SONGS AUS DER KONVERTER-KAMMER - Horst Pukallus - E-Book

SONGS AUS DER KONVERTER-KAMMER E-Book

Horst Pukallus

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Beschreibung

"Diese kargen Angaben sind alles, was man noch über eine Frau erfahren kann, deren Leben im Alter von 28 Jahren ein Ende nahm. Ein so früher Tod dürfte genügen, um heute, in einer Epoche, da die Lebenserwartung bei rund 120 Jahren liegt und man dank der vollkommenen Durchdringung unseres Alltags mit Mikro-Elektronik schon ein absoluter Schwachkopf sein muss, um einen Unfall zu erleiden, Interesse und Anteilnahme zu erregen." Acht Erzählungen aus der Feder des deutschen Schriftsteller Horst Pukallus, entstanden in den Jahren 1981 bis 1985 – und allesamt Klassiker des Genres. Geprägt vom geradezu perfekten, komplex-genüsslichen Erzähl-Stil des Autors zeigt sich in dieser Sammlung vor allem die thematische Vielseitigkeit und Exzentrik eines Könners von erlesenster Güte: Hier trifft Polit-Satire auf fast schon mystisch zu nennende Science Fiction, ein Slapstick-Abenteuer trifft auf Zerrspiegel-artige Zukunfts-Visionen. Und mögen die Texte auch unverkennbar Kinder ihrer (Entstehungs-)Zeit sein, so haben diese dennoch bis heute nichts von ihrer literarischen und inhaltlichen Wirkung verloren.

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Horst Pukallus

SONGS AUS DER

KONVERTER-KAMMER

Erzählungen

Apex-Verlag/Edition Bärenklau

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 4 

Der Autor 5 

  DIE OPFERHÖHLE 8 

  DEN STERNEN SO NAH 32 

  DASS ICH DIE GROSSE KLUFT DER ZEIT DURCHSCHLAFE      50 

  PREISET, GESTIRNE DES HIMMELS, DEN HERRN! 56 

  DIE VEREINIGTEN STAATEN NACH DER REAGANERATION 71 

  TOD UND NACHT, NACHT UND TOD 77 

  SONGS AUS DER KONVERTERKAMMER 97 

  IN ABU ABAIDAS DIENSTEN 176 

 

Das Buch

»Diese kargen Angaben sind alles, was man noch über eine Frau erfahren kann, deren Leben im Alter von 28 Jahren ein Ende nahm. Ein so früher Tod dürfte genügen, um heute, in einer Epoche, da die Lebenserwartung bei rund 120 Jahren liegt und man dank der vollkommenen Durchdringung unseres Alltags mit Mikro-Elektronik schon ein absoluter Schwachkopf sein muss, um einen Unfall zu erleiden, Interesse und Anteilnahme zu erregen.«

Acht Erzählungen aus der Feder des deutschen Schriftsteller Horst Pukallus, entstanden in den Jahren 1981 bis 1985 – und allesamt Klassiker des Genres. Geprägt vom geradezu perfekten, komplex-genüsslichen Erzähl-Stil des Autors zeigt sich in dieser Sammlung vor allem die thematische Vielseitigkeit und Exzentrik eines Könners von erlesenster Güte: Hier trifft Polit-Satire auf fast schon mystisch zu nennende Science Fiction, ein Slapstick-Abenteuer trifft auf Zerrspiegel-artige Zukunfts-Visionen. Und mögen die Texte auch unverkennbar Kinder ihrer (Entstehungs-)Zeit sein, so haben diese dennoch bis heute nichts von ihrer literarischen und inhaltlichen Wirkung verloren.

Der Autor

Horst Pukallus, Jahrgang 1949.

Schriftsteller, Herausgeber und Übersetzer.

Seit den späten 1960er Jahren veröffentlichte er Kritiken zur SF-Literatur, vor allem in der Zeitschrift Science Fiction-Times. 1974 erschien seine erste Erzählung Interludium. Es folgten u.a. die Story-Sammlungen Die Wellenlänge der Wirklichkeit (1983) und Songs aus der Konverter-Kammer (1985), die Pukallus als einen der vielseitigsten und intellektuell versiertesten deutschsprachigen Genre-Autoren seiner Generation etablierten. Neben seiner Meisterschaft im Metier der Kurzgeschichten/Erzählungen sind auch seine Romane Krisenzentrum Dschinnistan (1985) und Hinter den Mauern der Zeit (1989, zusammen mit Michael Iwoleit) von überragender inhaltlicher und stilistischer Qualität. Zu Recht wird Horst Pukallus mit dem großen amerikanischen SF-Schriftsteller Philip K. Dick verglichen.

Zu seinen herausragenden Übersetzungen aus dem Englischen/Amerikanischen gehören u.a.: Iain Banks: Vor einem dunklen Hintergrund (1998), John Brunner: Morgenwelt (1980), John Brunner: Schafe blicken auf (1978), John Brunner: Der Schockwellenreiter (1979), Philip K. Dick: Kinder des Holocaust (1984), Jack Womack: Heidern (1993) sowie die Deryni-Romane von Katherine Kurtz (1978 – 2000).

In den Jahren 1980, 1981, 1984, 1985 und 2001 erhielt er den Kurd-Laßwitz-Preis für die beste Übersetzung; 1991 erhielt er diese Ehrung für seine Erzählung Das Blei der Zeit.

Horst Pukallus lebt und arbeitet in Wuppertal.

