab kein Gesicht, keine Haarfarbe, keinen Namen. Gestern Nacht, bis ihr schließlich um drei Uhr die Augen zufielen, hatte sie sich vorgestellt, dass ihre leibliche Mutter genauso aussah wie sie, nur … älter. Aber wie alt mochte sie sein? War ihre leibliche Mutter bei ihrer Geburt noch ein Teenager gewesen? Oder schon älter, eine Frau aus einfachen Verhältnissen, die schlicht kein Geld hatte, um ein zusätzliches Maul zu stopfen? War sie krank oder drogenabhängig gewesen?

Am 12. Oktober vor zweiundzwanzig Jahren hatte jemand Bea geboren und sie dann zur Adoption freigegeben. Warum? Welche Geschichte verbarg sich dahinter?

«Ja, Tommy. Eine andere hat mich zur Welt gebracht», bestätigte sie. Ihr war der Appetit endgültig vergangen. «Aber das macht diese Person nicht zwangsläufig zu meiner Mutter.»

«Wie bitte? Sie ist deine leibliche Mutter, da gibt’s nichts dran zu rütteln, fürchte ich.» Er lachte leise und nahm sich das dritte Stück Pizza. Dabei blickte er aus dem Fenster und beobachtete das rege Treiben auf den Straßen Bostons und strahlte eine solche Überheblichkeit aus, als wäre Bea diejenige, der man mal Nachhilfeunterricht erteilen müsste. Er wandte sich wieder an sie. «Stell dir mal vor, du heiratest und hast ein Kind, und das Kind stirbt an einer schrecklichen Krankheit, und dein Blut und das deines Mannes passen nicht. Deine leibliche Mutter könnte das Leben deines Kindes retten. Mann, das ist vielleicht krass. Ich meine, denk doch mal nach.»

Aber Bea wollte gar nicht darüber nachdenken. Ihre Eltern waren Cora und Keith Crane, la la la, Hände auf die Ohren gepresst, ich hör dich nicht. Dennoch, je länger sie Tommy Wonkowski zuhörte, desto mehr wurde ihr bewusst, dass er mit einigen seiner Aussagen wohl verdammt richtiglag.

***

Eine Woche lang lief Bea durch Boston und hatte ständig die Worte aus dem Brief ihrer Mutter im Kopf. Zuvor war sie vor allem eins gewesen: die Tochter von Cora und Keith Crane. Punkt. Jetzt war sie etwas anderes. Adoptiert. Sie konnte nicht aufhören, über ihre leiblichen Eltern nachzudenken. Wer sie waren. Woher sie kamen. Wie sie aussahen.

Sie saß am Schreibtisch und betrachtete ihre Lieblingsromane, die Essaysammlungen, die Memoiren einer Lehrerin in ihrem ersten Berufsjahr, als könnte sie in ihrem Bücherregal eine Antwort auf all die neuen Fragen finden. Sie starrte auf den braunen Umschlag, der neben Wer die Nachtigall stört lag, der Roman, über den sie ihre Abschlussarbeit geschrieben hatte. Sie sollte jetzt eigentlich an einer Highschool Englisch unterrichten und Teenagern beibringen, wie man überzeugende Essays schrieb, wie man Romane erörterte und welche Merkmale die englische Sprache auszeichneten. Aber als ihre Mutter letzten Sommer starb, hatte Bea sich monatelang vergebens abgestrampelt. Sie hatte nicht ein einziges Vorstellungsgespräch an den Privatschulen bekommen, bei denen sie sich beworben hatte, und die öffentlichen Schulen hatten verlangt, dass sie sich für ein Aufbaustudium einschrieb, was für sie nur noch mehr Schulden bedeutet hätte. Ein Jahr später saß sie hier, unterrichtete immer noch nicht, arbeitete in einem Burger-Laden und teilte ihre Wohnung mit Studenten. Das Einzige, was sich geändert hatte, war der Umstand, dass sie nicht die war, für die sie sich immer gehalten hatte.

Bea starrte auf das Foto, das sie mit ihrer Mutter bei der College-Abschlussfeier zeigte. Sie zwang sich, nicht zu vergessen, dass sie immer noch dieselbe Person von vor einer Woche war. Dieselben Erinnerungen, derselbe Verstand, dasselbe Herz, dieselbe Seele, dieselben Träume.

Aber tief in ihrem Innern hatte sie sich verändert, und sie spürte diese Veränderung bis in die Knochen und bis in jede einzelne Zelle ihres Körpers. Sie fühlte sich wie unter Strom. Gut, sie war adoptiert worden. Aber warum musste das denn unbedingt alles ändern? Warum konnte sie nicht einfach die Wahrheit akzeptieren und weitermachen wie bisher?

Weil du ganz alleine bist. Ihre beiden besten Freundinnen hatten nach dem Abschluss Boston verlassen, um ihre ersten Jobs anzutreten. Die Freundinnen aus der Highschool lebten überall im Land und in Europa verstreut; jeder hatte sich für den Sommer etwas vorgenommen. Nur Bea nicht. Sie ging nirgendwohin. Sie hatte kein Zuhause mehr.

Sie fühlte sich gefangen und zugleich absolut frei. Als sie diese Woche stundenlang durch die Stadt gelaufen war, hatte sie im einen Augenblick an ihre Eltern gedacht und im nächsten schon an ihre leibliche Mutter. Dann kam sie wieder zurück in ihr Zimmer und starrte auf den braunen Umschlag. Sie brauchte mehr Informationen. Etwas, das diese schwer greifbaren Worte leibliche Mutter für sie irgendwie … konkreter machen könnten.

«Verdammt», sagte sie, griff nach dem Umschlag und zog die Papiere wieder heraus. Ehe sie sich anders entscheiden konnte, nahm sie das Handy und tippte die Nummer ein, die auf der ersten Seite stand.

«Helfende-Hände-Adoptionsagentur, was kann ich für Sie tun?»

