Sonja. Eine Melancholie für Fortgeschrittene - Luise F. Pusch - E-Book

Sonja. Eine Melancholie für Fortgeschrittene E-Book

Luise F. Pusch

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Beschreibung

Dieses Buch ist das Protokoll einer Trauer. Vier Jahre lang, von 1976 bis 1979, hat Judith Offenbach daran geschrieben. Sie wollte Sonja ein Denkmal setzen. Herausgekommen ist ein (in der nicht spektakulären, sehr detaillierten Art) aufklärender, anklagender und ermutigender Bericht über den verborgenen Alltag lesbischer Paare und über das alltägliche Leben mit einer Behinderten.

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Seitenzahl: 654

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Luise F. Pusch

Sonja

Eine Melancholie

für Fortgeschrittene

Mit einem Vorwort der Autorin

Suhrkamp

Der vorliegende Text folgt der 8. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 688.

© 1980, Suhrkamp Verlag AG, Berlin

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt.

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Umschlaggestaltung nach Entwürfen von hißmann, heilmann, hamburg

eISBN 978-3-518-78174-6

www.suhrkamp.de

Inhalt

Vorwort

Erster Teil

Zweiter Teil

Dritter Teil

Vorwort

An diesem Bericht über die unerträgliche Schwierigkeit des Lesbischseins vor, während und nach der 68er »Sexualrevolution« habe ich über drei Jahre lang, 1976 bis 1979, geschrieben. Das ist eine kleine Ewigkeit her, und ich bin heute nicht mehr die verzweifelte und verängstigte junge Frau, die ich damals war, sondern eher eine gereifte und gestärkte Matrone. Dies als Warnung an Leserinnen, die sich – wie damals des öfteren geschehen – beim Lesen in die Autorin verlieben und sie aus ihrem Elend erretten wollen. Daß ich meinen persönlichen Kummer relativ gut überlebt habe und mich zu einer energischen Streiterin für die Sache der Frauen fortentwickeln konnte, verdanke ich auch dem langen Prozeß des Aufschreibens und der ständigen Ermutigung durch meine Freundin Swantje Koch-Kanz (Julia) und meinen Analytiker Hans Ulrich Müller, der im vergangenen Jahr viel zu früh gestorben ist. Beiden habe ich das Buch damals gewidmet. Es war mir wichtig und schien mir stimmig, diese Lesbengeschichte einer Heterofrau und einem heterosexuellen Mann zu widmen – will sagen: Es kommt nicht auf das Geschlecht oder die sexuelle Präferenz an, sondern auf den Charakter und darauf, wie wir miteinander umgehen.

Es gab viele Motive für das Schreiben; mit das wichtigste war wohl der Wunsch, die bedrückenden Zustände zu ändern und überhaupt zu verstehen, was geschehen war.

1981 wurde das Buch unter dem Pseudonym Judith Offenbach veröffentlicht. Über meine Beweggründe für das Pseudonym habe ich mich ausführlich in dem Interviewband Ladies first geäußert.1

Jetzt erscheint Sonja erstmals unter meinem richtigen Namen, und ich mache mir seit Monaten Gedanken, was ich dazu sagen möchte. Schließlich warf ich alle Entwürfe in den (elektronischen) Papierkorb. Statt nun wieder lange Erklärungen abzugeben (das Buch enthält schon genug), will ich lieber eine Geschichte erzählen.

Im Mai 1996 waren meine Lebensgefährtin und ich zu einer Hochzeit eingeladen. Es war eine – für US-amerikanische Begriffe – kleine Hochzeit: Nur 250 geladene Gäste. Nach dem üppigen Dinner spielte die Band zum Tanz auf. Zwar war die Tanzfläche einigermaßen belebt, aber die meisten Gäste blieben an ihren Tischen sitzen. Männer tanzen eben nicht gern, und Frauen dürfen Männer nicht zum Tanzen auffordern. Daß Männer ungern tanzen, hat mit Homophobie zu tun: »Die Männlichkeit der meisten Männer wird definiert über eine bestimmte Art, sich zu bewegen, sehr steif und ausdrucksarm. Der Tanz verrät all das.«2

Plötzlich zog meine Partnerin mich auf die Tanzfläche: »Let's try a little gender-bending!«3 Und wir begannen zu tanzen. Ich hatte schwere Bedenken, aber es machte mir auch großen Spaß; ich tanze so gern mit ihr. Zu meiner Überraschung kamen jetzt nach und nach immer mehr Frauen auf die Tanzfläche und tanzten miteinander. Wir beide hatten »den Bann gebrochen«. Es bedurfte nur eines winzigen Anstoßes, um die Frauen scharenweise aus ihrer ängstlichen Reserve zu locken. Sicher waren nicht viele Lesben unter ihnen; die meisten hatten unser Tun vermutlich als Notwehr gegen männliche Tanzmuffelei interpretiert. Wie auch immer, zwei Lesben, die es satt hatten, dem Heterosexismus des Gesellschaftstanzes zu gehorchen, hatten zahllosen anderen Frauen zu mehr Spaß an der Veranstaltung verholfen, zu mehr Nonchalance gegenüber einengenden, frustrierenden Konventionen. Und das während einer Hochzeit!

Leider tanzten aber keine Männer miteinander.

Nachdem ich Sonja veröffentlicht hatte, bekam ich viele Briefe von Frauen, die sich bestimmte Dinge aus dem Buch zum Vorbild nahmen. Etliche zum Beispiel setzten eine Anzeige in die Emma, andere fingen an, ihre »intimsten« Erlebnisse aufzuschreiben und öffentlich zu machen, andere gingen in eine Lesbengruppe.

Wenn eine etwas tut, das Mut verlangt, und sie kommt damit ganz gut durch, trauen sich andere, es ihr nachzumachen, und wieder andere, es diesen nachzumachen; es zieht immer weitere Kreise. So entsteht (Frauen-)Bewegung und Veränderung. Auch ich habe mich nur getraut, weil andere vorangegangen waren.

Deshalb möchte ich jetzt, 22 Jahre nach Beginn des Schreibens bzw. 17 Jahre nach der Erstveröffentlichung von Sonja, endlich den letzten Schritt in diesem sicher größten und folgenreichsten Wagnis meines Lebens tun und mein Pseudonym lüften. Die meisten Leserinnen, die die Arbeiten von Luise F. Pusch kennen, wissen nichts von dem Buch Sonja und den kaum erträglichen Zuständen, die es dokumentiert. Und diejenigen, die wissen, daß die feministische Satirikerin und Sprachwissenschaftlerin Luise F. Pusch mit Judith Offenbach, der Autorin dieses »langen traurigen Lesbenromans«, identisch ist, finden die Identität meistens schwer nachvollziehbar. Eine Studentin, die ihre Magistra-Arbeit über Sonja schrieb, meinte sogar, es sei sehr schade, daß diese Judith Offenbach nicht mehr vom Witz einer Luise F. Pusch hätte.

Ich selber halte es mit Tschechow, der darauf bestand, daß seine Theaterstücke Komödien seien, während die andern sie eher für Tragödien hielten. Ich finde, daß Sonja auch ein komisches Buch ist. Denn obwohl (oder weil) Sonja und ich nicht viel zu lachen hatten, haben wir doch viel gelacht.

Ich widme diese Neuveröffentlichung in Dankbarkeit meiner hinreißenden Tanz-Partnerin aus dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten, Joey Horsley. Ohne die Frauenbewegung hätte ich sie 1985 nicht kennengelernt, und ohne sie wüßte ich nicht, wie wunderbar das Leben sein kann, sogar, und vor allem, für Lesben.

Luise F. Pusch

Hannover, Februar 1998

Anmerkungen

1 Pusch, Luise F. 1993. Ladies first: Ein Gespräch über Feminismus, Sprache und Sexualität. Reihe »Wortmeldung« Band 2. Bamberg. Palette.

2 »Most men's masculinity is defined by a certain way of moving – very rigid and very inexpressive. Dancing betrays all that.« Blumenfeld, Warren J. Hg. 1992. Homophobia: How we all pay the price. Boston. Beacon Press. S. 36

3 Auf deutsch, in sehr freier Übersetzung: »Komm, versuchen wir mal eine Geschlechtsrolle rückwärts!«

»Was hast du?« rief er. »ein gebrochenes Herz? Ich. ich habe Senkfüße. Kopfschorf. eine Schrumpfniere, zerrüttete Nerven und ein gebrochenes Herz!… Und das ist das einzige, was du als Gewißheit nach Hause trägst: eine Melancholie für Fortgeschrittene – denn kein Mensch wird je eine größere Wahrheit finden als seine Niere es ihm erlaubt.«

Djuna Barnes. Nightwood

Erster Teil

Heute ist der 24. August 1976. Es ist spät nachts, Viertel vor zwölf. Giovannas Geburtstag. Ich habe, eigentlich, nicht richtig gearbeitet, sondern hauptsächlich abgenommen. Seit einer Woche faste ich, für meine Begriffe (ich mache so eine 1000-Kalorien-Diät). Vor drei Tagen »zeigte die Waage einen Gewichtsverlust« von drei Pfund, heute nur noch zwei Pfund. Das hat mich so deprimiert, daß ich keine Lust/Kraft/Zuversicht zum Arbeiten mehr hatte.