Horst Pukallus:

SONGS AUS DER KONVERTER-KAMMER

Cover der Erstausgabe (Ullstein-Verlag, 1985)

DIE OPFERHÖHLE  (1981)

  »Hier geht’s nirgends weiter. Du siehst doch, dass es hier nicht weitergeht.«

  Percys Stimme, durch den Helmfunk ohnehin leicht verzerrt, besaß den schrillen Tonfall jener Nörgelei, die auf Ärger über die eigene Ratlosigkeit beruhte.

  »Ja, ich seh’s.« Der Lichtkegel des Brustscheinwerfers an Florens Bonnamys Raumanzug verlor sich im Hintergrund der Riesenhöhle. Hundertfünfzig bis zweihundert Meter in der Höhe hing, bleigrau getupft und schwer wie Gewitterwolken, ein Baldachin aus Eiszapfen.

  Unter den Füßen der beiden Männer schimmerte, so weit das Scheinwerferlicht reichte, ein glatter Spiegelsee, gemasert in unterschiedlichen Schattierungen von Blau, Grauweiß, Blaugrau und Grün. Schon der Augenschein schloss abermals jeden Zweifel aus: der einstige Höhlensee musste Wasser enthalten haben. Dem Eis fehlte das für gefrorenes Ammoniak typische Perlmutt-Glitzern.

  »Lass uns umkehren«, quengelte Percy. Die Übertragungsqualität war mangelhaft, aber Florens meinte, er könne den Maschinentechniker mit einer Mühseligkeit schlucken hören, als würge ihn jemand. »Uns kann was auf den Kopf fallen.« Percys rechter Arm, plump durch die Umhüllung aus unter Innendruck befindlichen Wulst-Gliedern, deutete mit der Ruckhaftigkeit der halben Schwerkraft hinauf zu den Eiszapfen.

  Florens verkniff sich eine Äußerung des Missmuts. Natürlich ging es noch weiter, vermutlich sogar noch viel, viel weiter, und er hätte gern den früheren Siphon zu finden versucht; aber für Percy verkörperte das Dunkel mit seiner ungewissen Ausdehnung, das vor ihnen lag, ein Hindernis wie eine massive Felswand. Er suchte die Geborgenheit kleiner, überschaubarer Räume; der Mann war ein Großstadt-Neurotiker, kein Raumfahrer.

  »Wir sind hier nirgendwo sicher, das weißt du doch selbst.« Die Bleisohlen seines Anzugs klirrten wie von Ferne, als sich Florens umdrehte und den Brustscheinwerfer auf verminderte Leistung schaltete. Die Finsternis schien die Helligkeit aufzusaugen wie ein lichthungriger Troglobiont, und im nächsten Moment stand das Paar nur noch in einer begrenzten Sphäre trüben Lichts.

  »Warum machst du denn die Lampe aus?!«, plapperte Percy beunruhigt, während Florens mit einem Blick auf die Instrumentenarmatur an seinem linken Handgelenk die Orientierung wiederherstellte. Er seufzte unterdrückt, als er widerwillig den Rückweg antrat. Es war sowieso bald an der Zeit, anhand der oben in der Klufthöhle zurückgelassenen Notausrüstung die Sauerstoff-, Wasser- und Nahrungsvorräte in den Spendern ihrer Raumanzüge aufzufrischen, möglicherweise auch zum Austausch der Batterien.

  »Der Scheinwerfer ist nicht aus. Es ist hell genug, um zu sehen, wohin man geht.«   Florens stapfte an Percy vorbei, froh darum, dass die Außenbesichtigung des Raumhelms seine Grimasse der Abneigung verbarg. Percy schlurfte ihm nach.

  Einige Minuten lang überquerten sie stumm die glatte Eisfläche, begleitet nur vom Kling-Klang ihrer Schritte, der Fahlheit ihres Lichts. Ringsum erstreckte sich nichts als Frostglanz und verschmolz mit dem Finstern.

  Percy Grindling begann sein Gejammer fortzusetzen, als sie die Sinterterrasse ersteigen mussten, die den Übergang zwischen Stollen und Haupthöhle bildete. Die abgestuften Sinterbecken strotzten von putzigem Knöpfchen-Sinter, der wie wahllos ausgestreute Perlen oder Erbsen wirkte, aber stellenweise auch von scharfen Kalzit-Kristallen, die zu meiden sich empfahl; infolge dessen fielen häufig Umwege an, und es dauerte nicht lange, bis Percy, restlos unsportlich, laut zu schnaufen anfing.

  Wenig später erschütterte ein dumpfer Erdstoß das Höhlensystem, und sofort erscholl das grelle Bersten von Eis und Tropfstein, dem Prasseln und Gepolter folgten. Mehrere hundert Kilometer trennten sie von der Stätte des Vulkanausbruchs, der ihren Prospektorator Checkered Demon zum Wrack gemacht hatte, aber die Beben, die mit dem Gravo-Vulkanismus einhergingen, aufgrund der ultrahohen Anziehungskraft des Jupiter auf seinem zweiten Mond Io eine Dauererscheinung, brachten das Muttergestein sogar über diese Entfernung hinweg merklich ins Zittern. Jupiters Gigantismus zerrte beharrlich in Tiden-artigen Schüben an der Kruste des kleinen Himmelskörpers und ließ dem Magma in dessen Kern keine Ruhe.

