Sommersonnenwende - Pascal Engman - E-Book
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Sommersonnenwende E-Book

Pascal Engman

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Beschreibung

»Ein Pageturner mit Tiefe von den aufregendsten neuen schwedischen Krimiautoren.« Johanna Mo Die Sonne brennt heiß auf den Asphalt in einem Stockholmer Vorort, als eine junge Frau gefunden wird, vergewaltigt und erdrosselt. Kriminalkommissar Tomas Wolf kann den Anblick der Toten kaum ertragen – zu sehr erinnert sie ihn an die dunkle Zeit in seiner Vergangenheit, die er am liebsten vergessen würde. Doch in diesem Sommer '94 ist er der Erste am Tatort. Er ahnt nicht, dass auch die Journalistin Vera Berg in diesem Mordfall ermittelt und dabei alles aufs Spiel setzt – vor allem ihr eigenes Leben. Als in einer Kleinstadt eine Katastrophe passiert und es weitere Tote gibt, kreuzen sich die Wege von Tomas und Vera: Die gemeinsame Jagd nach einem brutalen Frauenmörder beginnt. Sie wird in alle Ecken der Gesellschaft reichen, dorthin, wo die dunkelsten Ängste und der tiefste Hass zu Hause sind. Der Auftakt einer neuen schwedischen Krimireihe vom Bestseller-Duo Engman & Selåker »Hochaktuell und spannend bis zur letzten Seite.« David Lagercrantz

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Sommersonnenwende

Die Autoren

Pascal Engman ist Autor und Journalist. Sein Thriller-Debüt Der Patriot, erschienen 2017, wurde von Kritiker:innen und Leser:innen gleichermaßen gefeiert. Er hat weltweit über 1 Million Exemplare seiner Bücher verkauft und wird in über 20 Ländern veröffentlicht. In Schweden ist er einer der beliebtesten Krimiautoren.

Johannes Selåker arbeitet als Journalist und war bei den Zeitungen Aftonbladet, Expressen und Aller Media als Nachrichtenleiter und Chefredakteur tätig. Im Jahr 2017 hat er eine der größten #MeToo-Untersuchungen geleitet. Sommersonnenwende ist der erste Kriminalroman, den er zusammen mit Pascal Engman geschrieben hat.

Das Buch

Kriminalkommissar Tomas Wolf hat in seinem Leben schon viele Leichen gesehen. Doch die schrecklichen Bilder seines Auslandseinsatzes als UN-Soldat haben sich ihm besonders in den Kopf gebrannt. Zurück im vermeintlich sicheren Schweden hofft er, bei seiner Familie Ruhe zu finden. Wie falsch er damit liegt, zeigt der Sommer 1994, als eine Mordserie die Nation erschüttert und ihn seine Vergangenheit einzuholen droht.Vera Berg ist Journalistin aus Leidenschaft, die für eine gute Story auch bereit ist, die Grenzen der Legalität zu überschreiten. Sie ist vor Kurzem für ihren Traumjob bei einer überregionalen Zeitung nach Stockholm gezogen – genau zur richtigen Zeit, denn Vera hat Schulden bei ihrem Ex-Freund. Doch wie Tomas merkt sie schnell, dass man nicht ewig vor Problemen davonlaufen kann.Sommersonnenwende ist der Auftakt einer schwedischen Krimireihe und der erste Fall für Tomas Wolf und Vera Berg.

Pascal Engman und Johannes Selåker

Sommersonnenwende

Kriminalroman

Aus dem Schwedischen von UIla Ackermann

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2023© 2022 Pascal Engman & Johannes SelåkerPublished by agreement with Nordin AgencyDie schwedische Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel Till minne av en mördare bei Bokförlaget Forum, Stockholm.Umschlaggestaltung: zero-media.net, MünchenUmschlagmotive: © Anton Petrus/Getty Images,FinePic®, MünchenUmschlaginnenseite: © Gabriel LiljevallAutorenfotos: © Gabriel Liljevall ABE-Book by pepyrusISBN: 978-3-8437-3006-8

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Inhalt

Titelei

Die Autoren / Das Buch

Titelseite

Impressum

PROLOG

Stupni Do, Bosnien-Herzegowina,Oktober 1993

TEIL I

Montag, 6. Juni 1994

Mittwoch, 8. Juni 1994

Donnerstag, 9. Juni 1994

Freitag, 10. Juni 1994

Samstag, 11. Juni 1994

TEIL II

Montag, 13. Juni 1994

Dienstag, 14. Juni 1994

Mittwoch, 15. Juni 1994

Donnerstag, 16. Juni 1994

Freitag, 17. Juni 1994

TEIL III

Samstag, 18. Juni 1994

Sonntag, 19. Juni 1994

Montag, 20. Juni 1994

Mittwoch, 22. Juni 1994

Freitag, 24. Juni 1994

Samstag, 25. Juni 1994

Sonntag, 26. Juni 1994

TEIL IV

Freitag, 1. Juli 1994

Sonntag, 3. Juli 1994

Montag, 4. Juli 1994

Mittwoch, 6. Juli 1994

Sonntag, 10. Juli 1994

Montag, 11. Juli 1994

Dienstag, 12. Juli 1994

Mittwoch, 13. Juli 1994

Donnerstag, 14. Juli 1994

Samstag, 16. Juli 1994

Sonntag, 17. Juli 1994

TEIL V

Montag, 18. Juli 1994

EPILOG

September

Nachwort und Dank der Autoren

Anhang

Es geht weiter!    PASCAL ENGMAN & JOHANNES SELÅKER WINTERSONNENWENDE

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

PROLOG

Widmung

Für unseren Freund Anders. Du fehlst uns.

PROLOG

Stupni Do, Bosnien-Herzegowina,Oktober 1993

Von den skelettartigen Häusern stieg Rauch auf. Aus einem von ihnen ragte ein Rohr, und Wasser sprudelte heraus, bildete auf dem Boden eine dunkle Pfütze. Tomas Wolf wandte sich ab. Die schwedischen Sisu-Kampffahrzeuge sehen in der grünen Talsohle wie gestrandete Wale aus, schoss es ihm durch den Kopf. Der Himmel über dem Dorf war grau und schwer, die Luft rau und kalt.

Mit zusammengekniffenen Augen sah er zum Waldrand hinüber, ließ den Blick weiter nach oben und über die bewaldete Hügelkette schweifen, die von milchigem Nebel eingehüllt war.

Die schwedischen UN-Soldaten inspizierten die Ruinen eines Ortes, der bis vor Kurzem das Zuhause von Menschen gewesen war. Jedes Gebäude war zerstört. Wo sind die Bewohner?, dachte Tomas. Hatten sie fliehen können?

Hinter ihm erklang ein Hupen. Weitere Sisu-Militärtrucks schlossen sich an. Ein Versuch, wie Tomas wusste, eventuelle Überlebende dazu zu bewegen, aus ihren Verstecken zu kommen.

Jemand rief, er habe einen Kieferknochen gefunden. Das Fernsehteam, das die schwedische Truppe begleitete, eilte in die Richtung.

Tomas bewegte sich wachsam auf die geöffnete braune Kellertür eines Steinhauses zu, löste die Stabtaschenlampe von seinem Gürtel und ging hinein. Ein Geruch nach Feuchtigkeit und Erde umgab ihn. Er leuchtete umher. Holzregale an den Wänden. Säcke mit Kartoffeln auf dem Boden. Als sich in einer Ecke etwas bewegte, fuhr er erschrocken zusammen. Eine orange Katze huschte fauchend an seinem rechten Fuß vorbei und verschwand ins Freie.

Tomas atmete erleichtert auf, dann sah er sich weiter im Keller um, ließ den Strahl der Taschenlampe über Wände und Boden gleiten, bis dieser auf etwas Weißes fiel, fast fluoreszierend auf dem erdigen Untergrund.

Vor Entsetzen ließ er die Lampe fallen. Bückte sich, tastete über die festgestampfte Erde, hob die Taschenlampe auf und richtete sie auf die Stelle. Der Lichtkegel fiel auf einen nackten Fuß. Die Zehennägel waren rot lackiert. Mit zitternder Hand ließ Tomas den Strahl weiter nach oben wandern. Vor einem Regal lagen drei tote Frauen auf dem Rücken. Sie hielten sich an den Händen. Einschusslöcher in den Köpfen. Die Kehlen durchtrennt. Tomas drehte sich um, stolperte nach draußen, sackte auf dem Treppenabsatz zusammen und sog keuchend die kalte Luft ein. Ein Stück entfernt lag ein platter schwarz-weißer Fußball im Morast. Daneben ein kleiner Kinderstiefel.

»Was zum Teufel haben sie getan?«, flüsterte er.

Er hatte schon früher tote Menschen gesehen. Sowohl hier in Bosnien als auch zu Hause in Schweden, wo er als Kriminalkommissar bei der Stockholmer Mordkommission arbeitete. Aber das hier, das war etwas anderes. Er hatte es bereits gewusst, als er das gespenstische Dorf betreten hatte, doch der Anblick der drei getöteten Frauen führte ihm die Erkenntnis mit voller Wucht vor Augen. An diesem Ort hatte der Hass alles ausgelöscht. Alles, was seinen Weg gekreuzt hatte. Und niemand würde auch nur den Versuch unternehmen, die Täter ausfindig zu machen. Kein Blaulicht, kein Sirenengeheul. Es würde keine Tatortuntersuchung geben. Keine Obduktionen. Keine Bürokratie. Im Krieg waren tote Menschen ein Fakt, der nicht infrage gestellt wurde. Man hob Gräber aus, und die Toten wurden bestattet, wurden zu Erinnerungen.

Ein Soldat kam auf ihn zu, half ihm auf die Füße. Tomas wies auf den Kellereingang, versuchte wiederzugeben, was er gesehen hatte. Der Mann, den Tomas auf ungefähr fünfundzwanzig schätzte, mit leuchtend blauen Augen und Bürstenschnitt, hörte mit finsterer Miene zu.