Bea atmete tief durch, erklärte dann die Situation und erkundigte sich, ob sie Auskunft über die Namen der leiblichen Eltern gaben. Höchstwahrscheinlich war das nicht der Fall. Bea hatte in der Zwischenzeit ein bisschen im Internet recherchiert und so erfahren, dass die meisten Adoptionsakten für die Kinder nicht zugänglich waren. Aber manchmal hinterließen die biologischen Mütter ihren Namen und Kontaktinformationen, die dann in den Akten vermerkt wurden. Es gab außerdem Datenbanken, in die sich leibliche Eltern und Adoptierte aufnehmen lassen konnten. Bea hatte allerdings nicht vor, sich einzutragen.

«Ja, lassen Sie mich mal schnell nach Ihrer Akte sehen», sagte die Frau. «Kleinen Moment, bitte.»

Bea hielt die Luft an. Bitte, machen Sie’s kompliziert, dachte sie. Keine Namen. Sie war noch gar nicht bereit für einen Namen.

Warum hatte sie überhaupt angerufen? So eine Schnapsidee. Sobald die Frau wieder dran war, würde Bea ihr für ihre Mühe danken und wieder auflegen.

«Bingo», sagte die Frau. «Ihre leibliche Mutter hat vor gut einem Jahr ihre neue Adresse hinterlegt. Ihr Name lautet Veronica Russo, sie lebt in Boothbay Harbor in Maine.»

Bea stockte der Atem.

«Brauchen Sie einen Moment?», fragte die Frau. «Ich gebe Ihnen etwas Zeit, keine Sorge.» Sie wartete tatsächlich eine Minute, und als Beas Kopf kurz vorm Explodieren stand, sagte die Frau: «Liebes, haben Sie einen Stift zur Hand?»

Bea sagte ja und nahm den silbernen Waterman-Füller zur Hand, den ihre Mutter ihr zum Abschluss geschenkt hatte. Mechanisch notierte sie die Adresse und die Telefonnummer. Festnetz und Handy.

«Sie hat sogar Adresse und Telefonnummer ihrer Arbeitsstelle hinterlegt», fuhr die Frau fort. «Das Best Little Diner in Boothbay.»

Veronica Russo. Ihre biologische Mutter hatte einen Namen. Sie war zu einer realen Person geworden, die lebte und atmete. Und sie ließ regelmäßig die Akte aktualisieren. Sie hatte jedes nur erdenkliche Fitzelchen Kontaktinformation hinterlegt. Ihre leibliche Mutter wollte gefunden werden.

Bea dankte der Frau und legte auf. Sie zitterte und griff nach ihrem Lieblingspullover, dem alten, naturfarbenen Fischerpullover ihres Vaters, den ihre Mutter ihm während der Flitterwochen in Irland gekauft hatte. Es war derselbe Pullover, den ihr Vater auch auf ihrem Lieblingsfoto trug. Bea zog ihn über und schlang die Arme um ihren Körper. Wie sehr sie sich wünschte, der Pullover würde noch nach ihrem Dad riechen, nach Ivory-Seife und Old Spice und Sicherheit. Aber Beas Vater war schon lange tot. In den darauf folgenden elf Jahren hatte es nur sie und ihre Mom gegeben, denn die Großeltern waren alle schon lange zuvor verstorben, und die beiden Cranes waren Einzelkinder gewesen.

Nun, da Bea auch noch ihre Mutter verloren hatte, war sie endgültig allein.

Sie trat ans Fenster und starrte in den Regen, der draußen in Strömen fiel. Ich habe eine Mutter. Ihr Name ist Veronica Russo. Sie lebt in einer Stadt namens Boothbay Harbor in Maine. Sie arbeitet in einem Diner, das Best Little Diner in Boothbay heißt.

Was irgendwie niedlich klang. Eine Frau, die in so einem Diner ihr Geld verdiente, konnte doch kein so schlechter Mensch sein, oder? Sie arbeitete vermutlich als Kellnerin und war eine dieser freundlichen Frauen, die ihre Gäste Schätzchen nannten und immer ein offenes Ohr für ihre Geschichten hatten. Oder vielleicht hatte sie schwere Zeiten hinter sich und war verbittert. Eine verschlossene Frau, die einem frustriert Spiegeleier und Fish ’n’ Chips auf den Tisch knallte. Eine Frau, die ihr Kind zur Adoption freigab, musste es wohl echt schwer haben im Leben, um zu einer solchen Entscheidung zu gelangen.

Vielleicht war ihre Mutter eine Fastfood-Köchin. Das würde zumindest Beas Talent für unbeschreibliche Hamburger-Kreationen erklären. Im vergangenen Jahr hatte sie mit der Arbeit bei Crazy Burger und dem Aushilfsjob an der Uni gerade genug Geld verdient, um ihre Miete zu bezahlen. Jetzt würde es im Juli dank der Kündigung ziemlich knapp werden. Ihr letzter lausiger Gehaltsscheck belief sich auf einen halben Wochenlohn bei Crazy Burger – damit würde sie nicht besonders weit kommen.

Aber sie hatte noch ein paar hundert Dollar gespart. Und sie hatte diesen Namen und eine Adresse. In Boston hielt sie derzeit genau genommen nichts und niemand.

Bea könnte einfach rauf nach Maine fahren, in das Best Little Diner marschieren, sich an den Tresen setzen und eine Tasse Kaffee bestellen, um dann unverhohlen auf die Namensschilder der Kellnerinnen zu starren. Sie würde ihre leibliche Mutter sehen können.

Ja. Sie würde da hochfahren, Veronica Russo sehen, und wenn es ihr richtig erschien, würde Bea auch den Kontakt zu ihr suchen. Nicht dass sie auch nur die geringste Ahnung hatte, wie sie das anstellen sollte. Vielleicht hinterließ sie eine Nachricht oder rief einfach an. Dann könnten sie sich irgendwo treffen, einen Kaffee trinken oder spazieren gehen. Bea könnte alles herausfinden, was sie interessierte, und müsste sich nicht mehr mit Fragen und Spekulationen verrückt machen. Dann würde sie sich bei Veronica Russo für die Informationen bedanken, wieder nach Boston fahren und sich eine neue Wohnung suchen. Und einen neuen Job. Vielleicht musste sie sich endgültig von dem Traum verabschieden, als Lehrerin zu arbeiten. Sie käme wieder nach Hause, sobald sie sich mit ihrer Vergangenheit auseinandergesetzt hatte, und konnte dann hoffentlich endlich ergründen, was zum Teufel sie mit ihrem Leben anfangen sollte.