  »Wir werden hier elend verrecken, ich seh’s kommen«, klagte Percy, nun am Rande der Weinerlichkeit. »Bestimmt werden wir hier begraben und müssen krepieren. Warum mussten wir unbedingt in so ein Loch kriechen?«

  Florens verzog den Mund. Er hegte jede Bereitschaft, sich mit dem Wunder dieser unterirdischen Entdeckung über ihre Havarie - zumal die Lage alles andere war als aussichtslos  - und selbst über Stanleys Tod hinwegzutrösten (den Piloten hatte er ganz gut leiden können, wogegen er Percy nicht im mindesten ausstehen konnte), aber der Stumpfsinn des Technikers entartete für seine Begriffe allmählich zu einer größeren Belastungsprobe, als alle Gefahren es sein mochten, die im Rahmen einer zu relativer Routine gewordenen interplanetaren Raumfahrt drohten, ln der Tat entstanden heutzutage die meisten Gefährdungen genau durch jenes tragische Zusammenfallen von Dummheit und Unfähigkeit, das man bei Grindling beobachten konnte. Doch die Raumfahrt litt an Personalmangel; viel zu oft ergaben sich Situationen, in denen Impunitaten trotz ihrer ungenügenden Qualifikation verantwortungsvolle Aufgaben übernehmen durften oder gar keine andere Wahl blieb, als sie ihnen zu übertragen.

  »Muss ich dir darauf eine Antwort geben?«, fragte Florens barsch zurück und dachte an die hundertzwanzig Kilometer hohe Wolke aus Asche und Schwefel, vermischt mit einem Sprühregen aus Quecksilber-Partikeln, die der Vulkan kurz nach ihrer Landung auf einem der kupferroten Lavafelder ausgestoßen hatte. Die Checkered Demon war, während sich Stanley noch an Bord aufhielt, in einer urplötzlich aufgerissenen Spalte zerschellt, und als Florens zweieinhalb Stunden später, nachdem er und Percy in äußerster Hast die Notausrüstung geborgen hatten, die chemische Zusammensetzung des vulkanischen Auswurfs ermittelte, stand fest, dass ihres Bleibens auf der Oberfläche nicht länger sein konnte, nicht einmal im Schutz der Raumanzüge. Angesichts der hohen Quecksilberkonzentration erachtete er es keineswegs als ausgeschlossen, dass der Niederschlag sie regelrecht eingeschneit und nach und nach in silberne Standbilder verwandelt hätte. Auf jeden Fall wären ihre Vorratspatronen, nicht so hermetisch dicht wie die Raumanzüge, sondern vornehmlich gegen Verstrahlung und Temperaturschwankungen isoliert, vergiftet worden. Die etliche Kilometer dicke Dunstschicht würde an Ios Himmel den übermächtigen Jupiter noch lange verdunkeln.

  »Zooks, Mann«, maulte Percy, »nein, nicht, ich weiß Bescheid, ja. Die Qualmwolke, freilich. Du brauchst mich doch nicht gleich anzuschreien.« Er zeigte, reizbar wie jeder, der sich mit Minderwertigkeitsgefühlen plagte, alle Neigung, auf den Knien zu rebellieren. »Aber wir hätten ja nicht so tief hinunter zu brauchen. Das ist doch wohl nicht das Wahre, hier unten herumzuklettern, während weit und breit alles wackelt, oder? Oder?«

  Missgelaunt presste Florens seine ausgedörrten Lippen aufeinander. Auf seine einfältige Weise hatte Grindling durchaus Recht. Zwar war der Abstieg vom Lavafeld durch einen Deckenbruch in den Tonnengang einer an beiden Enden von Versturzmassen verschlossenen Lava-Höhle höchstwahrscheinlich ihre einzige Rettung vorm Quecksilber gewesen, und außerdem hatte er den tektonischen Status zuvor gründlich mit dem Seismometer überprüft; jedoch verschafften nur komplizierte Präzisionsmessungen der Magnetfelder einigermaßen verlässlich darüber Aufschluss, ob noch mehr oder keine weiteren Eruptionen bevorstanden, und dazu fehlten ihnen die Instrumente  und von einer Notwendigkeit, in eine Tiefe von ungefähr dreihundert Meter unter los ruhelose Oberfläche zu steigen, konnte wahrhaftig keine Rede sein. Der sicherste Aufenthaltsort wäre für sie jetzt ein Platz droben im Tonnengang gewesen, geschützt vorm Quecksilber-Nieselregen, gleichzeitig nahe genug am Ausstieg, um im Falle neuer Beben ins Freie flüchten zu können.

  »Diese unteren Höhlen sind ein Phänomen. Ihre Existenz wirft alle bisherigen Vorstellungen von Io über den Haufen.« Florens’ Stimme klang heiser. Er räusperte sich und drückte am Kontroll-Set an seiner linken Hüfte die Taste des Befeuchters, so dass eine schleimhautfreundliche Spray-Emulsion ins Innere seines Raumhelms spritzte, seine Lippen angenehm benetzte. Er inhalierte die prickelige Frische und schluckte einige Male. »Keine Sorge«, fügte er mit normalisierter Stimme hinzu. »Wir sind ja wieder unterwegs nach oben.«

  Der Stollen zu den Schächten, dessen Streckenlänge rund achtzig Meter betrug  Florens hatte beim Abstieg einige erste Vermessungen mit Kompass und HoloMasertaster durchgeführt, war durch die jüngsten Erdstöße zum Teil stark verwüstet worden: Verkarstungen von Kalksteinblöcken und schräge Verwerfungen hatten die Dichte der Tropfsteinsäulen augenfällig gelichtet. Zum Glück war es zu keinen so umfangreichen Versturzvorgängen gekommen wie vor langem oben in der Lava-Höhle, doch der tektonische Kahlschlag erleichterte den Weg nicht, sondern hatte eine Anzahl von Barrikaden aus Trümmern und Schutt hinterlassen, die es nun zu überwinden galt. Überall lag herabgestürztes Geröll. Eine Vielzahl zersprungener Tropfröhren und Excentriques schillerten am Untergrund wie Scherben.