Als Tomas verstummte, deutete der andere auf eine weitere Häuserruine.

»Hinter dem Haus da liegt ein Junge. Höchstens acht, neun Jahre alt. Er wurde totgetreten. Verstehst du? Sein kleiner Körper ist von lehmigen Stiefelabdrücken erwachsener Männer übersät.«

Als Tomas keine Antwort gab, nickte der Mann ihm kurz zu, klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter und verschwand in Richtung der Sisu-Fahrzeuge. Damit seine Beine nicht wieder nachgaben, stützte sich Tomas am Treppengeländer ab und versuchte, sich zu sammeln. Der Nebel über den Bergen begann, sich ein wenig zu lichten.

Der Angriff der Kroaten auf das Dorf hatte Samstagmorgen begonnen, heute war Dienstag. Er versuchte, sich die Szenen auszumalen, die sich hier abgespielt hatten. Es gelang ihm nicht.

Ich will nach Hause zu meinen Kindern, dachte er. Ich möchte nicht noch mehr bewaffneten Männern mit Kerben in ihren Kalaschnikows begegnen, die damit markieren, wie viele Menschen sie getötet haben.

Er klopfte die Knie seiner khakifarbenen Felduniform ab, dann folgte er einem unebenen Schotterweg und stieg über einen niedrigen Zaun in einen verwilderten Garten, in dem schlafende, dürre Obstbäume aufragten. Die Hintertür hing schief in den Angeln. Im Haus war es ebenso kalt wie draußen.

»Hallo? Ist hier jemand?«

Auf dem Vorhof, neben einem Haufen Gerümpel, stand ein weißer, verrosteter Lada. Der Wagen war auf einem provisorischen Gestell aufgebockt, und die Reifen fehlten.

Tomas nestelte eine Zigarette hervor, zündete sie mit zitternden Händen an und klemmte sie in den Mundwinkel. Mit den Händen stützte er sich am Dach des Ladas ab, beugte sich zum Seitenfenster und sah hinein.

Durch den weißen Tabakqualm konnte er einen gelben Spülhandschuh erkennen, wie eine Flamme leuchtete er in der grauen Umgebung auf. Er ließ seinen Blick aufwärtswandern und schaute geradewegs in zwei weit geöffnete braune Augen. Die Zigarette fiel ihm aus dem Mund und wurde vom Morast verschluckt. Die Frau lebte. Ein paar Sekunden betrachteten sie einander stumm, dann legte Tomas die Hand auf den Griff der Tür, zog sie auf und beugte sich ins Wageninnere. Die Frau schien etwa fünfundzwanzig Jahre alt zu sein und hatte dunkelbraune, gelockte Haare, die ihr bis auf die Schultern fielen. Sie kauerte auf der Rückbank unter einer grauen Wolldecke und zitterte vor Kälte.

»I’m Tomas«, sagte er sanft. »I’m here to help you.«

Er machte langsame, behutsame Bewegungen. Er wollte sie nicht erschrecken. Mit aufgerissenen Augen sah sie auf seine Hand, die er ihr entgegenstreckte. Doch anstatt sie zu nehmen, tat sie etwas, das ihn verblüffte. Bevor sie seine Hand ergriff und zögernd drückte, streifte sie den Spülhandschuh von ihrer rechten Hand.

»Azra«, sagte sie.

Ihre Hand war klein und kalt und roch schwach nach Gummi.

TEIL I

Montag, 6. Juni 1994

1

Tomas Wolf starrte in die Augen seiner Frau Klara. Sie erwartete eine Antwort. Auf der Hornsgatan hupte ein Lkw, und der Missklang durchschnitt die warme Frühsommerluft.

»Ich habe dich gefragt, wo das Geld geblieben ist«, wiederholte sie.

Er wandte den Blick ab, betrachtete das Schaufenster der Bankfiliale, aus der sie gerade gekommen waren. Vor dem Geldautomaten links vom Eingang hatte sich eine kleine Schlange gebildet. Sein Mund war wie ausgetrocknet. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, griff sich an den Krawattenknoten und lockerte ihn. Lächerlich, dass er sich in Schale geworfen hatte. Braunes Jackett, dunkelroter Schlips. Unter dem weißen Hemd rann ihm der Schweiß. Tomas zog eine Zigarette aus der Brusttasche und schob sie zwischen die Lippen. Ehe er sie anzünden konnte, riss Klara sie ihm aus dem Mund, warf sie auf den Boden und zertrat sie.

»Würdest du mir das verflucht noch mal erklären?«

»Ich bringe das in Ordnung. Komm.«

Er nahm sie sanft beim Arm und führte sie zum Auto, wo ihre beiden Kinder Alexander und Ebba warteten. Heute war der erste Sommerferientag. Klara hatte Urlaub, und Tomas hatte sich freigenommen, um den Tag mit seiner Familie zu verbringen. Der himmelblaue Volvo 240 stand in der Swedenborgsgatan im Schatten. Vor einer Konditorei stieg ihm der Duft frisch gebackener Zimtschnecken in die Nase. Drinnen saßen weißhaarige Senioren mit krummen Rücken über ihr Gebäck gebeugt.

Klara schien sich ein wenig beruhigt zu haben, resigniert lief sie neben ihm her. Ein Stück vom Auto entfernt blieb sie stehen und sah ihn an. Ihr Blick war eher bittend als wütend. Die Enttäuschung in ihren Augen weckte sein schlechtes Gewissen.

»Sag mir die Wahrheit, Liebling. Ich werde nicht sauer. Hast du das Geld deinen Brüdern gegeben? Steckst du wegen ihnen in Schwierigkeiten?«

Er schüttelte leicht den Kopf. Wellen von Scham durchfluteten ihn. Er konnte es ihr nicht sagen. Es war unmöglich.

»Nein.«

»Wie sollen wir das Haus kaufen?«

»Ich sagte doch, ich werde das regeln.«

»Und wie? Wir brauchen fünfundzwanzigtausend Kronen. Du verdienst dreiundzwanzigtausend, und uns bleiben weniger als zwei Monate, bevor der Makler sich nach anderen Käufern umsieht.«

Tomas antwortete nicht, ging zum Auto und öffnete die Fahrertür. Bevor er sich hinters Lenkrad setzte, zog er das Jackett aus, faltete es hastig zusammen und legte es zwischen Ebba und Alexander auf die Rückbank.

Sie hatten die Seitenfenster nach unten gekurbelt, trotzdem waren die Gesichter der Kinder gerötet und glänzten vor Schweiß. Tomas ließ den Motor an und drehte das Gebläse auf die höchste Stufe. Die Luft, die herausströmte, war warm und muffig.

»Kommst du?«, fragte er Klara, die noch auf dem Bürgersteig stand.

Sie zog die Beifahrertür auf und stieg ein.

Tomas lenkte den Wagen vom Bordstein weg und fädelte sich in die vormittägliche Rushhour auf der Hornsgatan ein. Klara hielt den Blick von ihm abgewandt. Ebba begann laut zu plärren. Der sechsjährige Alexander, der Ältere der beiden, trat und boxte von hinten gegen den Fahrersitz. Schnelle, rhythmische Schläge.

»Lässt du das bitte?«, sagte Tomas.

Die Tritte und Schläge hörten auf.

Sie hielten an einer roten Ampel, hinter einem roten Bus. Grauschwarze Dieselschwaden drangen ins Wageninnere. Tomas nahm seine rechte Hand vom Schaltknüppel, legte sie auf Klaras linke und drückte sie sanft. Sie zog sie mit einem Ruck weg und verschränkte die Arme vor der Brust.

Die Ampel sprang um, und der Bus fuhr mit einem Ächzen los. Ebbas Gebrüll erfüllte das Auto. Langsam krochen sie die Hornsgatan entlang. Die stickige Luft im Auto war schwer und massiv und schien dem Körper keinerlei Sauerstoff zuzuführen. Tomas atmete durch den Mund, seine Beine kribbelten. Eine Handbreit vor ihnen drängelte sich ein grüner Volvo in den Verkehr. Tomas bremste abrupt, unterdrückte einen Fluch. An der Kreuzung Ecke Ringvägen mussten sie an der nächsten roten Ampel halten. Er konnte den Nacken des Fahrers des grünen Volvo sehen. Der Sechsjährige fing wieder an, mit den Füßen gegen den Vordersitz zu treten. Nicht mit der gleichen Vehemenz wie eben, dafür fester, entschlossener. Tomas nahm sein Jackett von der Rückbank, legte es auf seine Oberschenkel, rieb seine schweißnassen Hände trocken und tastete nach seinen Zigaretten. Fand sie.

»Du rauchst verdammt noch mal nicht im Auto«, sagte Klara.

Stumm wischte er sich mit dem Hemdsärmel den Schweiß von der Stirn und schob sich eine Zigarette zwischen die Lippen. Ebba heulte immer lauter. Tomas steckte die Prince an, schloss die Augen und ließ den Rauch durch die Nase entweichen. Vor seinen Augen flimmerte es, seine Finger waren krampfhaft geschlossen. Die Ampel sprang um. Die Rücklichter des grünen Volvo entfernten sich. Er versuchte, sich daran zu erinnern, wie er seine Füße stellen musste, damit der Wagen losfuhr, und starrte mit leerem Blick auf den Tacho. Hinter ihm begann es zu hupen. Zuerst nur eine einzelne Hupe, doch das Hupen schwoll rasch an, steigerte sich zu einem hallenden dissonanten Orchester.

Alexander trat fest gegen seinen Sitz.

»Wieso fährst du nicht los, Papa?«, fragte er.

Klara sah ihn an.

Ein weiterer harter Tritt.

Ich muss hier weg. Ich muss raus aus diesem Auto. Sofort. Sonst sterbe ich.