Ich arbeite an meiner Habilschrift über Hildegard von Bingen. Gestern habe ich mich quasi auf einen Lehrstuhl für Mediävistik in Utrecht beworben. Ich habe Angst davor, eventuell in Utrecht Professorin sein zu müssen. Aber in einem Jahr hört mein Stipendium auf. Die Lage, so liest man überall, ist schlecht für den wissenschaftlichen Nachwuchs, und man muß sich rechtzeitig umsehen, bewerben etc.

Jetzt hat mein anfängliches Herzklopfen etwas nachgelassen. Ein Buch schreiben zu wollen ist für mich vor allem ein ehrgeiziges Unternehmen, und Ehrgeiz ist bei meinem Thema überhaupt nicht am Platz. Mein Ehrgeiz hat glaube ich mit dazu beigetragen, daß Sonja sich das Leben genommen hat. Und dieses Buch soll über Sonja sein, über mein Leben mit Sonja.

Ich habe keinen Plan für dieses Buch. Ich weiß nur, daß es ein Buch werden wird – jedenfalls gibt es über Sonja sehr viel zu sagen, zu viel, als daß es in einer Erzählung Platz hätte. Früher habe ich ein paar Kurzgeschichten geschrieben. Ich war 24 und lebte mit Sonja zusammen im Studentenheim. Die Geschichten waren vielleicht nicht so schlecht; es interessierte sich aber niemand dafür. Ich habe sie, in meinem Ehrgeiz, an renommierte Verlage geschickt: S. Fischer, Rowohlt, Hanser, Limes, Diogenes, Wagenbach, Suhrkamp, Kiepenheuer und Witsch.

Es ist heute in der Literatur üblich geworden, im Roman oder was es nun jeweils ist, über das Schreiben und die persönlichen Beweggründe zum Schreiben, die Zweifel an der Richtigkeit dieses Tuns überhaupt, zu reflektieren. Letzte Woche las ich in einer Rezension über Härtlings neues Buch, daß er das pausenlos tue. Ich muß mir das Buch mal ansehen, vielleicht gibt es ein gutes Muster ab für das, was ich schreiben will. Ich habe nämlich auch einen Text einzuarbeiten, so wie Härtling den Hölderlin-Text hatte. Mein Text ist Sonjas Nachlaß, die Bruchstücke ihrer Dissertation über Djuna Barnes. Diesen Nachlaß haben Freunde aus dem Müll gerettet (der Müllmann hatte mehr Verständnis dafür als Sonjas eigene Mutter), und ich verwalte ihn jetzt. Zur Zeit liegt er in einem großen Umzugspappkarton im Keller meiner Eltern, eine Tagesreise von hier. Ich wohne im Moment in Basel. Ich habe den Nachlaß im März gesichtet, einen langen Nachmittag lang, aber ich mußte dabei so sehr weinen, daß ich es besser fand, das alles erstmal zuzuschnüren und später wieder daranzugehen. Dieser Nachlaß ist also so eine Art Anlaß für mich, dies Buch zu schreiben. Eine wissenschaftliche Publikation kann man daraus nicht machen. Ich kann es jedenfalls nicht. Ich hätte Angst, wieder zu viel von mir, meinen Ansichten, meiner Routine hineinzutragen, so wie ich es früher schon mit Sonjas Arbeiten für die Uni getan habe.

Sonst mag ich eigentlich die Beweggründe meines Schreibens nicht analysieren, so als Block vorneweg. Ich mag auch nicht über stilistische Fragen nachdenken, jedenfalls nicht hier auf dem Papier. Vielleicht weil ich es »privat« sowieso dauernd tue. Diese Fragen werden von selbst immer wieder auftauchen, untergründig oder auch offen.

Ich kann es nicht ertragen, daß Sonja einfach so weg ist. Ich möchte ihr mit diesem Buch ein Denkmal setzen.

In den vergangenen Monaten habe ich nicht viel über Sonja nachgedacht, aber ich habe viel gefühlt, wiedererlebt, in der Erinnerung wiedergesehen. Diese Erinnerungen überfielen mich. Überall und immer war ich ihnen ausgeliefert. Sie taten sehr weh. Vielleicht sind nur solche Erinnerungen schön (falls es sich um schöne handelt), die prinzipiell wiederholbar sind. Diese Erinnerungen sind es nicht, denn Sonja ist tot. In der Nacht vom 2. zum 3. März hat sie sich vom Rollstuhl aus in die Eibe gestürzt, in Wedel, an der Hafenanlage mit einem für sie zugänglichen, befestigten Ufer. Es war eiskalt damals. Neben dem Rollstuhl fand man einen Haufen Zigarettenstummel und eine leere Whiskyflasche. Die Flasche ist für mich noch eine irgendwie tröstliche Vorstellung, aber die Zigaretten zeigen ja nur, wie lange sie da gesessen hat, mit diesem entsetzlichen Entschluß im Herzen. Wenn sie nun, nach dem Sprung ins Wasser, ihren Entschluß rückgängig machen wollte? Sie konnte es nicht, weil sie gelähmt war. Wahrscheinlich aber wollte sie das nicht. Sie hat mir oft von ihrem ersten Selbstmordversuch erzählt, als sie neunzehn war. Sie sprang nachts, im Dezember 1962, von einer Mauer in Köln. Nach sechs Stunden Bewußtlosigkeit wachte sie auf, entsetzt darüber, daß sie nicht tot war. In ihrer Handtasche hatte sie Schlaftabletten, und die hat sie trocken runtergewürgt. Später dann wachte sie im Krankenhaus auf – und war querschnittgelähmt.

Seit einer Woche etwa habe ich ein bißchen mehr Distanz zu Sonjas Tod. Wie das gekommen ist, weiß ich nicht genau. Aber wenn es nicht so wäre, könnte ich gar nicht darüber schreiben.

Wir haben uns geliebt. Sieben Jahre haben wir zusammengelebt, zweieinhalb Jahre im Studentenheim, viereinhalb Jahre in unserer Anderthalb-Zimmer-Wohnung in der Rutschbahn. Im Herbst 1973 trennte ich mich von ihr und zog nach Bremen. Da beging sie ihren zweiten Selbstmordversuch, mit Schlaftabletten, in der Haseldorfer Marsch. An einer Stelle, wo ein vorzeitiges Auffinden in der Nacht sehr unwahrscheinlich war. Sie wurde aber doch gefunden, und die Ärzte brachten sie ein zweites Mal durch. Ich besuchte sie im Krankenhaus, als sie wieder halbwegs ansprechbar war. Als sie mich sah, sagte sie: »Jetzt bleibst du aber doch bei mir?« Ich wollte mich nicht erpressen lassen, und »alle Welt«, auch die Ärztin, hatte mich in dieser Haltung bestärkt. Also sagte ich nein. Hätte ich mich nicht an Bella gebunden gefühlt, hätte ich das nicht gekonnt. Aber mein Gefühl für Bella war damals so heftig, trotz meiner Trauer um und mit Sonja, daß ich nicht bei Sonja bleiben wollte. Sonja war fassungslos über meine Herzlosigkeit, drehte sich abrupt weg, fing furchtbar an zu weinen und hatte nur noch einen Gedanken, den sie auch immer wieder aussprach: »Dann werde ich es eben wieder tun, bis es endlich klappt. Warum lassen einen diese verdammten Ärzte nicht in Ruhe sterben? Glaubt ihr denn, es ist schön, sich immer wieder das Leben zu nehmen, und dann klappt es nicht? Wenn du schon nicht bei mir bleibst, dann hilf mir wenigstens, daß es endlich klappt!«

29. August 1976

Eben habe ich »La Clemenza di Tito« über Kopfhörer gehört und gleichzeitig auf Band mitgeschnitten. Titus interessiert mich zwar auch, man kriegt ja die Oper selten zu hören, aber vor allem wollte ich Tatiana Troyanos in der Rolle des Sextus hören. Es war ein Premierenmitschnitt von den diesjährigen Salzburger Festspielen, und vielleicht war sie aufgeregt. Jedenfalls war ich zuerst enttäuscht. Anfangs hatte ich das Gefühl, da singen ja nur Mezzosoprane, und wo ist sie denn in dem ganzen Gewirr? Eigentlich erkenne ich ihre Stimme sofort, das exaltierte Vibrato und diese so besonders sinnliche Tiefe (ganz anders als z.B. Teresa Berganza oder Fiorenza Cossotto. Die sind hervorragend, aber sie sprechen mich nicht sinnlich an). Ich hatte kein Textbuch, kannte den Inhalt nur aus meinem dummen Opernführer (schleunigst vergessen), und so war ich verwirrt, bis diese Arie mit Soloklarinette kam. Entweder hatte sie da »ZU sich gefunden« oder sie war vorher überhaupt nicht aufgetreten – oder nur, um ohime auszustoßen. Von da ab war sie voll da und beherrschte mit ihrem exaltierten Temperament und ihrer sinnlichen Intensität die Szene, erntete auch den meisten Applaus zu meiner Befriedigung. Sonja war immer ziemlich nachsichtig, was meine Schwärmerei für Tatiana Troyanos betraf. Sie teilte sie nicht, fand aber die Troyanos auch »prickelnd«. Zum erstenmal sahen wir sie 1970 im Rosenkavalier, wo sie den Octavian sang. Eine für damalige (oder meine damaligen) Begriffe kühne Inszenierung; Octavian liegt nämlich zu Beginn des ersten Aktes zärtlich mitten auf dem Bett der Marschallin, und die beiden küssen sich und tändeln miteinander, daß es eine Freude ist. Sonja und ich waren uns da völlig einig und sehr vergnügt an diesem Abend. Wir haben den Rosenkavalier noch oft gesehen, leider nicht immer mit der Troyanos. Auch als Komponist in der Ariadne hat sie uns nicht enttäuscht. Als Clairon dagegen war sie lahm (erotisch gesehen). Es war eben leider keine Hosenrolle. Als Cherubin habe ich sie nur auf Platte gehört, nicht gesehen. Die beiden Cherubin-Arien habe ich so oft gehört, daß Sonja doch manchmal eifersüchtig wurde. Eifersucht war oft ein Spiel zwischen uns. Die Regeln waren beiden bekannt, und sie wurden nur im Notfall überschritten. Oft habe ich Sonja damit geneckt, daß ich, wenn ich sie umarmte und küßte, wie aus Versehen an mich selbst geriet; z.B. nahm ich ihre Hand in meine, küßte eingehend ihren Unterarm, kam auf den Handrücken und landete schließlich selbstvergessen auf meiner Hand, woraufhin sie mir sofort den obligaten zärtlichen Klaps gab. Für mich war es wirklich nur ein Spiel, aber Sonja schien es tatsächlich nicht zu mögen, wenn ich mich selbst küßte statt sie. Der Klaps war zärtlich und mit-spielerisch, aber der Unmut war doch sehr echt. Richtig habe ich es nie verstanden, warum – denn es machte mir natürlich keinen besonderen Spaß, mich selbst zu küssen.