Nach Hause. Als hätte sie eins. Dieses Zimmer war nicht viel größer als ein Wandschrank. Und das Cottage in Cape Cod, wo sie und ihre Mutter nach dem Tod ihres Vaters eingezogen waren, war längst wieder neu vermietet. Das kleine, weiße Cottage war der einzige Platz auf Erden gewesen, der sich für Bea wie ein Zuhause angefühlt hatte. Wo ihre Mutter immer für sie da war.

Jetzt waren ihr nur Erinnerungen und ein alter Fischerpullover geblieben. Und eine Fremde namens Veronica Russo in Maine. Die offenbar seit langem darauf wartete, von Bea gefunden zu werden.

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2 Veronica

Nur ein Idiot käme auf die Idee, einen Kuchen zu backen – noch dazu einen Spezial-Liebeskuchen mit Karamellcreme –, während im Fernsehen Stolz und Vorurteil lief. Hatte sie die Vanille zugegeben? Was war mit dem Salz? Verflucht sei Colin Firth mit seinem im Weiher durchnässten, weißen Hemd! Veronica legte den Messlöffel auf der mehligen Arbeitsplatte ab und schenkte dem kleinen Fernseher neben der Kaffeemaschine ihre volle Aufmerksamkeit. Gott, sie liebte Colin Firth. Nicht nur, weil er so gut aussah. Dieser Mann verkörperte für Veronica einen Meter fünfundachtzig pure Hoffnung. Er stand für das, wonach sie ihr ganzes Leben lang gesucht hatte. Was sie bisher nicht gefunden hatte und vermutlich nie finden würde. Sie war achtunddreißig Jahre alt. Noch immer unverheiratet. Keine Beziehung in Sicht.

Wenn du bereit bist für die Liebe, wenn du sie dir wirklich wünschst, wird es irgendwann passieren, hatten Freunde, sogar Partner ihr im Laufe der Jahre immer wieder versichert. Irgendwas stimmt doch nicht mit dir, hatte allerdings ihr letzter Freund gesagt, ehe er sie von jetzt auf gleich verließ, weil sie ihn nicht heiraten wollte. Dein Herz ist kaputt.

Vielleicht stimmte das auch. Nein, Veronica war sogar überzeugt davon, dass er recht hatte. Und sie wusste auch, warum. Aber jetzt, mit fast vierzig, waren ihre Freunde allmählich besorgt, sie könnte irgendwann als einsame und verbitterte Tante enden. Nur deshalb hatte sie begonnen, leichtherzig das auszusprechen, was zwar ziemlich absurd klang, aber doch der Wahrheit entsprach: Sie wartete auf einen Mann wie Colin Firth. Ihre Freundin Shelley aus dem Diner hatte sofort verstanden, was sie damit meinte. «Ist schon klar, er ist ein Schauspieler, dem man jede seiner Rollen abnimmt», hatte Shelley gesagt. «Ehrlich. Integer. Voller Überzeugung. Vor Intelligenz sprühend. Treu. Man glaubt ihm alles, was er mit diesem britischen Akzent sagt, und kann sich immer auf ihn verlassen.»

Das war es. Und ja, er war so verflixt attraktiv, dass er Veronica sogar bei der Zubereitung ihres Liebeskuchens aus dem Takt brachte. Ein Kuchen, den sie sonst im Schlaf machte. Die ganze Stadt war verrückt nach Veronicas «Heilkuchen», seit sie vor gut einem Jahr nach Boothbay Harbor zurückgekehrt war. Sie war in Boothbay aufgewachsen, aber das Haus, in dem sie jetzt wohnte, lag in einer anderen Gegend als ihr Elternhaus. Bei dem zitronengelben Bungalow an der Sea Road war es Liebe auf den ersten Blick gewesen, und am Tag ihres Einzugs hörte Veronica beim Aufhängen der Holzrollos vor der Terrassentür jemanden weinen. Sie steckte den Kopf aus der Tür und entdeckte ihre Nachbarin, die in einem schwarzen Negligé und Lederstilettos auf der hinteren Veranda ihres Hauses saß. Veronica ging zu ihr rüber und fragte, ob sie helfen könne, und die Frau stieß unter Tränen hervor, ihre Ehe sei am Ende. Veronica setzte sich neben sie, und innerhalb weniger Minuten erzählte ihr ihre neue Nachbarin Frieda die ganze Geschichte. Wie sie versucht hatte, ihren Mann, der sie inzwischen kaum mehr anschaute, mit einem aufwendigen Abendessen zu verführen. Aber er erklärte ihr nur, vom Vorabend seien noch Reste im Kühlschrank und das würde ihm genügen.

«Ist ihm ein kaltes Bratensandwich etwa lieber als ich?», hatte Frieda geheult. «Seit Monaten versuche ich nun schon, ihn irgendwie zurückzugewinnen, und nichts klappt.»

Veronica erzählte Frieda, sie sei eine talentierte Bäckerin und werde ihr einen ganz besonderen Kuchen backen, den sie ihrem Mann am nächsten Abend als Dessert servieren sollte. Wenn sie ihm sein Stück reichte, solle sie daran denken, wie sehr sie ihn liebte und begehrte. Und um den Zauber noch ein bisschen zu verstärken, konnte sie mit den Händen über seinen Nacken fahren.