Tomas stieß die Tür auf. Stieg aus. Klara streckte sich über den Fahrersitz und rief ihm etwas nach. Unschlüssig blieb er vor der Kühlerhaube stehen. Er schwankte, fühlte sich, als hätte ihm jemand einen Schlag versetzt. Sein Blickfeld verschwamm. Er blinzelte hektisch. Passanten blieben stehen, beobachteten neugierig, was sich da abspielte. Kurz entschlossen drehte er sich um und überquerte die Mittellinie in Richtung Zinkensdamm. Ein Auto machte im letzten Moment eine Vollbremsung, um ihn nicht zu überfahren. Klara rief etwas Unverständliches, aber er ging weiter.

2

Vera Berg hatte ihren Freund Jonny Möller zuletzt vor sieben Tagen gesehen. Am vergangenen Sonntag war er losgezogen, um Bier zu kaufen, und seitdem nicht mehr aufgetaucht.

Jetzt hockte Jonnys sechsjähriger Sohn Sigge in der Dreizimmerwohnung in der Ystadsgatan in Malmö am Küchentisch und starrte sie an.

»Muss ich dann ganz allein hierbleiben, wenn du wegziehst?«

Auf dem Boden lag Veras schwarze Reisetasche wie eine Mauer zwischen ihnen. Der physische Beweis des Vertrauensbruchs, den sie in Kürze an dem Jungen begehen würde.

»Ich würde dich niemals alleine lassen, Großer.«

In zwei Stunden musste sie sich ins Auto setzen und nach Stockholm fahren. Dort wartete eine neue Wohnung auf sie. Ein neuer Job als überregionale Journalistin in der Hauptstadtredaktion der Kvällsposten. Eines der anspruchsvollsten Ressorts der Zeitung.

Vera stand auf, ging einen Schritt auf Sigge zu und wollte ihm über den Kopf streicheln, aber er wich ihr aus.

»Doch, das wirst du. Das weiß ich«, sagte er. »Alle lassen mich allein. Erst Mama. Dann Papa. Und jetzt du.«

Vera wusste, wie es sich anfühlte, wenn die ganze Familie sich von einem abkehrte. Darum hatte sie ihre Abreise um eine Woche verschoben, darauf gewartet, dass Jonny zurückkam, aber er war nicht aufgetaucht. Und am Freitag hatte ihre neue Chefin gedroht, die Stelle zurückzuziehen, wenn Vera nicht Montagnachmittag auf der Matte stünde.

»Papa kommt bestimmt bald, Kumpel.«

Vera glaubte ihren Worten selbst nicht mehr, aber was sollte sie sagen? Der Junge hatte recht. Sein Vater schien sich nicht mehr für ihn zu interessieren. Seine Mutter war tot, und Vera musste die Chance ergreifen, die die Kvällsposten ihr bot.

»Du bist nicht mal meine Mama«, sagte Sigge jetzt. »Ich bin dir egal.«

Das stimmte nicht. Die ganze Woche hatte sie versucht, Jonny zu finden, und, als das gescheitert war, sich den Kopf nach einer anderen Lösung zermartert. Um nicht das tun zu müssen, wozu sie nun gezwungen war.

»Du bist der wichtigste kleine Mann in meinem Leben. Ich weiß, dass ich nicht deine Mama bin, aber du bist trotzdem wie ein Sohn für mich.«

Der Junge entspannte sich, und Vera streckte die Hand aus. Diesmal ließ Sigge zu, dass sie ihm durch die zerzausten braunen Haare fuhr. Seine grünen Augen sahen sie an.

Dann sprang er auf und lief ins Wohnzimmer. Ein paar Sekunden später drang die Titelmelodie von Mio, mein Mio aus dem Fernseher.

Vera versuchte, die Wut zurückzudrängen, die in ihr aufstieg.

Wer tat so etwas seinem eigenen Kind an?

Meine Eltern, dachte sie. Und das wusste Jonny.

Der Scheißkerl.

Darum hatte er sich aus dem Staub gemacht. Das war seine Art, sie zu kontrollieren. Jonny war der einzige Mensch, der ihr Geheimnis kannte. Das Schreckliche, das vor zwölf Jahren geschehen war. Was Vincent zugestoßen war. Warum ihre Eltern sie nicht mehr als ihre Tochter ansahen. Und jetzt verwandte er dieses Wissen gegen sie.

Er wusste, dass sie Sigge niemals im Stich lassen würde.

Am liebsten hätte sie mit der Faust ein Loch in einen der Küchenschränke geschlagen. Doch dann würde Sigge angerannt kommen. Voller Angst, dass ihr etwas passiert war.

Vera spürte, wie ihre Gedanken sich verdüsterten. Sie rief sich die unzähligen Male in Erinnerung, in denen Jonny nicht nach Hause gekommen war. In Polizeigewahrsam gesessen hatte. Nach Deutschland gefahren war, um Speed nach Schweden zu schmuggeln. Oder ein Kneipenbier zu einem Drei-Tage-Besäufnis im Clubheim des South Sides MC hatte ausarten lassen.

Vera verfluchte sich selbst dafür, dass sie ihre Sachen nicht schon viel früher gepackt hatte. Dann wäre dieser Schlamassel nie passiert. Jonny hatte geahnt, dass etwas im Busch war. Dass sie Schluss machen wollte. Also hatte er sich verpisst, in der Gewissheit, dass sie mit Sigge noch da wäre, wenn er zurückkam.

Sie fuhr mit der Hand über den abgenutzten Kiefernholztisch. Hier hatten sie es in der ersten Nacht getrieben, auf dem Küchentisch, während die Party im Wohnzimmer lautstark weitergegangen war. Hinterher hatte sie rote Schrammen am Hintern gehabt. Hautabschürfungen von der Tischplatte. Der Sex war ein Machtkampf gewesen, aggressive Versuche, den anderen zu unterwerfen.

Vielleicht hätte sie Jonny schon längst verlassen, würde sie nicht in seiner Schuld stehen. Sie waren vor vier Jahren zusammengekommen, und in den ersten zwei Jahren hatte Jonny für sie gesorgt. Er hatte ihr ein Zuhause gegeben, als sie keine Bleibe mehr gehabt hatte. Er hatte ihren Studienkredit getilgt. Ohne ihn hätte sie ihr Journalistik-Studium nicht abschließen können.

Es war, als würden zwei Jonnys existieren, die permanent im Kampf miteinander lagen.

Im letzten Jahr hatte leider der falsche Jonny gesiegt.

Ihr Handy klingelte. Am anderen Ende war der Polizist Casper Seger, Veras beste Quelle in ihrem Job als Kriminalreporterin.

»Bitte, sag mir, dass du ihn gefunden hast«, sagte sie. »Ich weiß nicht, was ich tun soll.«

Trotz ihrer Scheißwut auf Jonny machte sie sich Sorgen. Was ihre Wut nur verstärkte. Sie griff nach einem Messer und rammte es in die Tischplatte. Mitten durch die Anmeldebestätigung von Sigges Schwimmkurs.

Das Hallenbad hieß Aqua-cool, was für ein dämlicher Name.

»Jonny wurde nicht festgenommen«, erwiderte Casper. »Aber ich glaube, ich weiß, wo er stecken könnte. Ich habe es von einem Kollegen, der einen V-Mann in Jonnys Umfeld hat.«

»Und?«

»Ein paar kleinere Bikerklubs halten ein gemeinsames Treffen ab. Offenbar wollen sie sich zusammentun. Ein Netzwerk bilden, um den Hells Angels ihre Macht zu beweisen und als Affiliate-Clubs gemeinsam unter das HA-Banner aufgenommen zu werden.«

»Na wunderbar. Ich bin also dabei, einem Hells Angel den Laufpass zu geben. Wo findet dieses Treffen statt?«

»Ja, das ist das weniger Positive. Jonny ist in Deutschland. Sie wollen Reviere abstecken und untereinander aufteilen. Wird verflucht lange dauern, bei den ganzen Alphahähnen, die ihre Brustfedern aufplustern.«

»Scheiße.«

»Ja.«

»Was mache ich mit dem Jungen, Casper?«

»Gibt es nicht irgendeinen Verwandten, zu dem du ihn bringen kannst?«

»Nein.«

»Dann hast du nur zwei Möglichkeiten, und die eine könnte als Kindesentführung ausgelegt werden. Vera, ich weiß, was du tun möchtest. Aber du kannst ihn nicht mitnehmen. Nicht, solange Jonny auf freiem Fuß ist. Schlimmstenfalls könntest du dafür ins Gefängnis wandern.«

»Ich weiß.«

Vera beendete das Gespräch und ging hinaus in den Flur. Sand knirschte unter ihren Füßen, Schuhe lagen wild durcheinandergeworfen auf dem Boden. Ihr Blick fiel auf den Verkehrsleitkegel, den Jonny im Suff mit nach Hause geschleppt hatte. Daneben stand das Telefontischchen. Vera schlug die Gelben Seiten auf, blätterte zum Buchstaben J, riss die Nummer des Jugendamtes heraus, steckte den Zettel in die Hosentasche und ging zurück in die Küche.

Sie wollte es nicht tun, aber ihr blieb keine andere Wahl. Sie konnte Sigge nicht weiter in den Auswüchsen von Jonnys Chaos leben lassen.

Auf dem Küchentisch lag ein Kochbuch mit einem Brandfleck in der Größe eines Kochtopfs auf dem Umschlag. Eine Erinnerung an den Tag, als Jonny, zugedröhnt mit Speed, Sigge erlaubt hatte, alleine Popcorn zu machen, und das Öl Feuer gefangen hatte.

Vera war in dem Moment nach Hause gekommen, als die Flammen aus dem Topf emporgeschlagen waren.