Kennengelernt haben wir uns über ein Spiegelei, aber unsere Liebe, anderthalb Jahre später, begann über die Musik, die Violinkonzerte von Bach. Sonjas erster Anlauf, mir mit Wagner zu kommen, klappte nicht. Ihr Apparat war erbarmungswürdig schlecht, und Wagner mochte ich damals noch nicht. Erst später (Demokratie in der Ehe) habe ich mich darauf einstellen gelernt.

Mit dem Spiegelei war es so: Im Sommer 1965 war Sonja in das Studentenheim eingezogen, ins Parterre natürlich. Ich wohnte im ersten Stock. Beide waren wir Nachteulen. Ich ging selten vor drei Uhr zu Bett; sie ging, wenn man ihr glauben soll, überhaupt kaum je zu Bett. Was sollte sie da auch damals: vor Schmerzen in den Füßen, im Rücken und in den Beinen konnte sie sowieso kaum einschlafen, und wenn doch einmal, wachte sie alsbald durch einen Spasmus wieder auf. »Spasmus sein«, nannten wir das später. Jedenfalls waren mir eines Nachts die Zigaretten ausgegangen, ich ging runter zum Automaten, und da saß Sonja in der offenen Küche und brutzelte sich ein Spiegelei. Ich hatte von meiner Freundin Judith schon eine Menge gehört über das tolle Mädchen, das unten neu eingezogen war. Ich war fast eifersüchtig, so voller Lobes war Judith gewesen, und vorher hatten wir beide allein sozusagen immer Front gemacht gegen den öden Studentenhaufen um uns herum. Das macht stark und tut wohl, wenn man sich als Außenseiter fühlt. Nun sollte es da also Sonja geben, ein Wesen, das aussah wie ein Engel und dieselben Bücher, Bilder und Platten liebte wie Judith und ich. Man hörte aber auch über sie, daß sie unmotivierte Schreikrämpfe bekam, statt sich zu freuen über einen Rosenstrauß oder ein Paket Bücher, Sendungen von einem Deutschlehrer, der sie liebend verehrte (die Geschichte erfuhr ich erst später). Da saß sie nun mit ihrem Spiegelei, und ich ging hin und guckte mir das an. Damals siezte man sich noch unter Studenten. Ich war schüchtern und neugierig, Sonja bestimmt auch. Sie hatte das Gelbe von ihrem Ei sorgfältig kaputtgemacht und briet es nun auch noch auf der anderen Seite – ein echtes Spiegelei à Ia Judith, meine Spezialität. Ich sagte wohl, es fehlte vielleicht noch Cayennepfeffer; damals tat ich auf alles Cayennepfeffer, sogar auf Marmelade. Natürlich machten wir noch ein Spiegelei dazu und aßen dann zusammen auf ihrem Zimmer, nach dieser erfreulichen Entdeckung der ersten Gemeinsamkeit. Ob wir uns in der Nacht noch lange unterhalten haben, weiß ich nicht mehr, aber ich glaube schon. Später jedenfalls war es immer so: Wenn wir erst einmal angefangen hatten zu reden, hörten wir lange nicht auf. Wir konnten uns kaum voneinander trennen, und da gab es zum Glück die Zigaretten und den beliebig wiederholbaren Satz: »Rauchen wir noch eine, und dann gehen wir zu Bett.«

Wie gesagt hatte sie damals noch ihre Spasmen, und ich mußte mit ansehen, wie immer wieder ein Bein hochzuckte und den kleinen leichten Studenten-Arbeitstisch mit hochzucken ließ, indem es dagegen stieß. Dann flogen wohl auch mal Weingläser und volle Teetassen um und ergossen sich auf Papiere und Bücher. Meine ersten Gefühle für sie waren Mitleid, schreckliches Mitleid, Bewunderung für ihre Nonchalance, mit der sie das alles hinzunehmen schien, aber auch erschrecktes Befremden über ihren Zynismus im Umgang mit sich selbst. Zum Beispiel fuhr sie »wie eine gesengte Sau« mit ihrem Auto durch die Gegend. Es schien ihr absolut egal zu sein, ob ihr etwas passierte. Was mich damals moralisch entrüstete, war der Eindruck, daß ihr auch ihre Mitfahrer und die anderen Verkehrsteilnehmer egal waren.

Als ich Sonja auf diese Weise kennenlernte, war ich noch unglücklich in Astrid verliebt, seit zwei Jahren. Ein Jahr hatte ich Astrid erfolglos verehrt in meiner schüchternen verkrampften Weise, schließlich hatte sie diesem unausgesprochenen Werben nachgegeben und sich meiner erbarmt. Dann kam aber ihre richtige Freundin aus den Ferien zurück und machte ihre Rechte geltend, stelle ich mir vor. Jedenfalls bekam ich schon nach einer Woche den Abschied, und nun litt ich da an meinem Liebeskummer, Tag und Nacht, und kam einfach nicht davon los. Eine Art Besessenheit, wie eigentlich immer bei mir bis dahin. Ich betete häufig, ich möchte doch von diesem elenden Fluch befreit werden. Nebenan knackte derweil das Bett, denn Astrids Freundin wohnte neben mir (um ehrlich zu sein: ich war sogar extra, aus sicherer Entfernung, dahingezogen aus dem Parterre). Astrid war schon aus dem Heim ausgezogen, kam aber dauernd zu Besuch.

Sonja war für mich ein Lichtblick, weil ich spürte, daß ich mich so weit für sie interessierte, daß ich mich vielleicht neu verlieben konnte. Als ich das fühlte, war ich unendlich froh und erleichtert. Es kreisten nicht mehr alle Gedanken um Astrid, nutzloser- und quälenderweise.

Irgendwie kamen wir in der ersten Zeit auch mal auf Eierstöcke zu sprechen. Sonja gab mir vielleicht den Rat, ich sollte mich untenrum warm anziehen, es drohe sonst eine Erkältung der Eierstöcke. Ich sagte, meine Eierstöcke interessierten mich wahrhaftig einen Dreck. Es war als Botschaft gemeint, und sie verstand es sicher auch sofort. Sie fing nämlich bald an, mir von ihrer Deutschlehrerin zu erzählen, die sie als Schülerin sehr geliebt hat (die Frau war fünfzig, und ich fand das schon merkwürdig, Sonja aber überhaupt nicht). Natürlich erzählte sie das nicht gleich so platt; sie ließ es mehr bewußt durchblicken, sicher auch, um mich zu testen. So schufen wir in unseren Unterhaltungen ein erotisches, aber unverbindliches Klima. Wenn ich mich auf Anhieb in Sonja verliebt hätte, wäre ich wahrscheinlich deutlicher geworden; und sie wartete wohl nur darauf, aus Abenteuerlust, nicht weil sie in mich verliebt gewesen wäre. Sie hing viel mehr an Judith als an mir, denn Judith hatte alles, um sie aufzubauen: Sie bewunderte und bemutterte Sonja, war selbstlos, munter, unternehmungslustig, hinreichend versnobt und liebevoll. Immerhin war sie auch zehn Jahre älter als wir. Ich dagegen wollte eigentlich immer am liebsten selbst bewundert und bemuttert werden und stand lange ein bißchen außerhalb dieser innigen Freundschaft zwischen Sonja und Judith. Da ich in beide nicht verliebt war, empfand ich es als nicht so störend, zumal wir auch dauernd zu dritt alles mögliche anstellten, zusammen kochten und in Theater-Spätvorstellungen gingen und Wein tranken. Außerdem sagte Judith auch öfter heimlich zu mir, daß ich ihr ja viel mehr bedeute, eigentlich, aber Sonja wäre doch so süß und so arm dran, und das verstünde ich doch? Ich verstand und war so ganz zufrieden. Meine quälende Leidenschaft galt weiterhin Astrid; sie wurde jetzt aber gelindert durch Sonja und Judith, mit denen ich so gern zusammen war und die mich deutlich auch sehr mochten. Von Astrid hatten beide keine Ahnung.