  »Was für eine Plackerei«, beschwerte sich Percy. »Das ist nichts für mich. Ich schwitze wie ein Affe, und das in dieser Kälte. Ich weiß nicht, ob ich diese verdammte Heizung höher oder niedriger einstellen soll. Hoffentlich wird mein Rheuma nicht schlimmer.« Florens runzelte die Stirn, sah jedoch davon ab, den Maschinentechniker daran zu erinnern, dass er sich ohne die Anzugheizung um sein Rheuma keine weiteren Gedanken zu machen bräuchte. Wenn Percy drauflos faselte, setzte er alle Regeln der Logik außer Kraft. »Ich verstehe nicht, was dich an diesen Höhlen so interessiert. Ich kann nicht begreifen, was das Problem ist.«

Am südwestlichen Ende mündete der Stollen in einen kürzeren Minarettgang mit Rhombusprofil, dessen zierliche Sintergehänge, mit eisblumenhaften Aragonitkristallen wie überzuckert, dessen Schmuck von wurzelhaft verschlungenen Heliktiten, die misslungenen Erzeugnissen eines Glasbläsers glichen, dank der scheinbaren Widersinnigkeit natürlicher Prozesse unbeschädigt geblieben waren, und das Scheinwerferlicht der zwei Männer warf ein silbriges Gleißen zurück. Der Gang wies auf ganzer Länge in der Mitte einen offenbar durch Gravitationserosion entstandenen, tiefen Spalt auf, und sie mussten ihn gebückt auf einem schmalen Sims an der rechten Felswand durchqueren.

  Vom Minarettgang gelangten sie in eine rundum von Tropfstein-Kerzen gesäumte Grotte. Eine Naturbrücke aus fossilen Sedimenten überwölbte in ihrer mittleren Höhe eine Sinterschale. Das letzte Drittel stieg steil an und führte zwischen Stalaktiten, die wie zerlaufener Teig herabhingen, manche in einer Chamoisfärbung wie Honig oder Bernstein, andere überzogen mit Pilzsinter.

  »Ich hätte nicht gedacht, dass es so mit mir enden würde, wirklich nicht«, kratzte Percys Stimme aus dem Helmlautsprecher. »Zooks, Mann, ich habe ja nie viel vom Leben erwartet, bloß dass man mich in Frieden lässt, aber schon meine Alte hat mir pausenlos die Ohren voll gequatscht, es war grässlich, ich hatte überhaupt nichts zu sagen ...«

  »Man merkt, dass du Nachholbedarf hast«, raunzte Florens ohne innere Anteilnahme. Unruhe wegen des Nylonseils, das in der früheren Kaskade von fast zweihundert Meter Höhe hing, hatte ihn erfasst. Er schaltete seinen Brustscheinwerfer auf maximale Leistung und lenkte den Lichtstrahl aufwärts. Zu seiner Erleichterung sah er das untere Ende des Seils unverändert dreißig Meter über ihnen baumeln, also war es vermutlich noch unzertrennt; das rechtfertigte die Hoffnung, dass die Beben die einstigen Wasserfallschächte nirgendwo unpassierbar beeinträchtigt hatten.

  »Zu Hause waren immer alle gegen mich, solange ich mich zurückerinnern kann«, schwatzte Percy. »Ich meine, auf der Erde. Durch diese Gemeinheit bin ich in den Weltraum verschlagen worden. Das heißt, es war ja so oder so nicht mehr zum Aushalten, bei den Zuständen. Aber freiwillig wäre ich nie zur Raumfahrt gegangen, das darfst du mir glauben.«

Beiläufig wunderte sich Florens darüber, wie es diesem Schwachkopf immer wieder gelang, inmitten all seines wirren Geschwafels unvermutet auf schlaglichtartige, erkenntnisreiche Einsichten von bemerkenswerter Wahrheit zu verfallen. Er selbst hatte die Weiträumigkeit des Alls in klarer Entscheidung den Verhältnissen auf der Erde vorgezogen, wo der Bevölkerungszuwachs nach wie vor zum seit Generationen als Ursache von Unglück und Kriminalität erkannten mono-struktuellen Silo-Bau zwang, Mastermind-Zentralcomputer die Ballungszentren managten, während die wahre Regierung längst die normative Kraft des Faktischen war, und Mediensouffleure die Massen der Megalopolen mit den evergreenistisch vermuzakten Denkservice-Parolen einer Phantom-Demokratie in rührseliger Lethargie befangen hielten, zu der Abenteuerreservate alleinige Abwechslung boten. Als er in Kanada lebte, hatte seine Sympathie den in der Middle-Earth-Bewegung zusammengeschlossenen, Utopie-bewussten Alternativkulturen gehört, doch er konnte sich nie dazu durchringen, in eine der Siedlungen aus Wohnskulpturen, Sperrmüllpalästen, Kuriositätenkuppeln und Märchenschlösser aus Bierdosen und leeren Flaschen zu ziehen, weniger wegen der vergleichsweisen Bescheidenheit des dortigen Lebensstils, als aufgrund der damit verbundenen Anspruchslosigkeit in Bezug auf die Selbstforderung. Sein einziges Andenken an die damalige Zeit war das handbedruckte Thangka-Halstuch, das er ständig trug, inzwischen vom Schweiß etlicher Jahre völlig verwaschen.