Szenen aus dem letzten desaströsen Jahr zogen vor ihrem inneren Auge vorbei. Die seltenen Male, in denen Jonny mit Sigge alleine gewesen war, hatten in einem Fiasko geendet. Er war betrunken bei Elternabenden aufgekreuzt und zugedröhnt Auto gefahren, mit Sigge nicht angeschnallt auf der Rückbank. Im März hatte Vera den Jungen einmal in einem Bordell abgeholt, wo Jonny ihn geparkt hatte, weil er einen Babysitter brauchte. Jedes Mal hatte sie alles stehen und liegengelassen und war gesprungen.

Der Zettel in ihrer Hosentasche war eine miserable Lösung. Aber es war die einzige Karte, die sie spielen konnte.

»Sigge!«, rief sie.

»Ja?«

»Ich dachte, wir fahren in ein Abenteuercamp.«

Fußgetrappel im Wohnzimmer. Sigge erschien im Türrahmen. Mit kugelrunden Augen.

»Ist das wahr?«

»Du musst vielleicht eine Nacht da schlafen. Bis Papa kommt. Pack schnell deinen Rucksack mit deinem Lieblingsspielzeug.«

»Und Papa kommt wirklich?«

»Ehrenwort.«

Sigge sah Vera skeptisch an. Dann ging er seinen Rucksack packen. Nicht ahnend, dass sein Leben von heute an nie mehr so sein würde wie vorher.

3

Tomas stand im Laubengang vor ihrer Dreizimmerwohnung. Die Hitze war unverändert, aber der Verkehr auf der Hornsgatan hatte ein wenig nachgelassen. Er betrachtete das Türschild, auf dem Wolf stand.

Da steht unser Name, wir gehören zusammen, aber wir sind schon lange keine Familie mehr. Und das ist ganz allein meine Schuld.

Durch das Fenster neben der Wohnungstür sah er, dass Klara in der Küche Mittagessen kochte. Er schob den Schlüssel ins Schloss. Es roch nach gebratenen Zwiebeln. Tomas zog die Schuhe aus, hörte, dass im Wohnzimmer der Fernseher lief. Er ging in die Küche. Klara hielt mitten in der Bewegung inne, drehte sich langsam zu ihm um, ein Bündel Spaghetti in der Hand.

»Du musst dich um Hilfe bemühen«, sagte sie. »So geht es nicht mehr weiter.«

Sie sah ihn besorgt an. Die Hackfleischsoße köchelte blubbernd auf dem Herd.

»Was war los?«, fragte sie.

»Ich weiß es nicht«, flüsterte er. »Es tut mir leid. Wie geht es den Kindern?«

»Sie sind okay.«

»Konntest du das Auto nach Hause fahren?«

Klara nickte fast unmerklich, nahm den Deckel von einem Topf, gab die Spaghetti hinein und drückte sie mit einem Plastiklöffel ins Wasser. Er liebte sie. Und er wusste, dass sein Verhalten absolut inakzeptabel gewesen war. Man ließ seine Familie nicht allein auf einer Kreuzung im Auto zurück.

»Ich treibe das Geld auf. Mein Bruder schuldet mir noch was.«

Tomas trat einen Schritt auf Klara zu, legte die Arme um ihre Taille, drückte sie an sich und meinte zu spüren, wie sie sich in seiner Umarmung entspannte.

Im Fenster hinter dem Küchentisch hing ein Weihnachtsstern. Seit Monaten versprach er ihr, den Stern und die ganze übrige Weihnachtsdekoration, die noch überall in der Wohnung verteilt war, abzunehmen. Er würde es heute Abend tun. Wenn er von Kristian nach Hause gekommen war.

»Das Auto steht auf der anderen Straßenseite vor dem Geschäft für Anglerbedarf«, sagte Klara und löste sich von ihm.

Sie begann, die Hackfleischsoße umzurühren. Tomas betrachtete ihren Rücken. Er sollte den Tisch decken, irgendeinen Beitrag leisten.

»Ich bringe das in Ordnung. Wir werden unser Haus bekommen. Hörst du, was ich sage? Ich verspreche es dir.«

Klara antwortete nicht.

Im Auto stellte Tomas prüfend die Füße auf die Pedale und strich mit den Händen über Schaltknüppel und Lenkrad. Er atmete tief ein und erinnerte sich wieder daran, wie man Auto fuhr. Er wendete, und an derselben Kreuzung, an der er heute Vormittag seine Familie im Stich gelassen hatte, bog er rechts ab. Am Sportplatz Zinkensdamm schielte er zum Fußballfeld hinüber und sah im gleichen Moment das Gesicht eines toten Mädchens vor sich aufblitzen.

Jede Stadt war voll unsichtbarer Gräber. Stockholm bildete keine Ausnahme. Während seiner Laufbahn als Kriminalkommissar bei der Stockholmer Mordkommission waren die unsichtbaren Grabsteine immer zahlreicher geworden, und inzwischen ragten sie überall rings um ihn empor. Die aufgemalten Leichenumrisse verschwanden nie völlig, mochten die Straßen und Gehwege auch noch so gründlich abgespritzt und gereinigt worden sein. Auf einer Bank neben dem Fußballfeld war im Dezember 1992 ein junges Mädchen mit Raureif in den Haaren gefunden worden – erstochen. Einen Kilometer entfernt, am Liljeholmskajen, hatten sie ein paar Monate später einen erschossenen Drogendealer aus dem Wasser gefischt. Und erst im April hatten ein paar Jugendliche im Tantolunden die zerstückelte Leiche eines Junkies entdeckt, verteilt auf vier schwarze Müllsäcke.

Stockholm war voll von Mordopfern, an die sich nur ein paar wenige Menschen erinnerten: Angehörige, Polizeiermittler und Täter.

Tomas wünschte, er könnte vergessen, doch das war unmöglich. Er konnte ihre Gesichter und ihre anklagenden, unbelebten Blicke nicht verdrängen.

Er drehte das Autoradio lauter.

Als er eine halbe Stunde später einen Umweg über Sigtuna nahm, um das Zusammentreffen mit seinem Bruder hinauszuzögern, passierte er ein Filmset. Ein fahrbarer Kamerakran ragte in die Höhe. In einem Ring aus Filmleuten machte er zwei Schauspieler aus. Langsam fuhr er am Set vorbei und weiter in Richtung des schäbigen Stockholmer Vororts Märsta.

Als er in einem Gewerbegebiet, einen knappen Kilometer vom Haus seines Bruders entfernt, eine Polizeiabsperrung entdeckte, hielt er an und parkte in zweiter Reihe. Ein junger uniformierter Kollege, der ihn wohl für einen schaulustigen Bürger hielt, winkte abwehrend mit der Hand, hielt jedoch inne, als Tomas seinen Dienstausweis aus der Innentasche seiner Jacke zog.

»Tomas Wolf, Mordkommission Stockholm.«

Hinter dem Rücken des Beamten lag eine junge Frau auf der Straße. Ein Team der Spurensicherung fotografierte und platzierte Messstäbe. Ihre Silhouetten warfen längliche schwarze Schatten auf den Asphalt. Tomas bückte sich unter der Absperrung hindurch.

»Sie wurde eben erst gefunden, liegt aber vermutlich schon seit heute Nacht hier«, informierte ihn ein anderer Beamter. »Sie lag unter einer Plane. Erdrosselt.«

Tomas schirmte die Augen mit der Hand ab.

»Wer ist sie?«

»Ich weiß es nicht. Aber wir nehmen an, dass sie in der Flüchtlingsunterkunft gewohnt hat.« Der Mann deutete auf ein längliches, dreistöckiges rotes Ziegelsteingebäude.

Tomas’ Kehle schnürte sich zusammen, sein Atem flachte ab, und sein Mund war mit einem Mal wie ausgetrocknet.

»Wollen Sie sich die Frau nicht ansehen?«, fragte der Beamte.

Tomas schüttelte heftig den Kopf. Er brachte es nicht fertig, dem Fotoalbum der Toten, das er mit sich herumtrug, ein weiteres Bild hinzuzufügen. Nicht noch ein Gesicht eines ermordeten Menschen.

»Ich muss weiter«, sagte er und hob das Absperrband an.

4

Es war bereits elf Uhr, als Vera den Kofferraum ihres hellblauen Saab 900 aufschloss, der in der Ystadsgatan parkte. Sie musste los, wenn sie vor achtzehn Uhr in Stockholm sein wollte. Sie hatte einen Termin mit ihrer neuen Chefin.

Am Himmel hingen tiefe schwarze Wolken, die jeden Moment auf sie hinabzufallen schienen. Von einem benachbarten Balkon zog Cannabisgeruch herüber. Sigge stand neben dem Auto und trampelte ungeduldig mit den Füßen wie ein Hund, der vor die Tür musste, voller Freude, endlich ins Abenteuercamp zu fahren.

Die Kofferraumklappe klemmte wie üblich. Mit einem kräftigen Ruck riss Vera sie schließlich auf.

»Verdammt, Jonny«, schimpfte sie.

Sigge stand wie ein geölter Blitz neben ihr.

»Deine Tasche passt da nicht mehr rein«, stellte er fest. »Warum liegt das alles in deinem Auto?«

»Weil dein Vater ein lumpiger Dieb ist«, erwiderte Vera.

Vor ein paar Wochen war Jonny spätnachts nach Hause gekommen, stinkwütend, und hatte in der Küche unter lautstarkem Schrankgeklapper nach einer Flasche Wodka gesucht. Irgendwann hatte sie ihn dazu gebracht, sich zu beruhigen und zu erzählen, was passiert war.

South Side MC hatte einen Tipp über eine Lastwagenladung Heimelektronik bekommen, die auf dem Weg ins Malmöer Expert-Lager war. Jonny und seine Kumpel hatten eine Straßenblockade errichtet, den Lastwagen mit vorgehaltenen Pistolen gekapert und waren zu einer Lagerhalle gefahren, um die Beute dort umzuladen.

Doch der Tippgeber war falsch informiert gewesen. Der Lastwagen hatte kein Expert-Lager angesteuert, sondern einen Supermarkt. Und nun lagen an die hundert Konserven in Veras Kofferraum. Oliven, Mais und Thunfisch. Sowie die eine oder andere Dose Katzenfutter.