30. August 1976

Heute vor drei Jahren waren Sonja und ich in Florenz, zweite Station unserer ersten und letzten großen gemeinsamen Reise. Nein, es war die dritte Station; vorher waren wir in München und Verona. Nur einmal hatten wir vorher zusammen Urlaub gemacht, im Herbst 68, drei Wochen Büsum. Es regnete viel; Sonja las für irgendein Seminar Fontanes »Vor dem Sturm« und stöhnte darüber, aber zähe und pflichtbewußt biß sie sich hindurch. Ich entwickelte in der Zeit meinen Zeitungstick. In irgendeinem Buch »Zur Technik des wissenschaftlichen Arbeitens« hatte ich gelesen, man könne interessante Zeitungsausschnitte mit Hilfe eines ausgeklügelten Karteisystems katalogisieren und für eventuelle spätere Verwendung jederzeit greifbar machen. Diese harmlose Anregung baute ich nun zu einem meiner manischen Systeme aus. Ich las und katalogisierte viele Stunden pro Tag, hauptsächlich die Feuilleton- und Literaturbeilagen der »Zeit« und der »Welt«. Warum tat ich das? In diesen drei Wochen waren Sonja und ich ganz allein; niemand konnte unserer »verbotenen Liebe« nachspionieren, wie wir es im Studentenheim ständig befürchteten. Im Rausch unserer ersten Liebe sind wir deshalb zweimal in ein Hotel gegangen, weil wir uns endlich einmal ungestört in einem großen Doppelbett lieben wollten. Die Betten im Studentenheim waren 80 cm breit, Doppelzimmer gab es nicht, und die Wände waren sehr dünn. In Büsum hatten wir das ersehnte Doppelbett, aber wir liebten uns kein einziges Mal. Unser Zusammengehörigkeitsgefühl war stark und absolut, aber die körperliche Liebe zwischen uns war eingeschlafen. Ich frage mich so oft, wie es dazu gekommen ist. Das Schlafzimmer in Büsum war im ersten Stock (Freunde hatten uns ihr Ferienhaus zur Verfügung gestellt). Sonja hätte auch unten auf dem Sofa schlafen können, aber dann wären wir getrennt gewesen. Also jeden Abend die Quälerei, sich Stufe um Stufe mit den Krücken nach oben zu stemmen. Ich immer direkt hinter ihr, um aufzupassen, daß sie nicht stürzte. Oben angekommen, schaffte sie es gerade mit letzter Kraft bis zum Bett, körperlich völlig fertig. Wenn vielleicht vorher eine erotische Stimmung zwischen uns aufgekommen war, so war sie spätestens nach diesem allabendlichen Kraftakt kaputt. Sonja war krank, Patientin, ohnmächtig und hilflos, und ich war ihre Krankenschwester. Dort oben, ohne Rollstuhl, war sie ans Bett genagelt, und ich mußte sie bedienen, ihr den Nachttopf hinstellen, Wasser bringen. Wir legten uns zu Bett, Sonja schlief bald ein vor Erschöpfung, und ich las noch lange. Wir gaben uns wohl nur den Gewohnheits-Gutenachtkuß. Ich hatte noch viel Zärtlichkeit für Sonja in der Zeit, Gefühle der Fürsorge und des Beschützens, aber von Begierde war keine Spur mehr. Daß damals schon etwas Entscheidendes zwischen uns kaputt war, ist mir aber nicht richtig klar geworden. Meine Bedürfnisse nach körperlicher Liebe waren überhaupt immer sehr eigenartig gewesen; eigentlich habe ich erst durch Bella natürlich damit umzugehen gelernt, und da war ich schon dreißig. Meine Liebe zu Sonja spielte sich viel mehr im Kopf ab: Ich liebte sie, soviel wußte ich; jedenfalls kam ich auf keine andere Vorstellung über die Natur unserer Beziehung. Und zur Liebe gehört natürlich auch das Sexuelle, so dachte ich wohl zu Anfang. Und da ich sie im Kopf so sehr liebte, stürzte ich mich körperlich auf sie mit einer (mir selbst und ihr vorgespielten) Intensität, die sogar anfangs zu drei Brüchen zwischen uns führte. Nach diesen drei Brüchen war unsere Beziehung dann gefestigt, zementiert möchte man fast sagen, aber meine sexuellen Bedürfnisse waren geschwunden oder im Schwinden.

Diese komischen drei Wochen in Büsum – wir langweilten uns eigentlich schrecklich. Oktober: das Wetter war grau; oft regnete es. Wir hatten zum erstenmal die Chance, miteinander allein zu sein, und haben sie gründlich vertan. Die Belastung, die mit diesem Bewußtsein verbunden war, daß wir die einmalige Chance nutzen mußten, war zu groß für uns. Was macht man mit einem Rollstuhl am Meer? Man schiebt die zwei Kilometer Strandpromenade auf und ab. Manchmal schob ich Sonja auch auf das nasse harte Watt hinaus, aber wie sich später herausstellte, hat das den teuren Rollstuhl ruiniert, dem das Salzwasser nicht bekam. Die Natur fiel also flach. Büsum selbst: ein trauriges Fischernest. Das Beste war noch die Pommes-frites-Bude am Hafen: die leckersten Pommes frites meines Lebens. Überhaupt verlegten wir uns in dem wilden Entschluß, die Sache nun auch zu genießen, hauptsächlich aufs Essen und Trinken. Viel Geld hatten wir aber nicht mit unseren beiden Stipendien. Wenn wir in ein Restaurant gingen, war ein Pharisäer schon ein Luxus, kostete wohl auch fünf Mark. Etwa zweimal pro Woche leisteten wir uns ein Rumpsteak – das mochte Sonja so gern. Damals, glaube ich, entwickelte sie sich zur Köchin, worin sie es dann im Laufe der Zeit zu immer größerer Perfektion brachte. Ich hatte aber bei Rumpsteaks vor allem die Vorstellung, daß ich dafür ja schon fast ein Taschenbuch kaufen könnte.

Und was macht man in Dithmarschen im Oktober? Keine vernünftige Großstadt weit und breit, kein Theater, kein Konzert, nichts Rechtes im Kino. Fuhren wir also mit dem Auto durch die Landschaft, nach Wesselburen, St. Peter Ording, Friedrichstadt, Husum, Seebüll. Hebbel mochte ich noch nie und Storm auch nicht, aber das waren nun mal die Dichter der Gegend. Nolde mochten wir damals auch nicht, aber mehr Kulturelles gibt es anscheinend in Dithmarschen nicht, und nachdem die Liebe und das Essen nicht so richtig funktionierten, strebten wir eben nach kultureller Überhöhung unserer »einmaligen Chance«. Ja, den Eiderdamm gab es noch, ein bewundertes Bauwerk, damals noch nicht fertig. Ich konnte hinaufsteigen, und Sonja mußte unten sitzenbleiben. Und in Wesseiburen das Hebbelmuseum: ich konnte in den ersten Stock gehen und mir die Bibliothek ansehen, während Sonja unten lustlos zwischen den Handschriften und anderen Erinnerungsstücken herumrollte. Ob wir uns da ins Gästebuch eingetragen haben?

Ich kaufte mir in Wesseiburen eine Hebbelmonographie der Sammlung Metzler; außerdem erstanden wir noch zwei große Rumpsteaks, damit wenigstens der Abend ein Festessen würde. Dann kam die Reifenpanne, und wir mußten befürchten, stundenlang ausgerechnet in Wesseiburen festzusitzen – es ging aber ganz schnell. Gottseidank war uns das hundert Meter vor einer Tankstelle mit einem sehr netten und tüchtigen Tankwart passiert.

Eine Stimmung voller tapferer Aufschwünge, ständig bedroht durch nur befürchtete oder tatsächliche Reinfälle. Hauptbedrohung und -hindernis war immer wieder der Rollstuhl.

Die Hebbelmonographie studierte ich dann abends im Bett; zu Storm konnte ich mich nicht entschließen. Und Sonja las immer noch ihren 800-Seiten-Fontane.

Dann waren wir noch in England. Wenn man von Husum aus über einen Damm fährt, kommt man direkt nach England. So heißt das erste Dörfchen auf dieser Hallig oder was es nun ist.

All diese grellen Christusbilder in Seebüll. Und die endlose schmale Holztreppe, und der unter den Gummireifen quietschende Fußboden. Es hielt uns nicht lange da, das Klo war auch irgendwie so unzugänglich.

Schön war Friedrichstadt mit den alten bunten Bürgerhausfassaden und dem Fluß mit knarrender Holzbrücke und Trauerweiden. Und der endlos weite Himmel von Dithmarschen – ein Himmel, wie ich ihn vorher noch nie gesehen hatte.

Sonst sind alle meine Erinnerungen an diese Zeit seltsam verblaßt Wie war Sonja damals? Jedenfalls trank sie nicht und randalierte nicht gegen mich. Sie war nicht eigensinnig und nicht gemein. Wir waren nur beide ziemlich depressiv und enttäuscht, meinten aber, es läge an Büsum, Hebbel und Dithmarschen. Über die Enttäuschung, daß wir im Bett gar nichts mehr voneinander wollten, haben wir nicht gesprochen. Dann hat Sonja noch ihr Bett schmutzig gemacht, mit Blut oder Urin. Es war nicht wieder rauszukriegen, und wir haben die Matratze umgedreht. Es war uns entsetzlich peinlich, den großzügigen Gastgebern gegenüber. Ich identifizierte mich immer mit Sonja, und statt sie tatkräftig zu trösten, hatte ich wohl so ein Gefühl, als ob ich ins Bett gemacht hätte. Das war leider immer so. Sicher, ich habe Sonja viel geholfen gerade auch in solchen Situationen der letzten Peinlichkeiten und Erniedrigungen, aber ich war nie souverän genug, weil ich mich zu stark identifiziert hatte.

