Sophie Isler verlobt sich - Martina G. Herrmann - E-Book

Sophie Isler verlobt sich E-Book

Martina G. Herrmann

4,7

Beschreibung

Wer spricht noch von den großen Hoffnungen der deutschen Judenheit im 19. Jahrhundert oder vom Aufbruch bürgerlicher Frauen? Dieses Buch erzählt die Geschichte von Sophie Isler, der frisch verlobten Hamburgerin, und Otto Magnus, ihrem Braunschweiger Bräutigam. Sorgfältig bereiten sie sich 1867 auf ihr Projekt Ehe vor. Denn Sophie will Gleichberechtigung, als Frau und als Jüdin. Vom frühen Feminismus erfahren wir, vom Alltag der jüdischen Minderheit und ihrer Annäherung an die Mehrheitsgesellschaft. Das wird hautnah erzählt, aus der Sicht und mit den Worten der Beteiligten, denn der Text basiert auf ca. 4.000 Briefen von 1827 bis 1888, Familienbriefen aus dem jüdisch-deutschen Bildungsbürgertum. Sie wurden für dieses Buch erstmals erschlossen und werden hier in einem eigenen Format präsentiert: als durchgehende biographisch-historiographische Erzählung mit vielen in den Erzählfluss eingebundenen, oft umfangreichen Briefstellen. So verbindet sich anspruchsvolle Geschichtsdarstellung mit anschaulicher Lesbarkeit.

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Martina G. Herrmann

Sophie Isler verlobt sich

Aus dem Leben der jüdisch-deutschen Minderheit im 19. Jahrhundert

BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN · 2016

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind

im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.

Umschlagabbildung:

Getrocknete Blumen aus dem Garten von Emma Islers Elternhaus, Fürstenstraße 4a in Dessau, von Sophie in ihr Album für die Silberne Hochzeit der Eltern 1864 eingeklebt. Quelle: Album P23-125: Familienarchiv Isler/Magnus/Lilien – P23, in: The Central Archives for the History of the Jewish People, Jerusalem/Israel (CAHJIP).

© 2016 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar WienUrsulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com

Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig.

Lektorat: Rebecca Wache, Bochum

Satz: synpannier. Gestaltung & Wissenschaftskommunikation, Bielefeld

Druck und Bindung: Finidr, Cesky Tesin

Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier

Printed in the EU

Print-ISBN 978-3-412-50157-0 | eISBN 978-3-412-50394-9

Datenkonvertierung: synpannier. Gestaltung & Wissenschaftskommunikation, Bielefeld

Inhalt

Cover

Impressum

Inhalt

Vorwort

Anmerkung derAutorin

Der Briefwechsel

Sophie Isler verlobt sich

Wozu eine Verlobung gut ist

Die Rolle der Familie

Fragen der Schicklichkeit

Wie Ehen zustande kommen

Überlegungen über einen gemeinsamen Alltag

Ausflüge in die Natur

Mögliche Differenzen

Vorbereitungen auf ein ganz anderes Leben

Die Aussteuer

Hochzeitsgeschenke

Die türkische Decke

Die Bilder

Die Wohnung

Die Gasbeleuchtung

Frauenbildung und Frauenleben im 19. Jahrhundert

Emma Isler

Sophies Erziehung

Sophie findet ihre Rolle in Braunschweig

Sophies Schulzeit als Beispiel bürgerlicher Mädchenbildung

Das „verbotene Thema von der Bestimmung derFrau“

Von Geburt an für nichts als die „Wirtschaft“ bestimmt?