Sigge begann, die Dosen zu inspizieren.

»Willst du Mais oder Oliven?«, fragte Vera. »Oder Whiskas?«

»Oliven«, antwortete Sigge und kicherte. »Ich bin doch keine Katze.«

Vera warf ihm eine Dose zu.

»Und jetzt ab mit dir ins Auto.«

Zehn Minuten später fuhr Vera im Malmöer Stadtteil Värnhem auf einen Parkplatz. Vor ihnen ragte ein enormer Verwaltungs-wolkenkratzer auf, der aussah, als wolle er den Bürgern den Himmel stehlen.

Auf der Rückbank warf Sigge eine Olive in die Luft und versuchte, sie mit dem Mund aufzufangen, doch sie prallte an seiner Wange ab und landete auf dem Sitz.

»Wir sind da«, sagte Vera.

Sie hatte noch nicht entschieden, wie sie Sigge erklären sollte, dass sie ihn angelogen hatte.

»Komm.« Sie stieg aus dem Auto. »Und nimm deinen Rucksack mit.«

Sigge blickte sich um, dann stieg er zögernd aus. Langsam gingen sie auf den Backsteinbau zu. Hand in Hand.

»Ju-gen-d-amt«, buchstabierte Sigge sich durch ein Informationsschild. »Was ist das, Vera?«

»Ein Ort, an dem man Hilfe bekommt.«

»Brauchen wir Hilfe?«

Vera hatte keine Ahnung, was sie antworten sollte. Es dauerte einen Moment, bis Sigge aufging, dass etwas nicht stimmte.

»Hier gibt es kein Abenteuercamp«, sagte er.

»Nein«, gab Vera zu.

Sigges Griff um ihre Hand wurde fester. Er begann, sich zu sträuben.

»Willst du mich allein lassen?«

Tränen kullerten über seine Wangen. Er hatte verstanden, ohne es verstehen zu können.

»Du darfst mich nicht allein lassen.«

»Du bleibst ein bisschen bei einer netten Tante. Bis Papa zurückkommt.«

Vera dachte an ihre eigene Mutter. Sie hatten sich seit über zehn Jahren nicht gesehen. Sie rief Vera ein, zwei Mal im Jahr an, versteckte sich dabei aber in der Speisekammer und sprach im Flüsterton, damit Veras Vater von dem Telefonat nichts mitbekam.

Es gab keinen schlimmeren Verrat, als ein Kind im Stich zu lassen. Wie würde Sigge dadurch geprägt werden?

Bilder aus der Höllennacht vor zwölf Jahren stiegen aus ihrer Erinnerung auf. Als Vera Sigges verzerrtes Gesicht sah, sah sie gleichzeitig das Gesicht ihres kleinen Bruders vor sich. Vincent, der Junge, der nie hatte erwachsen werden dürfen. Ihretwegen.

»Ich will nicht!«, schrie Sigge.

»Es geht nicht anders«, sagte Vera. »Es ist die beste Lösung. Für dich.«

Aber es fühlte sich nicht wie die beste Lösung an. Sie nestelte den Zettel mit der Telefonnummer des Jugendamtes aus der Hosentasche und zog den widerspenstigen Sechsjährigen hinter sich her.

»Du hast gesagt, dass ich dein Sohn bin«, schrie Sigge. »Du hast gelogen!«

Sie erreichten den Eingang. Sigge setzte sich im Protest auf den Boden. Wiederholte immer wieder, dass sie ihn nicht allein lassen dürfte.

Vera ging vor ihm in die Hocke. Umarmte ihn fest. Spürte die Wärme seines schmächtigen Körpers. Roch den klebrigen Olivensud auf seiner Wange.

»Ich werde dich vermissen, Siggis. Aber ich kann dich nicht mitnehmen. Dann holt mich die Polizei.«

Der Junge klammerte sich an ihr fest. Die dünnen Ärmchen weigerten sich, sie loszulassen. Sein Rücken zuckte krampfhaft.

Sie war in Sigges Leben getreten, als er erst zwei Jahre alt gewesen war. Jetzt, vier Jahre später, wurde Vera mit einem Mal klar, warum sie so lange bei Jonny geblieben war. Wegen Sigge.

»Du musst mich loslassen«, sagte sie.

Behutsam löste sie die Finger des Jungen, drängte die Tränen zurück.

»Wir sehen uns ganz bald wieder. Ehrenwort.«

Dann wählte sie mit zitternden Händen die Nummer des Jugendamtes.

Um halb zwölf am Montagvormittag fuhr Vera auf die E22 und drückte das Gaspedal durch. Die Skyline von Malmö wurde im Rückspiegel kleiner und kleiner, bis sie schließlich ganz verschwunden war.

Sie fuhr schnell, damit sie es sich nicht anders überlegte.

Durch das heruntergekurbelte Seitenfenster wehte der Geruch von Schwefel. Über Schonen braute sich ein Unwetter zusammen. Ein Sturm, möglicherweise ein Gewitter. Wie ein Vorgeschmack auf die Hölle, die über sie hereinbrechen würde, wenn Jonny entdeckte, was sie getan hatte.

5

Schwarzer Tabakdunst stieg aus dem Mund der Redaktionsleiterin Anita Alsén, die in ihrem Eckbüro in der Stockholmer Redaktion der Kvällsposten saß.

Die Tür stand offen, doch Vera besaß genug Verstand, nicht geradewegs hineinzumarschieren. Vorsichtig klopfte sie an den Türrahmen. Ohne aufzublicken, hob Anita abwehrend die Hand und drückte anschließend ihre Zigarette aus. Jetzt war kein geeigneter Moment.

Vera blickte sich in der chaotischen, aber weitläufigen Jahrhundertwendewohnung um, die ab sofort ihr Arbeitsplatz war. In einem großen Salon auf der anderen Flurseite standen Telefone für eingehende Tipps keine Sekunde lang still. In Anitas Büro lief ein Fernsehapparat mit CNN-Bildern des Bosnienkrieges. Ein Waffenstillstand bahnte sich an. Vielleicht würde das Töten endlich ein Ende haben.

Ein Stück entfernt entdeckte sie den jungen Volontär, der sich als Per Svensson vorgestellt hatte, als sie die Redaktion vor ein paar Minuten betreten hatte. Er hatte die Tagesausgaben der Konkurrenz vor sich und verglich Aufmacher und Seite eins. Vera war klar, dass er zu entscheiden versuchte, wer das tägliche Zeitungsrennen um die besten Schlagzeilen heute für sich entschieden hatte. Jeden Tag begann ein neuer Wettstreit um die Gunst der Leser. Aufmacher und Seite eins waren die einzigen Instrumente, um die Entscheidung der Käufer an Zeitungskiosken und in Tankstellen landesweit zu beeinflussen.

Vera merkte, dass sie sich unter ihren neuen Kollegen fehl am Platze fühlte. Sie hatte sich mal wieder zu warm angezogen. Ihre Lederjacke spannte an den Schultern, und das weiße T-Shirt war ein wenig zu durchsichtig. Auf ihrer Stirn bildeten sich Schweißperlen. Der Sturm, der sich heute Vormittag über Südschweden angekündigt hatte, war nicht bis nach Stockholm gezogen. Obwohl der Juni gerade erst begonnen hatte, war es schwül und hochsommerlich warm.

Leif M. Ivarsson, der erste Reporter der Zeitung, schlurfte grußlos an ihr vorbei in Richtung Küche. Er wurde vom Volontär gestoppt, der verzweifelt um Ivarssons Anerkennung buhlte.

»Die Konkurrenz ist heute verdammt auf Zack, aber deine Story über Palme schießt mit Abstand den Vogel ab.«

Leif M. Ivarsson murmelte etwas Unverständliches und warf Vera einen ausdruckslosen Blick zu.

»Hallo«, sagte sie in einem Versuch, das Eis zu brechen.

Ivarsson war im Feld ein ungehobelter Rüpel. Ihre Wege hatten sich schon gekreuzt.

Er sah sie desinteressiert an. Sein Hosengürtel saß ihm wie ein Kabelbinder um die Taille, und unter dem Hemd wölbte sich sein Schmerbauch.

»Ist das hier etwa ein verfluchter Kindergarten?«, blaffte er und wies mit dem Kopf auf Sigge, ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen. Vera legte Sigge instinktiv die Hand auf den Kopf.

Sie hatte es nicht fertiggebracht, Sigge beim Jugendamt abzugeben. Sie hatte mit dem klobigen Mobiltelefon in der Hand vor dem Gebäude gestanden und die Jugendamtsmitarbeiterin fragen hören, wie sie behilflich sein könnte. Da hatte sie den Jungen an die Hand genommen und war ohne etwas zu sagen zurück zum Auto gegangen.

Vor einer halben Stunde hatten sie die Bauhauswohnung in der Pilgatan bezogen, die die Zeitung ihr fürs Erste zur Verfügung stellte und die nur einen Steinwurf von der Redaktion am Kungsholmstorg entfernt lag. Gemeinsam hatten sie Veras Reisetasche, die ihr gesamtes Leben enthielt, und Sigges kleinen Rucksack mit ein wenig Wechselkleidung und ein paar Spielsachen hinaufgetragen.

»Keine Ahnung«, antwortete sie.

Es gab nur eine Art, Leuten von Ivarssons Kaliber zu begegnen. Man musste härter zuschlagen als sie.

»Ist das hier etwa ein verfluchtes Diätcamp?«

Leif M. Ivarsson blickte sie verblüfft an und lief vor Wut rot an. Offenbar hatte er nicht mit einem Konter gerechnet.

»Denn dann solltest du dein Geld zurückverlangen«, fuhr Vera fort.

Sigge kicherte.