Was haben wir abends gemacht? Getrunken, gespielt, miteinander geredet? Ich erinnere mich an gemeinsames Kochen, Spülen, Aufräumen, und ich sehe mich da am Arbeitstisch sitzen und all diese blöden Zeitungen durcharbeiten, ständig bemüht, mich fortzubilden, meinen Horizont zu erweitern. Kaum je habe ich Sonja von dem erzählt, was ich Jas. Es kam ja jede Woche eine neue »Zeit« und eine neue »Welt der Literatur«, und ich war immer stark im Verzuge. Und ich sehe Sonja auf dem Sofa sitzen mit dem gräßlichen Fontane. Sie las dann aber auch noch »Die Poggenpuhls« und war nach dem Trockenfontane so begeistert davon, daß sie mich ansteckte und ich den kleinen Roman auch Jas.

Irgendwann begann ich auch damit, sie »Mausi« zu nennen, dann »alte Mausi« und schließlich »uralte Mausi«. »Altes Altertum« war auch noch so eine liebevolle Anrede. Wir mußten immer wieder darüber lachen, vor allem über die »alte« und »uralte Mausi«, und diese Namen haben wir auch für einander beibehalten. Ich nannte sie auch gerne »Kartöffelchen« und »Schnäuzchen«, und ihr gefiel es sehr. Es wurde ein beliebtes Spiel zwischen uns, uns »kleines altes…chen« zu nennen, etwa »kleines altes Suppenlöffelchen, Kaffeekännchen«. Mir scheint, das war vielleicht die netteste Ausbeute dieses merkwürdigen Büsum-Aufenthaltes.

Wenn ich heute viel Zärtlichkeit für Bella spüre, möchte ich sie wohl auch »kleines altes Schreibmaschinchen« nennen, aber das Wort bleibt mir im Halse stecken. Das sind Namen für Sonja gewesen, und sie sind für niemanden sonst. So bleibt mir nur das Allerwelts- »Liebling« und »Liebes« und »Herzchen«, abgegriffen, aber schmerzfrei.

Nachtrag am 14. 0ktober 1976: Vorgestern habe ich Marianne in Kiel besucht. Wir gingen in einen Fleischerladen, und sie kauft ein kleines Glas Fleischbrühe. Ich stehe neben ihr, und da sie nicht ganz heranreicht, nehme ich die Fleischbrühe in die Hand und stelle sie vor sie hin. Warum tut mir der Anblick dieser Fleischbrühe plötzlich so weh? Irgendwo muß ich mit Sonja ein Glas Fleischbrühe gekauft haben. War es auf dem Fischmarkt in Hamburg? Nein, aber es war eine Art Markt. Wir haben es nämlich an einem Stand gekauft. Es war in Büsum, abends, im Regen. Endlich ein bißchen was los in Büsum, ein winziger kleiner Jahrmarkt. Eine dicke liebe Frau hält uns eine lange Predigt über die unerreichte Qualität ihrer Fleischbrühe. Wir lauschen andächtig und dürfen dann kosten. Es stimmt, die Brühe ist vorzüglich, aber auch entsprechend teuer. Wir beraten eingehend und entschließen uns dann zum Kauf. Später in Harnburg macht Sonja davon ihre erste Zwiebelsuppe, und aus dieser ersten (mißlungenen) Zwiebelsuppe entwickelt sie im Laufe der kommenden Jahre in ständiger Verfeinerung ihr Standard-Rezept, Standardbewirtung auch aller lieben Gäste.

Und noch etwas ist mir zu Büsum eingefallen: Wir machten auch einen Ausflug nach Sylt. Bettina und Harald verbrachten da eine Woche Ferien und konnten uns in ihrem Appartement unterbringen. Nachmittags fuhr ich mit Sonja durch die öde Mondlandschaft nach List. Unheimlich alles. Ich steige bei einem verlassenen Hotel auf die Dünen und schaue ins brüllende Meer hinunter. Ich möchte das mit Sonja sehen, aber wie soll sie denn diese Dünen hochkommen? Schnell steige ich wieder hinunter.

Abends wollen wir ins Spielkasino. Sonja zieht ihr schönstes Kleid an, macht sich hübsch zurecht, legt ihren teuersten Schmuck an. Sie ist wie ich sehr aufgeregt; wir waren beide noch nie im Casino. Bettina und Harald sind alte Profis. Am Abend vorher haben sie 600 DM gewonnen. Sonja kommt aber nur bis zur Garderobe dieses feinen Etablissements. Man bedeutet ihr, daß Invaliden hier nicht erwünscht seien. Sie stören die Atmosphäre. Wir sind alle maßlos erbittert, aber statt zu randalieren, beugen wir uns nach kurzer Beratung diesem Spruch. Sonja wird wieder nach Hause verfrachtet, redet noch auf mich ein, ich dürfe mir aber die Freude nicht verderben lassen, vielmehr müßte ich jetzt hingehen und für sie die Bank sprengen. Ich gebe nach mit schlechtem Gewissen und voller Wut auf das Casino. Wir bleiben nur kurz, das Geld ist bald verspielt. Sonja hat inzwischen tapfer ausgeharrt. Man sollte das Casino in die Luft sprengen.

2. September 1976

Ich bin müde und mag nicht mehr an meiner Habilschrift arbeiten. Es ist erst kurz nach zehn, und eigentlich könnte ich wohl noch zwei Stunden. Ich habe ein schlechtes Gewissen: heute nur drei Stunden und 35 Minuten gearbeitet, davon das meiste noch nicht mal am Schreibtisch und produktiv, sondern public relations in der Uni. Zu Hause dann habe ich mich an der »Zeit« und an der Radiozeitung festgelesen. Meinen Flügel habe ich auch schon drei Tage vernachlässigt – ich muß auch erst in zwei Wochen wieder zur Klavierstunde, und gleich läßt der Eifer nach. Und zuerst, als ich mit der Klavierstunde anfing, vor jetzt einem Jahr, übte ich eisern meine zwei Stunden pro Tag. Jetzt bin ich faul geworden. Oft nur eine halbe Stunde. Eine Stunde ist wohl das Äußerste. lch wollte klavierspielen können auch um Sonja zu gefallen. Mein letzter Brief an sie, vom Februar 76, schließt mit der Wunschvorstellung, daß wir gemütlich am Kamin lagern und ich plötzlich an den großen Steinway-Flügel marschiere und Schuberts große B-Dur-Sonate für Sonja hinlege. Ich besitze inzwischen einen Stutzflügel und ein altes Klavier aus dem vorigen Jahrhundert, dem ich das Gnadenbrot gebe, so wie Sonja es mit ihrem ersten kleinen Fiat 800 vorhatte und wie sie es mit ihren Bleistiftstummeln zu tun pflegte. Sie sammelte sie liebevoll, statt sie wegzuwerfen. Wegwerfen kann man ja nun das alte Klavier nicht gerade, aber ich könnte mich schon bemühen, es loszuwerden. Es nimmt eigentlich nur Platz weg. Ich habe es aber mit Sonja zusammen gekauft. Ohne ihren Einsatz hätte ich wohl gar kein altes Klavier für mich gefunden. Das war im August 74. Ich wohnte schon zehn Monate in Bremen, und da war keins aufzutreiben. Sonja telefonierte sowieso fast jede Nacht drei Stunden mit mir, und da erzählte ich ihr von meinem Kummer. Ein paar Tage später hatte sie in Harnburg jemanden aufgetan, der mit gebrauchten Klavieren handelt und gerade eins für 400 DM verkaufen wollte. Ich fuhr nach Hamburg, und gemeinsam fuhren Sonja und ich dann zu Bickleben. Als wir ankamen, fanden wir einen Zettel an seiner Tür, er käme erst in einer halben Stunde wieder, und so vertrieben wir uns die Zeit in einem Gemüseladen gegenüber. Ich weiß nicht, was Sonja sich kaufte, aber es tat mir weh, weil sie es nur für sich und nicht für uns beide kaufte, so wie es uns so lange selbstverständlich gewesen war. Unsere Stimmung war: ganz ganz vorsichtig! und gedrückt. Dann der Klavierkauf: der ganze Raum war mit Klavieren und Flügeln so vollgestellt, daß Sonja mit dem Rollstuhl nicht durchkam. Nur mit Mühe konnte ich mich da hindurchzwängen und mal hier, mal da klimpern. Auch vom oberen Stockwerk, wo sie sowieso nicht hin konnte. Das 400-DM-Klavier aber stand unten und gleich vornean, und sogar Sonja konnte es begutachten. Rein äußerlich ist es ein altes Prachtstück, überall verschnörkelt, wo es nur geht. Sogar mit einem Füllhornrelief auf der Vorderfront. Wir waren beide hingerissen, obwohl es völlig verstimmt war. Aber Bickleben versprach, das hinzubiegen, und so kaufte ich es kurzentschlossen.