Zur „unerledigten Frage wie man Töchter erziehensoll“

Die Hochzeit der Töchter als Katastrophe im Leben der Mütter

Die Heirat als Bedrohung der Herkunftsfamilie

Pläne zu einer Hochzeitsreise

Der „kleineAdvokat“

Der „rote“ Lehrer

Der Prozess der Akkulturation

Die Öffnung der jüdischen Nation

Folgen der Öffnung

Emma und Meyer Islers religiöse Haltung

Sophies und Ottos Frömmigkeit

Judentum als Belastung und aufkommender Antisemitismus

Bürgerliche Bildung: Goethe, Schiller und die Nation

Vom Sinn der bürgerlichen Ehe

Das Jahrhundert der Modernisierung

Die Beschleunigung

Alltag im Wandel

Die Hochzeit

Anhang

Verzeichnis der im Text erwähnten Personen

Frauenbiographien im Umkreis der Sophie Isler / Magnus

Stammbaum Sophie Isler und Otto Magnus

Stammbaum der Familie Ehrenberg-Rosenzweig-Isler

Auszug aus dem Stammbaum der Familie Samson

Meyer Islers Artikel zum Unterrichtsgesetz

Nachruf auf Siegmund Meyer

Abbildungsnachweis

Bibliographie

Backcover

HANNAHPETERS1911–2009gewidmet

Vorwort

Ursprünglich hatte ich an eine schlichte Veröffentlichung von Briefen gedacht, mit Einleitung und Anmerkungsapparat, die Briefe im Wesentlichen sich selbst erklärend. Schnell erwies sich diese Absicht als nicht realisierbar. Die Verfasserinnen und Verfasser der Briefe waren unbekannt, sie selbst und ihre Lebensumstände bedurften der Erklärung und die wiederum musste in den historisch-kulturellen Hintergrund eingeordnet werden. Gravierender aber: Die Briefe erschienen beim ersten Lesen wenig ergiebig – so viel Alltag, Quisquilien, Banalitäten. Erst dem wiederholten Lesen, Nachschlagen, immer gründlicheren Recherchieren öffneten sie sich allmählich: An der Oberfläche bedeutungslose Sätze enthielten Anspielungen, die ich nach und nach zuordnen konnte, hinter Halbsätzen entdeckte ich immer häufiger komplexe Sachverhalte. Zugleich wuchs die Vertrautheit mit Personen, Städten, Umständen und führte mich tiefer in eine unbekannt-bekannte Vergangenheit, als ich mir anfangs hätte vorstellen können. Aus diesem Netzwerk von Erkenntnis erschloss sich eine ganze Welt. Dafür war ein anderes Format nötig. So ist am Ende eine Erzählung entstanden, in die Briefe und Briefausschnitte in großem Umfang eingeflochten sind, als Teil der Erzählung oder alsBeleg.

Von Anfang an hat mich die Direktheit der Schreibenden angezogen, die Vielfalt ihrer Themen, die Lebendigkeit ihrer Sprache, ja, auch das sozusagen Moderne, sich ohne Umschweife, sachlich und anschaulich zugleich auszudrücken. Davon wollte ich viel sichtbar machen und sie so oft wie möglich zu Wort kommen lassen. Das hat Auswirkungen auf mein Erzählen und verlangt von meinen Leserinnen und Lesern Zeit; Sophie Islers Verlobungsgeschichte lässt sich nicht auf die Schnelleherunterlesen.

Erhalten habe ich diese Familienbriefe in Kopenhagen, von einer entfernten Kusine meines Mannes, der Ärztin Hannah Peters. Als ich sie kennenlernte, war sie knapp 94-jährig, aber alles andere als alt: wach, interessiert und hochbeschäftigt. Täglich arbeitete sie am Computer, übertrug Briefe ihrer Urgroßeltern und Großeltern aus der Kurrentschrift in allgemein lesbare Maschinenschrift, für Kinder und Enkel und als Material für wissenschaftliche Zwecke. Jahrgang für Jahrgang gebunden, standen die „fertigen“ Briefe im Regal. Schließlich durfte ich einen Teil davon mitnehmen; ich sollte mich an die Arbeit machen: 20 Bände, geschrieben zwischen 1827 und 1888, ca. 4000 Briefe – dass es mit der Veröffentlichung so lange dauern würde, war für uns beide nicht vorauszusehen. Hannah Peters hätte sie gern noch erlebt. Ihr widme ich dasBuch. [<<9]

*

Mein Dank gilt zuerst und vor allem Susan Peters und Tom Peters, die mir die Briefbände so lange überließen und vielfach im Nachlass ihrer Mutter nach Jugendbildern von Sophie und Otto gesuchthaben.

Danken möchte ich auch Prof. Dr. Kirsten Heinsohn und dem Briefkolloquium am Institut für die Geschichte der deutschen Juden in Hamburg, die mich nach Lektüre des Manuskriptanfangs ermunterten, den Text wie geplant weiterzuschreiben und zuveröffentlichen. Dank auch an Dr. Hermann Simon vom Centrum Judaicum Berlin für seine Unterstützung und Dank an die Ursula Lachnit-Fixson Stiftung, die die Veröffentlichung mit einem Betrag fördert.

Und dann die Archivarinnen und Archivare! Ob in Wolfenbüttel, Braunschweig, Hamburg, Düsseldorf oder Jerusalem – stets kundig und hilfsbereit, zogen sie ohne Aufhebens Vergessenes und Unbekanntes ans Licht. Vielen Dank ihnenallen!

Im Februar 2015

Martina G. Herrmann

Anmerkung derAutorin

Grundlage sind die von Hannah Peters transkribierten Briefe ihrer Vorfahren. Ich habe die Zuverlässigkeit der Übertragung an einzelnen Stellen überprüft. Eine Kopie der von mir benutzten Transkription befindet sich im Institut für die Geschichte der deutschen Juden in Hamburg, die handschriftlichen Originale liegen im Central Archives for the History of the Jewish People (CAHJP) in Jerusalem. Beim Zitieren habe ich mich peinlich an die Schreibweise der Transkription gehalten, weil ich wusste, dass die Wissenschaftlerin Hannah Peters auf die exakte Übertragungachtete.

Bilder der Personen aus der Zeit des hier behandelten Briefwechsels fehlen, dafür sind die Handschriften der Beteiligten abgebildet. Leider gab es keine aus der Verlobungszeit 1867. Die frühesten in den Briefbänden eingehefteten Handschriften von Sophie und Otto Magnus stammen von 1870, Briefe der Eheleute also, die sich oft einen kreisrunden Kuss mitschickten. Die anderen Autographen stammen aus unterschiedlichen Jahren und sollen die Handschriften Emmas, Meyers und der Großeltern Islerveranschaulichen.