  Plötzlich kicherte Percy, als verliere er nun vollends den Verstand. »Vielleicht begegnen wir einer Bergfee, die uns drei Wünsche freigibt.«

  »Ich würde dir eine Wurst an die Nase wünschen, darauf kannst du dich verlassen«, schnauzte Florens in nebelhafter Erinnerung an irgendeine wilde Geschichte. Er spürte Pochen in den Schläfen und zwang sich zur Ruhe.

  »Warum musst du mich dauernd so anbrüllen?« beanstandete Percy mit einem Ansatz zur Aufsässigkeit. »Kannst du eigentlich keinen anderen Menschen reden hören? Mein Opa war genauso, er musste andauernd alle bevormunden und drangsalieren, aber es ist mies mit ihm geendet, zum Schluss fing er ganz an zu spinnen, er hat eines Tages im Hausflur einen Kontrollposten eingerichtet, und alle Hausbewohner mussten sich bei ihm mit ihren ID-Karten ausweisen, alle hundertachtzig Parteien, und natürlich haben sie’s nicht lange geschluckt, am nächsten Tag haben die Psychohygieniker ihn abgeholt...« Er ächzte zum Erbarmen, so dass es im Lautsprecher krachte und fauchte, allem Anschein nach infolge seiner Weitschweifigkeit außer Atem.

  Florens schwieg, um Kräfte und Nerven zu schonen. Die Wasserfallschächte mochten am anstrengendsten sein, aber das schwierigste Stück des Höhlensystems war ohne Zweifel das steil abschüssige Gesims, das rund um die Innenseite der Grotte verlief und dabei den dreißig Meter großen Höhenunterschied zwischen der Naturbrücke aus versteinerten Sedimenten und der unteren Mündung zu den Schächten in schwungvoller Gewundenheit überwand.

  Er drehte den Kopf und sah hinter sich Percys auf Minimalleistung gedimmten Brustscheinwerfer, dann schaltete er den eigenen Scheinwerfer ebenfalls auf die schwächste Einstellung um. Das lange, abgeschrägte, kaum eineinhalb Meter breite Sims ließ sich nur überqueren, indem man es unter Ausnutzung der Zentrifugalkraft so schnell entlanglief, dass man am jenseitigen Ende ankam, bevor man abstürzte, und dazu war es besser, nur den Fels unmittelbar vor den Füßen im Blickfeld zu haben und möglichst wenig von der Leere zu sehen, der Tiefe.

  Was war das Problem mit den Höhlen?

  Florens schüttelte über Grindlings Begriffsstutzigkeit den Kopf. Jupiters 422000 Kilometer von ihm entfernter Mond Io, Durchmesser knapp 3630 Kilometer, war eine staubtrockene, vulkanische Welt mit lediglich dünner, etwa einhundert Kilometer hoher Atmosphäre aus ionisierten Partikeln, hauptsächlich Natrium und Schwefeldämpfen. Anbetracht dieser Tatsache war das Vorhandensein von Lava-Höhlen, nach Vulkanaktivität durch Lavaströme gebildet, deren äußere Partien naturgemäß zuerst erkalteten, geradezu eine Selbstverständlichkeit. Aber das Labyrinth von Kalksteinhöhlen darunter? 

  Von Beruf war Florens Mineraloge, und mit der Speläologie als benachbartem Fachgebiet hatte er sich im Laufe seiner Ausbildung nur in Auszügen beschäftigt, wie es üblich war in einem Zeitalter, in dem hochgradige Spezialisierung und Expertentum das gleiche bedeuteten wie Qualifikation. Dennoch hatte er binnen kurzem erkannt, dass Schichten von Kalkgestein, Spuren von Korrosion, Tropfstein und andere Sinterstrukturen, Kalzit und erst recht das Eis zur Geologie und sonstigen Beschaffenheit von los Oberfläche in krassem Widerspruch standen. Derartige Höhlen fand man normalerweise in Karstgebieten mit starker Versickerung des Wassers. Ein solcher Landschaftstypus und los Kruste schlossen einander eigentlich aus  jedenfalls, wenn man von der Voraussetzung ausging, dass der jetzige Mond bereits als Satellit Jupiters seinen Ursprung nahm.

  Allerdings gab es gewisse Hypothesen über eine vormals andere planetare Ordnung im Sonnensystem, kühne Spekulationen im Zusammenhang mit dem Asteroidengürtel. In Anbetracht jener Mutmaßungen drängte sich Florens die Erwägung nachgerade unwiderstehlich auf, Io könne einmal zu den inneren Planeten gezählt haben, aus seiner Umlaufbahn geworfen, als durch eine noch unaufgeklärte Explosion des fünften (oder sechsten?!) Planeten das Gleichgewicht der Anziehungskräfte, der interplanetaren Magnetfelder, innerhalb des Sonnensystems aus den Fugen geriet, später vom Riesen Jupiter eingefangen, zum Möndchen degradiert worden sein, einem von vierzehn.

