Sophienlust 102 – Familienroman - Judith Parker - E-Book

Sophienlust 102 – Familienroman E-Book

Judith Parker

5,0

Beschreibung

Denise von Schoenecker verwaltet das Erbe ihres Sohnes Nick, dem später einmal, das Kinderheim Sophienlust gehören wird. Die beiden sind echte Identifikationsfiguren. Dieses klare Konzept mit seinen beiden Helden hat die zu Tränen rührende Romanserie auf ihren Erfolgsweg gebracht. Dominik von Wellentin-Schoenecker, der Erbe des Kinderparadieses Sophienlust, schlicht Nick genannt, fühlte sich wie im siebten Himmel. Alles verlief genauso, wie er es sich ausgemalt hatte. Das Wetter hätte nicht schöner sein können. Ein tiefblauer wolkenloser Himmel wölbte sich über dem Land, und die goldenen Strahlen der Vormittagssonne ließen die blankgeputzten Fenster der Lehnschen Villa nur so funkeln, als der VW-Schulbus von Sophienlust vor der Eingangstür hielt. Lachend und vor Aufregung laut plappernd stiegen die Mädchen und Jungen aus. Nick war als erster herausgeklettert. Fröhlich begrüßte er seine bildhübsche Schwester Andrea, die mit dem Tierarzt Dr. Hans-Joachim von Lehn verheiratet war. "Wie geht es dir, Schwesterherz?", fragte er mit burschikoser Zärtlichkeit.

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Sophienlust –102–

Der vertauschte Sohn

Roman von Parker Judith

Dominik von Wellentin-Schoenecker, der Erbe des Kinderparadieses Sophienlust, schlicht Nick genannt, fühlte sich wie im siebten Himmel. Alles verlief genauso, wie er es sich ausgemalt hatte.

Das Wetter hätte nicht schöner sein können. Ein tiefblauer wolkenloser Himmel wölbte sich über dem Land, und die goldenen Strahlen der Vormittagssonne ließen die blankgeputzten Fenster der Lehnschen Villa nur so funkeln, als der VW-Schulbus von Sophienlust vor der Eingangstür hielt.

Lachend und vor Aufregung laut plappernd stiegen die Mädchen und Jungen aus. Nick war als erster herausgeklettert. Fröhlich begrüßte er seine bildhübsche Schwester Andrea, die mit dem Tierarzt Dr. Hans-Joachim von Lehn verheiratet war. »Wie geht es dir, Schwesterherz?«, fragte er mit burschikoser Zärtlichkeit. Die Zeit, wo er Andrea liebevolle Rippenstöße versetzt hatte, gehörte der Vergangenheit an. An­drea erwartete ihr erstes Baby und wurde von der ganzen Familie wie ein rohes Ei behandelt, was ihr allerdings nicht behagte, denn sie fühlte sich, wie sie stets betonte, pudelwohl.

»Sehr gut, Bruderherz«, parierte Andrea lachend. »Ist für deine Aufnahmen alles vorbereitet? Toll sind die Modellkleider, die die Mädchen tragen. Auch die Jungen sehen sehr hübsch aus in ihren Anzügen. Hat Carola Rennert die Modelle alle selbst entworfen? Kaum zu glauben. Obwohl sie ja eine wirklich gute Malerin ist. Doch sie hätte ebensogut Modezeichnerin werden können.«

»Was, da staunst du?« Nick strahlte seine Schwester an. »Carola Rennert hat was auf dem Kasten. Und Schwester Regine und die größeren Mädchen haben gemeinsam mit unserer Hausschneiderin wahre Wunderdinge vollbracht. Glaubst du, dass man meine Bilder in irgendeiner Modezeitschrift herausbringen wird? Vati kennt einen Verleger für solche Hefte und meint, wenn die Aufnahmen gut werden, würden sie auch gekauft werden. Von mir aus brauchen sie ja nicht viel zu bezahlen. Mir geht es nicht um das Geld …«

»… sondern um den Erfolg«, mischte sich Hans-Joachim von Lehn in die lebhafte Unterhaltung der Stiefgeschwister ein.