In meinem Text mit * gekennzeichnete Namen finden sich im Personenverzeichnis, mit ° versehene unter denFrauenbiographien. [<<10]

Sophie Isler verlobt sich

März 1867, Sophie Isler hält sich besuchsweise in Braunschweig auf und lernt dabei Dr. Otto Magnus kennen, einen jungen Juristen und niedergelassenen Advokaten. Anfang April kommt Meyer Isler nach Braunschweig, um seine Tochter auf der Rückreise zu begleiten. Im beinahe letzten Moment „funkt“ es zwischen den jungen Leuten und Otto fragt, ob Sophie ihn heiraten wolle. Aber die bittet sich Bedenkzeit aus und reist nach Hamburg zurück. Von hier aus schreibt sie am 6. April: Lieber Freund! Ich habe Ihnen gestern das Versprechen gegeben, dass Sie die Antwort auf Ihre Frage von mir selbst haben sollen und ich glaube, ich wusste schon in dem Moment, wie sie ausfallen würde, daher konnte ich es Ihnen geben. Wenn ich Sie dennoch ohne Bescheid von mir gehen liess, so zürnen Sie mir nicht; an der Ruhe, die über mich gekommen ist, seit ich mit meinen geliebten Eltern zusammen bin, glaube ich zu sehen, dass sie nicht unrecht war. Sie haben mir so viel zu vergeben, dass Sie dies schon auch noch hinnehmen müssen, und ich glaube ich brauche nicht bange zu sein. Und nun will ich nichts weiter sagen als: Kommen Sie zu Ihrer Sophie(Sophie, 6.4.1867).

Otto erhält diesen Brief am 7. April und eilt stehenden Fußes nach Hamburg. Als er am 15. April wieder abreist, sind Sophie und Otto schon eine Woche verlobt. Und nun beginnt ein halbes Jahr, in dem sich beide täglich schreiben, manchmal sogar zweimal an einem Tag, denn die Post wird morgens und nachmittags ausgetragen. Als die Hochzeit schließlich am 6. Oktober stattfindet, sind es fast zweihundert Briefe, die sie gewechselt haben,5 Briefe, in denen sie sich einander vorstellen, ihren Charakter erläutern, ihre Fehler ausbreiten, Vergangenes erzählen, Wertvorstellungen und Geschmacksurteile austauschen, über Bildungs- und Rollenprobleme sprechen, religiöse und politische Fragen durchgehen. Wenn die Gemeinsamkeit gelingen soll, ist Offenheit auf beiden Seiten die Bedingung und das grundsätzliche Vertrauen, dass man dem oder der in so vielem noch Unbekannten mit solcher Offenheit gegenübertreten kann, ohne sich etwas zu vergeben und ohne zu verletzen. Zartheit und [<<15] Sensibilität sind nötig, wenn man das Gegenüber verstehen will. Um dieses Verstehenwollen und Verstehenkönnen geht es immer wieder, um Einsicht und „Verständigkeit“. Am Ende zieht Sophie in die Fremde, aber wenigstens der Mann, mit dem sie dort leben wird, ist ihr inzwischen ganzvertraut.

*

Bis zu diesem Zeitpunkt hat Sophie in einem liebevollen Elternhaus gelebt, von Anfang an als „schönes Kind“ gepriesen und verwöhnt. Sie ist eine gute Tochter, die ihren Eltern die Erziehung leicht gemacht hat und die mit wachen Sinnen lernt und liest, was immer an sie herangetragen wird. Die Eltern haben ein „offenes Haus“: nicht nur die zahlreichen Verwandten gehen ein und aus, auch Freunde und Bekannte in reicher Zahl kommen, plaudern und diskutieren mit Emma und Sophie; Meyer nimmt an vielen Gesprächen nicht teil, seine Arbeit lässt ihm nur am Wochenende, genauer: am Sonntag, Zeit und selten am Abend. Natürlich gibt es auch viele junge Frauen, mit denen Sophie verkehrt. Morgens vor sieben schon ist sie unterwegs, trifft Kusinen und Freundinnen, macht Besuche, erledigt Besorgungen und berichtet zurückgekehrt anschaulich von all ihren Unternehmungen. In diesem lebendigen Kreis, von allen geliebt, hat sie nahezu 27 Jahre verbracht und ist damit eigentlich ein „altes Mädchen“ geworden, als sie Otto Magnus kennenlernt. Dass bei der Begegnung ein wenig nachgeholfen wurde, liegt auf der Hand und war gerade in jüdischen Familien durchaus üblich6; dass daraus eine große und dauerhafte Liebe wird, ist nicht vorauszusehen, ist aber eine Entwicklung, die man in den Briefen nachvollziehenkann.