  Hier ergab sich erstmals die überaus faszinierende Aussicht, die besagten Hypothesen wissenschaftlich zu überprüfen. Für einen relativ kleinen Himmelkörper wie Io stellten sechzig bis achtzig Meter Lavagestein eine sehr lange geologische Epoche dar, und die Annahme, dass darunter Reste der ursprünglichen Ökologie konserviert worden waren, kam Florens nicht allzu abwegig vor. Die Entdeckung der Karsthöhlen eröffnete der Erforschung der Vergangenheit des Sonnensystems gänzlich neue Wege.

  Hätte er auf die Ausstattung der Checkered Demon zurückgreifen können, wäre es schon jetzt möglich gewesen, das Eis auf etwaige, vielleicht mikroskopisch winzige Rückstände zu untersuchen, auf Einschlüsse, die auf einstiges Leben zu schlussfolgern erlaubten. Dem Kalkgestein allein Fiel noch keine ausreichende Beweiskraft zu; zwar erzeugte die Ablagerung kalkhaltiger Tierreste auch Kalkstein, aber im allgemeinen bildete sich Kalziumkarbonat dank chemischer Prozesse, durch Ausschlämmung. Doch falls sich, zum Beispiel, irgendwo Travertin fand, wäre das bereits ein Beweis: Kalktuff konnte nur unter Mitwirkung von Pflanzen und Bakterien entstehen.

  Aber er hatte jetzt keine Zeit für derartige Angelegenheiten. Alles hing davon ab, dass er und Grindling wohlbehalten an die Oberfläche zurückkehrten. Sobald die Funkverbindung zum Schwesterschiff Demon’s Dreamboat auf Ganymed hergestellt war, konnte man ihnen mit Versorgungsraketen zur Ergänzung ihrer Vorräte aushelfen, bis ein über Space-Control Mars herbeibeorderter Bergungs-Tender eintraf. Nur viel Geduld würde dann noch erforderlich sein.

  Florens verdrängte alle Gedankengänge, die ihn hätten ablenken können, und richtete seine Aufmerksamkeit mit aller Konzentration, deren er fähig war, auf die heikle Strecke.

  Percy hatte mittlerweile wieder genug Atem zum Greinen. »Ich weiß wirklich nicht, wie lange ich das alles noch durchhalten werde. Zooks, Mann, ich müsste ein bisschen Rücksicht auf meine Gesundheit nehmen. Man wird ja nicht jünger. Die Dienststelle muss mir erlauben, dass ich künftig mehr auf mich achtgebe.« Er hustete wie ein Schwindsüchtiger.

  Mit leicht vorgebeugtem Oberkörper spannte Florens - er schenkte Percy keine Beachtung  - die Muskeln seiner Beine, federte in den Knien. Um anzuzeigen, was es nun galt, deutete er kurz nach oben, dann lief er los, ohne sich noch einmal umzuschauen.

  Der Raumanzug wog mit allen in sein Design integrierten Vorrichtungen, Gerätschaften und Instrumenten trotz der nur ungefähr 0,5 G gut und gerne noch achtzehn Kilo, und auf etwa halber Länge des Sims begann sich Florens’ Atmung zu beschleunigen. Das harsche Klirren seiner Bleisohlen hallte in rascher Folge wie ein Hammerwerk und läutete in vielfältigen Echos von den Felswänden der geräumigen Grotte wider, bis ein gewaltiges Xylophon zu dröhnen schien.

  Schwindel packte ihn, sein Herz krampfte sich zusammen - er verdrängte das Angstgefühl mit einer energischen Willensanstrengung. Das Weiß der Gipsblumen rings um die Schachtöffnung, ein Ergebnis der chemischen Verbindung von Kalkgestein mit Schwefel, hüpfte und driftete vor seinen Augen, als er mit beiden Armen nach der metallenen Querstange haschte.

  Er bekam sie zu fassen, stieß sich vom Sims ab. Einige Male pendelte er hin und her, während er sich höher hangelte, schließlich einen Fuß in die unterste Kletterschlaufe schob. Sein Brustscheinwerfer ließ einen Lichtkreis wie einen bleichen Riesenfalter mal da, mal dorthin gaukeln.

  »Alles hat seine Grenzen, daran gibt’s nichts zu rütteln«, schwadronierte Percy. »Es ist nicht alles Gold, was glänzt, das war mir immer klar, aber dass man mir bei der Raumfahrt solche Sachen zumutet, damit habe ich nicht gerechnet.«

  »Aha«, machte Florens gleichgültig, atmete tief ein und streckte sich nach der nächsten Kletterschlaufe, begann zu klimmen.

  Das Nylonseil war ein wohlüberlegt konzipiertes Allzweckhilfsmittel und nebst diversem Zubehör als vorgeschriebener Standard Bestandteil jeder Raumfahrer-Notausrüstung; seine Zopfstruktur gewährleistete nicht nur eine ganz außerordentliche Belastbarkeit, sondern ermöglichte zudem eine Dehnung auf die eineinhalbfache Länge. Mit hartnäckigem Zerren und Reißen hatten sie die vorhandenen einhundert Meter von der Klufthöhle bis hinab in die Trichtermündung zur Grotte legen können.