Von Bremen bin ich im Mai 75 hierher nach Basel gezogen, und das Klavier kam natürlich mit. Dann nahm ich ab September Klavierstunden und bald merkte ich, daß die Anschlagsfeinheiten, die Frau Walther mir beibringen wollte, sich auf dem lieben Instrument einfach nicht realisieren ließen. Egal wie zart oder kräftig man die Tasten bearbeitet, es donnert immer. So kam ich an meinen Flügel und wollte nun Sonja das Klavier schenken. Aber der Transport von Basel nach Harnburg – dafür konnte man fast ein neues altes kaufen. Außerdem fiel mir ein, nachdem ich nun selbst endlich mit dem Pedal umzugehen gelernt hatte und nicht mehr auf diese Klangfülle verzichten mochte: Wie soll denn Sonja ein Pedal bedienen? Der Plan blieb also im Ansatz stecken. Dabei hätte es Sonja wahrscheinlich genügt, überhaupt ein Klavier zu haben und ab und zu ein paar Töne darauf zu spielen. Im Studentenheim stand ein Klavier in der großen Halle, und ich sehe sie noch davor sitzen und einzelne Töne spielen, ganz versunken dem Klang lauschend, den sie da produzierte. Sie konnte gar nicht spielen, aber sie hätte es so gern gekonnt. Und sie hörte gern andere spielen, stundenlang, sagte sie, und ganz egal wie. Als Kind hatte ich fünf Jahre lang Klavierstunde gehabt, davon war aber nach acht Jahren resignierter Pause nur noch ein einziges Bachstück verblieben, mit dem ich da im Studentenheim plötzlich vor Sonja herausrückte, auch zu meiner eigenen Überraschung, daß ich es überhaupt noch konnte. Sonja war tief beeindruckt, aber bei diesem einen Mal blieb es, bis ich plötzlich in Bremen den wilden Drang verspürte, wieder anzufangen. Als ich wieder ein kleines Repertoire eingeübt hatte, mit unendlicher Mühe, aber großem Eifer, habe ich Sonja ein Konzertchen durchs Telefon gegeben. Es war aber nur ganz gedämpft möglich, denn nach zehn durfte ich eigentlich nicht mehr spielen, wegen meiner empfindlichen »Untermieter«, und das Telefonieren ist ja erst nach zehn Uhr billiger. Trotzdem, es hat uns beiden gefallen, und Sonja sparte auch nicht mit Lob und Bewunderung – darin war sie überhaupt immer so großzügig. Für Sonja war ich im Laufe der Zeit der Inbegriff des Großartigen geworden, natürlich auf ihre Kosten. Was sie machte, taugte überhaupt nichts in ihren Augen. Andere aber berichten von einem manchmal unglaublichen Snobismus »dummen« Menschen gegenüber, den sie sich in deren Gegenwart natürlich nicht anmerken ließ. Diesen Snobismus hatten wir uns gemeinsam zugelegt und gepflegt. Er beruhte hauptsächlich auf einem fanatischen Interesse für Literatur und Musik, auch für Kunst, aber das etwas weniger. Wer dieses Interesse nicht teilte und sich etwa eher für Politik und Wirtschaft interessierte, den fanden wir gerne langweilig. Aber in dem Bemühen, gute Menschen zu sein und jeden gelten zu lassen in seiner Eigenart, gaben wir uns dann doch auch viel mit solch Andersartigen ab; sie waren ja sowieso in der Überzahl.

Ich nehme an, dieser Snobismus war eine Auswirkung unserer Außenseiterrolle, nicht nur weil wir lesbisch waren. Das haben wir beide aus unserer Kindheit und Pubertät so in unsere Beziehung mitgebracht, und es war ein sehr festigendes Band, die andern alle mehr oder weniger doof zu finden und nur uns beide so richtig prima, mit dem richtigen Gespür für alles, was wirklich gut und raffiniert und ausgefallen etc. war. Nun hatte ich aber früher gelernt, daß z.B. die italienische Oper von Bellini bis Puccini (diese beiden vor allem) geschmacklos sei. Das fand Sonja nun überhaupt nicht, und so lernte ich allmählich umdenken. Sonjas letzte Geschenke für mich waren Norma (zu Weihnachten 75) und Manon Lescaut (zu meinem Geburtstag im Januar). Und das letzte Stück Musik, das ich mit Sonja zusammen gehört habe, vormittags am 21. Januar, war das erste große Duett Norma-Adalgisa. Bei mir singt Shirley Verrett die Adalgisa. Bei ihr dafür Maria Callas die Norma. Aber das Duett wird nun mal von Adalgisa getragen, und so stellten wir es vorzeitig ab, weil die Frau so häßlich krächzte. Der ganze hehre Schmelz, der zu dieser Arie gehört, kam überhaupt nicht durch. Wir waren enttäuscht. Ich, weil meine Schwärmerei für dies Stück Musik nun so grundlos schien, da es entstellt wurde – Sonja, weil mir ihre Aufnahme nicht so recht gefiel, die ihr doch wegen der Callas teuer war. – Dann packte ich meinen Koffer, Sonja fuhr mich zum Bahnhof. So haben wir uns zum letzten Mal gesehen. Diese Stelle am Bahnhof, wo ich aus ihrem Auto stieg, sie ist mir verhaßt und unerträglich, und das Duett kann ich vorläufig nicht aushalten. Ganz Harnburg kann ich nicht aushalten, und dort wohnen die meisten meiner Freunde. Zehn Jahre lang habe ich in Harnburg gewohnt, vom Mai 63 bis Oktober 73, und sieben Jahre zusammen mit Sonja. Es war ein Schock für mich, als ich nach Sonjas Tod nach Harnburg mußte, um mit Freunden, Sonjas Freunden, zu sprechen. Mein jüngerer Bruder fuhr mich hin, natürlich über dieselbe Amsinck- und Ost-West-Straße, auf der ich immer mit Sonja nach Harnburg hineingefahren bin. Und er konnte ja nicht wissen, daß er mit dem Auto genau da am Bahnhof halten wollte, wo ich mich zwei Monate zuvor von Sonja verabschiedet hatte. Aber er verstand sofort und parkte woanders, und ich bemühte mich, so gut ich es vermochte, die Straßen, Häuser, Plätze und Geschäfte »sachlich« zu sehen, Sonjas Anteil daran zu subtrahieren. Ich erlebte genau das, was wohl viele durchmachen, wenn sie einen geliebten Menschen verlieren: einen mörderischen Haß auf all die toten Gegenstände, die immer noch existieren, während Sonja, die all dem den Sinn zu geben scheint, fort ist, zerstört. Was von ihr existiert, sind ihre Bilder (sie hat einige wenige wundervolle naive Bilder gemalt), die paar Fotos und ihre schöne feste runde Schrift, die ich so liebe. (Sie fand meine Schrift am schönsten, ich ihre natürlich. Jetzt findet keiner mehr meine Schrift am schönsten.) Und mein Kopf voller Erinnerungen – andere Köpfe natürlich auch. Aber in meinen Kopf sind sie wohl am schwersten und nachdrücklichsten hineingefallen – und das merke ich richtig erst jetzt, wo es zu spät ist. Zu spät wofür? – halten mir alle entgegen, die Sonja gekannt haben und es gut mit mir meinen. »Niemand konnte ihr helfen.« Aber ich glaube es besser zu wissen. Ich war der Staudamm, der Sonjas Todeswunsch und Selbstvernichtungstrieb sieben Jahre standgehalten hat. Erst als der Damm anfing zu bröckeln und der Wucht nachzugeben, etwa nach vier Jahren, wurde der Todeswunsch allmählich immer stärker. In den sieben Jahren hat sie keinen Selbstmordversuch unternommen, in den zweieinhalb Jahren danach drei, und der dritte ist ihr gelungen.

3. September 1976

Heute nachmittag habe ich in meinen griechischen Grammatiken die Kapitel über Subordination nachgeschlagen, um eine Hypothese zu überprüfen. Dabei stieß ich auch wieder auf eine alte Grammatik, die Sonja sich 1962, nach dem Abitur, gekauft hat. Ihre Bücher sind jetzt in meinem Besitz; ich habe sie geerbt. Sonja hatte die Angewohnheit, alle möglichen Zettel in ihre Bücher zu legen, auch Fotos und Zeitungsartikel. In dieser Grammatik fand ich Zettel mit Übersetzungsübungen, die sie beim Arbeiten mit dem Buch gemacht hatte. Außerdem einen Brief von Judith an sie, wohl einen der Zettel, die man sich im Heim unter die Tür schob, wenn man nicht mehr stören wollte. Judith schreibt:

Liebe Judith,

es war unbeschreiblich schön… Nun bin ich zum Umfallen müde und erzähl lieber morgen. Darf ich mit Dir reinfahren zu Floth?

Gruß! J.

Da Judith »Judith« heißt und ich auch, wollte Sonja auch lieber »Judith« heißen als »Sonja«. Den Namen hat sie nie gemocht. So nannten wir uns denn eine Weile alle drei »Judith«, und aus dieser Zeit stammt der Zettel. Später nannte sich Sonja auch eine Zeitlang »Lila«, dann »Virginia«, englisch ausgesprochen, nach Virginia Woolf, die sie sehr liebte, zuerst weniger wegen ihrer Werke als wegen ihres Aussehens: sensibel, intelligent, aristokratisch und ein bißchen dekadent. Sonja hatte Ähnlichkeit mit Virginia Woolf, und drei Fotos von ihr, z.T. aus Zeitungen, hat sie sich später kostbar einrahmen lassen. Und sie ist wie Virginia Woolf ins Wasser gegangen.