»Du sagst es, großer Schwager!«, rief Nick und erwiderte den Händedruck des Tierarztes fest. »Aber nun muss ich mich um meine Fotoausrüstung kümmern. Außerdem habe ich meinen Filmapparat ebenfalls mitgebracht. Ich werde von den Kindern einen hübschen Film drehen.«

»Unser guter Tierpfleger Helmut Koster und Betti, unser Hausmädchen, haben das Tierheim auf Hochglanz gebracht. Das Liliputpferdchen Billy sowie die Esel Benjamin und Fridolin sind gründlich gestriegelt worden. Auch die beiden Schimpansen Luja und Batu glänzen vor Sauberkeit. Und die Braunbärin Isabell mit ihren Kindern Taps und Tölpl scheinen zu spüren, dass sie in einer Modezeitschrift abgebildet werden sollen. Seit gestern geben sie kaum Ruhe.« Hans-Joachim klopfte seinem fünfzehnjährigen Schwager anerkennend auf die Schulter. »Wirklich, Nick, deine Einfälle haben Hand und Fuß. Es war eine ausgezeichnete Idee von dir, diese Kindermodenschau zu arrangieren.«

»Das finde ich auch. Aber nun muss ich mich wirklich um meine Sachen kümmern.« Nick entfernte sich.

Lächelnd blickten Andrea und Hans-Joachim ihm nach. »Er ist ein Prachtkerl«, stellte der Tierarzt fest.

»Ja, das ist er. Er ist schließlich auch mein Bruder.«

Hans-Joachim grinste in sich hinein. Andrea schien tatsächlich manchmal zu vergessen, dass Nick und sie nicht einmal blutsverwandt waren, so eng waren die beiden Stiefgeschwister innerlich miteinander verbunden. »Da kommen deine Eltern, Andrea. Sie haben wirklich den alten Justus und die Köchin Magda mitgebracht.«

»Die beiden wollten ja auch durchaus die Kindermodenschau sehen.« Andrea lief schon ihren Eltern entgegen. »Fein, dass ihr da seid. Nick ist aufgeregt wie ein Filmregisseur«, fügte sie übermütig hinzu und küsste zuerst ihre geliebte Mutti und dann ihren Vati.

Denise von Schoenecker blickte leicht besorgt in das reizende Gesicht ihrer Stieftochter, die sie wie ein eigenes Kind liebte. »Mutest du dir auch nicht zu viel zu, mein Liebes?«

»Aber nein, Mutti, gewiss nicht. Ich darf ja sowieso kaum noch einen Finger rühren. Ein Wunder, dass Hans-Joachim mir noch erlaubt, ihm in der Praxis zu helfen.« Sie gab ihrem Mann einen liebevollen Nasenstüber. »Vati wie ich dich kenne, möchtest du zur Stärkung für die kommenden Anstrengungen einen Whisky trinken. Am besten, du ziehst dich mit Hans-Joachim gleich ins Herrenzimmer zurück. Mutti und ich werden schon zum Tierheim gehen und uns um die Kinder kümmern. Ach, da kommt ja Betti mit den Picknickkörben!«, rief sie und nickte dem Hausmädchen freundlich zu. »Bringen Sie die Sachen bitte gleich zum Tierheim. Die Kinder sind schon dort.«

Andrea hakte sich bei ihrer Mutti ein. »Glaubst du, dass Nick seine Aufnah­men verkaufen kann? Er hofft darauf.«

»Es kommt ganz darauf an, ob sie ihm gut gelingen. Aber er ist ja vielseitig begabt. Wie gefallen dir die Kleider der Mädchen?«

»Sie sind bildschön, Mutti. Pünktchen sieht besonders reizend in dem lichtgrünen Trägerröckchen und der buntbestickten Batistbluse aus«, stellte die junge Frau fest.