Noch während Otto am 15. April gegen Abend zum Bahnhof fährt, um nach Braunschweig zurückzukehren, schreibt Sophie ihren ersten Brief als Braut an Otto: Mein Geliebter! Noch bist Du nah, noch hätte ich bei Dir sein können, wenn ich Dich begleitet hätte, wenn wir nicht den heiligen Abschied, den wir genommen auch im Heiligthum der Häuser hätten nehmen wollen. Dein Kuss hat meine Lippen noch nicht verlassen, und darum, mein Lieber, will ich auch physisch Dir nahe sein, und meine Hand auf das Blatt legen, das morgen zu Dir kommen und Dir den ersten schriftlichen Liebesgruß von Deiner Braut bringen soll(Sophie, 15.4.1867). Auch Otto greift sofort zur Feder, am Morgen nach seiner nächtlichen Ankunft in Braunschweig, bevor er Sophies ersten Brief erhalten hat: Mein geliebtes herzensmädchen! Wenn wir auch körperlich getrennt sind, geistig bleiben wir vereint und werden stets vereint bleiben. Wenn ich wache und wenn ich schlafe umschwebt mich Dein liebes Bild und immer schaue ich in Deine treuen blauen Augen, und lese darin Deine schöne Seele, und ich möchte immer laut aufjubeln: Sie liebt mich! Sie liebt mich! (Otto, 16.4.1867). [<<16]

Das ist ein seltsam hoher Ton, den Sophie in ihrem ersten Brief anschlägt, und eine erstaunende Begrifflichkeit: von „heiligem Abschied“ ist die Rede und vom „Heiligthum der Häuser“. Ob diese Formulierungen ihrer kulturellen Herkunft geschuldet sind? Einer christlichen Braut wäre das „Heiligthum der Häuser“ wohl kaum in die Feder geflossen. Jüdischen Familien aber ist die Wohnung „heilig“, hier wird der Sabbat gefeiert und hier erinnert der Tisch an den Altar im Tempel.7 Die Verlobung als geheiligte Verbindung – demgegenüber klingt Otto in seinem ersten Brief vergleichsweise normal, auch wenn er von der „schönen Seele“ seiner Braut spricht, und damit auf eine andere kulturelle Wurzel verweist: den deutschen Idealismus. Sophie schwenkt schnell auf Ottos „normalen“ Stil ein und beide verabreden, sich in ihren Briefen nicht groß um korrekte Schreibweise und Zeichensetzung zu kümmern – lieber viel schreiben, als richtig!8 Die Frage aber nach dem Judentum, nach den kulturellen Wurzeln, wird sich immer wieder stellen, weil dieses Brautpaar eine historische Phase der Akkulturation des Judentumsmarkiert.

Otto ist in der Nacht heimgekommen und gleich am nächsten Morgen zu seinen Eltern geeilt, um sich ihnen als glücklicher Bräutigam zu präsentieren, dann macht er einige Besuche und guckt sich schon mal nach Wohnungen um. Und nun geht es im Handumdrehen: Schon am nächsten Tag meldet Otto, dass er eine Wohnung gemietet habe!9Ich sende Dir den Plan mit und habe darin angegeben, wie ich mir denke, dass wir die Zimmer benutzen wollen. Natürlich kannst Du daran ändern, was Du willst. Es ist so gut wie gewiss, dass die Wohnung, die diesen Sommer ganz umgebaut und neu eingerichtet, auch mit Gas- und Wasserleitung versehen wird, zum 1. September bezogen werden kann. […] Es wird sich auf die eine oder andere Weise einrichten lassen, dass wir an Deinem Geburtstag Hochzeit haben. Hurrah!!! (Otto, 17.4.1867). Tja, Otto ist schnell und will gleich alles unter Dach und Fach bringen! Wo man zwischen Hochzeit und Einzug wohnen könnte – da hat er auch schon eine Idee: bei Tante Jeanette [Helfft*] natürlich! Aber so schnell geht es nicht. Bis zu Sophies Geburtstag am 30. Juli ist bei aller Liebe keine Aussteuer zu beschaffen und keine Wohnung einzurichten. Außerdem haben auch die beiderseitigen Eltern in allen Fragen ein gewichtiges Wort mitzureden. Und besonders Sophies Mutter findet zwar die Verlobung schön und den Bräutigam recht, dass aber die geliebte Tochter und Gefährtin langer Jahre nach Braunschweig ziehen soll, ist für sie so furchtbar, dass sie den Termin so weit wie möglich hinausschieben will und die Hochzeit erst einmalverdrängt.

Über die Verlobung aber sind offensichtlich alle Seiten froh, die Eltern in Hamburg und die in Braunschweig, Ottos jüngere Geschwister Carl* und Anna* und Sophies Tanten und [<<17] Onkel, ja auch die engsten Freunde beider Familien. Sie alle nehmen teil an dem jungen Glück. Kaum heimgekehrt schreibt Otto, […] dass der Papa Dir eine[n] Sammetpaletot schenkt, die ich mitbringen werde. Anna [Ottos Schwester] sagt, er sei neulich bei Tante Jeanette* gerührt im Zimmer umher gelaufen und habe endlich mit Tränen in den Augen gesagt: ich muss dem Kinde etwas schenken, und sei ganz von selbst auf den Paletot gekommen(Otto, 17.4.1867).