Nun, an diesem Abend, so behauptete Frederick Mulverson, habe er nicht gewusst, wie ihm geschah. Aber es hatte funktioniert. Seitdem bestellte Frieda Veronicas Liebeskuchen jeden Freitag. Sie hatte außerdem allen ihren Freunden und Verwandten von dem sagenhaften Kuchen erzählt, und Veronicas Telefon hatte nicht mehr stillgestanden. Die Bestellungen kamen rein wie früher in New Mexico. Der Liebeskuchen war natürlich am gefragtesten.

Sie verkaufte inzwischen bis zu zwanzig Kuchen pro Woche. Plus zwei pro Tag an das Best Little Diner in Boothbay, wo sie als Kellnerin arbeitete. Und neun weitere Kuchen für drei örtliche Pensionen. Das Diner und die Pensionen bekamen nur ihre «Glückskuchen». Kuchen, die nach Sommerferien schmeckten. Die sogenannten Heilkuchen waren den Kunden in der Stadt vorbehalten, die ein spezielles Problem zu bewältigen hatten. Es gab alles vom Gute-Besserung-Kuchen, der mit jeder nur möglichen diätetischen Rezeptur auskam – glutenfrei, laktosefrei, sogar ohne Zucker –, bis hin zum Zuversichtskuchen mit Limettengeschmack.

Was Veronica aber offensichtlich nicht schaffte, war ein Colin-Firth-Kuchen für sich selbst. Sie hatte schon für Hunderte Kunden einen Kuchen gebacken, der ihnen Liebesglück beschert hatte. Sicher, in den meisten Fällen mochte vor allem die Kraft der Gedanken dazu beitragen, aber das war egal, solange es funktionierte. Jeder bekommt, woran er fest genug glaubt, hatte Veronicas Großmutter immer gesagt. Beim Gedanken an die liebe Renata Russo, die gestorben war, kurz bevor bei Veronica mit sechzehn das große Chaos ausgebrochen war, schloss sie für einen Moment die Augen. Sie ließ die Erinnerung an die Zeit zu, als sie noch eine Familie hatte. Damals saßen Veronica, ihre Eltern und die Großmutter jeden Abend um den großen Tisch im Wohnzimmer ihres Elternhauses beisammen und genossen ein üppiges italienisches Abendessen. Fleischbällchen und Linguine in der hausgemachten Tomatensoße ihrer Großmutter, so viel, als würde sie aus schier bodenlosen Töpfen schöpfen.

Veronica vermisste jene Zeit, die an einem Aprilmorgen schlagartig vorbei war, als sie am Frühstückstisch vor ihren Pancakes saß und hervorstieß, dass sie schwanger sei. Da hatte sie von heute auf morgen ihre Familie verloren.

Denk nicht daran, das regt dich nur auf, mahnte sie sich und richtete die Aufmerksamkeit wieder auf den Fernseher und die Bennet-Schwestern Elizabeth und Jane, die in ihren hübschen, weißen Kleidern Pläne für ihr zukünftiges Liebesleben schmiedeten. Aber seit Veronica nach Boothbay Harbor zurückgezogen war, schien die Vergangenheit sie nicht mehr loszulassen. Himmel, das war schließlich der Grund, weshalb sie zurückgekommen war. Um nicht länger davonzulaufen.

Sie hatte geglaubt, wenn sie heimkehrte und sich der Vergangenheit stellte, finge ihr Herz vielleicht an, gesund zu werden und das zu tun, wozu es bestimmt war. Und vielleicht, vielleicht würde ihre Tochter sie dann auch kontaktieren. Veronica hatte noch in New Mexico gelebt, als das Mädchen achtzehn wurde. Am selben Tag rief Veronica bei der Adoptionsagentur an und hinterließ ihre Kontaktdaten. An diesem Tag hatte sie neben dem Telefon gesessen und gewartet. Und ebenso am nächsten. Aber es kam kein Anruf von einer jungen Frau, die sich erkundigte, ob sie Veronica Russo war und am 12. Oktober 1991 in Boothbay Harbor ein kleines Mädchen entbunden hatte. Wochenlang trug Veronica Tag und Nacht das Handy bei sich und erwartete jeden Moment den Anruf. Weiß der Kuckuck, warum sie geglaubt hatte, ihre Tochter würde sich mit ihr an ihrem achtzehnten Geburtstag in Verbindung setzen.

Mit dem Backen hatte sie vor vier Jahren in New Mexico angefangen. Kuchen, die nach Hoffnung schmeckten. Sie war vorher keine besonders begeisterte Bäckerin gewesen, aber plötzlich hatte eine Kochshow, bei der es um Festtagskuchen ging, sie inspiriert, und seitdem hatte sie mit dem Experimentieren mit Teig und Füllungen nicht mehr aufgehört. Backen war Balsam für ihre Seele. Es beruhigte sie, und es machte sie glücklich. Sie mochte das Gefühl von Mehl zwischen den Fingern, die blassgelben Stückchen kalter Butter, das reine Weiß von Zucker und Salz. So einfach waren die Zutaten, aus denen ein Kuchenboden entstand. Nicht dass irgendwas an Kuchenböden einfach war, wenn man den Kuchen von vorne bis hinten selber buk. Aber Veronica blieb hartnäckig am Ball, bis sie die Kruste perfektioniert hatte und alle möglichen Mischverhältnisse kannte, je nach Rezept und Anlass. In einsamen Nächten liebte sie es, in ihrer Küche zu arbeiten. Und ihre Kuchen waren so besonders, dass Veronica begonnen hatte, sie nach dem Anlass zu benennen, zu dem sie sie das erste Mal verschenkte. Für eine Freundin mit Liebeskummer gab es Heilkuchen. Für eine kranke Bekannte den Gute-Besserung-Kuchen. Für eine deprimierte Nachbarin den Zuversichtskuchen. Ihre Hoffnungskuchen waren auch sehr beliebt. Eine Freundin war verzweifelt an der Angst um ihren Freund, der seinen zweiten Afghanistan-Einsatz angetreten hatte. Veronica hatte ihr einen Käsekuchen mit gesalzenem Karamell gebacken, in den sie all ihre Hoffnung hineinrührte. Dann erklärte sie der Freundin, sie müsse sich ebenfalls ganz auf das Gefühl der Hoffnung konzentrieren, wenn sie das erste Stück abschnitt. Ihr Freund kehrte bald darauf zurück, unversehrt bis auf ein gebrochenes Bein. Die Magie ihrer süßen Kuchen wirkte also bei so vielen Menschen, dass Veronica inzwischen eine ziemlich große Stammkundschaft hatte. Wie macht sie das nur?, wollten alle wissen. Entweder Veronica konnte wirklich ein kleines bisschen zaubern, oder es war einfach eine Glaubensfrage. Vielleicht auch beides.