Denise lachte. »Pünktchen fühlt sich auch ganz als Starmannequin. Und Nick bestärkt sie noch in ihrem Glauben.«

Plaudernd schlugen die beiden Damen die Richtung zum Tierheim ein. Die Dogge Severin und die vier Dackel Waldi, Hexe, Pucki und Purzel sprangen aufgeregt um sie herum.

»Ist ja schon gut, ihr Rasselbande!«, rief Andrea erheitert. »Waldi, keine Sorge. Dich, den Chef des Tierheims, wird man bei den Aufnahmen bestimmt nicht vergessen! Weißt du, Mutti, die Hunde scheinen jedes Wort zu verstehen. Seit Tagen wurde ja bei uns nach Praxisschluss von nichts anderem als von dem heutigen Sonntag gesprochen. Seitdem sind die Hunde außer Rand und Band.«

»Das sehe ich. Ich glaube, es wird ein sehr hübscher Tag werden.«

»Ich hoffe nur, dass man dich nicht, wie schon so oft an derartigen Tagen, nach Sophienlust ruft. Tante Ma weiß sich zwar recht gut zu helfen, aber du bist nun mal das schlagende Herz des Kinderparadieses. Ja, Mutti, du bist eine einmalige Frau! Ich wünsche mir nur, dass ich in deinem Alter noch ebenso vital bin und auch so jung aussehe wie du. Vati hat mit dir das Große Los gezogen.«

Denise errötete wie ein junges Mädchen. »Unsinn, Andrea, ich bin auch nicht anders als die meisten Menschen. Ich habe auch viele Fehler«, erwiderte sie verlegen.

»Das glaubst du! Wir aber wissen es besser!«, rief Andrea.

»Wer soll schon heute kommen?«, wechselte Denise das Thema. »Heute ist doch Sonntag.«

»Eben! Du, was wollte denn der Industrielle Enno Cornelius aus Essen von dir? Als ich gestern in Sophienlust war, hast du doch mit ihm telefoniert.«

»Ja, Andrea. Aber ich kann dir nichts Genaues sagen. Er hat nur seinen Besuch für morgen angemeldet. Sicher möchte er ein Kind bei uns unterbringen. Ich hatte das Gefühl, dass er irgendwie in Schwierigkeiten steckt. Du weißt ja, dass ich dafür ein Gespür habe.«

»Ja, Muttilein.« Andrea gab Denise einen schnellen Kuss auf die Wange. Dann richtete sich die Aufmerksamkeit von Mutter und Tochter auf die Kinder, auf Schwester Regine und den Tierpfleger Helmut Koster, die alle zusammen vor dem Tierheim versammelt waren.

Die Affen, Bären und auch die anderen Pfleglinge des Tierheims waren im Freigehege. Die Esel Benjamin und Fridolin und das Liliputpferdchen Billy grasten dagegen friedlich auf der Wiese. Sie und die fünf Hunde sollten als Kulisse dienen.

Nicks Wangen glühten vor Begeisterung. Wie meist in solchen Situationen war sein schwarzes Haar leicht vom Wind zerzaust. Man sah ihm deutlich an, wie sehr er sich in seine Aufgabe hineinlebte. Er kam sich tatsächlich wie ein Regisseur vor, der seine Akteure wie Marionetten tanzen ließ.

»Die ersten Aufnahmen mache ich von Heidi und dem Liliput-Pferdchen. Herr Koster, würden Sie bitte Billy holen? Heidi, und du stellst dich vor den Vogelkäfig!«, rief er dem vierjährigen Mädchen im knallroten Kleidchen, das vorn mit einer breiten weißen Spitze verziert war, zu. Heidis langes lichtblondes Haar hatte Schwester Regine, die an diesem Tag die Rolle der Garderobiere spielte, mit einem breiten weißen Seidenband aus der Stirn zurückgebunden. Nun strahlten Heidis blaue Augen vor Stolz, als sie Nicks Aufforderung nachkam. Das kleine zierliche Persönchen fühlte sich sichtlich wohl als Mannequin. Vergnügt stampfte das Liliput-Pferdchen mit seinen kleinen Hufen auf den Kiesboden, als Helmut Koster dem Mädchen die Zügel übergab.