Abb. 2     Ausschnitt aus einem Brief von Sophie Magnus an Otto anlässlich eines Besuchs bei den Eltern in Hamburg 1870

Die Anmietung der Wohnung geschah nicht ohne das mütterliche Plazet: Die Mama hat die Wohnung besehen ehe ich sie gemietet habe. Und sie hatte Otto versichert, Zug käme […] nicht vor, denn dieselbe ist vollkommen abgeschlossen und die Fenster nach der Strassenseite seien Doppelfenster. Zur Wohnung gehören auch das Recht Waschhaus, Zeugrolle und Trockenplatz zu benützen. Die Mama meint aber, wir sollten vorläufig ausser dem hause waschen lassen(ebd.). Natürlich sind derart praktische Hilfestellungen jedem jungen Paar auch heute noch erwünscht und nichts Ungewöhnliches, aber es fällt doch auf, wie sehr Sophie trotz ihrer knapp 27 Jahre in Braunschweig als „Kind“ und in jeder Beziehung als unerfahren verstandenwurde.

In Hamburg freut sich Sophie über den schnellen Entschluss, zu mieten, aber Mutter hatte als ich es ihr sagte einen solchen Schreck, als trete ihr der Gedanke, mich ziehen zu lassen zum ersten Mal entgegen (18.4.1867). Die besonders enge Beziehung zwischen Mutter und Tochter spielt in den Briefen eine herausragende Rolle, je näher der Heiratstermin rückt – sie wird später ausführlicher behandelt. Wichtiger ist hier, dass Sophie offensichtlich in Verhältnisse hineinheiratet, in denen man nicht jeden Pfennig umdrehen muss. Bist Du nicht ein furchtbarer verschwender, mein geliebter Junge, dass Du eine solche Prachtwohnung nimmst? Nun ich will mir das Raisonieren aufsparen bis Du wieder da bist. Sie scheint aber sehr schön zu sein. Ich habe natürlich sehr viel zu fragen, damit muss ich mich gedulden. Sieh nur zu, dass wir ganz helle Tapeten bekommen, oder viel mehr, lass uns nicht vergessen das alles zu besprechen (Sophie, 18.4.1867). Nur leicht mahnt Sophie an, dass sie bei allen Entscheidungen mitreden möchte. Und Otto reagiert sensibel darauf: so schnell und ohne vorherige Rückkopplung handelt er kein zweites Mal. Viele Entscheidungen werden von nun an hin und her gewälzt und führen manchmal erst nach langer Zeit zu einem gemeinsamen Beschluss. Das kann beim Lesen amüsant, aber auch mühsam wirken. Bedenkt man jedoch, dass Otto am liebsten sofort entscheidet, kommt diesen langwierigen Prozessen eine besondere Bedeutung zu, weil sich in ihnen am deutlichsten Ottos Respekt vor Sophies Meinungoffenbart.

Schon am 19. April reist Otto erneut nach Hamburg, um die Ostertage bei seiner Braut zu verbringen und die vielen Antrittsbesuche zu machen. Denn Sophie muss sich in dem großen Lebenskreis ihrer Eltern als Braut präsentieren und den Bräutigam vorführen. Sie schreibt: Bis jetzt haben wir noch keine weiteren Einladungen für die Ostertage, vielleicht haben die Leute ein Einsehen und lassen uns in Ruhe und Frieden geniessen. Unsere Besuche können wir erst Montag machen, denn Sonnabend und Sonntag sind jüdische Feiertage und da würde es sich für uns nicht schicken zu fahren. Wenn uns nur der Himmel etwas [<<19] lächeln würde, heute wechselten Orkan und Wolkenbrüche mit flüchtigen Sonnenblicken ab (Sophie, undatiert, vermutlich 17.4.1867).