Aber Veronica hatte sich nie die Mühe gemacht, einen Colin-Firth-Kuchen für sich selbst zu backen, um einen Mann in ihr Leben zu holen, den sie endlich lieben konnte. Kein Zauberkuchen dieser Welt konnte ihr verkümmertes Herz in Ordnung bringen. Sie war nicht in der Lage, irgendwen zu lieben, so viel wusste sie inzwischen. Früher hatte sie heftig geliebt und wurde so sehr verletzt. Durch den Tod ihrer geliebten Großmutter, kurz vor ihrer Schwangerschaft. Durch einen sechzehnjährigen Jungen, der sie so furchtbar enttäuscht hatte. Sie hatte versucht, andere zu lieben, das hatte sie verdammt noch mal wirklich versucht. Im Laufe der Jahre hatte sie einige Partner gehabt. Manche für ein paar Jahre, andere nur ein paar Monate lang. In Florida, wo sie direkt nach der Entbindung hingezogen war, gab es diesen süßen Koch im erstbesten Diner, das einer Sechzehnjährigen einen Job als Kellnerin anbot. Er hatte Veronica über die schlimmste Trauer, über die unerträgliche Einsamkeit hinweggeholfen. Oder der stolze US-Marine aus New Mexico, der nach Jahren der vorsichtigen Partnerschaft behauptete, er sei es leid, auf ihr Ja zu warten, er würde sie jetzt einfach nach Las Vegas fahren und sie auf der Stelle heiraten, ob sie wollte oder nicht. Sie hatte noch mal versucht, es ihm zu erklären. Sie könnten gerne ein romantisches Wochenende in Vegas verbringen. Ohne Hochzeit, ohne Gespräche darüber. Doch er ging davon aus, sie werde ihre Meinung schon ändern, sobald sie in der Kapelle stünden. Sie hatte ihre Meinung nicht geändert. Wütend brüllte er sie an, dass er die Schnauze voll hätte von ihr und ihrer Bindungsangst. Er ließ sie einfach vor der Kapelle stehen, und sie sah ihn nie wieder. Als sie am nächsten Tag nach New Mexico zurückkam, waren seine wenigen Habseligkeiten aus dem Haus verschwunden, in dem sie gemeinsam gelebt hatten. Ihr Herz hatte sich ihm einfach nie vollends geöffnet, er hatte recht. Das hatte es für keinen Mann – außer für Timothy Macintosh. Den Mann, an den sie in den letzten zweiundzwanzig Jahren immer wieder dachte, obwohl sie versuchte, genau das nicht zu tun.

Damals, vor etwas über einem Jahr, als Veronica plötzlich allein vor der Little White Wedding Chapel in Las Vegas gestanden hatte, war ihr klar geworden, dass sie zurück nach Boothbay Harbor gehen musste. Wenn ihr Herz irgendwann wieder heil werden sollte, musste sie zurückgehen. In die Heimatstadt, wo sie verstoßen und fortgeschickt worden war, wo sie einem kleinen Mädchen das Leben geschenkt hatte, das sie nur zwei Minuten lang in den Armen halten durfte, ehe sie es weggeben musste. Wenn sie zurückkehrte und sich den Erinnerungen stellte, würde ihr Hoffnungskuchen vielleicht endlich auch bei ihr selbst wirken, ihr Herz würde sich öffnen, und das Mädchen von damals würde mit ihr Kontakt aufnehmen.

Veronica wollte einfach sichergehen, dass ihre Tochter wohlauf war. Manchmal glaubte sie, wenn sie das nur wüsste, könnte sie weitermachen. Ihr zerfetztes Herz würde wieder zusammengeflickt, und ihr Leben würde sich von Grund auf ändern. Jedenfalls wäre das theoretisch möglich.

Darum war sie zurückgekommen, auch wenn es schmerzhaft war. Ehe sie sich nach einer Bleibe umschaute, war sie an dem Haus vorbeigefahren, in dem sie aufgewachsen war. Ein typisches Holzhaus im Kolonialstil, das die neuen Besitzer blau gestrichen hatten. Sie war rechts rangefahren, und ihr wurde sofort schlecht, weshalb sie sich beeilte, schnell wieder wegzukommen. Aber sie war seitdem ein paarmal dort vorbeigefahren, und jedes Mal hatte sie weniger heftig reagiert. Dasselbe galt für das Haus, in dem Familie Macintosh gewohnt hatte, den Ziegelbau, in dem Timothy und sie so viel Zeit verbracht hatten. Sie war sogar in das Waldstück gegangen, in dem Timothy und sie ihr Pfadfinderzelt aufgestellt hatten. Dort blieben sie stundenlang und redeten über ihre Träume. Darüber, Maine direkt nach der Highschool zu verlassen und einfach mit dem Bus bis runter nach Florida zu fahren, wo es immer warm war und nie schneite. In diesem alten Zelt war ein Kind gezeugt worden.