Was Judith da schreibt – ich weiß natürlich nicht, was so »unbeschreiblich schön« war. Vielleicht ein Konzert. Und Floth war Dozent für Althochdeutsch, zu dem sie immer gemeinsam gingen. Ich hatte die Prozedur schon hinter mir; auch das isolierte mich ein wenig von den beiden. Alle drei studierten wir Deutsch, Sonja außerdem Englisch, Judith Französisch und ich Griechisch und Latein.

Und noch einen Zettel fand ich in der Grammatik, einen Brief von Sonja, vielleicht an ihre Klassenkameradin Verena, die sie geliebt hat, noch mehr als ihre Deutschlehrerin. Von beiden wurde die Liebe jedoch nicht erwidert; sie ahnten wohl nicht einmal davon. Sonja schreibt:

Ma petite fille aimee,

wie unbeschreiblich gut tun Morgende in einem verlassenen Haus mit weit geöffneten Fenstern, die die feuchte Regenluft hineinlassen, und man ist leicht schauernd zwischen Kühle und wärmendem Lampenlicht und denkt nichts, sondern denkt nur in ganz reiner Musik und den rauschenden Regenfäden.

Und wie ist es, die Augen zu schließen? Man sieht sich auf einer langen grauen Landstraße im Regen fahren, langsam an den unendlichen schimmernden Pappelbäumen entlang, und ziellos aber nicht betrübt, sondern unendlich losgelöst, immer so weiter, und man weiß, wie sich die nasse Haut der Kühe anfühlt, die stumpf unter den Bäumen stehen, und wie das schwere Gras patscht, wenn man darauf tritt, und wie sich die Tropfen in die Holzplanken ziehen, die die Weiden umgrenzen, und wie sich die Kieselsteine hart und naß am Wegrande anfühlen.

Und wenn man die Augen öffnet, sieht man das vollkommenste Ballett und tanzt es mit, und daneben sieht man die Schulaula am letzten feierlichen Tage und das geliebteste aller Mädchen klavierspielen, und dann trägt einen das Einsetzen des Orchesters ganz fort, und man hört wieder zu denken auf und schwingt nur noch körperlos mit.

Und auf einmal kann man sich nicht mehr von dem Gedanken lösen, daß alles sehr bald und schnell zu Ende sein muß. Und doch kommt noch einmal ein Augenblick

Hier bricht dieser Briefentwurf ab. Bestimmt hatte Sonja nicht die Absicht, ihn abzuschicken; dazu war ihre Liebe zu der kühlen Verena wohl zu schüchtern. Ich kenne Verena nicht, aber ich nehme an, sie ist gemeint mit dem »geliebtesten aller Mädchen«, das Klavier spielt. Und sie ist vermutlich auch der Ursprung für Sonjas Liebe zum Klavier.

Sonja war, so glaube ich, neunzehn Jahre alt, als sie das schrieb. Ich kannte sie noch nicht; sie war noch nicht im Rollstuhl und hatte vielleicht gerade das Abitur hinter sich. Was meint sie wohl mit dem Satz »Und auf einmal kann man sich nicht mehr von dem Gedanken lösen, daß alles sehr bald und schnell zu Ende sein muß«? Vielleicht denkt sie da nur an das Abschlußkonzert in der Schulaula. Sie hat mir später erzählt, daß sie die Schule sehr ungern verließ, eben wegen Verena und der Deutschlehrerin. Das würde tatsächlich ja bald – nach dem Konzert nämlich – zu Ende sein müssen. Aber da ist noch die andere Lesart, die sich mir aufdrängt, jetzt, nachdem ich ihr kurzes Leben »überschauen« kann.

»Wie das nasse Gras patscht, wenn man darauf tritt…« – »sieht man das vollkommenste Ballett und tanzt es mit…« – Tatsächlich hatte sie acht Jahre Ballettunterricht. Und sie ging vor ihrem »Unfall« gerne stundenlang an der Ruhr spazieren, um ihrem Zuhause zu entfliehen. Es steckt so viel real Erlebtes in dieser schwärmerischen gehemmten Liebesphantasie.

Wenn ich ihren Stil mit meinem vergleiche, auch wie ich als Neunzehnjährige schrieb – es gibt wohl keinen größeren Unterschied. Ich kann mich nicht erinnern, solche Dinge jemals anders als ironisch gebrochen geschrieben zu haben, wenn überhaupt. Sie hat mir später zahllose Briefe in einem realistischeren, aber immer noch sehr farbigen musikalischen empfindungsreichen Stil geschrieben. Wir bewahrten diese unsere gesammelten Werke (ich war auch nicht schreibfaul) in einer eisernen Kassette auf. Später, als ich fortgezogen war, hatte Sonja sie in Verwahrung. Da Sonja so oft mit Selbstmord drohte, hatte ich eine panische Angst, unsere Briefe könnten einmal in unrechte Hände fallen, und im letzten August überredete ich sie zu einer gemeinsamen Vernichtungsaktion. Sehr widerstrebend willigte Sonja schließlich ein, wollte aber mit der Vernichtung selbst nichts zu tun haben. Ich verschwand also mit dem Kilo Briefe auf dem Klo, zerriß alles in Fetzen und spülte es weg, während Sonja im Wohnzimmer am Tisch brütete und sich betrank, glaube ich. Natürlich habe ich mich da immer wieder festgelesen auf dem Klo. Die ganze Wahnsinns-Intensität unserer ersten Liebe war hier dokumentiert. Nur die Briefe, die wir uns während ihres Aufenthalts in der Stoke-Mandeville-Kiinik geschrieben hatten, verschonte ich, weil sie relativ »harmlos« waren. Als ich mein Zerstörungswerk vollbracht hatte, kam ich mit den geretteten Briefen zurück zu Sonja, die immer noch brütete. Wir lasen uns dies und jenes daraus wieder vor, mit einem schalen und sehr wehmütigen Gefühl, das wir beide durch Ironie zu überspielen versuchten. Das alles lag ja neun Jahre zurück. Wir waren anders geworden, soviel älter, und kaputt wie unsere Beziehung.

So besitze ich nun nur noch die paar Briefe, die Sonja mir in der Zeit vom November 73 bis Februar 76 geschrieben hat. Es sind wenige, weil wir uns meistens anriefen. Was wäre, wenn ich die andern vielen Briefe nicht vernichtet hätte? Ich bedaure es oft, daß ich sie nicht mehr habe, daß ich nicht auf die einfache Idee gekommen bin, ich könnte sie ja in Verwahrung nehmen. Auch im August zwang Sonja mich durch die ständige Gefahr ihrer extremen Gefühle zu einer Sachlichkeit und Kälte, die ich mir manchmal, eben bei Bedarf, sogar selbst glaubte.

Andererseits – wenn ich diese Briefe hätte, wäre das noch eine Belastung mehr. lch lebe hier umgeben von Sonjas Nachlaß, Dingen, die sie mit in die Ehe gebracht hatte (es waren nicht viele), und Dingen, die wir uns zusammen angeschafft hatten, hauptsächlich Bücher. Ich war nur mit einer Matratze, meinem Schreibtisch und meiner Fachliteratur ausgezogen und überließ ihr den Rest, denn ich verdiente schon, während sie von ihrem Stipendium, Sozialunterstützung und Nachhilfestunden lebte. Oft, wenn Freunde mich fragten, hast du vielleicht dieses oder jenes Buch, antwortete ich ja, aber es ist bei Sonja. Wenn ich das betreffende Buch dann »auslieh«, war es für Sonja jedesmal wie eine erneute Trennung, und ich brachte es schleunigst zurück.

Jetzt ist die Situation umgekehrt. Sonja hat auch oft darüber geklagt, wie sehr die Wohnung und unsere gemeinsamen Sachen sie an mich erinnerten, aber trennen wollte sie sich um keinen Preis. Jetzt geht es mir ganz genauso und schlimmer. Immerhin war ich nicht gestorben, sondern nur ausgezogen, hundert Kilometer weiter weg (zunächst), telefonisch jederzeit erreichbar und mit dem Zug in anderthalb Stunden bei ihr.

Tatsächlich sind einige meiner Briefe, nämlich die, die ich ihr seit jenem August geschrieben habe, in falsche Hände geraten. Sonjas Mutter hat sie beim Ausräumen der Wohnung gelesen, und da ich sie darin »altes Ekel« genannt habe, will sie nun nichts mehr von mir wissen. Das ist nur gut so, denn ich hasse sie.

Wie es zu ihrem ersten Selbstmordversuch gekommen ist, schildert Sonja so: Sie war das einzige Kind. Als sie geboren wurde, 1942, war ihre Mutter 41 Jahre alt, ihr Vater 45. Vor dem Krieg besaßen die beiden in Dresden ein Riesenvermögen, der Vater eine gutgehende Textilfabrik, die Mutter ein großes Warenhaus. 1950 mußten sie in den Westen fliehen, und dem Vater gelang es durch zähen Fleiß, wieder zu einem ansehnlichen Wohlstand zu kommen. Aber der Glanz von früher war endgültig dahin. Die Existenzgrundlage besonders für die Mutter war zerstört. Geld ist in ihrem Leben immer das einzige gewesen, was zählte.