Dass Otto der „erste nette Bräutigam“ sei, hat Sophie schon gehört. Jetzt kommen andere Kommentare dazu. Jugendfreund Albert Wolffson* z. B.ist ganz entzückt von Dir und sagt in der ersten Minute, als Du ihm einen Stuhl angeboten, sei es ihm gewesen, als kenne er Dich von jeher(26.4.1867). Das ist bezeichnend: Selbst wenn man sich nicht persönlich kennt, man bleibt in der gleichen Schicht, hier des jüdischen Bildungsbürgertums, unter „seinen Leuten“, da sind Verhaltensweisen und Ansichten ähnlich und verständlich – deshalb erkennt man fremde Menschen als vertraute gleichsam wieder. Sophie berichtet auch: Vor wenigen Minuten gingen Udenwalds fort […]. Ihr Mann sagte, Du habest ihm solch angenehmen Eindruck gemacht, Du sähest so gut und treuherzig aus, und Julchen [Udewald*] erzählte, dass sie am Tage meiner Verlobung mit wahrer Herzensangst zu uns gekommen wäre und sich sehr vor dem fremden Bräutigam gefürchtet habe, dass es aber vorbei war, sobald sie Dich gesehen und 3 Worte mit Dir gesprochen habe(Sophie, 17.5.1867, abends, 8 h.). Der Braunschweiger Otto Magnus, der in Hamburg der „fremde Bräutigam“ ist, entpuppt sich als einer, der „passt“, der nicht einschüchtert, sondern Vertrauen herstellt durch sein Aussehen und sein Verhalten. Es ist vor allem seine herzgewinnende Freundlichkeit, die auf alle […] einen so unendlich angenehmen Eindruck macht (Sophie, 30.5.[1867], abends). Besonders schwer aber wiegt Folgendes: Bei mir laufen noch immer Glückwünsche ein. Gestern von Dr. Zunz* und Madame Riesser*10, die Deine Familie kennt. Alle wissen sie Gutes über Dich, es kommt also heraus, dass Du schon ein sehr berühmter Mann bist(Sophie, 28.4.1867). Die Namen Zunz und Riesser haben im 19. Jahrhundert überall in jüdischen Kreisen einen besonderen Klang. Wenn Otto ihren Trägern bekannt ist und von ihnen positiv erwähnt wird, kann Sophie also nur richtig gewählthaben! [<<20]

5 Bei Sophies Pfingstbesuch in Braunschweig wurde eine neue Regelung getroffen: Von nun an wurde nur jeden zweiten Tag geschrieben, aber beide fingen häufig ihren Brief bereits am „brieflosen“ Tag an und schrieben nach Erhalt des Gegenbriefes mit neuem Datum weiter, sodass nach dem 14. Juni 1867 beim Zitieren oft zwei Daten auftauchen: Brief vom … im Brief vom … Bei der Anzahl der Briefe ist auch zu bedenken, dass Sophie und Otto sich sechsmal trafen und in diesen Tagen/Wochen natürlich keine Briefewechselten.

6 Tante Jeannette [Aronheim], Sophies mütterliche Freundin, hatte das Paar aufeinander aufmerksam gemacht. „Fast immer wurden die Ehen von beruflichen Heiratsvermittlern oder von Verwandten gestiftet, was bei der begrenzten Auswahl an geeigneten Partnern eine Notwendigkeit war.“ Richarz, Jüdisches Leben in Deutschland, 1976, S. 55.

7 So bei Paul Spiegel, Was ist koscher? Jüdischer Glaube – jüdisches Leben, 2005, S. 45.

8 Ich habe in den Briefzitaten die Schreibweise penibelübernommen.

9 Braunschweig, Zentrum: Damm 18. So in: Magnus, Sophie, geb. Isler [1840–1920], Kindheitserinnerungen [angeschlossen: Jugenderinnerungen (geschrieben 1919 in ihrem 80. Jahr mit vielen Wiederholungen der Kindheitserinnerungen)], unveröffentlichtes Schreibmaschinenmanuskript [im Folgenden: Sophies Kindheitserinnerungen], S. 46.

10 Nicht näher identifizierbar, ebenso wenig wie eine mögliche Verbindung zu Gabriel Riesser* (gest. 1863). Meyer Isler verkehrte mit Riessers Verwandten und beschäftigte sich 1867 mit der Herausgabe von RiessersBriefen.

Die Rolle der Familie

Längst ist im bisher Gesagten deutlich geworden, dass die Eltern der Verlobten unmittelbar dazu gehören. Was sie sagen, was sie raten, wird meist angenommen oder doch sehr ausführlich bedacht und abgewogen. Ganz selbstverständlich wird Otto als Sohn in die Familie Isler aufgenommen wie Sophie als weiteres „Kind“ im Hause Magnus willkommen ist. Grenzen setzt die „Schicklichkeit“. Vor der Verheiratung etwa darf Otto nicht bei Islers wohnen. Er braucht immer ein Hotelzimmer, während Sophie, wenn sie mit der Mutter nach Braunschweig kommt, bei den künftigen Schwiegereltern logiert. Denn Otto lebt in seiner eigenen Wohnung und kommt nur zum Essen „nach Hause“. Vor den Eltern gibt es keinerlei Geheimnisse. Alle Briefe werden vorgelesen, übrigens auch gern bei nahen Verwandten und Freunden. Aus der Hand geben Sophie oder Otto die Briefe jedoch nicht: sie lesen vor und lassen manchmal etwas weg. Die Mütter verstehen das, die Väter sind eher etwas erstaunt, dass nicht jedes Wort mitgeteilt wird. Meine geliebten Alten sind ganz glücklich über alles was ich ihnen aus Deinen Briefen mittheile und Vater besonders hat gar keine Idee dass etwas drin stehe was ich nicht zeigen möchte. Sind es denn Geheimnisse fragte er ganz naiv(Sophie, 27.4.1867).