»Jetzt!«, rief Anita Alsén und winkte Vera in ihr Büro, ehe Ivarsson zu einer Erwiderung ansetzen konnte.

Vera schloss die Tür hinter sich und nahm in einem abgewetzten Sessel Platz, Sigge hibbelte in ihrem Rücken unruhig herum.

»Hier, Siggis.« Sie zog sein Jo-Jo aus der Hosentasche.

Anita Alsén zündete sich eine neue Zigarette an und nahm drei hastige Züge. Es gab Kohlekraftwerke, die weniger Rauch ausstießen.

»Wir wissen beide, warum du hier bist«, sagte sie und räusperte sich.

Es klang wie die stotternde Fehlzündung eines Traktors, der sein Tagewerk beginnen wollte.

»Du hattest ein verdammt gutes Jahr. Ich meine, wie viele Journalisten können von sich behaupten, ein Mordrätsel aufgedeckt zu haben?«

Anita Alsén meinte den Mord am Trabrennprofi Eric Einarsson, bei dem Vera den Täter entlarvt hatte – einzig und allein dank Jonnys kriminellem Netzwerk.

Der Mörder hatte bei Jonnys Bikerklub Geld leihen wollen, um seine Spielschulden bei Einarsson zu begleichen. Nachdem er Einarsson stattdessen umgebracht hatte, hatte er South Side MC dazu bringen wollen, Tatwaffe sowie Leiche zu entsorgen. In einem schwachen Moment hatte Jonny seine Gangsterehre in den Wind geschlagen und ihr das Versteck der Tatwaffe verraten. Schon am folgenden Abend hatte der größte Scoop ihres Lebens Seite eins der Kvällsposten geschmückt und ihre Enthüllung in der Folge zu Festnahme und Gefängnisstrafe geführt.

»Aber das sind Schlagzeilen von gestern«, fuhr Anita Alsén fort. »Ein alter Hut. Du bist hier, um neue Schlagzeilen zu produzieren. Ich will dich an der Spitze der Titelseiten-Charts sehen.«

»Klar.«

Anita zog heftig an ihrer Zigarette und blickte auf ihre scheckigen Hände. Gelb vom Nikotin, schwarz von der Druckerschwärze.

»Und dann wäre da noch … diese andere Sache. Dein Redaktionsleiter in Malmö hat mich natürlich davon in Kenntnis gesetzt.«

Anita hatte einen schärferen Tonfall angeschlagen, und Vera wusste, worauf das Gespräch nun zusteuerte. Es ging um den Vorfall im Winter, der sie fast den Job gekostet hätte.

»Ich weiß, dass du offiziell verwarnt wurdest. Die meisten kriegen nur eine Chance bei dieser Zeitung. Du hast schon zwei bekommen. Das bedeutet, keine weiteren Fehltritte mehr. Haben wir uns verstanden?«

»Ja.«

Anita richtete den Blick auf Sigge, als bemerke sie ihn erst jetzt.

»Der sieht nicht aus, als wäre er gestern geschlüpft. Beim Einstellungsgespräch hast du keine Kinder erwähnt?«

»Er ist nicht mein Kind«, sagte Vera rasch und bereute die Bemerkung im selben Moment, in dem sie ihr über die Lippen kam.

Es klang so hart.

»Arbeitest du nebenbei etwa als Kindermädchen?«

»Nein, also …«

Anita hob abwehrend die Hand.

»Wie schön, meinen Glückwunsch«, murmelte sie. »Ich stelle dir jetzt unseren Nachrichtenredakteur vor.«

»Warte kurz hier«, sagte Vera zu Sigge.

Anita ging ihr voran durch die feudale Etage. Eine Handvoll Reporter, die Vera nur von ihren Verfasserfotos kannte, hatten sich um einen ovalen Tisch versammelt und schienen Recherchematerial durchzugehen. In der Mitte des großen Salons stand ein Newsdesk, und in einem an der Wand befestigten Fernseher lief eine US-Nachrichtensendung. Leif M. Ivarsson hockte in einer Ecke und pellte ein Ei.

»Anders Enbacka«, stellte der Nachrichtenredakteur sich vor und nickte Vera flüchtig zu.

Enbacka war ein generischer Klon aller Männer, die Vera seit ihrer Ankunft in Stockholm gesehen hatte. Mittelscheitel, auftragendes Sakko, T-Shirt, gut aussehend, aber nicht so gut aussehend, wie er sich selbst fand. Über seiner Stuhllehne hing ein Troyer.

»Vera Berg.«

Anita Alsén ging zurück in ihr Büro.

»Setz dich, wohin du willst. Nur nicht auf Ivarssons Platz. Dann wirst du hier nicht alt.«

Vera trat an einen freien Schreibtisch am Fenster, blickte auf den Kungsholmstorget hinunter und zog ihre Lederjacke aus. Sie registrierte Enbackas Blick, der ungeniert über ihren Körper wanderte und auf ihren Brüsten verharrte.

»Aber eingewöhnen kannst du dich später«, fuhr er in dem Moment fort, als Vera sich auf den ramponierten Schreibtischstuhl setzen wollte. »Du fährst nach Märsta. Ein mutmaßlicher Mord. Eine junge Frau.«

Er sprach in kurzem Stakkato, als wäre jeder Satz ein Befehl.

»Jetzt?«

Sie hatte nicht damit gerechnet, gleich am ersten Tag zu einem Job geschickt zu werden. Sie konnte Sigge nicht an einen Tatort mitnehmen. Ob er für ein paar Stunden in der Redaktion bleiben konnte?

»Ja, morgen wird sie kaum noch daliegen«, entgegnete Enbacka. »Ein Fotograf ist schon unterwegs. Ich hätte ihn ja gebeten, auf dich zu warten, aber … er ist nicht gerade der Typ, den man mit einer Frau ins Auto setzt.«

»Ich habe einen eigenen Wagen.«

Plötzlich hallte aus Anita Alséns Eckbüro auf der anderen Seite der Etage ein zorniger Aufschrei.

»Kann jemand diesen Zwerg aus meinem Zimmer holen?«

Vera schloss für eine Sekunde die Augen.

»Sigge!«, rief sie, griff nach ihrer Lederjacke und einem Notizblock und ging mit schnellen Schritten zu der Tür, die hinaus ins Treppenhaus führte. »Komm, wir machen einen Ausflug.«

6

»Ich bin hier.«

Durch das geöffnete Garagentor entdeckte Tomas den Hinterkopf des kahl rasierten Schädels seines Bruders Kristian. Die Garage, die als Freizeitraum eingerichtet war, sah aus wie bei seinem letzten Besuch. Durchgesessene Sofas und ein flacher Couchtisch. An der Wand über einem Fernsehapparat war eine große schwedische Fahne festgenagelt, und direkt daneben hing eine Dartscheibe, die das Gesicht des ermordeten Ministerpräsidenten Olof Palme zeigte. Kristian kniete vor einem Getränkekühlschrank und bestückte ihn mit Bierdosen.

»Willst du eins?«, fragte er mit dem Rücken zu Tomas.

»Ich bleibe nicht lange.«

»Wie üblich. Was machst du hier?«

Kristian schloss die Kühlschranktür und streckte den Rücken durch, sodass Tomas die schwarze Swastika auf seinem Oberarm sah. Er war dabei gewesen, als Kristian sie sich Anfang der Achtzigerjahre in Västerås hatte stechen lassen.

»Ich brauche die zwanzigtausend, die du mir schuldest.«

Kristian griff nach einer grünen Bomberjacke, die über einer Sofalehne hing, zog sie über sein weißes Muskelshirt, fläzte sich aufs Sofa und legte die Füße hoch. Die schwarzen Springerstiefel sahen für den instabilen Tisch viel zu schwer aus.

Als sein Bruder nicht antwortete, fuhr Tomas fort.

»Ich habe dir das Geld geliehen, damit du dieses Haus renovieren kannst, erinnerst du dich? Stattdessen hast du es benutzt, um nach Jugoslawien zu fahren und unschuldige Menschen zu ermorden. Das Geld will ich jetzt zurück.«

»Jude. Du redest wie ein verdammter Wucherjude. Weißt du das?«

Kristian stand auf, ging zur Stereoanlage, kramte in einem CD-Stapel, griff eine Hülle heraus und schob die CD in den Player.

»Hast du vor zu feiern?«, fragte Tomas.

»Hast du vergessen, welcher Tag heute ist, kleiner Bruder?«

Tomas antwortete nicht. Kristian streckte sich nach einer geöffneten Bierdose, legte den Kopf in den Nacken und nahm ein paar große Schlucke.

»Heute ist der sechste Juni. Der Nationalfeiertag dieses Landes. Dieser Tag hatte einmal eine Bedeutung für dich. Für mich und für uns andere, die bis heute für Schwedens Selbstständigkeit kämpfen, hat er immer noch eine Bedeutung. Also ja, ich habe vor zu feiern.«

»Gib mir einfach das Geld, dann haue ich ab. Ich will keinen Streit.«

Sie betrachteten einander schweigend. Kristian hob die Bierdose wieder zum Mund, trank sie aus und warf sie zur Seite.

»Ich hab es nicht hier. Ich kann es zum Ende der Woche besorgen. Du kriegst dein Scheißgeld.«

Tomas nagelte ihn mit dem Blick fest.

»Versprochen?«

»Versprochen.«

Tomas wandte sich zum Gehen, er wollte nicht hier sein, wenn die anderen aufkreuzten. Er ertrug keine einzige Minute ihres aggressiven Besäufnisses, ihrer Hasstiraden, ihrer Rufe nach dem Blut der Politiker und Ausländer.

»Bleib doch noch«, sagte Kristian. »Wir haben uns seit ewigen Zeiten nicht mehr gesehen.«

»Ich muss nach Hause zu Klara und den Kindern.«

»Wie geht es ihnen?«

»Gut.«

Tomas ließ sich trotzdem aufs Sofa sinken. Auf dem Couchtisch lagen ein paar Ausgaben von Blut & Ehre und ein Stapel Sturm.