Nick fotografierte Heidi und das Pony in den verschiedensten Posen. Dann nickte er zufrieden. »Ich denke, die Aufnahmen sind gelungen. Bitte, Herr Koster, holen Sie doch jetzt Luja. Ich möchte Pünktchen zusammen mit der Schimpansin aufnehmen.«

»Jawohl, junger Herr!«, rief der Tierpfleger schmunzelnd zurück.

Inzwischen hatten sich auch Alexander von Schoenecker und sein Schwiegersohn zu den Frauen und Kindern gesellt. »Nick, du hast tatsächlich das Zeug zu einem Modefotografen«, stellte der Gutsherr fest.

»Nicht wahr, Vati?« Der Junge zeigte keine falsche Bescheidenheit. »Wenn ich später nicht so große Verpflichtungen in Sophienlust übernehmen müsste, würde ich vielleicht einen solchen Beruf wählen. Ich fotografiere und filme nun mal für mein Leben gern.«

Auch die Aufnahmen von Pünktchen und der Äffin schienen gelungen zu sein. Danach kam Irmela Groote an die Reihe. Nick nahm sie meist vor dem Bärenzwinger auf. Waldi und seine Familie kamen ebenfalls mit auf diese Bilder. Die schwarze Dogge Severin wurde dagegen bei den nächsten Aufnahmen von den Schwestern Langenbach in die Mitte genommen.

Nick war den ganzen Vormittag beschäftigt. Dann aber stürzten sich die Kinder mit einem wahren Heißhunger auf die Picknickkörbe, die auf dem Steintisch zwischen den Birken standen. Justus und Magda blieben bei der jungen Generation zurück, als die übrigen Erwachsenen zur Villa gingen.

»Nach dem Essen drehen wir dann den Film«, schlug Nick unternehmungslustig vor. Dabei nagte er an einem Hühnerbein.

Für die Großen war der Tisch auf der Terrasse gedeckt. Auch sie waren in Hochstimmung. Das lag auch an dem ausgezeichneten Tischwein, dem reichlich zugesprochen wurde.

Die Dackel sausten mit schlagenden Ohren zwischen den Kindern und Erwachsenen hin und her, damit ihnen auch ja kein Leckerbissen entging. Severin war dagegen vernünftiger. Die Dogge hatte es sich zu Andreas Füßen bequem gemacht und kam dadurch auf ihre Kosten.

»Was für ein friedlicher Tag«, stellte Denise glücklich aufatmend fest und sah sich mit leuchtenden Augen in der Runde um.

»Ja, das Leben ist einfach wundervoll!«, rief Andrea und fasste nach der Hand ihres Mannes. »Könnt ihr euch vorstellen, dass um die gleiche Zeit im nächsten Jahr schon unser Baby da sein wird? Was es wohl sein mag? Ein Junge? Ein Mädchen?« Ein verträumtes Lä­cheln lag auf ihrem Gesicht. »Wenn es ein Junge wird, muss er genauso aussehen wie Hans-Joachim.«

»Und wenn es ein Mädchen ist, soll es so sein und aussehen wie du, mein Liebling«, erklärte Hans-Joachim liebevoll.

Betti erschien auf der Terrasse. »Frau von Schoenecker, Sie werden von Frau Rennert am Telefon verlangt«, sagte sie.

»Oje!«, rief Alexander, »es gibt doch tatsächlich keinen Tag, an dem man nicht nach meiner Frau verlangt.«

Denise fuhr ihm zärtlich übers Haar und folgte dann dem Mädchen ins Haus.

»Was mag nur schon wieder in Sophienlust los sein?«, überlegte Andrea laut. »Mein Gefühl hat mich nicht getrogen. Ich hatte vorhin schon so eine Ahnung, dass man Mutti brauchen würde. Ich könnte wetten, dass sie sofort nach Sophienlust fahren muss, weil irgendwer auf sie wartet. Manchmal sind die Leute wirklich rücksichtslos. Sie scheinen tatsächlich zu glauben, dass Mutti Wunder vollbringen kann. Allerdings glaube ich das ja auch«, gab sie zu.