  Schon als Florens die Stelle erreichte, wo er den gedehnten Teil des Seils mit einem U-Eisen im Fels verankert hatte - zehn Meter über dem unteren Ende - , merkte er, dass eine wahre Schinderei anstand. Er spürte die Beanspruchung seines Körpers durch den Abstieg jetzt, da er die gleichen Bewegungsabläufe erneut vollziehen musste, mit unangenehmer Deutlichkeit, vor allem in den Oberschenkeln und Schultern. Eine Rast hatten sie nicht eingeschoben dafür trug, sah er ein, im wesentlichen er selbst die Verantwortung, denn die Faszination hatte ihm keine Ruhe gegönnt , und nun drängte wegen des in Kürze fälligen Austauschs der Sauerstoffpatronen die Zeit.

  »...kann keine... sehen«, kam eine von Rauschen und Knistern verstümmelte Äußerung Percys aus dem Helm-Empfänger. Florens achtete nicht darauf.

  Die frühere Kaskade besaß zwar trotz der Verwinkelung ihrer Reihe von Wasserfallschächten eine lichte Höhe, aber weil ein Festpunkt zu wenig für die Spannung gewesen wäre, in der das Seil sich in gedehntem Zustand befand, hatte er an noch mehreren Stellen U-Eisen  alle verfügbaren  ins Gestein gehauen, in Abständen von zwanzig oder dreißig Meter, und es daran verknotet; wo es über Felskanten verlief, hatte er es durch Plastikröhrchen geführt, um es gegen Scheuerwirkung zu schützen.

  Aufgrund dieser Weise der Hin- und Her-Verlegung, die mit dem vertikalen Zickzackverlauf der Schächte übereinstimmte, musste Florens all seine Behändigkeit aufwenden, um zügig zu klettern. Er bemühte sich um eine einigermaßen ausgeglichene Atmung, doch der Inhalt seiner Sauerstoffpatrone ging offenkundig zur Neige, denn alle Atemtechnik konnte nicht verhindern, dass die Luft im Raumhelm an Schalheit zunahm. Ihm war sehr warm und außerdem so, als sei jeder Atemzug, den er in der Stickigkeit seines Helms tat, zweckloser als der vorherige; verschiedentlich machte sich an seinem Körper mit lästigem Jucken Schweiß bemerkbar.

  »Wenn nicht... (Knacken) ... müssen ... (Zirpen) ... dran glauben«, sagte Percy. »Wir werden in dieser Grube draufgehen, da bin ich ... (Brummen) ... nur soweit mit mir kommen?«

  Ein schön gestreift gewesener Sintervorhang, der Florens beim Abstieg aufgefallen war, hatte die Erschütterungen von Ios Kruste nicht überstanden. Nur ein scharfkantiger, abschüssiger Grat war übriggeblieben, und als sich Florens am Seil über einen Vorsprung aus einer Aneinanderreihung schmaler Sinterwälle schwang, schrammte er am Bruch so heftig entlang, dass im mehrschichtigen, gewöhnlich recht widerstandsfähigen Folienmaterial des Raumanzugs sofort mit derbem Ratschen ein fingerlanger Riss klaffte.

  Erbittert stieß er einen Fluch aus. Die automatischen Ventile, empfindsam gegenüber jeder Veränderung des Innendrucks, dichteten das betroffene Segment in Sekundenschnelle ab, und die Ruckartigkeit der zweifachen Einschnürung des linken Oberarms entlockte ihm, als die Magnetversiegelungen zuschnappten, einen Aufschrei, der sich seiner Verwünschung übergangslos anschloss.

  »Was... los, Mann? Wieso...?«

  Das Pfeifen einer Rückkopplung überlagerte Percys verdrossene Fragen und machte sie unverständlich, doch Florens scherte sich ohnehin nicht darum; das Klettern verlangte größtmögliche Vorsicht. Zwei, drei Lecks durfte man in einem modernen Raumanzug dulden, darüber hinaus jedoch verursachten die Abdichtungen, wenn man zur Regsamkeit gezwungen war, scheußliche Unbequemlichkeiten.

  Mit jener ihm eigenen Dickköpfigkeit, die sich bei Schwierigkeiten noch zu verhärten pflegte, turnte er am Seil aufwärts. Seine Muskeln äußerten schmerzliche Bekundungen des Nichtkönnens und/oder Nichtwollens, aber er war dergleichen schon in solchem Umfang von Grindling gewöhnt, dass er sich für einige Zeit darüber mit derselben Geringschätzung hinwegzusetzen vermochte wie über die Zurschaustellung unbegreiflicher Schwäche, deren sich der Impunität befleißigte.

  Dennoch begann der Schmerz in den Schultern sein Dasein langsam in derartigem Maße zu beherrschen, alle anderen Empfindungen und Wahrnehmungen abzustumpfen, das Denken zu behindern, dass Florens zuletzt das Gefühl hatte  zumal er an bestimmten Sinterbildungen feststellte, dass ihn höchstens noch fünfzig Meter von der Kluft trennten, die die Kalksteinhohlräume mit der Lasterhöhle verband , mit gutem gewissen eine Verschnaufpause einlegen zu dürfen.

  Er streckte sich an der geriffelt gesinterten Schräge eines Schachtabschnitts aus und sicherte sich mit einer Doppelklemme am Seil, bevor er seine Gliedmaßen  erstmals seit vielen Stunden  erschlaffen ließ. Ihm flimmerte vor Augen. Jetzt hätte er gern einen tüchtigen Schluck Cognac aus seinem Flachmann genommen, doch das gediegene Erbstück - in einer Epoche des totalen Recycling eine kostbare Seltenheit;  nur faustgroß, Klappverschluss, Sterling-Silber, nach barockem Vorbild ein Wildeber eingraviert mit dem Spruch Du volle Sau wie lugst mich an/Meinst dass ich auch so werden kann? - steckte in der Hüfttasche seines Overalls, unterm Raumanzug vorerst unerreichbar.