»Du fehlst mir«, fuhr Kristian fort. »Weißt du das? Ich denke jeden Tag an dich. Wir sollten uns nicht entzweien, nur weil wir unterschiedlicher Gesinnungen sind. Wir sind trotz allem Brüder. Mutter würde sich freuen, wenn wir sie mal zusammen in Hallstahammar besuchen kämen. Du kannst Klara und die Kinder mitnehmen.«

»Ich dachte, meine Kollegen und ich sollten in einer Reihe an die Wand gestellt und mit einem Genickschuss hingerichtet werden, weil wir mit den Sozen paktieren. So ging jedenfalls der letzte Kampfgesang, den ihr angestimmt habt.«

»Auch nach dem Endsieg werden wir Polizisten brauchen. Ich lege ein gutes Wort für dich ein.«

»Kommt Peter?«

Peter war ihr jüngerer Bruder. Er war zweiundzwanzig und wohnte noch zu Hause bei ihrer Mutter in Hallstahammar.

»Er wollte in die Innenstadt zum Kungsträdgården und Kanaken klatschen. Aber er pennt heute hier.«

Kristian lächelte. Tomas erwiderte es nicht.

»Ihr müsst raus aus diesem Milieu«, sagte er. »Du bist fünfunddreißig, du musst diesen Dreck hinter dir lassen.«

Tomas bereute seine Worte im selben Moment, in dem er sie aussprach. Das würde nur böses Blut geben. Für Peter bestand möglicherweise noch Hoffnung, er konnte noch immer etwas aus seinem Leben machen. Aber Kristian war hoffnungslos verloren.

»Hier in der Nähe wurde eine tote Frau gefunden«, sagte er rasch, um das Thema zu wechseln.

»Ich hab davon gehört. Irgendeine Kanakenschlampe. Typisch Schwarzfüße, die Stimmung am Nationalfeiertag trüben zu wollen.« Kristian lachte, ging zur Stereoanlage und drehte die Musik lauter.

»Diese neue Band ist gut«, sagte er. »Pluton Svea, sie kommen aus Eskilstuna.«

Tomas stand auf. Er streckte seine Hand aus, und Kristian ergriff sie.

»Du kriegst dein Geld«, sagte er.

Tomas tankte an der Statoil-Tankstelle unweit von Kristians Haus. Aß eine Wurst, trank wässrigen Kaffee und blieb mit geöffneter Tür im Auto auf dem Parkplatz sitzen, bis er Horden von Skinheads in Bomberjacken durch den lauen Frühsommerabend zu Kristians Haus ziehen sah. Als er die heiseren und angetrunkenen Stimmen hörte, verspürte er eine vage, wehmütige Sehnsucht nach Kameradschaft.

In einem anderen, früheren Leben war er einer von ihnen gewesen.

Es war bereits acht Uhr abends, als er zurück nach Stockholm fuhr. Im Radio berichtete eine ernste Nachrichtensprecherstimme von Ausschreitungen in der Stockholmer Innenstadt. Demonstrationszüge. Kämpfe zwischen Skinheads und jugendlichen Immigranten. Es gab Meldungen von Körperverletzungen, Trunkenheit und Aufruhr.

Sein kleiner Bruder war irgendwo da draußen, Teil der Gewalt. Es war seine Verantwortung, ihn zu beschützen, ihn zur Vernunft zu bringen. Sie hatten nie einen Vater gehabt, keiner von ihnen. Die Männer ihrer Mutter blieben nie lange. Als er Norrtull erreichte, hatte sich die Dämmerung auf Stockholm herabgesenkt. Er hielt am Wenner-Gren-Center vor einer roten Ampel und sah zur Ynglingsgatan 5 hinüber, wo John Ausonius, der Lasermann, gewohnt hatte.

Die anbrechende Dunkelheit veränderte die Stadt. Sie kam ihm kalt und hart vor. Die Straßen der Vasastan waren wie leer gefegt, die normalen Bürger blieben zu Hause.

Anstatt den Klaratunnel nach Södermalm zu nehmen, fuhr er geradeaus weiter und bog am Sergels torg nach links in die Hamngatan ein. Er sah blinkende Blaulichter und Einsatzbusse der Polizei, die am Rand des Kungsträdgården parkten. Tomas bog in die Regeringsgatan und stellte den Volvo ab. Als er ausstieg, hörte er Rufe und Schreie zwischen den Häuserfassaden widerhallen, spürte die aufgeladene Atmosphäre in der Luft. Peter war hier, irgendwo inmitten des Chaos. Ein Dutzend Polizeibeamte eilte im Laufschritt an ihm vorbei, mit weißen Schutzhelmen auf dem Kopf und gezückten Schlagstöcken. Rasch vergewisserte er sich, dass sein Dienstausweis in der Innentasche steckte.

Der Fackelzug marschierte vom Nybroplan heran. Die schwedischen Fahnen hingen im windstillen Abend schlaff herab.

Judenschweine! Judenschweine!

Tomas blieb stehen, lehnte sich an einen der Pfeiler unter dem Sverigehuset.

Sieg Heil! Sieg Heil!

Rechte Arme reckten sich in den Nachthimmel empor.

Er zündete sich eine Zigarette an. Der Fackelzug bog in den Kungsträdgården ein. Tomas kniff die Augen zusammen, konnte Peter nirgends in der Menge entdecken. Die Entfernung war zu groß. Aus dieser Distanz sah ein Skinhead wie der andere aus.

Was sollte er überhaupt tun, wenn er Peter entdeckte? Sich durch Polizei und Gegendemonstranten drängen, in die Reihen des Fackelzugs hinein, und ihn wegzerren? Er würde zu Boden genietet werden, bevor er auch nur am Ziel ankäme. Tomas warf die Zigarette weg, zündete sich eine neue an und ging zurück zum Auto. Peter war verloren. Jedenfalls für heute Abend.

Seine Gedanken kehrten zu Klara zurück. Zu der Enttäuschung in ihren Augen. Er aschte, setzte sich hinters Steuer und wendete. Auf Höhe der Glassäule des Sergels torg parkte ein Polizei-Einsatzbus vor einem der Reisebüros am Sveavägen.

Vor dem Schaufenster standen einige Skinheads. Nach vorn gebeugt, die Handflächen auf der Scheibe, die Beine weit auseinander. Wie oft hatte er selbst so dagestanden? Ein paar Beamte führten bei den Männern eine Leibesvisitation durch. Als Tomas seinen kleinen Bruder in der Reihe entdeckte, fuhr er rechts ran. Er ließ den Zündschlüssel stecken, beugte sich zum Handschuhfach, nahm die Handschellen heraus und schob sie in die Tasche. Dann stieg er aus und ging zum Einsatzleiter, der ihm vage bekannt war. Er hieß Gunarsson und gehörte zu den harten Hunden beim Einsatzkommando Norrmalm. Gunarsson hob grüßend die Hand, worauf Tomas seinen Dienstausweis stecken ließ.

»Was haben sie angestellt?«, erkundigte er sich.

»Sie haben auf dem Sergels torg einen Schwarzen zusammengeschlagen«, antwortete Gunarsson.

»Schlimm?«

»Nicht so schlimm, wie sie es vorgehabt hatten.«

Ein paar der Skinheads drehten die Köpfe in ihre Richtung. Tomas senkte die Stimme.

»Der da ist mein Bruder«, sagte er und deutete mit dem Kopf auf Peters Rücken.

Gunarssons Blick glitt für einen Moment zur Seite.

»Dann nimm dein Brüderchen mit nach Hause.«

Tomas ging zu Peter, der ihn mit verbissener Miene musterte. Die anderen Skinheads begannen, untereinander zu murmeln. Gunarsson fuhr sie an, das Maul zu halten.

Peter grinste und torkelte auf Tomas zu. Sein kahl rasierter Schädel glänzte vor Schweiß, seine Augen waren vom Alkohol gerötet, das T-Shirt unter seiner geöffneten Bomberjacke wies Blutflecken auf.

»Hände auf den Rücken«, sagte Tomas.

»Willst du mich verarschen, Mann?«

Tomas drehte Peter grob um, drückte ihn gegen das Schaufenster und legte ihm Handschellen an.

»Was soll das?«

Tomas packte seinen Bruder am Arm und zerrte ihn mit sich zum Volvo, wo er die Tür aufriss und ihn auf den Beifahrersitz stieß.

»Mieser Verräter!«, schrie Peter, als Tomas die Tür zuschlug und auf die Fahrerseite ging.

Die Stimme seines Bruders wurde von der Scheibe gedämpft, sie klang weit entfernt und fremd, als käme sie aus einer anderen Zeit.

7

Gespenster geisterten kreuz und quer durch das Zentrum von Märsta. Säufer, Junkies, Sozialfälle. Alle mit dem gleichen leeren Blick. Menschen, die niemand sah, die niemand sehen wollte.

Vera lenkte ihren Saab 900 auf den Parkplatz des Polizeireviers und stieg aus. Im Seitenspiegel zog sie den Lippenstift nach, den sie vor ihrem Antrittsbesuch in der Redaktion der Kvällsposten aufgelegt hatte.

Sie kam sich immer ein wenig albern vor, wenn sie sich schminkte, als versuche sie, eine andere, eine mehr männerfixierte Version ihrer selbst zu sein.

Sie nahm eine Olivendose für Sigge aus dem Kofferraum.