Das klingt heute seltsam und nach Verletzung der Intimsphäre, wird aber offensichtlich von allen Beteiligten als ganz natürlich angesehen. Da die Brautleute sich auch den gegenseitigen Familien bekannt machen müssen, bleibt eigentlich kein anderer Weg, als eben aus diesen Briefen vorzulesen oder zu referieren, denn Zeit, in diesen Wochen noch an andere Personen zu schreiben, ist nicht übrig: Ich freue mich, dass Du zu Hause auch aus meinen Briefen vorliest. Du kannst Dir garnicht denken, was für ein böses Gewissen ich Deiner Mutter und Anna gegenüber habe; ich finde keinen Ausdruck arg genug dafür, dass ich ihnen nicht schreibe. Und doch kann ich nicht dazu kommen, da ich den besten Theil des Tages so schon an der Schreibmappe zubringe(Sophie, 1.5.1867, abends, 10Uhr).

Trotz der vielen und langen Briefe leiden beide darunter, dass sie sich nicht öfter sehen können. Während aber Sophie in Hamburg auf viel mitfühlende Sympathie trifft, verlangen die Braunschweiger von ihrem Sohn mehr Härte. Mir wird unsere Trennung in einer Weise leichter gemacht als Dir: ich finde bei den Meinigen die vollste Sympathie und Theilnahme für meine Sehnsucht. Die beiden Eltern theilen sie so mit mir, dass ich mich nie allein fühle und in jedem Augenblick von Dir sprechen kann. Mutter spricht ihr Verlangen Dich hier zu haben in jedem Moment aus, und ich fühle mich nie in der [<<30] Opposition, die jedes Gefühl schärfer und bitterer fühlen lässt. Wenn Du ihnen das zu Hause erzählst vielleicht machen sie es Dir dann auch etwas leichter, Du mein liebes kleines Thier. Wir wollen immer Sympathie füreinander haben in kleinen und in großen Dingen, nicht wahr? (Sophie, 1.5.1867).

Sophies Vorschlag, von Otto begrüßt, führt aber leider nicht zu mehr Mitgefühl, fürchten die Eltern doch, dass der Sohn zuviel Zeit in die Brautschaft investiert. Bezeichnend ist, welche Konstruktionen Otto entwickeln muss, um Sophie noch vor ihrem in Aussicht gestellten Braunschweig-Besuch seinerseits in Hamburg wiederzusehen. Als nämlich seine Freunde einen Wochenendausflug „nach dem Burgberg“ planen, will er nicht mitfahren, sondern lieber zu Sophie nach Hamburg reisen: Da werde ich meinen strengen Eltern vorstellen, dass wenn ich nicht verlobt wäre, ich natürlich an dieser Expedition Theil nehmen und auf dasselbe Zeit und geld verthun würde, dass ich aber nun statt dessen lieber am Sonnabend nach Hamburg zu meinem Mädchen reisen und bis Montag dort bleiben will. Ich hoffe, dass sie diesem Plan nicht zu grossen Widerstand entgegensetzen werden und dass ich sie durch die Ausführung nicht gar zu böse mache (Otto, 5.5.1867, 9 Uhr). Und noch im selben Brief teilt Otto das Ergebnis seiner Anfrage mit: Nach Tisch Ich habe meinen reiseplan den Eltern vorgetragen und die Genehmigung, freilich nur bedingungsweise erhalten. Ich darf nämlich zu Dir kommen, wenn 1.) Ihr feierlich versprecht Pfingsten zu uns zu kommen. 2.) ich mich verpflichte ausserdem nur noch einmal vor der Hochzeit, nämlich in den gerichtsferien nach Hamburg zu reisen. Die mich betreffende Bedingung habe ich acceptiert, und es fragt sich nur ob Du Deine lieben Eltern dafür bewegen kannst die unter 1) genannte Bedingung zu bewilligen. – […] Wenn Ihr Pfingsten nicht herkommen könnt, soll ich deshalb nicht jetzt schon zu Euch kommen, weil sonst der Zwischenraum bis zu den Gerichtsferien zu lang wird […](Otto, 5.5.1867).

Ja, das liest man richtig: Der 30-jährige Otto, niedergelassener Advokat, mit eigener Wohnung, Büro und Angestellten, fragt seine „strengen Eltern“ um Erlaubnis, ob er seine Braut besuchen darf. Auch ihm selbst fällt seine Formulierung auf und deshalb erklärt er Sophie: Ich schreibe „darf“ nicht in des Wortes strenger bedeutung, denn es versteht sich von selbst, dass ich mein eigener Herr bin und thun und lassen kann, was ich will. Du kennst mich aber zu gut, um [nicht] zu wissen, dass ich eine solche Reise nur unternehmen würde, wenn meine Eltern damit einverstanden sind(Otto, 5.5.1867).