Gespannt richteten sich alle Augenpaare auf Denise, als sie zurückkam.

»Was ist los, mein Liebes?«, fragte Alexander. »Fährst du nach Sophienlust?«

»So ist es, mein Lieber. Ich muss tatsächlich fahren. Aber bleibt auf alle Fälle hier. Ich komme in ein bis zwei Stunden zurück. Nein, Alexander, du brauchst mich wirklich nicht zu begleiten«, wandte sie sich an ihren Mann, als er sich erheben wollte. »Herr Cornelius und sein kleiner Sohn sind in Sophienlust eingetroffen und wollen mich sprechen.«

»Aber er wollte doch erst morgen kommen«, wunderte sich Andrea.

»Er muss morgen in aller Frühe nach London fliegen. Darum ist er heute gekommen. Er möchte seinen Sohn bei uns unterbringen. Seine Frau scheint krank zu sein. Hallo, Henrik, was ist los?«, fragte Denise ihren Jüngsten, der angelaufen kam.

»Ich wollte euch nur mal besuchen«, erwiderte der vergnügt. »Mutti, fährst du denn fort?«

»Ja, Henrik, ich muss auf einen Sprung nach Sophienlust fahren. Ein kleiner Junge und sein Vater …«

»Mutti, darf ich mitfahren?«, unterbrach Henrik sie begeistert. »Wie alt ist der Junge? Kommt er zu uns?«

»Das wird sich heute entscheiden. Der Junge ist noch nicht ganz sechs Jahre alt. Er soll im Herbst in die Schule kommen.«

»Wie heißt er denn?«

»Das weiß ich noch nicht.« Denise strich Henrik über den Scheitel. »Also, dann fahre mit. Aber wollte Nick dich nicht auch filmen?«

»Ich bin doch schon so oft von ihm gefilmt worden. Außerdem werden wir ja vielleicht bald wieder zurück sein.« Man sah dem Kleinen an der Nasenspitze an, dass ihm im Augenblick die Entscheidung nicht leicht wurde. Aber schließlich siegte seine Neugierde. »Ich komme auf alle Fälle mit!«, rief er und folgte seiner Mutter zum Auto.

*

Enno Cornelius und sein kleiner Sohn Pieter waren von der Heimleiterin in den Wintergarten geführt worden. Frau Rennert war das verstörte Wesen des Kindes nicht entgangen. Sie hoffte, dass der Papagei Habakuk und die Fischchen im Aquarium den Jungen ein wenig von seinem Kummer ablenken würden.

Nun stand Pieter staunend vor dem großen Käfig mit dem bunten Papagei. Er schien im Augenblick nichts weiter als ein kleiner Junge zu sein, der genauso fröhlich und begeistert sein konnte wie andere Kinder. »Du, Vati, die nette Dame hat doch gesagt, der Papagei könnte viele, viele Worte sprechen. Warum sagt er denn nichts?«

»Vielleicht solltest du ihn mal fragen?«

»Vati, aber ich habe seinen Namen vergessen.« Pieters blonde Brauen zogen sich zusammen. »Hast du dir den schweren Namen merken können?«

»Ja, Pieter.« Gerührt blickte Enno Cornelius auf den blonden Scheitel seines einzigen Kindes. »Der Papagei heißt Habakuk.«

»Das ist ein komischer Name, nicht wahr? Kann ein Mensch auch so heißen?« Ein grübelnder Ausdruck trat in die blauen Kinderaugen. »Ich kenne niemanden, der so heißt. Du?«

»Habukuk war einer der zwölf kleinen Propheten im Alten Testament. Frau Rennert hat uns das doch vorhin erzählt.«