  »Zooks, Mann, was... denn nun?« Ein Jaulen untermalte Percys leise Stimme. Gequält schloss Florens die Lider. Im Laufe des Aufstiegs hatte er bemerkt, wie die Verbindung sich immer mehr verschlechterte; wahrscheinlich waren die Batterien beider Helmfunkgeräte so gut wie leer.

  Anscheinend war Percy etwas zurückgeblieben, absolut kein erstaunliches Vorkommnis. Florens stöhnte vor Überdruss und rutschte, indem er nochmals aufstöhnte, seitwärts zur Kante, um nachzuschauen, wie weit der Maschinentechniker zurück hing. Er spähte in die Schächte hinab und sah zu seiner Bestürzung nicht den schwächsten Lichtschein. Verärgert beugte er sich vor und lenkte den Scheinwerferkegel nach unten.

  Er traute seinen Augen nicht.

  Percy war nirgends zu sehen.

  In der ersten Schrecksekunde kostete es Florens einige Mühe, Gefasstheit zu bewahren, doch dank seines Sinns für praktisches Überlegen und Handeln meinte er, noch keinen Anlass zu erhöhter Beunruhigung zu haben; der Mann konnte gerade durch einen Winkel kriechen und in einigen Augenblicken wieder zum Vorschein kommen. Florens fegte seine Kehle mit einem Räuspern, um eine Frage zu stellen.

  »Florens?«, drang in diesem Moment Percys Stimme gedämpft, aber klar aus dem Helmlautsprecher, und die Schwingungen offenen Entsetzens in ihrer Tonlage verscheuchten unverzüglich Florens’ maßvolle Zuversicht, kündeten ein Übertreffen seiner schlimmsten unterschwelligen Befürchtungen an. »Florens, wo bist du überhaupt?«

  Urplötzlich war Florens zumute, als müsse er durchdrehen. Er spürte, wie seine Lippen sich zusammenpressten, bis ihm sein Mund hart und starr im Gesicht saß wie ein Wundschorf. Seine Sicht verschwamm von Schweiß oder Tränen. Er rückte noch näher an die Felskante. Die Klauen-hafte Verkrampfung seiner Hände löste sich nur mit schmerzvollem Widerstreben, so dass es ihm erhebliche Mühsal bereitete, den Mikrolaserprojektor an seinem Raumhelm manuell zu senken, bis er hinunter in die ausgetrocknete Kaskade wies.

  »Ich wüsste gern, wo du eigentlich steckst«, erwiderte er mit aller Selbstbeherrschung, um dagegen vorzubeugen, dass er sich in hinderlichen Zorn hineinsteigerte oder der Maschinentechniker in Panik. »Ich dachte, du wärst gleich hinter mir. Wo befindest du dich?«

  Für ein Weilchen blieb es still. Dann antwortete Percy mit der kurzatmigen, schrillen Heiserkeit naher Zerrüttung.

  »Ich... ich habe keine Ahnung. Hier ist Eis... Da sind Tropfsteinsäulen. Ich weiß nicht, wo ich bin, Florens. Ich bin ganz allein.« Seine Stimme drohte überzuschnappen. »Ich bin hier unten ganz allein! Warum hast du mich im Stich gelassen? Wo bist du?«

  »Daran kann kein Gedanke sein, dass ich dich im Stich gelassen hätte«, widersprach Florens schroff. »Lass uns keine Zeit vergeuden. Wir müssen uns schnellstens wiederfinden. Wo oder wann hast du dich denn vom Seil entfernt?« Um Streit zu vermeiden, sah er davon ab, nach dem Warum zu fragen.

  »Ich bin doch gar nicht am Seil«, gab Percy so trotzig zur Antwort, als seien diese Nachfragen unsinnige Behelligungen seines Geistes.

  »Nicht am Seil?«, vergewisserte sich Florens und merkte an der Ausdruckslosigkeit seiner Stimme, dass er, ohne sich dessen bewusst zu werden, schon fast an der Grenze der Zugeständnisse angelangt war, die er Percys Nutzlosigkeit zu machen gedachte. Seine Vermutung war gewesen, dass der Maschinentechniker beim Aufstieg, womöglich im Glauben, bereits die zwischen den Kalkstein und Lavaschichten gelegene Klufthöhle erreicht zu haben, irgendwo in einen zuvor unentdeckt gebliebenen Gang abgeirrt sei, der von den Schächten abzweige; offenbar jedoch tappte er, wieso auch immer, noch unten auf der Sohle des Höhlensystems herum. Damit stand fest, er hatte sie in ein Dilemma gebracht.

  »Nein, nicht«, zeterte Percy. »Die ganze Zeit warte ich darauf, dass du mir sagst, was weiter, und nun staunst du, dass ich nicht am Seil hänge! Wo bist du denn?« Seine gesteigerte Lautstärke verursachte sofort die abscheulichen Misstöne von Rückkopplungen.

  Florens musste erneut alle Beherrschung aufbieten, um nicht aufzubrausen. Warum hatte nicht, statt Stanley, dieser untaugliche Idiot verunglücken können?