Nun sollte Sonja zur feinen Dame herangebildet werden, die ein bißchen Gitarre spielte, tanzte und sang, bezaubernd aussah und möglichst einen schwerreichen Industriellen heiraten sollte.. Leider waren Sonjas Interessen von ganz anderer Art. Sie schien tatsächlich eine Art Intellektuelle werden zu wollen. Zwar sah sie bezaubernd aus und war immer appetitlich herausgeputzt, aber für Industriellensöhne zeigte sie kaum Sympathie. Es wurde ihr fast alles verboten, wofür sie sich interessierte. Zu Hause gab es keine Bücher, aber leihen durfte sie sich auch keine, wegen der »Ansteckungsgefahr«. Musik hören durfte sie nicht, denn das bedeutete Vernachlässigung der Schularbeiten. War die Mutter einmal aus dem Haus gegangen, kontrollierte sie anschließend, ob das Radio etwa warmgespielt war. Sonjas Freundinnen und Freunde waren alle nicht gut genug. Dem Vater, der eigentlich ein weicher und sanfter Mensch war, war das Gebaren seiner Frau zwar nicht recht, aber er getraute sich nicht aufzumucken. Sonja liebte natürlich ihren Vater, wurde aber durch seine Schwäche beständig enttäuscht und in dem Kampf gegen die Mutter alleingelassen. Das einzige Interesse, das auch von der Mutter unterstützt wurde, war die Malerei. Es konnte einer zukünftigen Dame der Gesellschaft ja nicht schaden, so ein hübsches kleines Hobby zu pflegen. Ja und das Ballett, das gefiel Sonja auch.

Nach dem Abitur sollte Sonja eigentlich für ein Jahr auf eine Nobel-Kochschule in der Schweiz, aber irgendwie schaffte sie es wohl mit endlosem Gezeter (anders war nicht durchzukommen), daß ihr ein Medizinstudium in Köln erlaubt wurde.

Sie war im zweiten Semester, hatte die Anfangsprüfungen mit Glanz überstanden und in den Semesterferien ein sechswöchiges Praktikum hinter sich gebracht. Sie fühlte sich recht wohl in Köln, endlich der täglichen Herrschsucht ihrer Mutter entronnen, und sie hatte ein paar nette Studienkameraden. Da kommt eines Tages im November die Mutter zu Besuch und trifft bei Sonja eine Freundin an, die doch die Stirn hat, sich mit Sonjas Kamm die Haare zu kämmen. Die Mutter schreit es der Freundin nicht gleich ins Gesicht, was sie von dieser Unverschämtheit hält (meine Unverschämtheiten erfuhr ich auch immer erst durch Sonja), aber anschließend kommt es im Auto zu einer Szene zwischen Sonja und ihrer Mutter, und bei einer roten Ampel steigt Sonja aus und läuft weg. Sie ruft ihren Vater zu Hause an; der redet begütigend auf Sonja ein: »Du weißt doch, wie Muttel manchmal ist. Du wirst sehen, das kriegen wir schon wieder hin.« Es ist Freitag, und Sonja schreibt noch einen erklärenden Brief an ihren Vater, den sie an seine Geschäftsadresse schickt. Natürlich arbeitet der Vater auch samstags, was soll er schließlich zu Hause. Am Samstag muß Sonja wie gewöhnlich zum gemeinsamen Wochenende nach Hause fahren. Als sie ankommt; arbeiten die Eltern im Garten. Mit dem aufsässigen Kind wird kein Wort gesprochen. Die Mutter hat, wieder mal, auf der ganzen Linie gesiegt, und man hat beschlossen, das Kind nach Erlangen zu schicken, damit es nicht mehr diesem schlechten Einfluß in Köln ausgesetzt ist. Da Sonja finanziell von ihren Eltern abhängig ist, sieht sie keinen Ausweg – überhaupt keinen, jemals aus ihrer Zwangslage wieder herauszukommen. Sie nimmt ihre letzten zwanzig Mark, schleicht sich unbemerkt aus dem Haus, kauft sich am Bahnhof eine Flasche Eckes Edelkirsch und fährt nach Köln. Sie weiß eine Mauer, von der man herunterspringen kann. Aber sie ist noch nicht ganz sicher und geht zu einem Freund, der normalerweise ständig in seinem Labor im chemischen Institut arbeitet. An dem Abend ist er nicht da. Sonja geht zu dieser Mauer, lange unentschlossen, geht auf und ab, trinkt den Edelkirsch, wird von besorgten Passanten angesprochen, deren Bedenken sie aber gekonnt zerstreut. Um vier Uhr nachts schließlich (»Sei nicht so entsetzlich feige, es ist doch nur ein Schritt!«) springt sie. »Rückwärts muß man springen«, sagt sie mir später. »Hätte ich das bloß gewußt!« Und: »Wenn ich dir aus Erfahrung einen Rat geben darf: Der Tod aus großer Höhe ist am besten. Man spürt den Aufschlag garantiert nicht.« Ihr Aufschlag wird durch ein Gebüsch gemildert. Ihre Füße sind völlig zerstört; ein Knochenstück ist herausgesprungen. Dadurch wird das eine Bein kürzer als das andere. Das Rückgrat ist nicht gebrochen; die Rückenmarksnerven sind nur sechs Stunden lang, bis sie gefunden wird, eingeklemmt. Dadurch sind die motorischen Nerven zerstört, aber nicht die sensorischen. Sie kann also ihre Schmerzen alle aufs deutlichste empfinden, und sie merkt auch, anders als die meisten Querschnittgelähmten, wenn sie aufs Klo muß oder sich mit der Zigarette ein Loch ins Bein zu brennen droht.

Als sie im Krankenhaus aufwacht, stehen die Eltern am Bett, in Schwarz. Das einzige, was sie zu sagen haben, ist: »Wie konntest du uns das nur antun! Wir haben doch immer alles für dich getan!« Der Arzt sagt »Arschloch« zu ihr.

Der Vater war an diesem Samstag ausnahmsweise nicht ins Geschäft gegangen. Er findet Sonjas Brief erst am Montag vor.

4. September 1976

Heute habe ich im Fernsehen den Film »In der Hitze der Nacht« gesehen und danach die Talkshow. Der Titelsong »In the Heat of the Night« mit Ray Charles erinnerte mich an unsere Soul-Phase. Sonja hatte ihre Vorliebe für Soulmusik aus England mitgebracht. Wieder gewöhnte ich mich an eine Musik, die ich eigentlich nicht mochte. Ich fand sie musikalisch nicht raffiniert genug, mochte z.B. die Stones viel lieber, Pink Floyd, Jefferson Airplane. Aber Sonja zuliebe habe ich dann auch immer viel Soul aufgenommen. Aretha Franklin, Wilson Pickett, Nina Simone. Aber darüber wollte ich eigentlich nicht sprechen.

Beide Sendungen behandelten das Minderheitenproblem. In dem Film: Rassenhaß in den Südstaaten; in der Talkshow trat eine mutige Frau auf, die früher ein Mann gewesen war. Sie war menschlich so echt und überzeugend, daß das Publikum und die Gesprächspartner nicht umhin konnten, sie zu akzeptieren. In dem Film ganz ähnlich: Der zunächst so widerliche rassistische Südstaatenpolizist gewinnt ein menschlicheres Verhältnis zu dem überlegenen schwarzen Polizeibeamten, als er erlebt, daß dieser »ist wie er«, daß er nämlich auch den stinkreichen Großgrundbesitzer haßt und am liebsten ruinieren möchte. Natürlich fühlte ich mich die ganze Zeit mit dem Schwarzen solidarisch, und die dumme Brutalität und völlig unbegründete Überheblichkeit des Weißen ihm gegenüber machte mich fast rasend. Es war so sehr mein eigenes Schicksal und das von Sonja, was da vorgeführt wurde. Allerdings waren wir einer derartigen offenen Diskriminierung nie ausgesetzt, weil wir uns ziemlich gut angepaßt hatten und unsere Doppelrolle streng durchhielten. Einem Schwarzen sieht man seine Hautfarbe an, aber daß wir beide lesbisch waren, sah man nicht. Mir war es immer besonders wichtig, es zu verbergen, und Sonja mit ihrem Rollstuhl war ja auch ein wunderbares Alibi. Für die meisten meiner Bekannten und Freunde war ich ein ungewöhnlich selbstloser und aufopferungsvoller Mensch, und ich ließ sie gerne in dem Glauben.

Heute hat sich diese Einstellung, unter dem Einfluß meines zweiten Analytikers, gewandelt. Zwar trete ich deshalb nicht als »militante Lesbe« auf, dazu bin ich immer noch zu ängstlich, und es läge mir wohl auch nicht, wenn ich mutiger wäre. Mit der Frauenbewegung hat sich das soziale Bewußtsein allgemein etwas geändert, und dadurch finde ich jetzt auch außen mehr Rückhalt. Ich bin also keine Pionierin, die mutig in den Schneesturm hinausstapft, sondern ich komme aus meiner schützenden Höhle (der angepaßten Schauspielerei und des Doppellebens) heraus, nachdem sich draußen das Wetter etwas erwärmt hat. Oder, um im Bild zu bleiben: nachdem die mutigen Pionierinnen einen Weg durch den Schnee gebaut haben. In diesem Sinne möchte ich mein Buch auch verstanden wissen: es soll helfen, diesen Weg weiter auszubauen. Ich stelle mich da mit sehr privaten Enthüllungen der Öffentlichkeit (falls ich einen Verlag finde). Ich könnte mir den Vorwurf des Exhibitionismus machen und den zusätzlichen Vorwurf, daß ich Sonjas Andenken in den Schmutz ziehe, statt ihr »ein Denkmal zu setzen«. Und ich bin oft genug im Zweifel, ob diese Vorwürfe nicht zutreffen.