»Ach ja, Vati. Aber ich war vorhin schrecklich aufgeregt und habe nicht alles verstanden. Nicht wahr, das Kinderheim Sophienlust ist gar nicht wie ein wirkliches Kinderheim? Es sieht doch wie ein richtiges Schloss aus. Findest du das nicht auch?«

»Ja, Pieter«, gab Enno Cornelius zu. Auf dem Weg von Essen nach Wildmoos hatte er noch Zweifel gehegt, ob er seinen Sohn in Sophienlust unterbringen sollte. Nun aber glaubte er fest, dass Pieter sich hier wohl fühlen und in dieser Atmosphäre auch sein scheues Wesen ablegen würde. Daheim, in der luxuriösen Villa, schien das unmöglich zu sein. Betty, seine Frau, hatte das Kind von Geburt an unterjocht und ihm dadurch die Möglichkeit genommen, sich innerlich frei zu entfalten. Wenn er, Enno, am Abend nach Hause gekommen war, hatte Pieter ihn niemals begrüßen dürfen, weil Betty es so wollte. Meist war er später zu dem Jungen hinaufgegangen, um ihm wenigstens gute Nacht zu sagen. Doch Pieter war dann oft so verschüchtert gewesen, dass er kaum ein Wort über die Lippen gebracht hatte.

Nach und nach hatte Enno den Reden des Personals auch entnommen, dass Betty das Kind oft grundlos anschrie oder sogar ohrfeigte, wenn sie ihre schlechte Laune abreagieren wollte. Mit Betty war darüber nicht zu sprechen. In seiner Ratlosigkeit hatte er seine Mitarbeiterin Julia van Arx ins Vertrauen gezogen. Sie gehörte zu den stillen Frauen, denen man unwillkürlich Dinge anvertraute, die man sonst ängstlich vor der Öffentlichkeit geheimhielt, und arbeitete seit einigen Monaten als Fremdsprachenkorrespondentin in seinem Werk. Von Anfang an hatte er sich glänzend mit ihr verstanden. Schon bei dem Gedanken an die junge Witwe wurde ihm jetzt ganz warm ums Herz. Deutlich sah er ihre großen dunkelblauen Augen vor sich, die in manchen Momenten violett schimmerten. Ihr warmherziges Lächeln verschönte ihr unregelmäßiges Gesicht so sehr, dass man es immer wieder anschauen musste. Auch hatte sie eine tadellose Figur. Ihre unauffällige Eleganz gefiel ihm sehr. Ja, sie verstand es, etwas aus ihrem Typ zu machen, was man von seiner Frau nicht behaupten konnte.

Ennos Gesicht verdüsterte sich jäh. Das Lächeln verschwand. Solche Vergleiche Julias mit Betty sollte er lieber bleiben lassen, sagte er sich. Denn Betty schnitt dabei nicht sehr gut ab.

Dabei war seine Frau früher einmal eine wirkliche Schönheit gewesen mit ihren hellen Haaren, den hellblauen Augen und der guten Figur. Nun aber war sie dick geworden und ihre einstmals klassischen Züge waren verschwommen. Ihre klangvolle Stimme hatte zudem einen schrillen Ton bekommen, der oft an seinen Nerven zerrte.

»Ich habe soeben mit Frau von Schoen­ecker gesprochen. Sie wird in wenigen Minuten hier sein«, unterbrach Frau Rennert die unerfreulichen Gedankengänge des Industriellen.

»Es tut mir sehr leid, dass ich Frau von Schoenecker in ihrer Sonntagsruhe stören muss, aber …«

»Das macht doch nichts«, fiel Frau Rennert ihm lächelnd ins Wort. »Na, kleiner Mann, gefällt dir der Papagei?«

»Ja, Tante, er ist sehr hübsch. Und so bunt. Aber er schaut mich nur an und sagt kein Wort.«

»Habakuk, was ist los?«, fragte Frau Rennert und trat an den Käfig. »Willst du denn unseren kleinen Pieter enttäuschen?« Sie wandte sich wieder dem Jungen zu. »Weißt du, er ist traurig, weil alle Kinder heute fort sind«, erklärte sie.