Sie hatte versucht, sich ihren Dämonen zu stellen. Aber irgendwas machte sie offensichtlich falsch – denn sie fühlte sich in Boothbay Harbor noch genauso fehl am Platz wie an jenem Tag vor einem Jahr, als sie hier angekommen war. Sie wusste nicht mal, woran das lag. Niemand scherte sich darum, was vor zweiundzwanzig Jahren passiert war, bis auf eine Handvoll Menschen vielleicht, die sich noch an das Mädchen erinnerten, das während des Juniorjahrs an der Highschool schwanger wurde und dessen Eltern deshalb so beschämt waren, dass sie es fortschickten und sich selbst überließen, ihr Haus verkauften und selbst die Stadt verließen. Ausgerechnet zwei von diesen wenigen Leuten, die Veronica noch von damals kannte, hatten sich jetzt für ihren Backkurs angemeldet, der am kommenden Montag begann – Penelope von Blun und CeCe Allwood, die mit ihr zur Schule gegangen waren. Zwei arrogante Mode-Cracks, die ein Bilderbuchleben führten und Veronica bei zufälligen Begegnungen eisig anlächelten und hinter ihrem Rücken tuschelten. Das war schon ironisch, denn sie hatte im gesamten letzten Jahr verzweifelt versucht, Penelope und CeCe aus dem Weg zu gehen.

Fitzwilliam Darcys Gesicht füllte wieder den Bildschirm aus. «Jedenfalls, sollten sich deine Gefühle verändert haben, so muss ich dir etwas sagen: Du hast mich verzaubert. Meinen Körper und meine Seele, und ich liebe, liebe, liebe dich. Ich wünsche mir, von heute an nie mehr von dir getrennt zu sein», sagte er zu Elizabeth, und Veronica spürte, wie sich etwas in ihrer Brust rührte wie jedes Mal, wenn sie diese Szene sah. Gott, er sprühte geradezu vor Liebe.

Die Türglocke ging, und Veronica riss sich mühsam von dem Kuss los, auf den sie schon die ganze Folge gewartet hatte. Sie wischte die mehligen Hände an der Schürze ab, warf einen letzten Blick zum Fernseher und ging zur Tür.

Vor der Tür standen Officer Nick DeMarco und seine Tochter, die Veronica auf etwa neun, allerhöchstens zehn Jahre schätzte. Veronica dachte an Nick immer als Officer DeMarco, obwohl sie früher zusammen zur Schule gegangen waren. Bis zum Juniorjahr jedenfalls. Er war ein guter Freund von Timothy gewesen. Darum hatte Veronica lieber Abstand gehalten, wenn er zum Frühstück ins Diner kam, und Nick hielt sich auch von ihr fern. Er hatte sie seit ihrer Rückkehr nicht angesprochen. Bis jetzt. Er trug keine Polizeiuniform, sondern Jeans und ein T-Shirt von den Boston Red Sox. Seine Tochter sah ihm ähnlich – dieselben dunklen Haare, dazu braune Augen mit dichten Wimpern. Sie hatte allerdings ein elfisches Kinn, und an Nick DeMarco war überhaupt nichts Elfisches. Er war ein breitgebauter, respekteinflößender Mann, der stets besonnen und korrekt wirkte.

«Wir sind doch nicht zu spät, oder?», fragte Nick und schaute an ihr vorbei. Seine Tochter blickte erwartungsvoll zu Veronica auf.

«Zu spät wofür?», erkundigte sich Veronica.

«Den Backkurs», sagte er.

Den Backkurs? Nick DeMarco hatte sich bestimmt nicht dafür angemeldet. Das hätte sie auch nicht vergessen, wenn sie die letzten vier Abende mit Colin Firth persönlich verbracht hätte. «Also, eigentlich seid ihr sogar zu früh. Mein Backkurs fängt erst am Montag an. Richtige Zeit, falscher Tag. Allerdings seid ihr gar nicht angemeldet, oder?»

Er verzog das Gesicht. «Ich hab deinen Flyer eine Woche lang in der Hosentasche rumgeschleppt und wollte dich immer anrufen. Dann dachte ich, wir kommen vielleicht einfach vorbei.»

Das Mädchen sah aus, als wollte es gleich losheulen. «Wir können doch trotzdem beim Kurs mitmachen, oder?», fragte sie Veronica.

Verflixt. Der Kurs war ausgebucht. Sie hatte jetzt schon sechs Anmeldungen angenommen, und es war ihr lieber, die vierwöchigen Kurse auf fünf Teilnehmer zu begrenzen. Sonst blieb ihr nicht genug Zeit, zwischendurch ihre Runde zu drehen, und es wurde zu eng in der Küche. Officer DeMarco starrte sie stumm an. Sein Blick flehte, sie möge ja sagen, natürlich kannst du meinen Kurs belegen, meine Kleine.

«Ähm … Ich habe zufällig noch ein paar Plätze frei, es ist also kein Problem», sagte sie zu seiner Tochter.

Sie sah, wie das Mädchen sich entspannte, und fragte sich, warum es ihr wohl so wichtig war, Backen zu lernen – noch dazu Kuchen wie die von Veronica.

«Wie heißt du denn, Süße?», fragte Veronica.

«Leigh DeMarco. Ich bin zehn.»

«Also gut, Leigh. Du kommst einfach mit deinem Dad am Montag um Punkt sechs Uhr vorbei. Vergiss nicht, dir eine Schürze mitzubringen.» Ein Blick in Nicks Richtung, und sie wusste, dass er keine Schürze besaß. «Aber wenn du keine hast oder sie vergisst, hab ich auch welche, die ich verleihe.»

Leigh lächelte. Ihr ganzes Gesicht strahlte förmlich.

«Gibt es einen bestimmten Kuchen, den du gerne machen möchtest?», fragte Veronica. «Ich wollte am ersten Abend einen Apfelkuchen backen, aber ich habe auch die Rezepte für meine Heilkuchen da, falls jemand daran interessiert ist.»

Das Mädchen schaute flüchtig zu seinem Vater, ehe es zu Boden starrte. «Apfelkuchen klingt gut. Ich hatte letzte Woche im Diner ein Stück davon. Der war echt lecker.» Es war offensichtlich, dass das Mädchen einen bestimmten Kuchen im Sinn hatte, das aber nicht offen vor seinem Vater aussprechen wollte.

«Ah, genau. Mein Apfelstreusel-Glückskuchen», sagte Veronica.