Das ist das Besondere der familialen Beziehung: Trotz aller Selbständigkeit bleibt Otto Kind im Haus seiner Eltern. Das bedeutet, dass er die Wünsche der Eltern respektiert, ihr Urteil anerkennt und sich in der Regel ihren Vorstellungen unterwirft. Denn der Wunsch der Eltern erfolgt ja nicht willkürlich, sondern begründet, und damit für Otto einsehbar. Dass er damit bei seiner Braut auf Verständnis rechnen kann, weiß er. Denn für vernünftige Begründungen sind Sophie und Otto immer offen. Beider Eltern, selbst durch die Ideen der Aufklärung geprägt, hatten einen Erziehungsstil praktiziert, der an Einsicht appellierte und die Kinder zur Zustimmung aufforderte. Dass es außerdem im Hause Magnus auch durchaus „handfest“ zugegangen war, soll nicht verschwiegen werden, während Islers strikte Gegner der Prügelstrafe waren undsind. [<<31]

Otto kann zu Recht darauf bauen, dass Sophie ihn versteht, wenn er dem Wunsch seiner Eltern nicht zuwider handelt. Denn auch sie protestiert nicht gegen elterliche Entscheidungen, auch wenn sie ihren Wünschen entgegenstehen. Als nämlich ihre Mutter die (Pfingst-)Reise nach Braunschweig nicht mehr für nötig hält,24 widerspricht sie nicht: […] nur zum Vergnügen reisen hält sie [die Mutter] in diesem Jahr, wo ohnehin schon so grosse Ausgaben sind, für unvernünftig. Vater weiss von alledem noch nichts, da er immer schon fort ist, wenn Dein brief kommt. Ich schreibe Dir also das Resultat unserer ersten gespräche. Und ich kann Mutter nur recht geben, und meine eigenen Wünsche geltend zu machen ist garnicht meine Art, wenn irgend welche Gründe, die mir einleuchten, dagegen sprechen. Denn ich bin immer ein „sehr verständiges Mädel“ gewesen (Sophie, 3.5.1867). Hier ist auch der Grund dafür zu suchen, dass Otto nicht in Hierarchien gegenüber seiner Braut denkt. Von Anfang an spricht Otto zu einer gleichberechtigten Partnerin, weder freundlich belehrend noch herablassend. Da ist auch kein Führungsanspruch in der Ehe, obwohl Sophie ihm diese Rolle eigentlich mit der Unterordnung unter seinen Schutz anbietet – für ihn kommt nur Umsorgen infrage. Wir begegnen einem Paar, das miteinander spricht, Argumente anhört, abwägt und immer wieder zu gemeinsamen Entschlüssen kommt und schließlich eine partnerschaftliche Eheführt.

Rücksichtnahme auf andere lernte man im Elternhaus. So ist Rücksicht auf die Wünsche der Eltern und Mitdenken ihrer Situation selbstverständlich. Das zeigt sich auch in dem Moment, als Otto seiner Braut mitteilen muss, dass aus dem frühen Hochzeitstermin nichts werden kann. Es ist seine Mutter, auf die Rücksicht genommen werden muss. Mutter sagt, wenn sie auch bisher geglaubt hätte, dass Tante Jeanette [Helfft*] die Einrichtung besorgen würde, so sehe sie doch ein, dass dies vollauf auf ihre Schultern fallen werde, und sie könne damit nur fertig werden, nachdem die Wohnung ganz fertig sei. Ich halte es nun für meine Pflicht, meine Mutter in keiner Weise zu drängen, weil ich ihr so wenig wie möglich Angst und Sorgen machen möchte. Ich mag garnicht denken, dass wenn vielleicht einmal ein Rückfall von Mutters altem Leiden25 eintreten sollte, dass ich mir den Vorwurf machen müsste dass ich aus egoistischen Motiven vielleicht dasselbe verursacht haben sollte. – Du brauchst durchaus nicht zu fürchten, dass ich wirklich an den Eintritt dieses Unglückes glaube, aber ich möchte auch für die entfernteste Möglichkeit nicht die geringste Schuld auf mich laden. Damit wirst Du sicher einverstanden sein. Ich habe auch aus diesem Grunde, als Mutter mir ihre Ansicht aussprach allerdings meinen Kummer kund gegeben, aber gleich hinzugefügt, dass man sich in das Unabänderliche fügen müsse (Otto, 2.5.1867). [<<32]

Sophies Antwort zeigt, dass Otto seine Braut richtig eingeschätzt hat. Mein geliebter Mann! Deinen Brief mit seiner überraschenden Mittheilung habe ich vor 1/2 Stunde gelesen und seither gehörig überdacht. nachdem das erste Gefühl, wie lang werden 6 Monate sein, wenn schon 8 Tage so endlos erscheinen, überwunden, wird mir die Sache von Minute zu Minute plausibler. Du schreibst ohne mich könne kein definitiver Entschluss gefasst werden, doch davon kann natürlich keine Rede sein. So gut wie Dir schon im ersten Moment der großen Enttäuschung es einleuchtete, und Du das Gefühl hattest: so und nicht anders wird es werden, so auch bei mir, und ich brauche über die Ursache kein Wort zu verlieren(Sophie, 3.5.1867). Zum ersten Mal wählt Sophie die Anrede „Mein geliebter Mann“ und hebt ihre Antwort damit auf eine besondereStufe.