»Wo sind sie denn?«

»Fort! Fort! Nick, Nick! Sei doch brav, du Junge. Dummer Junge! Dummer Junge!«, krächzte Habakuk plötzlich los und schlug begeistert mit den Flügeln. »Banane her! Willst du wohl kommen!«

Pieter starrte benommen auf den Papagei. »Er kann tatsächlich sprechen«, flüsterte er ergriffen. »Wie ein Mensch. Oh, Vati, ist das nicht wunderbar?«

»Ja, Pieter, das finde ich auch.«

»Banane her! Komm schon, Junge!«

»Meint er mich?«, fragte Pieter kopfschüttelnd.

»Ich glaube schon.« Frau Rennert nahm eine Banane aus der breiten Schale auf dem Tisch und schälte sie ab. »So, nun gib Habakuk ein Stückchen davon.«

»Wird er mich auch nicht beißen?«

»Das glaube ich nicht, Pieter.«

»Vati, möchtest du nicht lieber …« Der kleine Junge schien dem Frieden nicht ganz zu trauen. »Vielleicht …«

»Pieter, sei kein Hasenfuß. Gib ihm schon das Stückchen Banane.«

»Ja, gib es ihm ruhig«, sagte da jemand hinter ihm.

Erstaunt drehte Pieter sich um. »Wohnst du auch hier?«, fragte er dann und sah Henrik unverwandt an.

»Ja, das heißt nur halb. Ich bin Henrik Alexander von Schoenecker und bin mit meiner Mutti aus Bachenau gekommen, um dich zu begrüßen.« Er streckte dem fremden Jungen seine nicht ganz saubere Hand entgegen.

»Und ich heiße Pieter Cornelius. Ich habe deinen Namen nicht ganz verstanden. Er ist so schrecklich lang.«

»Ich heiße erst einmal Henrik für dich. Der andere Name und der Familienname ist im Augenblick nicht wichtig. Und Sie sind gewiss Herr Cornelius?«, fragte Henrik höflich.

»Der bin ich, Henrik«, erwiderte Enno lachend und reichte dem Siebenjährigen seine Hand. Was für ein reizendes aufgeschlossenes Kind, dachte er dabei. Wie froh wäre ich, wenn mein Sohn ebenso wäre.

»Und da kommt Mutti!«, rief Henrik fröhlich.

Pieter hielt immer noch das Stückchen Banane in der linken Hand, als er Denise mit einem Diener begrüßte. Sie lächelte ihn liebevoll an. Der Kleine gefiel ihr auf den ersten Blick. Auch bemerkte sie sofort, dass wieder einmal ein Kind seelische Hilfe be­nö­tigte.

Enno Cornelius war hingerissen von Frau von Schoenecker. Darin erging es ihm nicht viel anders als den meisten Menschen, die ihr begegneten. Aber auch Denise fand Pieters Vater ungeheuer sympathisch. Sie schätzte ihn auf ungefähr vierzig. Man sah ihm an, dass er sich im Leben durchzusetzen wusste. Ja, er schien jedes noch so schwierige Problem, das sich ihm in den Weg stellte, spielend zu bewältigen. Und trotzdem entging Denise nicht die leichte Unsicherheit in seinen dunklen Augen. Auch die silbergrauen Strähnen in seinem dichten mittelblonden Haar fielen ihr auf. Das waren Zeichen dafür, dass auch er mit vielen Dingen nicht fertig wurde.

»Henrik, nicht wahr, du kümmerst dich um Pieter? Ich ziehe mich mit Herrn Cornelius ins Biedermeierzimmer zurück.«

»Ja, Mutti, du kannst dich auf mich verlassen.« Henrik klopfte sich auf die Brust. »So, Pieter, und nun gib Habakuk endlich das Bananenstückchen«, forderte er ihn auf. »Schau nur, er schlägt schon mit den Flügeln, ein Zeichen seiner Ungeduld.«