«Ich war wirklich glücklich, als ich ihn gegessen habe», sagte Leigh, doch ihre Schultern sackten nach unten.

Nick zerzauste ihr die Haare. «Also, wir wollen dich nicht länger aufhalten, Veronica. Sorry wegen dem Durcheinander. Dann sehen wir uns Montag um sechs.»

Er schien sich so unwohl zu fühlen, dass er Veronica fast leidtat. Sie war eigentlich ziemlich gut darin, andere Menschen zu durchschauen. Nur so hatte sie sich ihren legendären Ruf mit den Kuchen erarbeitet. Aber Nick DeMarco war undurchschaubar. Das Einzige, was sie spürte, war sein Wunsch, schleunigst zu verschwinden. Als Veronica gerade die Tür geschlossen hatte, klingelte es erneut.

Diesmal stand Leigh DeMarco allein auf der Veranda. Ihr Vater wartete auf dem Bürgersteig und hielt nur kurz die Hand zum Gruß hoch. Veronica nickte ihm zu.

«Hi, Süße», sagte sie zu Leigh.

«Ich weiß jetzt wieder, was für einen Kuchen ich lernen will», flüsterte Leigh. «Aber ich will es geheim halten, wenn das okay ist.»

«Das geht in Ordnung.»

Leigh biss sich auf die Lippe und drehte sich um, als wollte sie sichergehen, dass ihr Vater außer Hörweite war. «Ich will so einen Kuchen machen, wie Sie ihn für Mrs. Buckman gebacken haben. Sie ist meine Nachbarin und hat mich letzte Woche nach der Schule zu sich eingeladen und mir ein Stück davon gegeben. Sie hat mir erzählt, dass es ein spezielles Rezept extra für sie war. Sie meinte auch, davon fühle ich mich besser.»

Veronicas Herz zog sich zusammen. Für Annabeth Buckman hatte sie einen Seelenkuchen gebacken. Einen weichen Streuselkuchen, der bei Veronica immer ein Gefühl der Nähe zu ihrer verstorbenen Großmutter erzeugte. So ein Streuselkuchen war nichts Aufregendes, nur Melasse und eine Kruste aus braunem Zucker und Butter. Heutzutage war er nicht mehr besonders angesagt, aber Veronica mochte ihn. Ihre Großmutter hatte immer Streuselkuchen gebacken, wenn die Familie schwere Zeiten durchmachte, und sie hatte immer gesagt, sie sei glücklich, wenn sie nie wieder so einen Kuchen machen musste, solange sie lebte, und Früchte oder gute Schokolade und andere Köstlichkeiten zum Backen bekam. Eines Tages, während der ersten Wochen in Boothbay Harbor, sehnte Veronica sich so nach ihrer Großmutter, dass sie zum ersten Mal einen solchen Streuselkuchen buk, und als der Geruch von Melasse und warmer Zuckerkruste die Küche erfüllte, konnte sie ihre Großmutter förmlich spüren. Sie spürte ihre Liebe und wusste, was sie in diesem Augenblick zu Veronica sagen würde. Gott, wie anders ihr Leben verlaufen wäre, wenn ihre Großmutter noch gelebt hätte, als Veronica schwanger wurde! Sie hätte das Baby behalten können. Ihre Großmutter hätte sie sicher zu sich genommen.

Konzentrier dich auf Leigh, sagte sie sich und atmete tief durch.

«Ich weiß, welchen Kuchen du meinst, Leigh. Das ist mein Seelenkuchen – ein Streuselkuchen. Wenn du ihn backst oder isst, denkst du einfach an die Person, der du dich nahe fühlen möchtest. So geht das. Streuselkuchen heißt auch Shoofly Pie, weil man die Fliegen vertreiben muss, wenn er auskühlt – so süß ist er. Die Bäckerin sagt immer, schu, Fliege! Und so kam er zu seinem Namen.»

«Shoofly Pie», wiederholte Leigh. Dann nickte sie und lächelte. «Danke.»

Ihre Mutter, erkannte Veronica. Leigh wollte bestimmt die Nähe ihrer Mutter spüren. Veronica hatte gehört, dass Nick DeMarcos Frau bei einem Bootsunfall vor fast zwei Jahren ums Leben gekommen war.

Ach, Kindchen, dachte Veronica. Sie beobachtete, wie das Mädchen die Hand in die seines Vaters schob, als sie die Sea Road entlang zurückgingen.

Es wäre absolut kein Problem, das Mädchen in den Kurs aufzunehmen. Ihr Vater würde vermutlich nur beim ersten Mal mitkommen. Sie wollten etwas gemeinsam unternehmen, und dann würde er beim nächsten Mal Leigh nur noch absetzen, und sie müsste mit Nick DeMarco gar nicht so eng beisammen sein, wie es in ihrer Küche zwangsläufig der Fall war. Bestimmt erinnerte er sich noch gut an die Schulzeit und daran, wie sie schwanger wurde und auf geheimnisvolle Weise verschwand. Damals hatte jeder gewusst, dass man sie ins Heim der Guten Hoffnung geschickt hatte, ein Haus für schwangere Teenager am Stadtrand von Boothbay. Die wenigen Freunde, die ihr damals blieben, erzählten ihr, dass jeder über sie redete und dass Timothy Macintosh behauptete, ganz sicher nicht der Vater zu sein, und dass Veronica herumgehurt habe.

Wie konnten die damaligen Ereignisse bloß immer noch so viel Macht über sie haben, dass sie davon Beklemmungen bekam?, fragte sie sich und drehte den Fernseher lauter. Schluss jetzt. Sie wollte alles um sich herum vergessen. Jetzt gab es nur noch Stolz und Vorurteil und Colin Firths Gesicht. Schließlich hatte sie einen Liebeskuchen zu backen, und dafür musste sie in Stimmung sein. Sie wollte Stolz und Vorurteil zu Ende gucken, dabei Colin Firth anhimmeln und sich danach an die Arbeit machen.