»Hast du Lust, etwas für mich zu malen? Wir brauchen ein paar Bilder für die Wände unserer neuen Wohnung.«

»Was für ein Bild willst du haben?«

»Mal etwas, was du supertoll findest.«

»Okay.«

Obwohl hinter einigen Fenstern noch Licht brannte, war das Polizeirevier Märsta bereits geschlossen. Vera konnte keinen anderen Journalisten entdecken, also ging sie davon aus, dass ihre Kollegen vom Aftonbladet und vom Expressen am Tatort waren, mit besorgten Anwohnern sprachen und die Polizeiabsperrung fotografierten. Ihre einzige Chance auf eine exklusive Neuigkeit war, die Polizeibeamten zu bezirzen und sie zum Plaudern zu bringen. Mit ein bisschen Glück bekam sie mit, ob ein Verdächtiger zum Verhör gebracht wurde. Am Tatort konnte sie später auf dem Heimweg vorbeifahren, wenn Sigge schlief.

Vera blickte sich um und entdeckte zwei uniformierte Polizisten, die zu einem Streifenwagen gingen. Rasch zog sie sich mit den Fingern einen unordentlichen Seitenscheitel, kontrollierte ihr Spiegelbild in einer Fensterscheibe und steckte ihr T-Shirt in den hohen Jeansbund. Sie sah gut aus, das wusste sie, und Männer hielten mit einer Bestätigung auch nicht lange hinter dem Berg. Aber erst als sie Jonny begegnet war, hatte sie sich zum ersten Mal von einem Mann richtig wahrgenommen, sich nicht mehr auf ihren Körper reduziert gefühlt.

Vera hastete zu den beiden Polizisten, die den Streifenwagen erreicht hatten.

»Vera Berg, Kvällsposten«, sagte sie.

»Tut uns leid, kein Kommentar«, erwiderte einer der beiden, ohne sich vorzustellen. »Sie müssen sich an unseren Vorgesetzten wenden.«

Vera wagte einen Schuss ins Blaue. Der Täter stammte fast immer aus dem Umfeld des Opfers.

»Aber ihr habt den Ehemann festgenommen. Steht er unter Tatverdacht?«

Der Polizist erstarrte.

»Das ist nur ein Verhör«, sagte er rasch. »Rein informativ. Aber Sie dürfen mich nicht zitieren.«

»Ist er noch auf dem Revier?«

Der Polizist zog lächelnd eine Augenbraue in die Höhe. Er hatte ihren Bluff durchschaut. Wenn sie gewusst hätte, dass der Ehemann aufs Revier gebracht worden war, hätte sie auch wissen müssen, ob er sich noch immer dort befand oder nicht.

»An Ihrer Stelle würde ich noch eine Weile hierbleiben. Das könnte sich auszahlen.«

Dreißig Minuten später wankte ein Mann aus dem Polizeirevier. Als wüsste er nicht, wohin, blieb er auf dem Gehweg stehen. Vera ging vorsichtig zu ihm und stellte sich vor. Der Blick des Mannes war gläsern. Seine Augen waren gerötet und verweint.

»Schwedisch nix gut«, sagte er.

»English?«

»English okay.«

Der Mann hieß Elvedin Alihodzic und war Mitte dreißig. Er hatte schwarze Haare, schmale Schultern und war vor Trauer buchstäblich gebeugt. Er trug verwaschene Jeans und ein zu großes T-Shirt mit Dallas-Motiv, das vermutlich von einer Kleiderausgabestelle für Flüchtlinge stammte. Seine Frau Nadija und er seien erst vor einem Jahr nach Schweden gekommen, erzählte er.

»Meine Angst war, sie im Krieg zu verlieren«, sagte er. »Nicht hier.«

Er verstummte.

»Sie haben geglaubt, ich hätte sie ermordet. Ich.«

Er begann zu weinen. Ihm schien es unbegreiflich, dass die Polizei einen solchen Verdacht hegen konnte. Wie sollte er dazu fähig sein, seine Frau umzubringen? Er, der sie so sehr liebte. Er, der nachts durch verminte Wälder geflohen war, um in einem kroatischen Flüchtlingslager wieder mit ihr vereint zu sein.

Vera gab Elvedin ein wenig Zeit, sich zu sammeln, ehe sie das Interview fortsetzte.

»Erzählen Sie, was heute passiert ist.«

»Ich putze nachts in einem Industriegebäude hier in der Nähe. Ich habe vor Kurzem meine Arbeitserlaubnis bekommen. Als ich heute Morgen mit dem Fahrrad nach Hause gefahren bin, habe ich unterwegs Brot gekauft. Nadija liebt frisch gebackenes Brot. Das können wir uns eigentlich nicht leisten, aber ich wollte sie überraschen. Als ich angekommen bin, standen zwei Streifenwagen vor dem Flüchtlingswohnheim. Danach erinnere ich mich an nichts mehr.«

»Wissen Sie, was Ihrer Frau zugestoßen ist?«

»Nein. Die Polizei hat mir nichts gesagt. Nur, dass sie tot ist. Dass sie ermordet wurde.«

Vera bat Elvedin um ein Foto von Nadija. Er zog ein abgegriffenes Lederportemonnaie aus seiner Hosentasche, nahm ein vergilbtes Schwarz-Weiß-Foto heraus und betrachtete es. Seine Hand zitterte. Es schien ihm schwerzufallen, es herzugeben.

»Sie bekommen das Foto zurück«, versicherte Vera. »Versprochen.«

Elvedin blinzelte sie an, überließ ihr aber schließlich das Foto.

Vera wollte gerade nach Sigge sehen, als die Schranke des Polizeiparkplatzes in die Höhe ging. Schnell hastete sie zur Ausfahrt und hielt einen zivilen Streifenwagen auf, der vom Gelände rollte.

Der Polizeibeamte kurbelte das Seitenfenster herunter, und Vera stellte sich vor. Der Mann zögerte einen Moment, schien zu überlegen, ob er mit ihr reden sollte oder nicht. Dann grinste er, lehnte sich aus dem Fenster und platzierte einen muskulösen Unterarm auf der Autotür.

»Jerker Wretström«, sagte er. »Ich leite die Ermittlung. Setzen die Zeitungsfritzen inzwischen Bräute auf Mordfälle an?«

»Offensichtlich. Haben Sie was dagegen?«

Der Polizist musterte sie, als wäre sie ein Stück Fleisch.

»Nein. Im Gegenteil.«

»Steht der Ehemann noch unter Verdacht?«

»Nein, wir haben ihn laufen lassen. Armer Teufel. War bei der Arbeit, als es passiert ist. Sein Alibi ist wasserdicht.«

»Warum wird der Fall als Mord eingestuft?«

»Tja, erstens wurde die Frau erdrosselt und zweitens vergewaltigt.«

»Woher wisst ihr, dass sie vergewaltigt wurde? Es können doch noch keine rechtsmedizinischen Befunde vorliegen?«

»Ihr Slip fehlte.«

»Ihr Slip fehlte?«

Dieses Detail ließ sie an eine Vergewaltigung in Malmö denken, über die sie im Frühjahr berichtet hatte. Sie hatte das Opfer interviewt, eine junge Frau namens Mersiha Selimovic. Sie hatte gesagt, der Täter habe sie gewürgt, bis sie bewusstlos geworden sei, und anschließend ihren Slip mitgenommen.

Der Fall war zu einer der vielen Storys geworden, die einige Tage in der Presse für Wirbel sorgen, um dann aus dem Gedächtnis zu verschwinden, einzig das Opfer erinnert sich weiter. Soweit Vera wusste, war der Täter nicht gefasst worden. Jetzt hatte ihr Gehirn, auf der Jagd nach einem Scoop, die beiden Fälle automatisch miteinander verknüpft. Aber weder ein fehlender Slip noch ein Täter, der sein Opfer strangulierte, konnte bei einem Sexualdelikt als individuelles Tatmerkmal herangezogen werden, das war ihr klar. Die Übereinstimmungen mussten nicht zwangsläufig etwas bedeuten.

»Warum seid ihr sicher, dass sie einen Slip anhatte, als sie aus dem Haus ging?«

»Warum, trägst du etwa keinen?«

Wretström grinste anzüglich. Sein Atem wurde schwerer.

Doch dann wurde er schlagartig ernst, als hätte er sich dabei ertappt, zu viel gesagt zu haben.

»Das hast du nicht von mir, okay? Nenn mich Quelle oder was auch immer. Aber dass sie einen Slip anhatte, steht außer Frage. Sie war Muslimin. Mich wundert eher, dass sie keinen Keuschheitsgürtel getragen hat.«

Ehe er losfuhr, bat Vera Wretström noch um seine Visitenkarte. So schmierig er auch war, er könnte eine gute Quelle abgeben. Die notgeilsten Säcke waren oft die nützlichsten Idioten.

Zurück am Saab, las sie die Visitenkarte durch. Wretström war Kriminaloberkommissar. Ein so ranghoher Polizeiinformant war der reinste Glücksgriff. Noch dazu am ersten Tag im neuen Job.

Als sie die Fahrertür öffnete, hockte Sigge vorne auf dem Beifahrersitz, spielte mit einem grünen Bagger und transportierte auf dem Sitz Plastikbaumstämme hin und her. Der Filzstiftkasten lag neben ihm, aber das Bild, das er gemalt hatte, war auf die Matte im Fußraum gerutscht.

»Hey, Goldschatz. Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat. Hast du schön gespielt?«

Sigge zuckte mit den Schultern.

»Willst du mein Bild sehen?«

»Na klar.«

Bevor Vera dazu kam, das Bild aufzuheben, klingelte ihr Mobiltelefon. Eine Nummer mit der Vorwahl 040. Malmö.

»Wo bist du?«, fragte die Stimme am anderen Ende. »Und wo ist Sigge?«

Jonny. Vera ohrfeigte sich dafür, den Anruf angenommen zu haben. Aber die Nummer hatte ihr nichts gesagt. Jonny musste aus dem Clubheim oder von einem Kumpel aus anrufen.

Sie signalisierte Sigge, leise zu sein. Jonny durfte nicht erfahren, dass der Junge bei ihr war.

»Ich kann so nicht weitermachen«, sagte sie. »Es ist aus.«

»Ich habe gefragt, wo Sigge ist.«

»Ich habe ihn dem Jugendamt übergeben.«