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3 Gemma

Seit Gemma vor zwei Tagen das rosafarbene Pluszeichen auf dem Schwangerschaftstest gesehen hatte, war sie regelrecht in Panik. Sie hatte die Neuigkeit für sich behalten. Sobald sie Alexander davon erzählte, würde er sie in einer erdrückenden Umarmung an sich reißen, sie durch den Raum wirbeln, dann seine Familie anrufen, eine ganze Wagenladung Champagner zum Feiern bestellen und den Plan in die Tat umsetzen, der Gemmas Seele langsam, aber sicher alles Leben aussaugen würde.

Und weil Gemma letzte Woche ihren Job verloren hatte – einen Job, den sie so sehr liebte, dass sie jeden Abend vor dem Schlafengehen wehleidig wurde, weil sie die Arbeit vermisste –, würde Alexander, der als Staatsanwalt arbeitete, erst recht all seine Fähigkeiten aufbieten, um seinen Standpunkt durchzuboxen. Einen Standpunkt, auf dem er nun seit einem Jahr beharrte: Sie sollten endlich anfangen, die drei Kinder zu bekommen, die er sich wünschte, und in dieselbe Stadt in Westchester County ziehen, wo seine Eltern und sein Bruder mit seiner Familie lebten. «Um Himmels willen, Gemma. Wir sind neunundzwanzig», sagte Alexander immer wieder. «Seit fünf Jahren verheiratet. Worauf willst du noch warten?»

Alexander fand auch, dass es besser für Kinder sei, wenn ihre Mutter sich rund um die Uhr um sie kümmerte. Wenn es nach ihm ginge, konnte Gemma sich zukünftig also in Vollzeit um Heim und Herd kümmern, Kinder-Verabredungen verwalten und mit anderen Vorstadt-Muttis Rezepte austauschen, statt sozialkritische Hintergrundartikel für die New York Weekly zu schreiben.

Gemma umklammerte das Geländer des Balkons, der hoch über den Straßen Manhattans zu ihrem Apartment im achtzehnten Stock gehörte. Vor einer Minute ging es ihr noch gut. Sie hatte mit dem Notebook auf ihrem Bett gesessen und mit ihrer Freundin June per Skype die letzten Details geklärt. Wann sie heute Abend in Maine ankam, wann morgen die Hochzeit der gemeinsamen Freundin losging. Dann machte es pling, pling, pling. Sieben E-Mails von Alexanders Mutter trudelten ein. Hausexposés aus Dobbs Ferry, die allesamt von Mona Hendricks’ Überlegungen zu jedem einzelnen Zimmer, den Farben, der Umgebung und ein bisschen auch zu den Nachbarn ergänzt war, da Mona es sich zur Aufgabe gemacht hatte, die Nachbarschaft schon vorher auszukundschaften.

Lieber Himmel! Sie hatte sich gerade ein bisschen entspannt. Ihr genügte zu wissen, dass sie schon bald im Auto sitzen und rauf nach Maine fahren würde, um mit den Mädels ein gemütliches Wochenende zu verbringen. Weit weg von Alexander, der sie momentan schier erdrückte. Wenn er erst von ihrer Schwangerschaft erfuhr, wurde er bestimmt unerträglich! Gemma hatte es irgendwie geschafft, sich zu beruhigen und die Panik niederzuringen. Dann kamen die Mails von Mona, die ihr eine Vorschau auf das Leben gaben, in das Alexander sie zu zwingen versuchte, und Gemma war auf den Balkon gestürzt, um nach Luft zu schnappen.

Oh nein. Jetzt kamen auch noch die Bessells aus der Wohnung nebenan mit ihrem kleinen Sohn Jakey auf den Balkon. Jakey-Wakey dies, Jakey-Wakey das. Gemma hörte die Bessells die ganze Nacht den Kleinen betüdeln. «Jakey-Wakey muss das Windeli gewechselt kriegen!» Selbst um drei Uhr in der Früh schienen die Bessells immer total aufgeregt zu sein, weil sie wach sein und sich mit Pipi und Kaka beschäftigen durften.

Lydia Bessell hielt Jakey hoch, der nur eine Windel anhatte, und prustete auf den nackten Bauch des Babys, während John Bessell so tat, als würde er am Fuß des Kleinen knabbern. Der kleine Jacob gurgelte vor Freude.

Gemma starrte zu den beiden rüber und versuchte sich vorzustellen, wie sie selbst wohl mit einem Baby auf dem Arm aussehen würde. Aber es ging nicht. Sie war dazu bestimmt, als Reporterin zu arbeiten, preisgekrönte Artikel über das Leben in einem Wohnbauprojekt in Brooklyn zu schreiben oder von Familien in Far Rockaway zu berichten, die mit den Auswirkungen von Hurrikan Sandy zu kämpfen hatten. Sie musste da draußen unterwegs sein, das Wer, Was, Wo und Warum ergründen und Artikel schreiben, die Hunderte Leserbriefe und Kommentare nach sich zogen. Seit dem Moment, als sie im ersten Highschool-Jahr die Redaktion der Schülerzeitung betreten hatte, war sie Reporterin. Sie wollte niemals etwas anderes machen, als Geschichten zu erzählen, von echten Menschen und ihren Schicksalen zu berichten und ihren Lesern aus einer persönlichen Perspektive zu vermitteln, was wirklich auf der Welt geschah. Aber all die harte Arbeit, der langsame Aufstieg, das Schreiben rund um die Uhr, um wahnwitzige Deadlines einzuhalten – all das fand ein Ende, als sie letzte Woche von ihrem Chef in sein Büro gerufen wurde. Die New York Weekly war eine traditionsreiche, respektierte alternative Zeitung, in der der Name eines Autors noch etwas bedeutete. Und doch hatte man sie freigestellt mit den Worten: «Es tut mir so leid, Gem. Ich habe für dich gekämpft, aber die Zeiten sind hart, und oben hat jemand gesagt, wer seit weniger als fünf Jahren bei uns ist, muss als Erstes gehen. Aber du findest schnell was Neues, Gemma. Du bist schließlich die Beste.»